Verschwunden
Schon direkt nach dem Aufstehen wusste Kieran, dass etwas seltsam und ganz und gar nicht in Ordnung war. Während er sich das schwarze, vom Schlaf zerzauste, Haar glattkämmte und auch während er sich mit seinen braunen Augen im Spiegel betrachtete und dabei feststellte, dass er wie üblich ungesund blass war, blieb das Gefühl, dass etwas einfach nicht stimmen konnte.
Nur der Grund dafür blieb ihm verborgen, er schaffte es einfach nicht, dahinterzukommen, egal wie lange er überlegte. Deswegen versuchte er, gar nicht weiter darüber nachzudenken und begab sich lieber in die Küche hinunter, wo er damit begann, sich einen Kaffee zu kochen. Normalerweise trank er einen speziellen Tee, aber zu seinem großen Ärgernis stellte er fest, dass er keine der benötigten Blätter mehr besaß, obwohl er sich bei seinem letzten Besuch in Port Milfort vorgenommen hatte, sie neu zu kaufen, damit er nicht notgedrungen wieder auf Alkohol umsteigen musste. Er musste sie vergessen haben, weil Nolan ihn immer...
Während er so darüber nachdachte, fiel ihm die auf seinen Ohren lastende Stille auf. Das war es, was ihm so seltsam vorgekommen war, es war viel zu still. Normalerweise herrschte im Haus immer Lärm, so viel, dass Kieran fast schon wahnsinnig wurde, weswegen er es vorzog, wenn Nolan draußen spielte, selbst wenn er dann dort Ärger machte, der bei ihm abgeladen wurde, in der sicheren Erwartung, dass er den Jungen bestrafen würde. Dabei war er darauf so gut wie nie auch nur im Mindesten erpicht, denn eine Bestrafung ging immer damit einher, dass er sich erst einmal überlegen musste, wie diese auszusehen hatte – und die effektivste Form war bislang Hausarrest gewesen, was allerdings eher eine Bestrafung für Kieran war.
Um sicherzugehen, dass er sich nicht nur irrte, spitzte er die Ohren, aber es war immer noch kein Geräusch von Nolan oder gar Landis zu hören, was ihn ein wenig in Besorgnis versetzte.
Also warf er einen Blick hinaus, während er darauf wartete, dass der Kaffee aufbrühte, aber auch draußen war kein Laut zu hören, die wenigen Menschen, die um diese Zeit schon unterwegs waren, grüßten sich bei Begegnungen freundlich, keiner wirkte irgendwie panisch oder verärgert, also ging er nicht davon aus, dass die beiden Jungen draußen Unsinn anstellten.
Diese Erkenntnis erleichterte ihn zwar, aber diese Empfindung brachte auch ein flaues Gefühl mit sich, das in seinem Inneren rumorte und ihn nicht mehr verlassen wollte.
Er vergaß den Kaffee für einen Moment und ging zurück nach oben, um in Nolans Zimmer nach dem Rechten zu sehen, nur um sicherzugehen. Seine Hand lag bereits auf der Türklinke, als er sich besann und beschloss, lieber erst einmal zu klopfen, nur für den Fall, dass doch jemand darin wäre – und zu seiner Überraschung konnte er tatsächlich Nolan hören, der ihn aufforderte, einzutreten.
Das erleichterte ihn zumindest ein wenig, auch wenn sich das auf seinem Gesicht nicht zeigte, seine Mimik war wie üblich vollkommen neutral. Er öffnete die Tür und blickte in das Zimmer hinein, in Erwartung die gewohnte Unordnung und auch Landis vorzufinden, aber was er wirklich sah, ließ ihn überrascht eine Augenbraue heben.
Normalerweise musste Kieran seinen Sohn mindestens einmal in der Woche grob dazu anhalten, dass er das Chaos in seinem Zimmer beseitigte, denn Nolan neigte dazu, Dinge aus dem Regal zu holen, dann das Interesse daran zu verlieren und sie an Ort und Stelle liegenzulassen. So stolperte man bei jedem Besuch über Bücher, Stofftiere, Kissen und manchmal sogar über den Teppich oder den Tisch, der an der vollkommen falschen Stelle stand, wenn Nolan wieder einmal überlegt hatte, alles umzuräumen und mittendrin die Lust daran verloren hatte.
Aber an diesem Tag herrschte perfekte Ordnung im Zimmer. Der Boden war nicht nur frei begehbar, er war sogar frisch gewischt und der dunkelgrüne Teppich in der Mitte des Raumes war ließ jeglichen Staub vermissen, den man sonst von ihm kannte. Sämtliche Kleidung war aufgeräumt, der Schrank geschlossen, das Bücherregal nur mit vollständigen Reihen versehen – abgesehen von einer Lücke –, das Bett war gemacht und Nolan selbst saß auf einem Stuhl am Tisch, der vor dem Fenster stand, genau dort, wo er hingehörte. Auf der größtenteils leeren Platte, die von einer Laterne beleuchtet wurde, lag lediglich ein aufgeschlagenes Buch, das für die Lücke im Regal verantwortlich war, offenbar war Nolan gerade dabei, es zu lesen.
„Was ist denn?“, fragte der Junge, als Kierans Schweigen anhielt. „Stimmt etwas nicht?“
„Ich war nur überrascht“, erwiderte er schließlich, als er sich endlich wieder gefangen hatte. „So aufgeräumt sehe ich dein Zimmer selten.“
Und schon gar nicht ohne jede Form von Ermahnung.
Nolan zog skeptisch die Brauen zusammen, die so tiefschwarz wie sein Haar waren und er klang fast schon ein wenig empört, als er selbst wieder etwas erwiderte: „So ein Unsinn, mein Zimmer ist dauernd aufgeräumt.“
Kieran verzichtete darauf, dagegen anzusprechen, er spürte, dass es sich nicht nur um einen Scherz Nolans handelte, sondern dessen vollkommener Ernst war. „Ist Landis denn nicht bei dir?“
„Ich mache mir wirklich Sorgen um dich“, meinte Nolan plötzlich, nun nicht mehr empört, sondern ernsthaft besorgt, Unruhe flackerte in seinen grünen Augen. „Ich kenne keinen Landis.“
Das verwirrte Kieran nun vollends und es kam nicht sonderlich oft vor, dass er einmal ratlos war. Aber noch versuchte er, das Ganze irgendwie logisch anzugehen, solange es ihn noch interessierte. „Habt ihr euch gestritten?“
Vielleicht war Nolan nur beleidigt und tat so als ob er Landis nicht kennen würde, das kam zwar selten vor, aber manchmal eben doch und jedes Mal verhielt er sich dann so. Aber dieses Mal wohl nicht, denn Nolans Stirn zerfurchte sich nur noch mehr. „Wie soll ich mich mit jemandem streiten, den ich gar nicht kenne?“
Inzwischen war Kieran sich absolut sicher, dass es sich hierbei um kein Schauspiel handelte, so gut war Nolan nicht in diesem Bereich, außerdem war da immer noch dieses unbewusste Gefühl in seinem Inneren, das ihm sagte, dass etwas ganz und gar nicht so war wie noch vor dem Schlafengehen – und so wie es aussah, war Landis dieser Punkt an dem er dafür nachforschen musste.
„Schon gut, tut mir Leid, dass ich dich gestört habe.“
Nolan nickte nur und wandte sich dann wieder seinem Buch zu, während Kieran die Tür schloss und ins Erdgeschoss zurückkehrte. In seinem Inneren begannen sich bereits die ersten Theorien zu entwickeln, aber keine davon wollte ihm gefallen, am Allerwenigsten jene, bei der Dämonen in diese Sache involviert waren. Nein, daran wollte er gar nicht denken. Vielmehr hoffte er geradezu, dass die Worte seines Vaters sich endlich erfüllten und er einfach nur wahnsinnig geworden war, Landis war möglicherweise einfach nur ein Produkt seines Wahnsinns gewesen oder seine Existenz lediglich der Traum der letzten Nacht.
Aber irgendwie konnte er das nicht so recht glauben, da musste noch wesentlich mehr dahinterstecken. Sein Gefühl hatte ihn bislang noch nie betrogen – bis auf einmal vielleicht – und deswegen wollte er lieber auf dieses hören. Doch um herauszufinden, was geschehen war, musste er erst einmal herausfinden, wie die aktuelle Situation war. Auskundschaften und Informationen einholen waren früher ein wichtiger Teil seiner Arbeit gewesen, jedenfalls bis er unehrenhaft aus der Gilde entlassen worden war. Das einzig Gute daran, war die Tatsache gewesen, dass er seiner Familie und seinen Freunden nicht mehr hatte vorlügen müssen, dass er wieder einmal loszog, um irgendwelche Waren an irgendwen zu verschachern.
Aber statt sich wieder einmal in diese düsteren Gedanken zu verstricken, beschloss er, den Kaffee erst einmal zu ignorieren und das Haus zu verlassen, damit er Richard aufsuchen könnte. Als Vater von Landis würde er hoffentlich mehr über ihn zu sagen wissen. Vielleicht löste sich so auch alles auf und Kieran musste erst gar nicht wieder losziehen oder sonst irgendetwas tun. Obwohl er die Aussicht, mal wieder auf eine Mission zu gehen, doch reichlich prickelnd fand, wie er zugeben musste.
Den Gedanken, bei Richard zu klopfen, verwarf er sofort wieder, schon auf den ersten Blick konnte er sehen, dass niemand im Gebäude war, alle Fenster waren dunkel, was um diese doch reichlich trübe Tageszeit und besonders bei Richard äußerst ungewöhnlich war.
Erst als er schon einige Schritte von seinem Haus entfernt war, fiel ihm wieder ein, dass es noch immer Winter war. Es hatte in diesem Winter zwar nicht geschneit, aber es war dennoch reichlich kühl gewesen und auch an diesem Morgen stellte er fest, dass es noch nicht wärmer geworden war.
Er schlang die Arme um seinen Körper und zog den Kopf zwischen seine Schultern, in der Hoffnung, der Kälte so ein wenig entgehen zu können, aber er fror dennoch und wünschte sich, nicht so gedankenlos gewesen zu sein.
Das ist alles Landis' Schuld. Selbst wenn er nicht da ist, macht er mir nur Ärger.
Das aufkommende Grollen in seinem Inneren, ließ ihm ein wenig wärmer werden, aber dennoch war er erleichtert, als er endlich die Wachstation betrat, in der wie üblich ein wärmendes Feuer im Kamin brannte. Nicht nur, damit die Stadtwachen sich aufwärmen konnten, wenn sie von ihren Patrouillen zurückkehrten, sondern auch damit Bürger, die Hilfe bei der Stadtwache suchten und daher bereits besorgt oder traumatisiert genug waren, nicht zu allem Überfluss auch noch frieren mussten.
Zu Kierans Erleichterung befand sich auch Richard hier, aber die Verwirrung übernahm sofort wieder die Oberhand. Nicht, dass er Richard nicht bereits beim Zeitung lesen gesehen hätte, aber normalerweise tat er das nie bei der Arbeit, sondern immer nur zu Hause, damit er weder von Asterea, noch von Landis gestört wurde. Dass er es ausnahmsweise eben doch tat, bestärkte Kieran nur erneut in seinem unguten Gefühl. Richard hielt inne, als er bemerkte, dass er nicht mehr allein war, nahm sich aber dennoch die Zeit, die Zeitung erst einmal fein säuberlich zusammenzufalten, ehe er sie beiseite legte und Kieran dann auffordernd anblickte. Bei dieser fließenden Bewegung wirkte er nicht nur überraschend ruhig, sondern auch recht... professionell, wie Kieran fand. Es sah tatsächlich so aus als würde er das häufiger tun. Wenn er genauer darüber nachdachte und Richards braunes, fast schon zahmes Haar und die gleichfarbigen Augen betrachtete, die ein wenig desinteressiert blickten, sah er eigentlich mehr nach einem Beamten als einer Stadtwache aus.
„Was gibt es so früh am Morgen?“, wollte er wissen.
„Ich wollte fragen, ob irgendetwas mit Landis ist“, sagte Kieran, doch die Reaktion seines Freundes verriet ihm sofort, dass er auch hier nicht mit einer positiven Resonanz rechnen durfte.
Richard runzelte skeptisch die Stirn. „Mit wem?“
Am Liebsten hätte er laut geseufzt, aber er beließ es bei einem kurzen Schlucken, gefolgt von einer Erklärung: „Landis, der Sohn von Asterea und dir.“
Richard stieß ein amüsiertes Lachen aus. „Ja, klar, als ob. Du solltest vielleicht mit dem Trinken aufhören, mein Bester. Wir haben keine Kinder und oh, ich bin froh darum. Bei einer Frau wie Asterea wäre das Kind wohl reichlich verrückt.“
Er lachte noch einmal, um zu zeigen, dass er es nicht ernst meinte, zumindest schien sich an seinen Gefühlen für seine Frau nichts geändert zu haben, das beruhigte Kieran immerhin wieder ein wenig. „Oh, verstehe. Vielleicht habe ich wirklich nur lebhaft geträumt. Verzeih mir die Störung.“
Statt einer Verabschiedung oder einem weiteren Kommentar zu dieser ganzen Sachlage, griff Richard demonstrativ nach seiner Zeitung, um zu zeigen, dass das Gespräch für ihn beendet war. Aber Kieran wusste genau, dass Richard sich das genau merken und bei passender Gelegenheit wieder zur Sprache bringen würde, es war wohl besser, wenn er sich bis dahin eine Ausrede einfallen ließ – oder er herausfand, was eigentlich vor sich ging.
Er wandte sich ab, um wieder hinauszugehen, als Richard doch noch etwas sagte: „Heute scheint die ganze Welt verrückt zu sein. Asterea deckt den Frühstückstisch für drei, ich ärgere mich darüber, dass wir nur zu zweit essen, obwohl wir das immer tun und dann kommst du daher und sagst so etwas.“
Sein Schnauben verriet, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte, deswegen ließ Kieran ihn allein und legte nun doch den Weg zu Richards Haus ein, in der Hoffnung, dass Asterea ihm weiterhelfen könnte, irgendwie jedenfalls. Zwar war in seinem Inneren bereits ein grundlegender Verdacht da, was geschehen war – nicht zuletzt durch Richards letzten Satz – aber vielleicht konnte Asterea ihm noch ein paar andere Informationen eröffnen.
Beim Haus angekommen, klopfte er und folgte dann der Aufforderung, einzutreten, da die Tür offen war. Er fand Asterea in der Küche, wo sie gerade mit dem Abwasch beschäftigt war. Auf dem Tisch stand lediglich noch ein unbenutzter Teller, das dritte Gedeck, das Richard erwähnt hatte.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter, aber ihre blauen Augen verfinsterten sich sofort, als sie ihn erkannte. „Oh, du bist es, Kieran.“
„Wen hast du denn erwartet?“
In Gedanken versunken hob sie die Hand und fuhr sich damit durch das lange blonde Haar, worauf Seifenreste darin zurückblieben, aber das kümmerte sie nicht weiter. „Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht... also nicht wirklich.“
„Dann sagt dir der Name Landis auch nichts?“
Sie zuckte zusammen, aber im nächsten Moment schüttelte sie mit dem Kopf. „Habe ich noch nie gehört. Also... jedenfalls nicht bewusst, denke ich.“
Während sie ihre Stirn in Ratlosigkeit zerfurchte, wuchs Kierans Verdacht in seinem Inneren, der sich inzwischen sogar auf etwas Spezielles konzentrierte. Astereas folgende Worte bestätigten ihn nur noch darin: „Ich habe schon überlegt, ob vielleicht ein Dämon oder Magier oder Naturgeist damit zu tun hat, aber leider habe ich auch vergessen, ob ich irgendwas mit denen zu tun hatte.“
„Mach dir keine Gedanken darum“, riet er ihr. „Das wird alles schon wieder.“
Wirklich überzeugt wirkte sie davon nicht, aber es war der einzige Ratschlag, den er ihr geben konnte, während er innerlich bereits wusste, dass ihm nun nach so vielen Jahren endlich wieder eine Mission bevorstand – eine illegale zwar, da er vor langer Zeit aus dem Dienst entlassen worden war, aber hier handelte es sich um eine persönliche Sache, da konnte er darauf keine Rücksicht nehmen.
Immerhin ging es um den Sohn seines besten Freundes – und dessen Frau, die er auch recht sympathisch fand, da war es ihm nicht möglich, sich abzuwenden und so zu tun als wüsste er nichts von dieser ganzen Sache.
So verabschiedete er sich von Asterea, die immer noch Seifenreste im Haar hatte und machte sich eilig wieder auf den Weg nach Hause, um seine Vorbereitungen zu treffen. Dort blieb er allerdings erst einmal irritiert stehen, als er Nolan in der Küche entdeckte, wo er gerade dabei war, Gemüse zu schneiden.
„Was machst du da?“, fragte Kieran perplex.
Nolan hob den Kopf, wieder einmal mit zusammengezogenen Brauen, die verrieten, dass er sich langsam ernsthaft Gedanken um Kierans Geisteszustand machte. „Ich bereite schon mal das Mittagessen vor. Ich bin nicht sehr gut im Schneiden, also muss ich früh anfangen.“
In diesem Moment wurde ihm noch ein Grund bewusst, weswegen er Landis unbedingt retten musste. Sicher, es war nett, wenn Nolan sich auch mal um den Haushalt bemühte und er keinen Unsinn anstellte, weil es wohl offenbar niemand gab, mit dem er sich gegenseitig hochschaukeln konnte, bis er irgendwann einen Zenit erreichte, auf dem er sich den Unmut aller Bewohner zuzog. Aber gleichzeitig war es auch einfach... unheimlich. Er glaubte nicht, dass er sich jemals an diese Umstände gewöhnen konnte, er war Veränderungen ohnehin schon abgeneigt, aber wenn sie zu solch unheimlichen Ergebnissen führten, verabscheute er sie regelrecht.
So wandte er sich wortlos ab und ging nach oben, hinter sich hörte er, wie Nolan mit dem Schneiden fortfuhr, vermutlich in der Überzeugung, dass es besser war, nicht zu viel nachzuhaken.
Kieran stürmte geradezu in sein Zimmer und riss den Schrank auf, den er normalerweise sorgsam unter Verschluss hielt. Darin befand sich keine Kleidung – abgesehen von einem schwarzen Umhang und einem Hut mit leicht herabhängender Krempe – sondern eine Ansammlung von verschiedenen Waffen, Taschen und Büchern, die niemand außer ihm sehen sollte, zumindest nicht, solange Nolan noch so jung war. Er würde dem Jungen nur ungern einer Kindheit wie seiner eigenen aussetzen oder dem traumatischen Schauspiel, das mit dem Tod seines eigenen Vaters geendet hatte.
Doch für diese Erinnerung hatte er nun keine Zeit, stattdessen griff er sich zielsicher eines der Bücher, schlug es auf und blätterte so lange darin herum, bis er die gewünschte Seite gefunden hatte. Memoria, allein der Name verriet ihm bereits, dass es sich hierbei um jemanden handelte, der mit den Erinnerungen von Menschen spielte und in der Lage war, sie nach eigenem Denken zu beeinflussen, was durch den Text darunter bestätigt wurde. Offenbar war es dieser Frau, laut Informationen der Gilde, sogar möglich, die Erinnerungen vieler Menschen auf einmal zu beeinflussen. Allerdings war sie bislang nicht sonderlich hoch in der Prioritätsliste gewesen, weil sie als ungefährlich eingestuft wurde, deswegen nahm er nicht an, dass sie nach seiner Entlassung irgendwann gefasst oder getötet worden war und alles sprach dafür, dass sie für das hier verantwortlich war. Auch dass sein eigenes Gedächtnis unangetastet geblieben war, entsprach diesem Muster, denn seine Art konnte von derlei Magie nicht berührt werden, deswegen schlossen sie sich in Gilden zusammen, um die normalen Menschen vor diesen Wesen zu beschützen.
Selbst wenn sie doch hierfür nicht verantwortlich sein sollte, war sie die beste Anlaufstelle für den Anfang und vielleicht trat der unwahrscheinliche Fall ein, dass sie ihm zumindest weiterhelfen konnte, wenn das alles schon nicht von ihr verursacht worden war, es genügte ihm auch vollauf, wenn sie nur die Erinnerungen der anderen wiederherstellen könnte.
Er stellte das Buch zurück und ließ seinen Blick dann über die Waffe schweifen, die er so lange nicht mehr zum Kämpfen benutzt hatte. In der letzten Zeit hatte er sie nur herausgeholt, um sie zu säubern, damit sie keinen Rost ansetzten. Damit musste er allerdings immer warten, bis Nolan eingeschlafen war, damit dieser davon nichts mitbekam, kein Wunder, dass er so blass war.
Seine Hand strich über das Breitschwert, über die Wurfmesser und auch über das Dreifach-Chakram, aber zum Liegen kam sie erst auf seiner Armbrust, die schon immer die Waffe seiner Wahl gewesen war. Sie verfügte über eine ansehnliche Wucht, war dennoch überraschend leicht und schnell nachzuladen und sie verfügte über noch einen Kniff, der ihm schon so manches Mal den Kopf gerettet hatte.
Deswegen musste er gar nicht weiter darüber nachdenken, er nahm die Armbrust heraus und stellte sie erst einmal ab, damit er sich eine der Leinentaschen umhängen konnte, ehe er sich auch den Umhang überwarf. Die Armbrust nahm er erst wieder an sich, nachdem er den Schrank geschlossen hatte, dann ging er wieder hinunter, wo Nolan immer noch mit der Zubereitung des Essens beschäftigt war. Er blickte seinen Vater verwundert an, da er ihn schon seit Jahren nicht mehr in dieser Aufmachung gesehen hatte. „Was hast du vor?“
Kieran schulterte die Armbrust, um möglichst heldenhaft auszusehen, als er antwortete: „Ich werde jetzt dafür sorgen, dass dieses unheimliche Verhalten hier endet. Es wird Zeit, dass du wieder normal wirst.“
Damit verließ er das Haus, während Nolan ihm einen besorgten Blick hinterherwarf, da er absolut nicht verstanden hatte, was eigentlich mit ihm los war.
Kieran dagegen schritt mit sich selbst zufrieden durch Cherrygrove, um seine Mission zu beginnen und freute sich dabei über die nostalgischen Gefühle, die in seinem Inneren wach wurden, ungeachtet der Tatsache, dass er schon seit Jahren nicht mehr unterwegs gewesen war und sich deswegen gar nicht sicher sein konnte, ob er überhaupt noch wusste, wie man kämpfte. Aber zumindest in diesem aufregenden Moment kümmerte er sich nicht darum, als er schließlich Cherrygrove hinter sich ließ, um sich auf die Suche nach Landis zu begeben und mit diesem die Normalität wieder in den Ort zu bringen.
Dabei kam ihm nicht einmal im Mindesten der Gedanke, dass seine Hilfe möglicherweise gar nicht gebraucht werden würde und er sich vollkommen umsonst auf den Weg machte.