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Bakaito und Ahoko

Eine Kaito-Aoko-Romanze
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es gibt einen Autorenvorwort?! Geil!

Hallo, ich bin Eure Autorin. Außerdem schreibe ich gerade 3 Hausarbeiten. Und bin im Schulpraktikum, was bedeutet, dass ich Kinder unterrichte.
(Oh man, ihr glaubt es nicht, heute ein Fünftklässler so: "Das schreibt man Panther, aber man sagt 'Panda'." hihihi!)
Jedenfalls hab ich genug zu tun. Aber trotzdem schreibe ich. Das nächste Kapitel ist auch fast fertig, yay. Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Irgendwie wurde diese Geschichte ganz schleichend immer ernster. Oh Gott, was tue ich da nur? D: Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh nein, seht Ihr, wie kurz das Kapitel ist?
Furchtbar! Aber es war ein sinnvoller Abschnitt, und ich mag dieses Kapitel so sehr!
(Vielleicht sollte ich es dann noch ausbauen? ... nein.)

Aber wisst ihr auch, was das bedeutet?
Das nächste Kapitel kann wieder umso länger werden!
Seht das hier als Appetithäppchen auf's Finale! Yaaay ♪ ♫

So wie ich mich kenne, werden es eh noch 3, 4 Kapitel mehr, als ich dachte...
(Dafür, dass das hier als ~6-Kapitel-FF anfing... räusper. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo, ihr Lieben!

Zwei kurze Dinge:
a) Liebt jemand von Euch Nightmare Before Christmas so sehr wie ich?
Der Satz "Wenn er mit Dir fertig ist, kannst Du von Glück reden, wenn Du…" (hihi, Spoiler!) ist 1:1 daraus entnommen und ich kann einfach nicht anders, als ihn in entsprechender Tonlage zu denken.
b) Ich schreibe an einer weiteren Kaito-Aoko-FF, die ein bisschen leichtherziger, süßer, niedlicher, weniger dramatisch und kürzer werden wird. Tut Euch die ruhig auch an. (wenn ihr bei dieser FF bis hierhin gekommen seid, dann kann ich als Autorin ja nicht ganz inkompetent sein!) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Titel ist englisch zu lesen. Deutsch klingt er blöd :c Komplett anzeigen

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Case 1: Aoko auf Abwegen

Kaito x Aoko

Ich werde jede Menge doofer Wortspiele verwenden!

Bakaito setzt sich aus Baka und Kaito zusammen, also Idiot-Kaito; Aho bedeutet ebenfalls Idiot und wird von Kaito anstelle von Aoko verwendet, weil es ähnlich klingt.

Fall 1: Aoko auf Abwegen

„Ahoko-san.“ Nichts.

“Ahoko-san!”, wiederholte Kaito, diesmal ein wenig lauter. Immer noch keine Reaktion.

„…Ahoko-kun!“ Kaito wurde fordernder. Niemand wagte es, sich drei Mal von ihm rufen zu lassen. Nicht einmal Aoko, und der war viel zuzutrauen. Doch Aoko hielt es überhaupt nicht für nötig, ihn auch nur in irgendeiner Weise zu beachten.

„…Ahoko-chan!“ Da saß sie. Stumm und stur gerade ausstarrend. Das Kinn auf die Hand gestützt, den Blick in die Ferne. Sie sah unglaublich abwesend aus. Hin und wieder blinzelte sie, aber außerordentlich langsam und lustlos. Fast so, als wäre nur ihr Körper da, aber ihr Geist noch lange nicht. Oder als hätte sie jemand mit einem Fluch belegt oderunter Hypnose gesetzt. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, sah sich Kaito verunsichert zu Akako um. Doch die saß genauso gelangweilt wie immer auf ihrem Stuhl. Umringt von Schülern, die sie anhimmelten.

„Aoko!“ Wieder reagierte Aoko nicht. Langsam war es wirklich zum Haareraufen. Was musste man als mehr oder weniger normaler (nun gut, eigentlich war Kaito keinesfalls normal) Oberschüler denn noch machen, um die Aufmerksamkeit zu bekommen? Reichte es denn nicht, dass er sie ganz normal ansprach – ohne Beleidigung und ganz nett? Wenn sie sich weiter so anstellte, würde die Lehrerin noch eher auf ihn aufmerksam werden als Aoko selbst! Vielleicht… ja, vielleicht würde es ja etwas nützen, wenn er einfach mal... sanftere Saiten anschlagen würde. Kaito schluckte. Das würde jetzt jede Menge Überwindung kosten. Er machte sich bereit. Gleich… gleich! Gleich würden diese Worte über seine Lippen rutschen. Gleich. Jeden Moment. Jeden Moment war es soweit. Er fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Gleich. Je…den…Au…gen…blick…

„…Aoko…-chan?“

Endlich zeigte sich eine Reaktion. Sie drehte ihren Kopf langsam zu Kaito und sah ihn durchdringend an. Sie musterte ihn quasi von oben nach unten und schien ein wenig überlegen zu müssen, wie sie nun reagieren sollte. Sie entschied sich für ein geflüstertes: „Was ist denn mit Dir kaputt?“ Diese Antwort traf Kaito wie ein Schlag. Er hätte sich eine etwas andere Reaktion erhofft. Da war er einmal so nett zu ihr und alles, was das einbrachte, war eine geringschätzige Antwort. Andererseits hatte Aoko ja auch nicht gerade Unrecht… dass Kaito sie so ansprach, so ganz normal und dann auch noch mit einem -chan… da war die Unterstellung, etwas stimme mit ihm nicht, schon fast berechtigt. Diese unerwartete Antwort hatte Kaito völlig aus der Bahn geworfen.

„Ähm… ich… also… ja…“

Aoko sah ihn unverwandt an. In etwa so, wie sie die Wand zuvor angestarrt hatte. Fast als würde sie durch ihn hindurchsehen. Es war ein seltsames Gefühl, so wenig von Aoko beachtet zu werden. Sonst redete sie munter vor sich hin, wie ein kleiner Wasserfall, der viel zu viel zu erzählen hatte. Normalerweise konnte er sie mit einem einzigen Wort auf die Palme bringen. Bei Aoko waren Emotionsausbrüche vorprogrammiert – sie hätte ihn damit aufziehen müssen, dass er Aoko-chan gesagt hatte, oder explodieren müssen, weil er sie mehrfach Ahoko genannt hatte. Sie müsste fluchen, Dinge um sich werfen oder mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn auslachen. Aber das hier? Das war nichts. Das war nicht Aoko. Das war irgendein ödes Duplikat, das man ihm anstelle von Aoko dorthin gesetzt hatte.

Das war es – so musste es sein! Jemand war ihm auf die Schliche gekommen. Jemand wusste, dass er, Kaito Kuroba, Kaito Kid, der große Meisterdieb war, und versuchte nun, ihn mit dieser falschen Aoko zu beschatten! Es war nur eine Maskerade! Keine echte Aoko! Ha, was für eine schlechte Maskerade. Wer auch immer sich hinter dieser Aoko verbarg, war ein miserabler Imitator. Er hatte doch sofort erkannt, dass das nicht Aoko sein konnte.

„Also, was willst Du?“, fragte Aoko.

Kaito dachte scharf nach. Was er ursprünglich wollte, hatte er schon längst vergessen. Stattdessen hatte er blitzschnell einen Plan gefasst, diese falsche Aoko zu entlarven.

„Ich wollte Dir nur sagen…“, begann Kaito genüsslich, rekelte sich auf seinem Stuhl, lehnte sich weit nach hinten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, „dass deine Haare heute noch ungepflegter aussehen als sonst.“ Er grinste. Aoko nicht. Aoko rollte nur kurz mit den Augen und starrte dann weiter geradeaus. Sie hatte die Hände nun beide auf das Tischpult vor ihr gelegt. Ganz klar, es war eine Falle. Das konnte keineswegs Aoko sein. Die hätte ihm nämlich schon längst den Stuhl über den Kopf gezogen und ihn kaltblütig verprügelt.

Bestimmt war es dieser lausige Möchtegerndetektiv Saguru Hakuba, der ihm ein Geständnis entlocken wollte. Kaito lugte unauffällig über seine Schulter, … nur um Saguru direkt hinter ihm zu entdecken, der mit verträumtem Blick gen Aoko blickte. Fein, dann war Saguru eben nicht als Aoko verkleidet.

„Ähm… du hast ordentlich an Gewicht zugelegt, oder?“ Kaitos Grinsen wurde breiter. Aokos Hände verkrampften sich kurz, sie zuckte unmerklich, betrachtete Kaito aus dem Augenwinkel und… ansonsten geschah nichts.

Gut, wenn das so war, musste Kaito jetzt seine Trumpfkarte ausspielen. Er machte sich bereit. Er sah Aoko durchdringlich an. Er musterte sie. Von oben nach unten. Von unten nach oben. Was er nun gleich sagen würde, könnte ihn unter normalen Umständen das Leben kosten. Er holte tief Luft. Das Timing musste stimmen. Der Tonfall. Die Prosodie. Es war wie bei einem Juwelenraub. Alles musste perfekt laufen.

„A-o-ko!“ Sie blickte ihn an. Perfekt, der Einstieg war geglückt. Sie hob eine Augenbraue und er fuhr fort:

„Sag mal, wird es nicht langsam Zeit, dass Du auch mal was an Oberweite kriegst?“ Er hatte sie definitiv am Haken, jetzt kam es auf das passende Finish an: „Wo Du doch schon bald 18 und mit der Oberschule fertig bist?“

Das war der Gnadenstoß gewesen. Man hörte ein lautes Krachen, als Aoko aufsprang und damit unverhofft den Tisch umwarf. Sie hatte die Hand zur Faust geballt erhoben und funkelte Kaito boshaft an.

Als er das bösartige Glitzern in ihren Augen sah, war er sich nicht sicher, ob er nicht doch zu weit gegangen war und ob er diese Aktion überhaupt überleben würde. In der Klasse war es totenstill. Selbst die Lehrerin stand wie erstarrt an der Tafel und ließ entsetzt ein Stück Kreide fallen. Sämtliche Blicke ruhten auf Aoko und Kaito. Es war fast ein wenig gespenstisch. Die Zeit schien stillzustehen, bis Aokos Schnauben und schweres Atmen die Stille jäh durchriss. Sie stand kerzengerade da, doch ihre Beine und Hände zitterten. Ihr Blick durchbohrte Kaito. Sie schien unschlüssig zu sein. Immerhin hatte sie Kaito noch nicht niedergeschlagen.

„N-n-nakamori Aoko!“ Die Lehrerin war die erste, die ihre Fassung zumindest ansatzweise zurückgewonnen hatte. Mit einem Fingerzeig wies sie Aoko an, nach draußen zu gehen und vor der Tür zu warten. Kaito glaubte, noch so etwas wie ein „Na schönen Dank auch!“ von Aoko zu hören, bevor sie sich abwandte und trotzig nach draußen ging.

Ja. Fein. Das… das war immerhin ein Wutausbruch gewesen. Nicht ganz Aokos Standard, aber immerhin ein Ansatz. Normalerweise hätte es Verletzte geben müssen. Ein Mob wäre geflogen. Mindestens. Aber immerhin hatte sie wieder menschliche Regungen gezeigt. Normalerweise hätte sie explodieren müssen. Sie hätte sich rechtfertigen müssen, Kaito die Schuld zuweisen und sich gegen diese Ungerechtigkeit wehren müssen. Normalerweise. Aber heute war Aoko nicht normal. Und das gefiel Kaito gar nicht.

Nach einer Viertelstunde durfte Aoko wieder am Unterricht teilnehmen. Sie richtete geistesabwesend ihren Tisch wieder auf und setzte sich wieder genauso teilnahmslos und in die Ferne starrend hin wie zuvor. Einzig einen vernichtenden Blick gönnte sie Kaito noch. Ansonsten ging er bis zum Ende des Unterrichts leer aus was Aokos Aufmerksamkeit anbelangte.

Doch glücklicherweise dauerte der Schultag nur noch eine halbe Stunde an und dann hatte Kaito ja immer noch den ganzen Rückweg, um Aoko angemessen zur Rede zu stellen. Andererseits hatte sie auch genug Zeit, ihn fertig zu machen…

Kapitel 2

Case 2: Kommissar Kaito kombiniert

„Hör zu…“

Aoko schritt unbeirrt weiter. In ihrer Hand hielt sie ihre Schultasche umklammert, während Kaito ihr hinterher hastete und versuchte, ein ordentliches Gespräch zu führen.

„Aoko!“, rief Kaito, spurtete an ihr vorbei und blieb unmittelbar vor ihr stehen, um sie so zum Bremsen zu bewegen. Für einen Moment dachte Kaito, sie würde direkt in ihn hineinrennen. Wahrscheinlich hatte sie das ursprünglich auch vorgehabt, und sich erst im letzten Moment dagegen entschieden.

„Hör zu“, wiederholte sich Kaito und legte seine Hände auf Aokos Schultern. Sie hob eine Augenbraue. „Es… tut mir Leid, ja? Also hör auf, rumzuschmollen!“ Aoko schüttelte seine Hände mit einer raschen Bewegung ab und erwiderte: „Ich schmolle nicht.“ Sie wollte sich wieder in Bewegung setzen, doch Kaito hielt sie erneut davon ab, einfach weiterzulaufen.

„Wenn du möchtest…“, Kaito zögerte kurz und überlegte sich seinen nächsten Schritt reiflich, „Wenn du möchtest, kannst Du mir gerne eine reinhauen! …das würdest Du sonst doch auch in so einer Situation machen!“

Aoko durchbohrte Kaito mit ihrem Blick. Offenbar prüfte sie, wie ernst er es meinte. Dann hob sie langsam ihre Hand und holte zu einer Ohrfeige aus. Kaito schloss die Augen und erwartete einen gepfefferten Schlag. Als er hörte, wie sich Aokos Hand in rasender Geschwindigkeit auf ihn zu bewegte und die dünne Luft zwischen ihnen durchschnitt, kniff er die Augen fest zusammen.

Doch nichts kam. Kein Schmerz, kein Klatschen, kein gar nichts. Als er zögernd und ganz langsam nur zunächst sein rechtes, dann sein linkes Auge öffnete, sah er, dass Aoko kurz vor seiner Wange gestoppt hatte. Nur wenige Zentimeter trennten Aokos Hand von seinem Gesicht. Kaito konnte Aokos Mimik kaum erahnen, geschweige denn entschlüsseln, weil ihr Haar ihr Gesicht verdeckte.

Dann schüttelte sie den Kopf, rang sich zu einem seichten Lächeln durch und hakte sich mit dem eben noch erhobenen Arm nun bei Kaito ein, um weiterzlaufen. „Es ist nichts!“

Oh, und ob etwas war! Aoko hakte sich nicht so einfach bei Kaito ein. Aoko würde auch niemals die Gelegenheit verstreichen lassen, Kaito eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen. Vor allem dann nicht, wenn er es eigentlich auch verdient hätte.

„Vergiss es einfach!“ Aoko marschierte schnurstracks weiter und zog Kaito dabei halbherzig hinter sich her, der mit Müh und Not hinterher stolperte.

Das wurde langsam gruselig. Aber Kaito wäre ja nicht Kaito, wenn er nicht noch ein Ass im Ärmel gehabt hätte. Ach was, sein Ärmel bestand quasi nur aus Assen! Sein Repertoire umfasste massenweise Tricks, mit denen er Aoko schon noch drankriegen würde. Im Moment entschied er sich dafür, gleich zu rabiateren Methoden zu greifen.

„Ach, da fällt mir ein, dass ich noch ganz schnell was erledigen muss!“, sagte Kaito und wieselte sich aus Aokos Klammergriff. Aoko stutzte kurz, dann stemmte sie die Arme in die Hüfte und erwiderte: „Fein! Ich hab auch noch genug zu tun!“ Trotzig stampfte sie in die eine Richtung, Kaito eilte flugs in die andere.

Mit dieser Aoko stimmte etwas ganz und gar nicht und Kaito würde dem auf den Grund gehen. Koste es, was es wolle!

Kaum eine Stunde später stand er in völlig neuer Aufmachung an der Straßenecke zu Aokos Haus. Mit einer Latex-Maske und einem Kleidungsstil, der so unauffällig war, dass es ihn kaum wundern würde, wenn einige Leute einfach durch ihn hindurchzugehen versuchten, würde er Aoko nun auf die Schliche kommen. Da spielte der große Phantomdieb eben einfach mal Detektiv, so schwer konnte das ja wohl nicht sein. Es war Freitag, später Nachmittag, irgendwas würde Aoko ja wohl vorhaben. Irgendetwas, was sie verraten würde. Etwas Verdächtiges. Etwas, das ihr Verhalten erklären sollte.

Er könnte jetzt offensiv vorgehen - sich einfach bei ihr in den Vorgarten setzen, oder auf einen Baum klettern und mit einem Fernglas durch ihr Fenster sehen, um zu schauen, was sie so treibt. Er könnte aber auch wesentlich passiver vorgehen und einfach… doch da kraxelte Kaito bereits einen dichten Kirschbaum vor dem gegenüberliegenden Gebäude hinauf, positionierte sich dort so, dass er einen guten Blick auf Aokos Zimmer und einen bequemen Sitz hatte und begann dann… zu warten.

In Aokos Zimmer bewegte sich nichts. Auch der Rest des Hauses schien ziemlich still. Kommissar Nakamori war vermutlich irgendwo im Einsatz. Aber wo war Aoko? Wenn sie schon unterwegs war, war das seiner Detektivarbeit wirklich sehr hinderlich. Immerhin hatte sie schon groß angekündigt, noch genug zu tun zu haben. Kaito hatte das leichtsinnigerweise für einen Bluff gehalten, doch nun, wo er sie nicht entdecken konnte, wurde er doch etwas nervös.

Er reckte und streckte sich, um auch in alle Winkel des Hauses einen bestmöglichen Blick zu erhaschen, immer darauf bedacht, nicht die Balance zu verlieren, um nicht unsanft aus dem Baum zu fallen. Und dann, endlich, entdeckte er sie. Und war direkt enttäuscht.

Sie lag einfach nur auf dem Bett. Sie regte sich gar nicht. Starrte einfach nur die Decke an. So ein langweiliges Mädchen.

Plötzlich ließ sie etwas aufschrecken – sie richtete sich direkt auf und sah zu ihrer Zimmertür, durch die in diesem Moment Kommissar Nakamori trat. Er sah ein bisschen schuldbewusst aus, doch ansonsten genauso langweilig und spießig wie eh und je. Kaito schob es darauf, dass er wohl dachte, Aoko gerade geweckt zu haben.

Kaum war Nakamori wieder aus der Tür verschwunden, taumelte Aoko zu ihrem Kleiderschrank, wühlte kurz darin, bis sie offenbar gefunden hatte, was sie gesucht hatte, und verließ dann mit einem kleinen Stapel Kleidungsstücken das Zimmer.

Kaito wartete darauf, dass sie hinter einem Fenster der anderen Räume wieder auftauchte, doch sie blieb verschwunden. Entweder verharrte sie geraume Zeit im Flur, was Kaito aber selbst für sehr unwahrscheinlich hielt, oder aber – und das erschien Kaito hingegen sehr plausibel – sie war geradewegs ins Badezimmer gegangen. Denn, sofern Kaito den Grundriss des Hauses der Familie Nakamori noch richtig im Gedächtnis hatte, war das Bad aus seiner Perspektive heraus nicht einsehbar… was ja durchaus verständlich war.

Puh, das konnte jetzt dauern… Kaito lehnte sich zurück und brachte sich in eine etwas bequemere Position. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und begann zu grübeln. Was zum Teufel machte er hier eigentlich? Wie ein billiger Voyeur in einem Baum hockend, nur um eine Klassenkameradin zu beobachten… Aoko… eine Klassenkameradin… eine Sandkastenfreundin… Na und wenn schon, selbst wenn sie sich seit dreizehn Jahren kannten – mehr war Aoko doch gar nicht. Eine Nervensäge. Ein Quälgeist. Ein einfaches, dämliches Mädchen mit dem Körper einer Dreizehnjährigen. Er hätte jetzt so viele andere Dinge erledigen können… und trotzdem saß er hier für dieses dümmliche Weibsbild… nein, nicht für – sondern wegen. Wegen dieses dämlichen Weibsbildes. Wenn sie sich einfach normal verhalten hätte, dann könnte er jetzt unbekümmert seines Weges gehen. Aber nein – das Fräulein Dramaqueen musste ja einen auf Gefühlsschwankungen machen. Das machte sie doch absichtlich! Sie wusste genau, dass Kaito sich Sorgen machte und dass er wie ein Irrer in dem Baum saß und sie beobachtete. Sie wusste es! Und sie wollte es so! HA! Aber diese Genugtuung würde er ihr nicht gönnen. Er würde weiter wie ein Besessener in dieser Baumkrone verharren und ihr nachgehen!

Wie Kaito so über Aoko nachdachte und warum er eigentlich auf dieser dämlichen Eiche in dieser gottverdammten Kälte saß… und sich daran erinnerte, wie er sie damals vor dem Glockenturm traf, wo sie alleine auf ihren Vater wartete… da wurde ihm doch ein bisschen warm im Brustkorb. Vielleicht war das aber auch nur eine Erkältung, die er sich gerade einfing, weil er am Spätnachmittag in Bäumen rumlungerte, um Frauen nachzustellen.

Während Kaito so vor sich hin gegrübelt hatte, war Aoko aus dem Bad zurückgekehrt. Sie war in einen quietschgelben Frottee-Badeanzug gehüllt und ihre Haare fielen ihr nass und schwer auf die Schultern. Die Klamotten, die sie sich zuvor mitgenommen hatte, trug sie wieder unter dem Arm. Versteh einer die Frauen. Transportieren Dinge ohne ersichtlichen Grund von A nach B. Doch Kaito konnte sich gerade kaum den Kopf über die Eigenarten von Frauen zerbrechen. Der Gedanke, dass er gerade eine Aoko im Bademantel vor sich hatte… Kaito schüttelte den Kopf. Nur Aoko kam darauf, mit ihren fast 18 Jahren in einem gelben Frottee-Bademantel herumzulaufen! Jedes anständige Mädchen hätte sich doch in ein viel zu knappes Handtuch gehüllt, das viel zu viel nackte Haut zeigte, damit es sich für jeden Hobby-Voyeur doch auch lohnte, durch’s Fenster zu gucken!

Aokos glatte Beine schafften es auf unnatürliche Weise trotz dieses gelben Ungetüms aus Frottee hervorragend auszusehen. Auch, wenn Kaito es ihnen nicht zugestehen wollte. Er hängte sich immer noch an der Idee auf, dass Aoko in ihrem Alter nicht mehr in Bademänteln herumlaufen sollte. Doch da streifte sie das Ding auch schon ungeniert ab – immerhin wusste sie ja nicht, dass jemand – und vor allem um wen es sich bei diesem jemanden handelte - sie ganz genau beobachtete.

Aoko hatte gerade erst den linken Ärmel des Mantels über ihre Schulter gestreift und diese entblößt, da hatte Kaito schon instinktiv den Kopf weggedreht und begann, in eine andere Richtung zu starren. Seine Kopf war hochrot, das Blut rauschte ihm in den Ohren. Was…was… was fiel ihr denn ein, sich einfach so vor dem Fenster auszuziehen, ohne zu überprüfen, ob sie nicht jemand beobachtete?! Hatte ihr Vater ihr denn gar nichts beigebracht?!

Für einen Moment war Kaito hin und hergerissen, ob er nun zu Aoko rüber spähen sollte oder nicht. Es konnte immerhin wichtig für seine Recherchen über Aokos seltsames Verhalten sein…. Andererseits war es vielleicht doch etwas unhöflich, so ungeniert zu ihr rüber zu schauen. Außerdem handelte es sich doch nur um Aoko – was sollte es da schon großartig zu sehen geben? Noch dazu hatte er schon oft genug einen Blick unter ihren Rock erhaschen können… was sollte da schon großartig anders an einer Aoko sein, die gerade frisch aus der Dusche gestiegen war? Sie war bestimmt einfach nur… glitschig und nass und eklig… wer möchte schon ein glitschiges Mädchen in den Armen halten…? Momentmomentmoment – von „im Arm halten“ war doch nie die Rede gewesen! Kaito musste sich wieder auf’s Wesentliche konzentrieren. …aber vielleicht sollte er Aoko mal vorschlagen, gemeinsam in ein Schwimmbad zu gehen. Die idee sollte er zumindest im Hinterkopf behalten.

Er drehte langsam den Kopf zurück in Richtung Aokos Zimmer. Zunächst blinzelte er nur mit einem Auge herüber… dann erkannte er, dass sich Aoko inzwischen einigermaßen angekleidet hatte und gerade dabei war, sich mühsam in eine Nylonstrumpfhose zu wieseln. Sie tapste dabei unbeholfen durch’s Zimmer, das eine Bein schon in die Strumpfhose gezwängt, das andere wild in der Luft herum rudernd in der Hoffnung, es auch irgendwie in die Strumpfhose gequetscht zu kriegen.

Kaito hätte beinahe laut losgelacht, doch momentan ging seine Tarnung vor. Er konnte sich jetzt doch nicht so einfach durch schallendes Gelächter verraten! Auch wenn es zu köstlich war, einer tollpatschigen Aoko beim Einkleiden zuzusehen.

Einige Minuten später hatte sich Aoko nahezu komplett in Schale geworfen – sie trug ein hellblaues, gerüschtes Kleid, das hinten mit einer Schnürung versehen war und hatte sich nun vor ihren Spiegel gestellt, um sich auch noch ihr Gesicht zu bemalen. Kaito beobachtete, wie sie die typischen, weiblichen Grimassen zog, die alle Frauen während des Schminkens einmal durchliefen. Währenddessen fragte er sich, warum er dieses Kleid noch nie an Aoko hatte sehen dürfen. Es war ja nicht so gewesen, dass er noch nie etwas mit ihr unternommen hatte! Genau genommen, hatte es schon genug Gelegenheiten für sie gegeben, sich auch für ihn so schick zu machen. Aber anscheinend hatte sie es bislang nicht für nötig gehalten.

Kaito grummelte ein wenig vor sich hin. Aber eifersüchtig war er nicht – definitiv nicht! Auf wen denn auch? Und wieso überhaupt? Das war doch unsinnig! Pfff, wer würde wegen Aoko denn überhaupt auch nur ansatzweise so etwas wie Eifersucht empfinden?

In den folgenden Minuten wurde, sofern Kaito das von seinem Versteck aus beurteilen konnte, das Glätteisen strapaziert, diverse Accessoires an- und wieder abgelegt, und ein kleinerer Wutanfall, in dem Aoko ihre Frisur wieder komplett zerwuselte und mit dem Fuß auf den Boden aufstampfte, durchlebt. Insgesamt sehr interessant anzuschauen, aber nicht wirklich ertragreich. Wenn dieses dümmliche Mädchen sich jetzt noch den ganzen Abend einfach nur ankleiden wollte, ohne irgendwas sinnvolles zu tun, nachdem sie sich nun schon so aufgebrezelt hatte, würde Kaito es ihr ziemlich übel nehmen. Wie lange mochte er hier nun schon so sitzen, ohne dass etwas Nenneswertes passiert war…? Kaito seufzte. Definitiv zu lange.

Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell – Aoko warf eine scheinbar willkürliche Auswahl an Schminkzeug in ein kleines Handtäschchen und einen letzten Blick in den Spiegel, dann verließ sie das Zimmer und kurz daraufhin auch das Haus. An der Tür verabschiedete sie sich von ihrem Vater, der sie noch ein wenig begutachtete, dann aber fröhlich und wohlwollend nickte.

Endlich setzte sich Aoko vollends in Bewegung und das war der Zeitpunkt, ab dem es für Kaito erst richtig interessant wurde.
 

(Ich selbst liebe meinen gelben Frottee-Bademantel übrigens.)

Case 3: StereoTyp

In sicherem Abstand folgte Kaito Aoko. Ab und an ließ er sich kurz zurückfallen, indem er sich auf Straßenschilder oder Ähnlichem zu konzentrieren schien, damit Aoko keinen Verdacht schöpfte oder sich gar beobachtet vorkam. Während er hier also so hinterherschlich, malte er sich aus, weswegen sie sich wohl so herausgeputzt hatte… bisher hatte er sie nur einmal so aufgedonnert gesehen – und das war damals, als sie zusammen in das Billiard-Café gegangen waren, um den legendären Queue zu stehlen. Und da war sie kläglich gescheitert. Er selbst hatte sie noch mal komplett umziehen müssen… damals war ihr Outfit kein Vergleich dazu gewesen, wie sie jetzt aussah.
 

Vielleicht traf sie sich mit Keiko, um einfach mal ein bisschen das Leben als Oberstufenschülerin zu genießen… oder eventuell ins Theater – für so eine schnöde, schnulzige Romanze… vielleicht traf sie sich ja auch mit diesem Möchtegerndetektiv Saguru Hakuba! Baah, das mochte sich Kaito gar nicht vorstellen… dieser schmierige, komische Typ mit Aoko… pfff, dabei passten sich doch so gut zusammen. Der erfolglose Detektiv und die Tochter des erfolglosen Kommissars. Trotzdem konnte Kaito den Gedanken nicht ausstehen. Schlimm genug, dass Hakuba schon offenkundig Interesse an Aoko geäußert hat, als er damals zu ihnen in die Klasse kam.
 

‚Dämlicher Typ‘, grummelte Kaito vor sich hin, während Aoko in hochhackigen Schühchen vor ihm entlang stakste und ab und zu dezent umknickte. Sie könnte ja fast elegant wirken, wenn sie nicht so burschikos und tollpatschig wäre...

Fünfzehn Minuten Fußmarsch später blieb Aoko vor einem Café stehen. Sie kramte ein kleines Zettelchen aus ihrem Handtäschchen und verglich die Adresse auf dem Stück Papier mit der Anschrift auf dem Café. Sie blickte unsicher nach links und rechts, als würde sie noch jemanden erwarten – oder vielleicht ein Zeichen, dass dies hier wirklich der Ort war, zu dem sie wollte. Sie schluckte kurz, sammelte sich und betrat dann entschlossen das Lokal. Kaito folgte ihr in einem sicheren Abstand von exakt vierzehn Sekunden. Ob das nun ein sicherer Abstand war, ist jedem selbst überlassen zu entscheiden. Für Kaito war es das – immerhin wollte er keinesfalls verpassen, was da so vor sich ging!
 

Es war ein kleines, kuschliges Lokal, das vom Eingang aus komplett einsehbar, weil es wirklich eher klein war. Überall an den Wänden waren Holzvertäfelungen. An den Wänden des Cafés waren Bänke mit rotem Lederbezug um die Holztischchen aufgestellt, während es in der Mitte des Raumes nur Tische mit Stühlen mit demselben Lederbezug gab. Ein ganz normales Lokal eben. Das gottseidank keine Trennwände hatte. Das hieß, Kaitos Lauschangriff stand nichts im Wege! Die vereinzelten Gäste, die über das Lokal verstreut waren, schienen sich relativ leise und eher mit sich selbst und ihren Laptops zu befassen. Eine geschäftig wirkende Servicekraft huschte von einem Tisch zum anderen, um Bestellungen aufzunehmen, zu servieren und abzuräumen.
 

Wenige Schritte von Kaito entfernt stand Aoko, die sich immer noch umsah. Es gab genügend freie Plätze, warum setzte sie sich nicht einfach? Nein, natürlich! Sie hielt Ausschau nach jemandem… nach einer Verabredung! Entweder war der- oder diejenige noch nicht da, oder Aoko war sehr blind. Sie wirkte hilflos und überfordert und Kaito hatte kurz das Bedürfnis, sie tröstend in den Arm zu nehmen, ihr über den Kopf zu streicheln und ihr zu sagen, dass sie sich nicht weiter umzusehen, nicht weiter zu suchen brauchte, weil er doch direkt hier war! Kaito vergaß diesen Gedanken schnell wieder. Das war doch dümmlich. So ein Unfug!
 

Plötzlich wurde weiter hinten im Café ein Arm gehoben, der zu Aoko rüberwinkte. Aha. Der Arm gehörte zu einem Typen, der Kaito auf seltsame Weise vertraut vorkam. Vermutlich, weil er aussah, wie irgendein x-beliebiger Typ, dem man ständig auf der Straße begegnete. Kaito schnaubte instinktiv verächtlich. Dies irritierte eine gerade zufällig vorbeikommende Kellnerin, die sich verwundert nach Kaito umsah. Kaum bemerkte er, dass er aufgefallen war, täuschte er einen Husten vor, um sein Schnauben so zu tarnen. Aoko war unterdessen federnden Schrittes zu dem winkenden Typen gelaufen, verbeugte sich artig und setzte sich ihm dann gegenüber. Es war ein Tisch für zwei Personen – es war also recht eindeutig, was da so laufen sollte. Kaito erstickte ein erneutes Schnauben rechtzeitig im Keim. Schließlich bewegte er sich eher widerwillig in Richtung des Tisches, an dem Aoko und Mr. X-beliebig saßen und suchte sich einen Tisch in unmittelbarer Nähe dazu aus. So konnte er sich ungeniert an dem Gespräch der beiden ergötzen und wunderbar alles mitbekommen, was ihn eigentlich überhaupt nichts anging.
 

Zuerst kam das standardgemäße Small-Talk-Geplänkel. Wie war dein Weg, wie geht’s dir so, dann dümmliches Gekicher – nicht von Aoko, nein, von diesem dümmlichen Typen, der sich erdreistete, hier in vermeintlich vertrauter Zweisamkeit mit Aoko vor sich hin zu grinsen -, was machst Du so, wie gefällt’s dir hier, blablabla, früher hätte ein Kaffee nicht so viel gekostet.
 

Während dieser trivialen Kommunikation hatte sich Kaito eine heiße Schokolade geordert und rührte nun gelangweilt in diesem herum. Man, er hatte sich das hier wesentlich spannender vorgestellt. Das hier war nur langweiliges Geplänkel. Wo waren die Emotionen, die Geheimnisse, das Flüstern, das Tuscheln, … die Action! Der Grund, aus dem Kaito Aoko so aufwendig nachgeschlichen war!
 

Doch Aoko schlürfte nur langsam durch einen Strohhalm ihre Cola. Plötzlich fiel das Gespräch dann immerhin auf ein Thema, bei dem auch Kaito mitreden konnte. Na ja, hätte mitreden können, wenn er denn gedurft hätte.

„Und, wie geht es deinem Vater?“, fragte der Typ mit dem 0815-Gesicht. Was hatte er für ein Recht, nach ihrem Vater zu fragen? War er… ihr Onkel? Ihr Cousin? Ein noch weiter entfernter Verwandter? Er kam Kaito ja gleich so bekannt vor… vielleicht hatte er ihn ja mal bei Aoko gesehen? Nichtsdestotrotz wurde Kaito hellhöriger. Eventuell würde er nun ja die Identität dieses… dieses… Kaito wusste nicht einmal wie er ihn angemessen beschimpfen sollte. Der Typ hatte einfach keinerlei bemerkenswerte Merkmale! Kein Quadratschädel, kein Fettsack, kein Schluffi, kein gar nichts!
 

Nun, wäre Kaito nicht so wahnsinnig voreingenommen gewesen, hätte er vielleicht das markante Kinn und die buschigen Augenbrauen aufgefallen. Aber er hatte sich bereits darauf versteift, dass dieser Typ einfach wahnsinnig langweilig aussah. Nervös tippte er mit den Fingern auf der polierten Tischplatte herum.

Aoko winkte gelangweilt ab und sagte: „Ach, es ist das Übliche. Er ist ganz versessen auf diesen Kaito Kid.“
 

Aokos besondere Art und Weise „Kaito Kid“ auszusprechen beeindruckte Kaito immer wieder. Es gab nichts, was Aoko noch verachtungsvoller und hasserfüllter aussprechen konnte. Und es gab niemanden, der „Kaito Kid“ mit noch mehr Hass ausspucken konnte. Es war fast ein erbarmungswürdiges Kunstwerk. Ein Meisterwerk.

Ihre Begleitung erwiderte etwas, doch Kaito konnte nicht verstehen, was er sagte – genau in diesem Moment schob sich eine Bedienung zwischen den beiden Tischen durch und fing so das Gespräch ab. So blieben Aoko und dieser seltsame Typ nun doch tatsächlich einen Moment lang unbelauscht!
 

Als Kaito wieder freie Sicht und freies Gehör hatte, konnte er einen Blick auf Aoko erhaschen, die gerade munter vor sich hin kicherte. Dabei benahm sie sich seltsam. Seltsam ungewöhnlich. Ungewöhnlich seltsam. Kein bisschen wie Aoko, wenn man es recht betrachtete. Sie hielt die Hand vor den Mund – sie tat fast so, als wäre sie… eine Dame. Wer zum Teufel war dieser Kerl das Aoko sich so für ihn verstellte? Als nächstes würde sie vermutlich auch noch eine Serviette benutzen! Dieses… dieses… Kaito fand keine Worte. Das war doch nicht mehr Aoko! Wo war das Mob schwingende Monster hin, das ihn seit seiner Kindheit auf die Palme trieb?
 

Mittlerweile konnte Kaito die beiden am Nachbartisch jedoch wieder ungehemmt belauschen. Er versenkte seinen Blick in die heiße Schokolade vor sich, um die beiden nicht ansehen zu müssen. Es fiel ihm schwer, seinen Blick an die Tasse vor sich zu fesseln anstatt an Aoko – aber andererseits wollte sie auch nicht sehen, wie sie diesen Typen so dümmlich anlächelte. Kaito grummelte in Gedanken vor sich hin. Warum gab sie sich überhaupt mit so jemandem ab? Er musste, zumindest nach dem zu urteilen, was Kaito bislang so von ihm gesehen hatte, doch viel älter sein als sie. Mindestens… vier oder fünf Jahre! Also viel, viel zu alt für sie. Sie sollte sich jemanden in ihrem Alter suchen. Und in seinem. Hey, warum nahm sie nicht einfach diesen netten, sympathischen Typen am Nebentisch, den sie schon seit Ewigkeiten kennt, und alles wäre gut? Weil’s nun mal nicht so ist. Weil Aoko eine dumme Gans ist. So. Darum saß Kaito nun ja auch alleine am Nebentisch wie ein abgehalfterter Voyeur anstatt zusammen mit Aoko an einem Tisch für zwei.
 

Kaitos Gedankenschwall, in dem er sich herzlichst über Aoko ausließ, hatte ihn für einige Momente von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt – nämlich die beiden zu belauschen. Als er wieder einstieg, konnte er Mr. X-Beliebig gerade sagen hören: „Haha, ja, das kann ich mir vorstellen, ich weiß ja, wie der Kommissar uns immer rumkommandiert, wenn Kid eine Ankündigung gemacht hat!“

Und nun kam Kaitos geniale Kombinationsgabe zum Zug. Zwei Dinge enttarnten diesen Typen. Es war ganz klar zu sehen, dass er ein vollkommener Trottel war. Aber das wusste Kaito auch schon vorher, nein, nun hatte er was Neues entdeckt. Zwei Dinge. Zwei Dinge, die alles aussagten.

Da wäre Beweisstück 1: Dieser Typ sagte nicht „dein Vater“ oder „Kommissar Nakamori“. Nein, er sagte nur „der Kommissar“. Das legte zum einen die Vermutung nahe, dass er einen engeren Kontakt zu Kommissar Nakamori hatte, als zu Aoko selbst. Hinzu kommt Beweisstück 2: „uns immer rumkommandiert.“ Uns. Uns. Er sagte „uns“. Er gehörte eindeutig zur Polizei. Und ist einer der Polizisten, die von Nakamori befehligt werden.
 

Kaito warf sich verächtlich in seinem Stuhl zurück. Was für ein billiges Klischee. Die Tochter des Kommissars und ein Polizist. Das war ja noch schlimmer als… die Tochter des Polizeikommissars und ein Schülerdetektiv. Oder die Tochter des Polizeikommissars und ein gesuchter Meisterdieb. Kaito schluckte.

Plötzlich überkam ihn das seltsame Gefühl des Angestarrtwerdens. Er wagte einen kurzen Blick nach rechts… und sah direkt in Aokos fragendes Gesicht. Sie starrte ihn in der Tat von ihrem Platz aus an. Als sie bemerkte, dass er zurücksah, blickte sie schnell wieder ihren Gesprächspartner an.

Hatte sie seine undurchschaubare Maskerade etwa durchschaut?! Kaito wurde ganz mulmig zumute. Aber… wenn sie ihn durchschaut hätte… wäre sie dann nicht ausgerastet? Hätte ihm Dinge an den Kopf geworfen? Mit seiner eigenen heißen Schokolade verbrüht?
 

Der Dialog des Nachbartisches wehte gedämpft zu ihm rüber. Anscheinend war Aoko nur auf ihn aufmerksam geworden, weil Kaito sich so impulsiv in seinen Stuhl fallen lassen hatte. Zumindest war das das, was sie ihrer Begleitung soeben erzählt hatte, nachdem er gefragt hatte, ob sie ‚den schrägen Vogel am Nachbartisch‘ kenne. Aber vielleicht log sie ja auch? Aaargh, dieses Mädchen! Es war zum Haareraufen! Warum bemühte er sich eigentlich so um sie?!
 

Kaito gab sich nun wieder mehr Mühe, unauffällig zu sein. Wie es sich für einen Meisterdieb gehörte. Zum ersten Mal wagte er einen genaueren Blick in das Gesicht seines ‚Rivalen‘. Und plötzlich wusste er, warum es ihm so bekannt vorkam. Warum er das Gefühl hatte, dass dieser Typ wie jeder x-beliebige Kerl auf der Straße aussah.
 

Dieser Typ… dieser elende, schmierige Typ, der sich da an Aoko ranmachte, musste schon mal von Kaito als Verkleidung benutzt worden. Er musste Kaito schon mal bei einem Juwelenraub die Identität leihen.

Kaito war also… schon mal dieser Typ gewesen.

Case 4: Blind Date zu viert

Kein Wunder, dass es Kaito so vorkam, als würde dieser Typ wie jeder x-beliebige andere Typ aussehen… er war ja auch ein x-beliebiger Typ. Er war als x-beliebiger Typ von Kaito dazu ausgewählt worden, ihm als Maskerade zu dienen… wenn er nur wüsste, wo und wann das damals war… er hatte schon so viele Polizisten überwältigt und ihre Identitäten geklaut… es war zum Auswachsen.
 

Überhaupt. Was wollte Aoko denn mit so einem Schluffi, der sich einfach so von einem siebzehnjährigen Oberschüler überwältigen ließ?! Am liebsten würde Kaito sich jetzt furchtbar aufregen. Mit der Faust auf die Tischplatte hauen. Untertassen an die Wand werfen. Dem Schluffi am anderen Tisch die Meinung sagen. Und dann triumphierend mit Aoko in den Armen das Café verlassen. Er würde sie auf Händen raustragen, die Leute würden ihm zujubeln, man würde eine Parade veranstalten. Weil er die holde Jungfrau aus den Klauen des bösen Polizistenmonsters befreit hatte.
 

Jungfrau. Jungfrau. Jungfrau. Kaum hatte Kaito dieses Wort in seinen Gedanken ausgesprochen, bekam er es nicht mehr aus seinem Kopf. Es rief Bilder bei ihm hervor, die er nicht einmal ansatzweise sehen wollte. Aoko… mit diesem Typen… kopfschüttelnd versuchte er, diese Gedanken zu verdrängen.
 

Das ging mehr oder weniger gut. Eigentlich eher weniger. Doch dann betrat jemand – oder vielmehr etwas - das Café, das Kaito ganz schnell vom Denken abbringen sollte. Es pirschte sich auf leisen Sohlen heran, sodass es völlig unerwartet vor Kaitos Tisch auftauchte… und dass Kaito es überhört und übersehen hatte, lag wohl nur daran, dass er ganz und gar in Gedanken versunken war. Genau genommen war dieses etwas nämlich mit viel zu hohen Schuhen und dementsprechendem Geklacker auf seinen Tisch zu stolziert. Es trug einen viel zu großen, pompösen schwarzen Mantel mit Fellbesatz, indem das etwas ziemlich verloren, schmächtig und unterernährt aussah. Es setzte sein Handtäschchen schon auf Kaitos Tisch, noch ehe Kaito zu dem etwas hochblicken konnte.
 

„Gorgonzola Vierundsiebzig?“, krächzte das etwas. Kaito sah verständnislos auf. Ihm wurde ganz verträumt entgegen gestarrt. Noch ehe er etwas erwidern konnte, setzte sich das etwas ganz ungeniert, warf ihren Mantel ab und entblößte ihren dürren, mit einem Kleid mit Leopardenmuster bedeckten Körper. Bedeckt war eigentlich schon zu viel gesagt, da das ‚Kleid‘ gefährlich viel Aussicht ins Dekolleté bot. Kaito wusste gar nicht, wie ihm geschah, da wurde er schon voll getextet. Das etwas stellte sich als fünfundfünfzigjährige Frau mit Namen Umeko heraus, das sich gerne auf Datingseiten herumtreibt und dort vor allem unter dem Namen Loverdoll23 zu finden ist. Und ganz so wie es schien, hielt sie Kaito für ihr Blind Date – Gorgonzola47. Wer auch immer sich so nennen mochte. Kaito war es jedenfalls nicht. Sie schwärmte von seinem Profilbild und schob ihm ein ausgedrucktes Exemplar davon zu, um ihm daran zu verdeutlichen, was sie alles an ihm mochte. Kaito konnte keine Ähnlichkeit zwischen seiner Verkleidung und dem vorliegenden Bild erkennen. Die einzige Gemeinsamkeit war das schwarze Haar. Diese Frau musste komplett weit- und kurzsichtig gleichzeitig sein. Also im Prinzip blind.
 

Sie plapperte munter darauf los, ohne Kaito die Chance zu lassen, einzuwenden, dass er überhaupt nicht Gorgonzola47 oder sonst jemand sei – sie redete über ihre Katzen, ihre Hobbies, ihre Ex-Männer… Kaito sah fassungslos dabei zu, wie sie immer wieder den Mund auf und zu machte und zwar jede Menge Worte rauskamen, aber einfach kein Inhalt dabei rauszukommen schien…

Das Schlimmste daran war aber, dass sie in so einer Lautstärke und völlig ununterbrochen, ohne Punkt und Komma, vor sich hin brabbelte, dass Kaito kein einziges Wort mehr von dem verstehen konnte, was Aoko und Mr. Polizist so von sich gaben. Kurze, flüchtige Seitenblicke verrieten ihm, dass sie sich anscheinend gut verstanden und sich prächtig amüsierten. So eine Scheiße.

Aoko war wahrscheinlich im Moment dabei, den Traumtypen ihres Lebens zu finden, während Kaito sich hier mit einer alternden Schachtel abgeben musste, die nicht einzusehen schien, dass sie sich eventuell ihrem Alter angemessen verhalten sollte.
 

Er konnte die beiden am Nebentisch lachen hören und merkte, dass sie hin und wieder zu ihm herübersahen. Wie peinlich. Nun gab er den beiden auch noch einen Anlass sich noch besser zu verstehen, indem sie beide über den Idiotien am Nachbartisch lachen konnten, der einer Schreckschraube ausgeliefert war! Kaito konnte aufgeben. Diesen Tag hatte er abgeschrieben. Mehr würde er heute nicht mehr herausfinden. Nicht mit dieser Trulla am Tisch. Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Handfläche. Scheißtag.

Er ließ Umeko munter vor sich hin schwelgen, während er in Gedanken versank. Wenn er sich daran erinnern konnte, wann und wo er Aokos Begleitung schon mal ausgenutzt hatte… Mensch, er hatte einfach schon so viele Polizisten verkörpert… und schon so viele Juwelen geklaut… es war zum Verrücktwerden! Wenn er wüsste, wer dieser Typ ist… dann könnte er ihn ja mal genauer unter die Lupe nehmen. Schauen, was Aoko so an ihm findet… und zur Not auch seine Beziehung zu Aoko sabotieren…
 

Kaito schauderte bei dem Wort Beziehung. Schnell redete er sich ein, dass mit „Beziehung“ ja gar nicht eine Beziehung auf der Liebesebene gemeint sein musste. Baah. Aoko in einer Beziehung mit so einem Schmierlappen. Baaah. Immer wieder warf er ihr kleine Seitenblicke zu. Sie schien ganz fixiert auf diesen Möchtegernpolizisten zu sein, der da vor ihr saß… Man, sie kriegte ihre Augen ja gar nicht mehr von ihm weg. Und er starrte sie auch ganz ungeniert an. Widerlich. Ab und zu wurden seine Blicke von einer vorbeikommenden Servicekraft unterbrochen. Er nahm diese kleinen Unterbrechungen ohne zu murren hin… doch noch ahnte er nicht, was für eine… Überraschung eine der Servicekräfte für ihn bereit hielt. Eine unerwartete, unangenehme Überraschung.
 

Da Kaito sich so sehr in seiner eigenen Gedankenwelt vertieft hatte, hatte er gar nicht mitbekommen, wie sich Umeko bei einer der Kellnerinnen etwas zu essen bestellt hatte. Und so bahnte sich das Unheil ganz langsam an. Es kam langsam auf einem Tablett angeschlichen, um sich dann in die Szenerie zu stürzen und für heilloses Chaos zu sorgen.

Jener Teller, der den Tumult entfesseln sollte, wurde gerade vor Umeko abgestellt. Da war es. Fett und schuppig lag es auf dem Keramikteller vor ihm. Mit riesigen, leeren Augen starrte es ihn an.
 

Ein Fisch.

Ein gottverdammter Fisch.
 

Sofort geriet Kaito ins Schwitzen. Von all den Sachen, die in diesem Café angeboten wurden, suchte sich diese impertinente Kuh, die nicht mal wusste, dass sie an diesem Tisch falsch war, ausgerechnet den Fisch aus… welches dämliche Café bot überhaupt Fisch an?!

Kaito spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, doch es war hoffnungslos. So wie ihn dieser Fisch anglotzte… sein Blut begann zu rasen und es pochte ihm in den Ohren. Er sog tief Luft ein und versuchte sich beruhigen – es war hoffnungslos. Seine Angst vor Fischen überwältigte ihn einfach. Er hielt es an diesem Tisch einfach nicht mehr aus.
 

Aoko hin oder her, er musste weg. Er musste hier raus. Es hatte sowieso keinen Sinn mehr, die beiden noch weiter zu belauschen.

Eigentlich wollte sich Kaito ruhig und leise erheben, um sich dann gesittet und höflich zu verabschieden. Doch alles, was er da ablieferte, schrie förmlich vor Fluchtgedanken: er sprang gehetzt auf, murmelte irgendwelche unverständlichen Worte und verließ dann zügigen Schrittes das Lokal.

Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Aoko keinen Verdacht geschöpft hatte. Wie viele Menschen gab es denn schon mit Ichthyophobie?! Vielleicht… war es ihr ja auch gar nicht… aufgefallen? Vielleicht hatte sie den Zusammenhang zwischen dem Fisch und seinem fluchtartigen Verschwinden ja gar nicht gesehen?
 

Kaito rannte, von panischen Gedanken geplagt, nach Hause und entledigte sich schon unterwegs seiner Maskerade. So ein unglaublicher, miserabler Fehlschlag! Es hatte wohl so seine Gründe, dass er Meisterdieb und nicht Meisterdetektiv war!
 

Aoko hatte dem seltsamen Gast am Nebentisch noch eine Weile nachgestarrt. Ihr Blick wanderte immer wieder von seinem verlassenen Tisch zum Ausgang, aus dem er so rasant gestürmt war. So ein seltsamer Vogel.

Case 5: Orientierungslos

Na gut. Die letzte Aktion war ein Fehlschlag gewesen. Ein totaler Reinfall. Na ja. Halbwegs. Er wusste jetzt, dass sich Aoko mit jemandem traf. Jemand männlichem. Einem Polizisten. Einem öden, schnöden Polizisten. Wo sie doch den berühmten Meisterdieb Kaito Kid haben konnte.

Kaito schüttelte den Kopf. Nein, nein, so ein Unsinn. Er hatte doch gar kein Interesse an Aoko. Er wollte… mmh… na, er wollte Aoko doch nur vor irgendwelchen Typen bewahren, die die Naivität einer Oberstufenschülerin schamlos ausnutzen wollten. Ihr etwas von ewiger Liebe erzählten. Sowas eben. Diese zwielichtigen Typen, vor denen einen die Eltern eigentlich warnen sollten… war ja klar, dass Kommissar Nakamori das versäumte, wenn es um einen seiner eigenen Männer ging.

Der gestrige Tag ging Kaito einfach nicht aus dem Kopf. Nachdem er nach Hause gerannt war, hatte er sich direkt in seinem Zimmer eingeschlossen, sich aufs Bett geworfen und die Decke angestarrt. Vielmehr hatte er nicht gemacht. Er grübelte und grübelte vor sich hin. Zermarterte sich den Kopf über Aoko. Aoko. Aoko. Überall sah er nur Aoko! Wie konnte sich diese blöde Kuh nur so in seinen Gedanken festbeißen! Er hatte Pläne geschmiedet und sie sofort wieder verworfen, um noch schlechtere zu machen. Ein Plan hirnrissiger als der andere. Irgendwann hatte er angefangen, sich seine Pläne und Strategien aufzumalen. Hanebüchene Grafiken und Statistiken mit einer Vielzahl an Pfeilen und unnötig komplizierten Verkleidungen.

Heute Morgen war er in einem Stapel verschmierter Zettel aufgewacht. Er rieb sich verschlafen die Augen und bei jeder seiner Bewegungen raschelte es vor lauter Zetteln um ihn herum. Ein Blick auf seinen Wecker verriet ihm, dass es bereits zehn Uhr morgens war. Kurz schreckte und sprang Kaito auf, um seine Schulsachen ungestüm zusammenzusuchen und in seine Tasche zu werfen, doch bereits wenige Sekunden später fiel ihm ein, dass es ja Samstag war. Wochenende. Ein trostloses Wochenende.

Normalerweise versuchte Aoko Kaito immer zu irgendwelchen Freizeitaktivitäten mit ihr zu bewegen. Freizeitparks, Schlittschuhlaufen, Kino, Theater, was auch immer… Und so sehr Kaito sich auch zieren mochte, am Ende sagte er doch immer ja und ließ sich mitschleppen. Diese Woche hatte sie ihn nicht gefragt. Vielleicht war das das Problem? Vielleicht hatte sie keine Lust mehr, Kaito darum anzubetteln, etwas mit ihr zu unternehmen? Vielleicht… vielleicht hatte sie sich deshalb einen Neuen gesucht. Einen Neuen. Einen Neuen.

Kaito warf sich zurück auf’s Bett. Einen Neuen, pah! Als wäre er ihr ‚Alter‘ gewesen. Als wäre jemals etwas zwischen ihnen beiden gewesen. Unruhig drehte er sich von einer Seite zur anderen. Vielleicht sollte er sich auch einfach mit jemand anderem treffen. Vielleicht mit Akako. Oder Keiko. Die war immerhin Aokos beste Freundin. Noch dazu eine fanatische Verehrerin von Kaito Kid. Mal sehen, wie Aoko das gefiel.

Wieder wälzte sich Kaito auf die andere Seite. Er war zu unruhig, um sich einfach still hinzulegen. Er wollte… Dinge tun. Einfach rausgehen, den Kopf freikriegen. Wie auch immer das gehen sollte.

Gehen. Das war das richtige Stichwort. Unwissend, wie sein Ziel aussah, verließ er die Wohnung und stapfte willkürlich in eine Richtung los.

Der Wind blies ihm um die Ohren. Wann verdammt noch mal war es so kalt geworden? Er steckte die Hände tief in die Jackentaschen und vergrub sein Gesicht in den Kragen seiner Jacke. Die Sonne hatte sich irgendwo hinter ein paar Wolken versteckt. Vielleicht würde sie noch rauskommen, vielleicht auch nicht. Wer wusste das schon. DIE Sonne war ja nicht umsonst weiblich. Völlig unberechenbar und willkürlich.

Kaitos Füße trugen ihn weiter, immer weiter. Er schaute nur auf den kalten Steinboden unter ihm und nicht dahin, wo er hinging. Das führte dazu, dass er irgendwann, nach vielen Kreuzungen, Ecken und Windungen, vor einem nur allzu vertrauten Gebäude stand – einem Gebäude, vor dem er gestern schon sehr viel Zeit verbracht hatte. Als er vom Boden aufschaute, erblickte er das Haus der Familie Nakamori. Er blieb stehen und scharrte kurz mit den Füßen auf der Erde. Dass er ausgerechnet hierher gelaufen war… War es… ein Zufall? Oder sein Unterbewusstsein? Er atmete langsam und intensiv ein und aus.

Einen Moment lang überlegte er, was er nun tun sollte. Er könnte klingeln. Gucken, ob Aoko da ist. Ob sie etwas unternehmen wollte. Ob sie ihm vielleicht alles erklären würde. Aber er könnte auch einfach wieder weiter gehen. Klare Gedanken fassen. Nicht mehr länger weitergrübeln. Einfach weitergehen.

Doch schon war er bei der Haustür angekommen und prompt hatte er den Klingelknopf gedrückt.

Bevor Kaito klare Gedanken fassen konnte, was er sagen sollte, hatte Inspektor Nakamori die Tür schon geöffnet und sah verwundert auf Kaito herab. Er roch nach Sake und er sah insgesamt etwas versackt aus.

„Oooh, Kaito!“, rief er vergnügt, „Aoko hat gar nicht erwähnt, dass Du vorbeikommst.“

„Oh, ähm, ja, wir sind auch gar nicht verabredet“, erwiderte Kaito zögernd, und kratzte sich verlegen am Kopf, „Ich wollte… äh… eher spontan vorbeischauen…“

„Ach…“ Plötzlich wirkte Inspektor Nakamori gedankenverloren und abwesend, „Nun, Aoko ist grad gar nicht da…“ Die Alkoholfahne von Inspektor Nakamori wehte zu Kaito herüber. Sie war also nicht Zuhause. Na fein. Zuerst blieb sie die ganze Nacht weg und dann war sie morgens nicht mal Zuhause… Moment. In Kaitos Kopf ratterte es. Die Nacht über weg. Morgens nicht da. Kaito malte sich die schlimmsten Sachen aus.

„Sie hat heut schon früh das Haus verlassen…“ Kaito atmete erleichtert auf – gut. Dann hatte sie wohl nicht gleich die Nacht bei diesem Typen verbracht.

„Hach ja… sie wird ja so schnell erwachsen…“, sinnierte Nakamori plötzlich und starrte dabei weit in die Ferne, während er sich an den Türpfosten lehnte.

„Ähm… ja…“, antwortete Kaito. Ihm war unbehaglich dabei, einem betrunkenen Nakamori dabei zuzuhören, wie er über die Vergänglichkeit der Zeit schwafelte.

„Ich weiß noch, damals… als ich sie zu ihrer Einschulung brachte…“

Kaito durfte sich daraufhin eine Welle von nostalgischem Geschwafel eines alternden Mannes anhören… ab und zu musste er bei dem Gedanken an eine Aoko im Grundschulalter schmunzeln, doch alles in allem war er froh darüber, sich doch recht bald von Inspektor Nakamori losreißen zu können und seinen Weg in die Orientierungslosigkeit fortzusetzen.

Er gab sich besondere Mühe, nicht im Kreis zu laufen, damit er nicht plötzlich wieder vor dem Haus der Nakamoris steht.

Links, rechts, über Kopfsteinpflaster, über Asphalt, durch kleine Trampelpfade, an Spielplätzen, kleinen Wäldchen und künstlichen Seen vorbei… seine Schritte machten dumpfe Geräusche auf dem Erdboden und den Steinen.

Kaito fröstelte es leicht, als er sich den Weg durch Gassen und Straßen bahnte.

Nach einer Weile des stummen Vor-Sich-Hin-Gehens erreichte Kaito einen weiten, menschenbevölkerten Platz mit einem hohen Glockenturm. Er spürte sofort wo er war. Wie könnte er auch anders! Intuitiv blickte er hoch zu dem Glockenturm, an dem die große Uhr die Zeit – Kaito war offensichtlich bereits länger unterwegs, als er vermutet hätte – anzeigte. Dieser Platz, dieser weitläufige Platz, an dem Menschen ohne Nicken und Hallo aneinander vorbeiliefen und sich keines Blickes würdigten, schenkte ihm ein tiefes Gefühl der Geborgenheit. Es war der Platz, auf dem Kaito Aoko das erste Mal getroffen hatte.

Er erinnerte sich noch gut daran. Seine Erinnerung an diesen Tag würde vermutlich niemals getrübt werden. Aoko als kleines Mädchen… mit diesen großen, traurigen Augen… sie sah so verlassen aus. So einsam. Ihr Vater war ja auch ständig auf der Jagd nach dem damaligen Kaito Kid, also Kaitos eigenem Vater, sodass Aoko ständig allein war. Ein schlechtes Gewissen zehrte bei dem Gedanken an Kaitos Nerven.

Ihn überkam ein urtümliches Gefühl des Heimatgefühls. Er hatte das Gefühl, genau jetzt an diesem Ort sein zu müssen. Und nirgendwo sonst. Hier zu sein, fühlte sich richtig an.

Er setzte sich auf den Rand des Springbrunnens, der sich in der Mitte des Platzes befand. Er blinzelte der Sonne, die sich just in diesem Moment dazu bequemte, hinter den grauen Wolken hervorzukommen, entgegen. Die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Der Ort. Kaito. Alles stimmte. Fast alles. Eins fehlte.

Aoko.

Es könnte alles so schön sein, wenn Aoko nun da wäre… Kaito hasste diesen Gedanken. Er wollte das nicht wahr haben… dabei wusste er tief in sich drinnen, dass das genau das war, was er fühlte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.

Kaito genoss es, die Luft hier einzuatmen. Der vertraute Geruch eines geschäftigen Platzes. Der vertraute Geruch, eines nur allzu gut bekannten Platzes.

„…to… hey… Kaito…“

Lustig, nun bildete er sich schon Stimmen ein. Aokos Stimme. Wie erbärmlich er doch war. Das war bestimmt nur der Geist der vergangenen Zeiten. Von damals, als er Aoko das erste Mal hier traf. Was anderes konnte es gar nicht sein… Aus Protest ließ er die Augen geschlossen. Und Antworten kam erst recht nicht in Frage!

„Hey, Kaito! Kaito. Kaito. Kaito. Kaito. Kaito.“

Der Strang an Kaitos riss einfach nicht ab. Auch nicht, als Kaito spürte, wie sich neben ihm jemand auf den Rand des Springbrunnens fallen ließ.

„Bakaito!“, raunte ihm dieser Jemand ins Ohr. Wenn sich seine Sinnestäuschung so hartnäckig hielt, war sie es vielleicht wert, einen Blick zu riskieren. Langsam öffnete er ein Auge und linste damit zu seiner Linken.

Er war nicht allein. Nicht mehr. Neben ihm saß ein Geschöpf. Ein herrliches Geschöpf. Das Geschöpf, das er nun am liebsten bei sich hatte. Aoko. Sie war da. Leibhaftig. Ganz real. Aus Fleisch und Blut. Aus wundervollem Fleisch und Blut.

„Ignorierst Du mich?“, fragte Aoko ernüchtert. Kaito drehte langsam den Kopf in ihre Richtung, sah sich durchdringend an und schüttelte den Kopf.

„Hat’s Dir die Sprache verschlagen?“, hakte Aoko nach und ließ ihre Beine ein wenig baumeln.

Kaitos Zunge fühlte sich taub und pelzig an. Völlig ungelenkig. Das „Nee“, das er von sich gab, klang seltsam fremd und falsch. Er wandte den Kopf wieder nach vorne und starrte in die Leere. Aoko tat es ihm nach kurzem Zögern, in dem sie Kaito noch weiter ansah, gleich.

„Ich mag diesen Ort…ich bin gern hier…“

Aokos Stimme klang weit entfernt und abwesend. Kaito nickte.

„Wir können nicht ewig so hier bleiben, oder?“ Sie griff neben sich und nahm einen zerknickten Flyer für irgendeine Werbeaktion in die Hand. Sorgsam faltete sie ihn zu einem kleinen, bunten Papierflieger zusammen.

„Mmmh, ich wünschte, wir könnten.“ Mit einer raschen Handbewegung beförderte sie den Flieger in die Lüfte. Eine aufbrausende Windböe erfasste ihn jäh und trug ihn zuerst weiter mit nach oben und dann eine kleine Entfernung weit von ihnen weg. Unsanft landete er am Ende in einer kleinen, matschbraunen Pfütze. Aoko starrte ihm unverwandt nach.

Kaito atmete seufzend aus. Aoko wandte den Blick wieder von dem kleinen Flieger ab und sah Kaito an.

„Irgendwann ist eben alles mal vorbei, oder?“

Case 6: Aoko "Peter Pan" Nakamori

„Irgendwann ist eben alles mal vorbei, oder?“ Aokos Worte hallten noch lange in Kaitos Ohren. Vorbei. Vorbei. Vorbei. Ein ekelhaftes Wort. Ein widerwärtiges Wort, das niemand jemals in den Mund nehmen sollte. Es schmerzte ihn in den Ohren und jeder verwinkelten Windung seines Gehirns. Vorbei.
 

Kaito wusste keine geeignete Reaktion. Er saß da, spürte wie sich seine Gedärme verkrampften und seine Hände zitterten, während er stur geradeaus blickte.

Nein, Aoko, wir bleiben ewig jung, rennen wild über die Wiesen, wälzen uns in Blumenfedern, schauen den Schmetterlingen nach und erfreuen uns aneinander.
 

Nein, Aoko, die Zeit kann uns nichts anhaben, genauso wenig wie Naturkatastrophen, dein Vater noch alle anderen Menschen auf dieser Erde - nicht einmal Gott selbst könnte uns trennen.
 

Nein, Aoko, wie Kaito Kid Juwelen an sich reißt, hast Du mir mein Herz gestohlen – und es wird auf ewig dir gehören.
 

Ja, Aoko, nichts ist für die Ewigkeit, außer unserer Liebe!
 

Das waren alles ziemlich beschissene Antworten. Das wusste Kaito selbst. Vermutlich sagte er deshalb nichts. Aber irgendetwas musste er sagen… irgendetwas. Etwas Ermutigendes. Etwas, das Aoko von ihren nihilistischen Gedanken abbringen konnte.

Unschlüssig, was er sagen sollte, öffnete er provisorisch den Mund. Doch außer einem angestrengten Atmen konnte er nichts hervorbringen.

Aoko sah unterdessen schweigend auf ihre Füße. Sie scharrte ein bisschen mit dem rechten Fuß, drehte den linken etwas weiter nach innen… sie ließ kleine Kieselsteinchen über den Boden kreisen, während Kaito gar nichts machte: Damit war sie ein ganzes Stück produktiver als er.
 

Die Stille war bedrückend. Wenn Kaito doch nur etwas einfiele, was er sagen könnte. Er hörte Aoko still und gepresst atmen. Hin und wieder vernahm er ein unterdrücktes Schlucken ihrerseits.

Kaito tat es ihr gleich. Einmal Schlucken. Den trockenen Hals bekämpfen. Die pelzige Zunge in den Griff kriegen. Nur einmal Schlucken. Dann sprechen. Sprechen. Sprechen.

„Jetzt sag doch endlich was, du verdammter Idiot“, drängte sich Kaito.

Er ging alles genau im Kopf durch. Ein falsch gewähltes Wort, ach was, eine falsch gesetzte Betonung, konnte das Ende bedeuten. Denn irgendwann IST eben alles mal vorbei. Aoko hatte recht, das wusste er, doch er fürchtete sich davor, zu erfahren, was denn nun bald vorbei sein sollte... zumindest Aokos Ansicht nach.
 

Langsam drehte er seinen Kopf zu Aoko. Er musste sich zu jeder einzelnen Silbe durchringen, aber schließlich presste er doch ein kleines Wörtchen hervor: „Aoko…“

Gerade überlegte er noch, was er sagen sollte, wie er eigentlich fortfahren wollte, da schnitt Aoko ihm schon das Wort ab – sofern man jemandem, der gar nicht weiß, was er sagen will, überhaupt das Wort abschneiden kann.

„Nicht mehr lange, dann war’s das mit der Schule. Wir werden alt und kriegen Falten. Wir heiraten…“

Moment, WIR heiraten?!

„…jemanden…“

Ach so, wir heiraten also jemanden…

„den wir zu kennen glauben, aber über den wir letztlich gar nichts wissen… wir gehen Tag für Tag arbeiten, kriegen ab und zu mal ein Kind und dann geht’s irgendwann ab unter die Erde.“

Aoko schüttelte energisch den Kopf: „Nein, ich will nicht erwachsen werden.“

Kaito sah verwundert zu Aoko herüber. Diese Art zu reden… das passte überhaupt nicht zu ihr. Nun, diese impulsive Herangehensweise, diese plötzlichen Gedankensprünge, diese kindliche Naivität… all das war eindeutig Aoko, aber… aber dieses … na ja, aufgeklärte, abgebrühte Gerede. Dieser Hass auf’s Erwachsenwerden. In ihren Augen loderte dasselbe Feuer der Abneigung wie wenn sie von Kaito Kid sprach.
 

„Ist alles in Ordnung mit Dir, Aoko?“, frug Kaito unsicher. Er wollte sie berühren. Sie besänftigen. Doch er war unentschlossen, wie er das anstellen sollte. Eine Hand auf ihre Schulter. Auf ihre Hand. Auf ihr Knie. Zögernd, und um ein bisschen Zeit zu gewissen, biss er sich auf die Lippe.

Diese Frage schien Aoko mehr aufzuwühlen, als Kaito es für möglich gehalten hätte. All die Emotionen, die sie sich in den letzten Tagen bis hierhin aufgespart hatte, sprudelten auf einmal aus ihr raus. Laut
 

„Nein, nichts ist in Ordnung!“, stieß sie mit schallender Stimme hervor. Ein paar in unmittelbarer Nähe pickenden Tauben flogen aufgebracht ein paar Meter weiter, verärgert über den plötzlichen Gefühlsausbruch gurrend. Für einen Moment sah Kaito in Aoko wieder das kleine, fünfjährige Mädchen, das er damals vor dem Rathaus traf. Sie wirkte trotzig und bockig, wie sie da auf dem Brunnen saß, die Arme verschränkte und den Kopf hängen ließ.

„Aoko, ich… ich glaube wirklich, du machst Dir da Sorgen wegen nichts.“ Kaito sprach diesen Satz relativ arglos aus. Relativ. Eigentlich wollte er Aoko beruhigen. Stattdessen schien er Öl ins Feuer gegossen zu haben.
 

Mit einem Satz brachte sie ihr Gesicht unmittelbar vor seins, sah ihm durchdringend in die Augen und keifte: „Wegen nichts? Wegen nichts?! Du verstehst es einfach nicht!“ Völlig unvermittelt warf sie die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Ihre Haare kitzelten seinen Hals und er konnte ihren Atem stoßweise in seinem Nacken spüren. Er war vollkommen überfordert. Was zum… was… was war mit Aoko los? Ihre Hände krallten sich in den Stoff seines Pullis. Langsam und zögerlich strich er ihr mit seiner rechten Hand über den Rücken. Dieser Moment war derartig surreal, dass Kaito sich fast ein wenig wunderte, als er den weichen Stoff von Aokos Bluse unter seinen Fingern spürte – fast so, als brauchte er dieses Gefühl, um sich zu vergewissern, dass das hier gerade wirklich passierte.
 

Da saß also nun dieses vollkommen aufgelöste Mädchen, das sich einen Kopf um ihre Zukunft machte, und erdrückte ihn fast an dem Ort, wo sie sich das erste Mal trafen. Und das ausgerechnet am Tag nach ihrem ersten Blind date. Moment. Woher wollte er denn wissen, dass es ihr erstes… na, war jetzt im Moment ja auch egal.
 

Er spürte, wie sich ihr Brustkorb beim Atmen hob und wieder senkte. Er spürte ihr Herz aufgeregt klopfen – wenn er auch zunächst dachte, es sei nur sein eigenes. Sie atmete schwer durch den Mund und in regelmäßigen Abständen kuschelte sie sich wieder näher an Kaitos Schulter, wenn sie davon abgerutscht war. Kaito streichelte ihr unentwegt den Rücken – etwas Intelligenteres fiel ihm gerade nicht ein. Wenn es das war, was sie gerade brauchte oder wollte, dann sollte sie es eben bekommen. Lieber von ihm als von diesem Möchtegernpolizisten.

„Was verstehe ich nicht?“, flüsterte Kaito nach einer längeren Stille in Aokos Ohr. „Alles!“, raunte Aoko zurück. Kaito seufzte. Er nahm die Hand von Aokos Rücken und verschränkte beide Arme vor der Brust: „Du willst nicht erwachsen werden. Dann lass es doch einfach.“

Aoko nahm ihren Kopf von seiner Schulter und sah ihn verdutzt an. Ihre Augenbrauen zuckten kaum merklich. Ihr Blick war geladen, als stünde sie unter Strom. „Als ob das so einfach wäre, Du Idiot!“
 

Ja, das war schon wieder viel mehr wie Aoko. Diese Aggressivität, die aus ihrer Gestik und Mimik sprühte – DAS war Aoko. Kein jammerndes, klagendes Mädchen, das sich an der Schulter eines Typen ausheulen musste. Keine Frage, es war schön, Aoko im Arm halten zu können und ihre Wärme zu spüren… aber es war Kaito doch lieber, die „richtige“ Aoko bei sich zu wissen.

„Pah, ‚dann werd‘ doch einfach nicht erwachsen‘! Danke, Bakaito, darauf wäre ich ja nie von allein gekommen!“ Sie legte beide Hände auf seine Schultern und gab ihm einen kleinen Schubs, bevor sie aufstand. Mit Müh und Not konnte er sich davor retten, nach hinten und in den Springbrunnen zu fallen – auch wenn das mit jeder Menge Armrudern verbunden war. Ein richtiger Balanceakt eben. Aoko stapfte grummelnd einige Schritte von ihm weg – man konnte ihr genau ansehen, dass sie keine Ahnung hatte, wo genau sie eigentlich hinwollte.
 

„Aoko!“, rief Kaito – weniger, weil er einen Plan hatte, wie’s weiter gehen sollte, sondern viel mehr, weil er ihr einen Gefallen tun und ihr aus ihrer Situation heraushelfen wollte.

„Nichts ‚Aoko‘! Ich erzähl dir von meinen Problemen und Du sagst mir ‚Dann werd halt nicht erwachsen‘ und ‚Du machst Dir einen Kopf um nichts‘!“ Aoko hatte ein erstaunliches Talent dafür, Kaito auf eine besonders vortrefflich bissige Art und Weise nachzuäffen. Sie hatte die Arme verschränkt und den Kopf verächtlich in den Nacken geworfen, nachdem sie wieder näher an ihn heran getreten war.
 

„Schau, das bist viel eher Du“, grinste Kaito ihr entgegen. Er erwartete, dass sie zurückgrinste und sich daran freute, dass sie immer noch die Alte war – und das ganz entgegen ihrer Erwartungen. Aoko starrte nur unbeirrt zurück. Ihre Mundwinkel zuckten nicht einmal. Dieses Mädchen konnte Stimmungswandel durchmachen wie keine Zweite. „Meine Güte, Aoko, was soll denn dieser unterkühlte Blick?“ Er erhob sich nun ebenfalls vom Brunnenrand und ging einige Schritte auf Aoko zu, sodass er seine Hände sanft auf ihre Schultern platzieren konnte.

„Wenn Du nicht heiraten willst, dann heirate nicht. Wenn du keine Kinder kriegen willst, dann krieg eben keine. Wenn Du nicht unter die Erde kommen willst… hm…“ Gottseidank unterbrach Aoko ihn an dieser Stelle, denn er hätte wirklich nicht gewusst, wie er fortfahren sollte.

Gereizt schüttelte sie seine Hände von seinen Schultern ab: „Kaito…“ Schon am Tonfall konnte Kaito hören, dass gleich ein Gewitter über ihn hereinbrechen würde. Das berüchtigte Nakamori-Donnerwetter. Aber Kaito hatte genug. Wenn es keinen Unterschied machte, ob er nun nett zu ihr war und sich Mühe gab, sie zu trösten, oder sie direkt mit Gemeinheiten vor den Kopf stieß – warum sollte er sich dann noch weiter anstrengen? Dann konnte er auch genauso gut wieder in sein altes Verhaltensmuster fallen und ihr das Leben schwer machen. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte alle seine guten Absichten von sich ab.
 

„Fein, Aoko, wie Du willst. Wenn alles, was ich sage, so verkehrt ist, dann frag doch deinen neuen Freund nach seiner Meinung.“
 

Endlich veränderte sich Aokos Miene. Die kalte Maske fiel ab. Ihre Gesichtszüge entgleisten förmlich. Ihre Lider zuckten, ihr Mund verzog sich und ein nicht näher einordbares Entsetzen machte sich in ihren Rehaugen breit. Das musste ja ein toller Typ sein, wenn ihre Reaktion, wenn man sie auf ihn ansprach, so aussah.

„Mein… mein neuer Freund?“, stammelte sie. Kaito spürte sein Blut in den Adern rauschen. Es pochte förmlich in seinen Ohren. Sie könnte es ja wenigstens zugeben – es war ja nicht so, als würde man es ihr nicht sowieso ansehen.
 

Kurz zog Kaito in Erwägung, ein „Oh, entschuldige, dein ‚erster‘ Freund, nicht wahr?“ als Antwort zu zischen. Er entschied sich für etwas mit mehr Stil. Na ja, mit etwas mehr Stil.

Er wippte auf seinen Füßen hin und her und ließ dann genüsslich folgende Worte über seine Lippen gleiten: „Ach, du weißt schon, der Möchtegernpolizist.“ Er kostete die Wirkung jedes einzelnen Wortes aus. Er ließ sich jeden Buchstaben auf der Zunge zergehen – und jeder Konsonant, jeder Vokal war, als würde er Stacheldraht kauen. Wahrscheinlich verletzte es ihn selbst mehr als sie, immerhin hatte sie einen Freund – oder zumindest ein Date – während er, Kaito, plötzlich, ganz unvermittelt, allein dasteht. Ohne Aoko. Nichtsdestotrotz hatte sich ein süffisantes Lächeln auf seinem Gesicht eingebrannt. Viel, viel hämischer, als er es haben wollte. Doch es ließ sich einfach nicht aus seinen Mundwinkeln wischen.

Seine Worte zeigen sofort Wirkung.
 

Sie stolperte rückwärts. Ihre Augen waren noch größer als zuvor. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und er konnte erkennen, wie sich ihre Haare aufstellten und ihre Hände sich verkrampften. Sie wurde furchtbar blass und fahl - sie sah aus, als könne sie sich jeden Moment übergeben.

Genau genommen reagierte sie heftiger als Kaito es sich vorgestellt hatte. Aber er war selbst zu sehr Hitzkopf, um zurückzurudern.
 

„Schau, Kaito, das bist viel eher Du“, flüsterte Aoko ganz und gar durchdringend. Ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Windhauch, und trotzdem ging sie Kaito durch Mark und Bein. Während sie sprach, machte sie einige Schritte rückwärts. Kaito hingegen stand still und starr dar. Seine Glieder waren plötzlich unheimlich steif. Einige Sekunden lang starrte Aoko Kaito an. Ungläubig. Wie versteinert. Schließlich drehte sie sich um und lief raschen Schrittes davon.
 

Diesmal rief Kaito ihr nicht hinterher. Er machte auch keine Anstalten, ihr hinterherzulaufen. Diesmal nicht.
 

Irgendwann ist eben alles mal vorbei.

Case 7: Hinter dem Schnurrbart

Kaito würde Aoko nie wieder sehen. Sie würde mit ihrem Polizeihündchen durchbrennen und Kaito würde weiter als Kaito Kid die Polizei an der Nase herumführen. Es würde an Reiz verlieren – immerhin musste er nun keine Rücksicht mehr auf Inspektor Nakamori nehmen – aber vielleicht konnte er Nakamori ja aus Sympathie noch den einen oder anderen Knochen zufallen lassen. Nichtsdestotrotz würde es langweilig werden.
 

So sah zumindest Kaito die Zukunft. Es war eine trostlose, öde Zukunft, aber es war immerhin die, für die er sich entschieden hatte. Für ein happy end hätte er vorher die Handbremse ziehen müssen. Oder gleich eine Vollbremsung hinlegen. Vielleicht hätte er auch noch alles deichseln können, wenn er ihr hinterhergelaufen wäre.
 

Er wäre ihr hinterhergerannt und sie wäre vor ihm weggelaufen. Dann hätte er sie am Handgelenk gepackt, sie hätte sich unter Tränen gewehrt und ihn beschimpft. Dann hätte es plötzlich angefangen zu regnen – aus heiterem Himmel. Sie hätten sich im schlimmsten Unwetter gegenüber gestanden. Sie hätte ihm Vorwürfe gemacht und er hätte sich entschuldigt. Er hätte alle Streitigkeiten aufgeklärt, hätte mit einem Arm ihre Hüfte umfasst und mit der freien Hand ihre Hand genommen. Dann hätte er ihr seine Liebe gestanden, sie hätten sich im Regen geküsst und dann wäre der Vorhang gefallen. Doch das echte Leben ist keine Schnulze. Es ist keine Soap-Opera, kein Märchen und ganz bestimmt keine Fanfiction.
 

Kaito hatte genug solcher Geschichten gelesen, um zu wissen, wo es lang ging. In einer seiner nächtlichen Recherche-Arbeiten, um zu schauen, wie groß seine Fangemeinde inzwischen war, war er auf eine verstörende Fülle an Geschichten gestoßen, die sich nur darum drehten, wie er, Kaito Kid, den großen Detektiv des Westens, Shinichi Kudo, verführte – oder von eben diesem verführt wurde. Dieses Kollektiv hatte eine solche Faszination auf ihn ausgeübt, dass er die ganze Nacht vor dem Laptop verbracht hatte. Auf was für Ideen seine Fans doch kamen. So ist das wohl, wenn man sich für keine der beiden Faktionen entscheiden kann – man verkuppelt sie eben. Vielleicht sollte er Kudo bei ihrem nächsten Treffen von diesem Trend erzählen?
 

Doch Kaito hatte jetzt wichtigere Probleme. Gut – ein wichtigeres Problem. Ein Problem, das ihm gerade wirklich den letzten Nerv raubte. Aoko. Aoko. Immer wieder Aoko. Früher war sie mal niedlich gewesen. Wenn sie den Mopp schwang. Oder sich aufregte, wenn er ihr unter den Rock schaute. Oder wie sie ihn mit Fischen nervte. Damals. Ja, das waren noch Zeiten gewesen. Aber wie sie sich heute vor ihm aufgebaut hatte… die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf in den Nacken geworfen… das war nicht mehr Aoko. Sie gebarte sich plötzlich wie… eine junge Dame. Als würde sie tatsächlich erwachsen werden.
 

Zum Kotzen. Kaito ließ seinen Frust an einer herumliegenden Cola-Dose aus. Er kickte sie grimmig vor sich her, während er sich – unter Zuhilfenahme vieler verzweigter Umwege – langsam gen Zuhause bewegte.
 

So eine dämliche Kuh. Nur weil sie jetzt mit einem Polizisten ausging. EINEM POLIZISTEN. So etwas Peinliches. Da kann sie sich ja gleich von ihrem Herrn Gevatter einen Mann aussuchen lassen. Kaito stieß einen verächtlichen Laut aus. Einfach so. Für sich. Weil es ihm half. Zumindest vermutete er, dass es ihm half.
 

Eine Zeit lang hatte er noch gehofft, ihre Wege würden sich vielleicht auf dem Heimweg kreuzen. Eventuell nahm er deshalb auch so viele Umwege – um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass er ihr noch einmal begegnete. Aber… was sollte er dann schon sagen? Sorry, dass ich dir hinterher spioniert habe? Bitte, verlass diesen 0815-Typen für mich, den Idioten, der Dir bei jeder Gelegenheit sagt, dass Du flachbrüstig bist! Apropos – ich bin übrigens Kaito Kid, die Person, die Du am meisten hasst!
 

Dies war der Moment, in dem Kaito einfach alles scheiße fand.
 

Die nächsten Tage schlichen dahin. Aoko hatte ein Talent ohnegleichen, wenn es darum ging, Kaito aus dem Weg zu gehen. Den Sonntag konnte er sich ohnehin abschminken. Wenn er ihr zuhause auflauern würde, würde sie nicht einmal die Haustür öffnen – geschweige denn mit ihm reden. Und wer wusste, ob sie überhaupt zuhause war. Vielleicht stand ja schon das Mittagessen bei den zukünftigen Schwiegereltern an! Kaito schnaubte verächtlich. Doch auch in der Woche hatte er kein Glück, Aoko zu erwischen. Den gemeinsamen Schulweg hatte sie einfach schon zehn Minuten vor ihm passiert. Wann immer er glaubte, Aoko erspähen zu können, verschwand sie in einer dichten Traube aus Mädchen. Sie schaffte es, spurlos zu verschwinden. In der Klasse hatte sie ihre Plätze mit einem anderen Mädchen getauscht. Für diesen Tauschhandel war vermutlich nicht viel Überzeugungsarbeit nötig gewesen – immerhin saß nun eines der Mädchen neben Kaito, das schon ewig für ihn schwärmte. Als er ihre vor schmalzigen Liebesvorstellungen triefenden Blicke auf seiner Haut spürte, verdrehte er die Augen und dachte sehnsüchtig daran zurück, wie Aoko ihn anzusehen pflegte – irgendwie genervt und gereizt. Aber auf eine niedliche, liebenswerte Art.
 

Aokos konsequente Art, sich vor einer Konfrontation zu verstecken beeindruckte Kaito zutiefst. Sie hatte wahrlich das Zeug zu einer Meisterdiebin. Allerdings ließ sie ihm dadurch keine andere Wahl. Er würde Konsequenzen ziehen. Und zu harten Maßnahmen greifen. Immerhin war er Kaito Kid.
 

In einem unbeobachteten Moment, in dem Aoko sich vermutlich gerade auf die Toilette verkrümelt hatte, um Kaito aus dem Weg zu gehen (erstaunlicherweise hatte Aoko trotz ihrer momentanen Launen den Anstand, weiterhin zur Schule zu kommen. Schon fast löblich. Wenn es Kaito das Leben nicht noch mal extra schwer machen würde.), nutzte der Meisterdieb die Gelegenheit, Informationen über Aokos Gemütszustand zu erfahren.
 

„Keiko!“ Normalerweise klebte Keiko an Aokos Seite, als wären sie wie siamesische Zwillinge miteinander verbunden. Heute hatte er Glück. Er schlenderte zu ihrem Pult und stützte sich leicht darauf ab, während er zu ihr sprach.
 

„Kaito?“, fragte sie unsicher und sah nach links und rechts, als wolle sie sicherstellen, dass ihre beste Freundin auch ja nicht bemerkte, wie sie Kontakt mit dem Feind aufnahm. Die Situation schien gesichert zu sein, denn Keiko beugte sich näher zu Kaito und antwortete mit einem gehässigen Grinsen: „Naaa, Regen im Paradies? Ehestreit?“
 

In den letzten Tagen hatte sich Kaito genug dieser Sprüche anhören müssen. Kaum hing er nicht mehr mit Aoko rum, rumorten die Gerüche wie nie zuvor. Interessanterweise. Sie konnten sich prügeln und die Haare raufen - sie waren das perfekte Paar. Aber kaum redeten sie ein paar Tage nicht miteinander, hieß es gleich „Ehekrach?“. Doch jetzt, in diesem Moment, regte sich Kaito nicht auf. Immerhin brauchte er Keiko gerade. Für… Ermittlungen.
 

„Nein, alles bestens.“ Kaito knirschte mit den Zähnen. „Sag mal, hat Aoko irgendwas gesagt.“

„‘ne ganze Menge.“

„Irgendwas von Belang?“

„‘ne ganze Menge.“

„Keiko, das hilft mir nicht! Hat sie irgendwas gesagt… über einen … einen Typen gesagt?“

„‘ne ganze Menge.“

„Und, was ist das für Einer?“ Kaito fühlte, wie seine Hände zu schwitzen begannen.

„Ein arroganter, selbstverliebter Typ, der sich für den größten Magier alles Zeiten hält.“

Kaitos Verstand raste. Das klang nach einem echt beschissenen Typen. Nach einem billigen Kaito-Abklatsch. … … Momentchen.

„Keiko! Ernsthaft! Es geht hier nicht um mich!“

„Anscheinend mehr als Du denkst.“
 

Dieses bebrillte Mädchen brachte Kaito langsam zum Verzweifeln. Genauso gut konnte er mit Wänden reden. Oder mit Aoko.
 

Kaito näherte sich Keiko und senkte verschwörerisch die Stimme, als er fortfuhr: „Bitte, Keiko, weißt du irgendwas über … über einen anderen Typen mit dem sie sich trifft?“ Wie Kaito das so sagte, kam es ihm so vor, als würde Aoko fremdgehen. Dabei war es eigentlich ihr gutes Recht, sich mit wem-auch-immer-sie-wollte zu treffen.
 

Der überlegene Ausdruck auf Keikos Gesicht verschwand. Anscheinend wurde ihr Kaitos Not endlich bewusst. Sie biss sich gequält auf die Unterlippe, bevor sie schließlich flüsterte: „Na ja. Es gibt da wen. Ich weiß auch nicht viel…ich hab die beiden einmal zusammen gesehen. Zufällig. Es war ihr furchtbar unangenehm… ich glaube, ich hab auch seinen Namen mithören können… Ta… Ta… Tatami? Irgendwie sowas?“
 

Tatami. So ein selten dämlicher Name. So nichtssagend! Normalerweise konnte sich Kaito die Identitäten der Personen, die er imitierte, über lange Zeiten einprägen. Doch Tatami sagte ihm gar nichts. Vielleicht irrte sich Keiko ja auch, aber ein Anhaltspunkt war es allemal. Er zog den Mund schief, als er sich bei Keiko für diese Infos bedankte. Nun, wo sein Nebenbuhler einen Namen hatte, wurde die Gefahr, die von ihm ausging, noch präsenter.
 

„Kaito?“

„Hm?“

„V…versöhn dich wieder mit Aoko, ja?“

Kaito stutzte. Das kam unerwartet.

„Ich glaube… ich glaube, dieser Typ ist nicht der Richtige für Aoko.“
 

Als Antwort zuckte Kaito mit den Schultern. Keiko seufzte, doch Kaito hatte sich bereits wieder umgedreht und sich seinem eigenen Platz wieder zugewandt. Er wollte nichts mehr davon hören. Der Richtige für Aoko. Der Richtige. Pah. Das war doch allein Aokos Entscheidung. Da hatte Keiko nicht mitzureden und er selbst auch nicht. Und trotzdem wurmte es ihn wie verrückt. Vermutlich wandte er sich nur von Keiko ab, um sich nicht länger ausgiebig mit dem Thema befassen zu müssen. Eigentlich hätte es ihn zutiefst befriedigen müssen, dass Keiko von diesem Typen nicht viel hielt. Doch die Tatsache, dass sich Aoko mit ihm derart in der Öffentlichkeit zeigte, dass Keiko ihr begegnen konnte, machte ihn rasend.
 

Tatami. Tatami. So ein Drecksack. Nun galt es nur noch, diesen Typen aufzuspüren und auch noch den Rest über ihn in Erfahrung zu bringen. Was er so trieb. Was für ein Mensch er war. Wie man sich seiner am besten entledigen konnte. Kaito hielt es kaum mehr auf seinem Sitzplatz aus. Er wollte sofort aufspringen, loslegen, Recherchearbeit anstellen. Geduldig harrte er noch die restliche Schulzeit aus, doch kaum ertönte die Glocke, um das Ende des Schultages einzuläuten, sprintete Kaito schon los. Normalerweise hätte er versucht, Aoko aufzulauern und abzufangen, doch heute war es ihm wichtiger, etwas über dieses Polizeihündchen zu erfahren.
 

Schon während er noch im Klassenzimmer gesessen hatte, war er gedanklich durchgegangen, wie er seine Informationen sammeln sollte – doch nun, wo er nach Hause sprintete, raste sein Verstand genauso schnell wie ihn seine Füße trugen. Am einfachsten war es vermutlich, mal direkt im Polizeiquartier vorbeizuschauen. Gesagt, getan.
 

Nach einem kleinen Abstecher zuhause, wo er sich rasch die nötigen Dinge für eine perfekte Maskierung zusammensuchte, eilte er direkt weiter zu Aokos Haus. Nicht etwa, um mit Aoko zu reden. Nein, Kaito ging raffinierter vor. Raffiniert wie kein Zweiter. Er brauchte eine perfekte Tarnung, um im Polizeihauptquartier nicht aufzufallen. Und wer eignete sich da besser, als Inspektor Nakamori himself? Kaito musste nur einen raschen Blick durch’s Küchenfenster der Nakamoris werfen, um sich zu vergewissern, dass Inspektor Nakamori zuhause war und nicht im Präsidium. Und tatsächlich – er schlief, lang auf dem Tisch ausgestreckt, neben einem Haufen Dosenbier. Na, das musste ja ein Leben sein. Doch Kaito genügte dieser Anblick. Er musste sich nicht großartig darüber auslassen, er hatte jetzt wichtigeres zu tun.
 

Er verkrümelte sich in die nächstbeste Seitengasse, schmiss sich in sein Nakamori-Kostüm (das er als selbsternannter Meisterdieb natürlich immer griffbereit hatte. Denn niemanden muss man so oft kopieren, wie den zuständigen Kommissaren!) Die Maske, der Schnurrbart, der Anzug – alles saß wie angegossen. Auf dem Weg zum Polizeiquartier übte er Inspektor Nakamoris steifen Gang ein. Hin und wieder leckte er mit der Zunge am falschen Schnurrbart. Er würde sich nie an dieses flauschige Ding gewöhnen.
 

Nach einem kurzen Fußmarsch stand er direkt vor seinem Ziel – dem Polizeirevier. Er atmete tief ein und aus. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er war unsicher wie selten zuvor. Hiergegen war ein Einbruch nichts. Hier ging es um mehr als um Juwelen.
 

Natürlich beargwöhnte ihn niemand, als er das Quartier betrat. Die Polizisten grüßten ihn allesamt freundlich und behelligten ihn nicht weiter, als er schnurstraks und zielstrebig durch die Flure schritt. Ein Meisterdieb alleine unter Polizisten. Wenn das mal keine Ironie war. Kaito war sich nicht sicher, ob er die Akten der Polizisten auf Anhieb finden würde. Das letzte Mal war er vor Jahren mit Aoko im Polizeiquartier gewesen – und da hatten sie auch nicht viel mehr als den Eingangsbereich gesehen, da Aoko ihrem Vater nur ein Bento hinterher brachte. Ach, dieser Trottel von einem Kommissar konnte sich schon glücklich schätzen, so eine Tochter zu haben.
 

Kaito bog in den nächstbesten Raum ab, der nicht nach Kantine oder Aufenthaltsraum aussah. An den Wänden türmten sich Aktenschränke. JACKPOT. Es war kaum zu glauben, wie einfach das gewesen war. Kaito schritt siegessicher auf die der Tür und ihm gegenüberliegende Wand zu. Die Aktenschränke erstreckten sich bis zur Decke und je näher er ihr kam, desto mehr musste er feststellen, dass diese Vielzahl an Aktenschränken ihn fast erschlug. Kaum auszudenken, was für Aktenberge sich dahinter verbergen konnten! Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte, also zog er zufällig eine Schublade heraus, griff beherzt hinein und zog eine dicke, beigefarbene Mappe heraus. Er öffnete sie, um einen schnellen Blick hineinzuwerfen. „Imatake Satoru“. Nein, das war eindeutig nicht der gesuchte Tatami. Kaito steckte die Aktenmappe achtlos zurück und griff sich gleich die nächste. Als auch die nicht den gewünschten Erfolg mit sich brachte, begann er immer wilder und diffuser Schubladen zu öffnen und Mappen zu durchstöbern. Es war ein Wunder, dass ihn keiner seiner Polizeikollegen darauf ansprach. Es ließ sich kein klares Muster erkennen – er suchte nicht einmal alphabetisch. Vermutlich war er bereits so in Raserei, dass er die Akte nicht einmal erkannt hätte, wenn er sie in den Händen gehalten hätte.
 

Nach etwa einer halben Stunde fiel ihm etwas Seltsames an einer Personalakte auf. Ein kleiner Eintrag direkt auf der ersten Seite: Mord. Mord? Moment, wer stellte denn einen Polizisten ein, der einen Mord begangen hatte? Kaito wendete die Akte ein paar Mal, bis es ihm dämmerte. Er griff ein paar der anderen Akten heraus und sah auch diese näher an. Totschlag. Mord. Schwerer Raub.
 

Er hatte seine letzte halbe Stunde damit verschwendet, Täterakten durchzusehen?! Wie konnte ihm das vorher nicht aufgefallen sein? Er war so auf die Namen fixiert gewesen, dass er alles andere vernachlässigt hatte. Am liebsten hätte er sich die Haare aus- und die Akten entzwei gerissen. Doch er wusste sich zu beherrschen. Diesmal.
 

Für einen Moment kribbelte es ihn in den Fingern, nach seiner eigenen Akte zu suchen. Vermutlich hatte er bereits einen eigenen Spind. Doch es gab nun Wichtigeres zu tun. Es galt, diesen Tatami-Typen zu finden. Er wollte zumindest ein Foto von ihm sehen – am liebsten so ein peinliches, offizielles Foto. So ein Foto, das der Grund ist, weshalb man ungern seinen Ausweis oder Führerschein vorzeigt. Ja, so ein Foto wollte er sehen.
 

Während er versuchte, die Akten möglichst akkurat wieder in ihre ursprünglichen Standorte hineinzustopfen, tippte ihm plötzlich jemand auf die Schulter. Kaito schreckte hoch – war er etwa aufgeflogen?! Hätte dieser Trampel Nakamori die Aktien etwa liebevoller zurückgesteckt?
 

Als er sich umdrehte, um zu sehen, was ihn da soeben an der Schulter berührt hatte, sah er in das halb entsetzte, halb verwirrte Gesicht einer jungen Frau in Polizeiuniform. „K-Kommissar Nakamori, kann man Ihnen irgendwie helfen?“ KAito atmete innerlich erleichtert auf. Er schien also immer noch als Nakamori durchzugehen! Nun, wenn man ihm schon Hilfe anbot, wollte er sie natürlich auch nicht einfach so ausschlagen!
 

„Ich suche was.“

„Eine bestimmte Akte?“

„Sozusagen.“ Kaito bemühte sich, vage zu bleiben. Er wollte nicht, dass jeder sofort wusste, dass er sich nach der Akte eines Polizisten umsah – immerhin sollte sich nicht gleich herumsprechen, Kommissar Nakamori habe nach der Akte dieses Tatamis gesucht. Nicht, dass sich noch Gerüchte von Beförderungen oder Entlassungen auftäten!

„Aber… seit wann suchen Sie denn in den Archiven? Benutzen Sie nicht sonst Ihren Computer für alle möglichen Daten?“
 

Es fiel Kaito wie Schuppen von den Augen. Natürlich hatte der Kommissar einen eigenen Computer mit Daten zu Fällen und Personal in seinem Büro! Wie konnte Kaito nur so dumm sein?! Am liebsten wäre er dieser Polizisten um den Hals gefallen – doch er war immer noch Kommissar Nakamori und außerdem wollte er nun, da er wusste, wo er hinmusste, keine weitere Zeit mehr verlieren.
 

„Nun…“, antwortete Nakamori-Kaito, während er sich gedanklich noch eine Ausrede aus den Fingern sog, „ja. Man wird ja wohl trotzdem mal in den Archiven schnüffel dürfen.“
 

Er drückte ihr die letzte Akte, die er noch fest umklammert gehalten hatte, im Vorbeigehen in die Hände und machte sich auf dem Weg in „sein“ Büro. Das zu finden war keine Schwierigkeit, stand doch groß der Name „NAKAMORI“ an der Tür. Nun hatte er es geschafft, er war sich sicher. Er huschte ins Büro, schloss die Tür leise hinter sich und ließ sich in Nakamoris Drehstuhl fallen. Er fuhr den Computer hoch und als das Laufwerk langsam zu surren und zu arbeiten begann, breiteten sich Glücksgefühle in Kaito aus. Die ersten seit einiger Zeit. Es war schon fast absurd, wie etwas, was mit diesem Möchtegernpolizisten zu tun hatte, ihn so in Hochstimmung versetzen konnte.
 

Passwortabfrage. Kaito musste nicht einmal nachdenken, er hatte nicht einmal Zeit, ins Schwitzen zu geraten, da hatten seine Finger schon ein Passwort eingegeben.

Aoko.

Fehlermeldung. Gut, so simpel war Nakamori dann anscheinend doch nicht gestrickt.

NakamoriAoko.

Fehlermeldung. Na gut, einen Versuch war’s ja wohl wert gewesen. Kaito versuchte es, mit etwas anderem. Aokos Geburtsdatum. Das volle. Tag, Monat, Jahr. Kaito trommelte ungeduldig mit den Fingern, als diesmal nicht sofort die Fehlermeldung aufploppte. Sollte das etwa tatsächlich schon das korrekte Passwort gewesen sein?
 

Das allzu vertraute Geräusch des startenden Computers brachte Kaito in helle Verzückung. Man, dieser Nakamori war echt zu leicht zu durchschauen. Kaito landete auf dem Desktop des Kommissars. Für einen Moment blieb sein Herz stehen, als er das Hintergrundbild erblickte. Es zeigte den Kommissar mit einer etwa zehn-, vielleicht elfjährigen Aoko. Sie lachten gemeinsam in die Kamera. Das Bild musste entstanden sein, nachdem Kaitos Vater, der ursprüngliche Kaito Kid, ermordet worden war und Aokos Vater wieder mehr Zeit für sie hatte, da er nicht mehr ständig im Einsatz war. In der rechten oberen Ecke des Monitors befand sich ein Ordner mit dem unrühmlichen Namen „Kato Kid“. Es störte das Gesamtbild aufs Abscheulichste. Auf eine seltsame Weise rührte es Kaito, dass Kommissar Nakamori solch ein Hintergrundbild an seinem Arbeitsplatz hatte. Vermutlich bedauerte Nakamori es mehr, so wenig Zeit mit seiner Tochter verbringen zu können und verbracht zu haben, als Kaito bisher dachte. Ein schlechtes Gewissen kroch in ihm hoch und ließ ihn schwer schlucken.
 

Dann besann er sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben. Es brauchte nur ein paar gezielte Klicks, schon war er in der Personalübersicht. Kaito spürte eine unangenehme Art der Erleichterung, als er das Foto der jungen, fröhlichen Aoko sehen musste. Er scrollte in der Übersicht auf und ab, doch einen Tatami konnte er nirgends entdecken. Ach, dass sich diese Keiko nicht einmal den Namen des neuen Freundes ihrer besten Freundin merken konnte! Innerlich verfluchte er Keikos schlechtes Namensgedächtnis auf’s unflätigste, bis ihm zwei Namen ins Auge stachen, die zumindest annähernd Ähnlichkeit mit „Tatami“ haben konnten – mit etwas Fantasie, immerhin.
 

Takano und Tateno.
 

Takano entpuppte sich als Polizist Ende dreißig, der mit einem unglaublich kantigen Kinn auftrumpfen konnte und keinerlei Ähnlichkeit mit dem jungen Mann in dem Café hatte.
 

Tateno hingegen… ja… wenn Kaito sich anstrengte, konnte er einige Ähnlichkeiten zwischen Aokos Date und dem Foto, das ihm vom Monitor entgegen strahlte, ausmachen. Zu allem Überfluss war es kein „Oh mein Gott, bitte, schau nicht auf mein Führerscheinfoto, hahaha!“-Bild, sondern ein solches Bild, das man tatsächlich mit sich in der Tasche führen konnte, wenn man seinen Freundinnen und Freunden ein Bild vom derzeitigen Lebensabschnittsgefährten zeigen wollte. Es stellte sogar Kaitos Schülerausweisfoto in den Schatten. Seine Finger krallten sich fest in die Schreibtischunterlage und er musste sich zusammenreißen, seine Faust nicht in den Monitor zu versenken. Stattdessen ließ er ein verächtliches Zischen verlauten. Der Typ war 25 und ließ sich mit einer Siebzehnjährigen ein! Am liebsten hätte Kaito in die Tischplatte gebissen – oder sich unter dem Schreibtisch zusammengekauert und elendig geweint. Warum konnte sie sich nicht mit jemandem in ihrem Alter begnügen?! Es war ein leichtes für Kaito, seinen Hass, der sich die ganze Zeit auf jemanden namens „Tatami“ konzentriert hatte, auf einen „Tateno“ umzulenken. Das war ein mindestens genauso dummer Name!
 

Gerade, als Kaito noch mit der Entscheidung rang, ob er sich nicht doch theatralisch auf den Boden schmeißen solle, um dort mit den Fäusten zu hämmern und wilde Flüche auszustoßen, klopfte es an der Tür. Kaito überlegte, ob er es vielleicht ignorieren sollte. Immerhin wäre Aokos Vater ja in diese Moment gar nicht hier gewesen. Doch prompt antwortete Kaito schon, wie aus einem tief verwurzelten Reflex: „Herein?“
 

Die Tür öffnete sich quietschend und herein trat einer der Polizisten, die Kaito schön öfter bei irgendwelchen Polizeieinsätzen rund um Kaito Kid bemerkt hatte. Dieser Typ schien zum Stammpersonal Nakamoris zu gehören.
 

„Kommissar Nakamori, haben Sie einen Moment Zeit?“, frug der Polizist unsicher, als er in Kaitos Gesicht, das von den eben noch durchlebten Emotionen immer noch gezeichnet war, sah. Kaito nickte – so viel brachte er gerade noch zustande.
 

„Es gibt neue Informationen bezüglich des…“, der Polizist senkte die Stimme und sah sich verschwörerisch um, als könne sie jemand möglicherweise belauschen, „Red Beryll.“
 

Kaito lupfte die Augenbrauen. Das klang verdächtig. Und nach einer Information, seine Hände die falschesten der falschen waren. Kaito wurde in diesem Moment ganz Profi – er setzte sein Pokerface auf und tat, als wüsste er genau, wovon dieser Polizist sprach.
 

„Nun?“

„Der Juwel wird uns am Sonnabend zur Bewachung übergeben werden.“

„Und wann holt der Besitzer ihn wieder ab?“

„Er bleibt für eine Woche in unserer Obhut, wie angekündigt.“

„Dann hoffen wir mal, dass Kaito Kid nichts von diesem Juwel mitkriegt“, flüsterte Kaito unverhohlen und versteckte ein Grinsen hinter Nakamoris Schnurrbart.

„Aber Herr Nakamori, wie sollte Kaito Kid je davon erfahren? Außerdem wäre er doch nie so dumm, zu versuchen, einen Juwel, der im Polizeirevier versteckt ist, zu klauen?“
 

Kaito fuhr den Computer mit wenigen Handgriffen herunter und erhob sich langsam aus seinem Drehstuhl, um Nakamoris Büro zu verlassen: „Man kann nie wissen.“

Case 8: Freitagnachtsoli

„Teuerstes Polizeiquartier,

ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen,

aber an diesem Sonnabend werde ich Dir dein wertgeschätztes Juwel rauben.

In Liebe,

Kaito Kid.“
 

Nakamori konnte nicht fassen, was er da las. Seine Knöchel wurden weiß, so fest ballte er die Fäuste, während er nach Erklärungen suchte. Sein Schnurrbart zitterte vor Aufregung und Zorn. Woher nur konnte Kaito vom Juwel des Polizeiquartiers erfahren?! Die Polizisten hatten erst gestern den Juwel, einen roten Beryll von erstaunlichem Ausmaß und einem unvergleichlichen Glanz, von einem reichen Unternehmer erhalten, um ihn, während ebendieser eigentliche Besitzer für einige Tage ins Ausland verreisen musste und seinen Juwelen nicht unbeobachtet lassen wollte, zu beschützen. Und nun wusste ausgerechnet Kaito Kid davon! Es war zum Auswachsen! Gab es etwa einen Spitzel unter den Polizisten? Oder wie konnte Kaito Kid von solchen Dingen, die nun wirklich unter äußerster Diskretion im Polizeiquartier besprochen wurden, wissen?! Manchmal hatte Nakamori das Gefühl, Kaito wisse von diesen Juwelen lange vor ihm selbst.
 

Kaito hockte selbstzufrieden an seinem Schreibtisch. Dieser „Red Beryll“ war genau das, was er in diesem Moment brauchte. Dieses ganze Aoko-Durcheinander hatte ihn seine Tätigkeiten als Meisterdieb völlig vernachlässigen lassen! Doch damit war nun Schluss. Er würde sein Leben wieder in den Griff kriegen – und wenn er dafür kriminelle Akte ausüben musste, dann musste das eben so sein! Vor ihm lagerten Bücherberge und Altpapierseen – dieser Plan war der beste, den er jemals ausführen würde. Die Nachricht war bereits abgesendet und bestimmt auch schon von Nakamori empfangen worden – alles war bereits ins Rollen gebracht worden. Nun gab es kein Zurück mehr. Behände ließ Kaito seinen Bleistift über das vor ihm ausgebreitete Papier kreisen, sodass aus Ideen Pläne wurden und er seinem Ziel, dem Raub des Juwels des Polizeiquariters, unaufhaltsam näher kam – zumindest gedanklich.
 

Aoko saß am Küchentisch, damit beschäftigt einen Fisch auf’s Feinste zu sezieren. Ihre Hand zitterte, als sie mit dem Messer die Flossen entfernte. Ein Fisch. Natürlich war es ein Fisch. Was auch sonst. Sie hob das Messer auf Augenhöhe und betrachtete es mit verlorenem Blick. Schuppen klebten an der Klinge. Der Fisch starrte sie vom Schneidebrett her genauso leer an wie sie das Messer anstarrte. Als sie es bemerkte, ließ sie das Messer hinunter schnellen, um ihm den Kopf abzuschlagen. Vielleicht wollte sie ihm auch nur das Auge aushacken. Sie war sich selbst nicht sicher. Bevor sie das Messer in dem Fisch versenken konnte, hielt sie inne – Zentimeter über der schuppigen Haut schwebte die Klinge des Messers. Das Telefon klingelte aus dem Nebenzimmer. Aoko rammte das Messer stattdessen in das Holzbrett und lief zum Telefon.
 

Es brach Nakamori das Herz, seiner Tochter mitteilen zu müssen, dass er auch diesen Samstag wieder einmal durch Kaito Kid verhindert sein würde. Und noch mehr, dass er heute Nacht erst spät nach Hause kommen würde, weil es noch so viel vorzubereiten gäbe. Doch Aoko hatte sich nicht beschwert. Das war das Schlimmste daran, wenn er darüber nachdachte. Sie beschwerte sich nie. Sie verstand es. Immer. Als sie klein war, hatte Aoko oft geweint, wenn er stundenlang weg war. Das hieß, bis dieser Kaito-Junge sich ihrer angenommen hatte und sie mit Zaubertricks aufgemuntert hatte. Heute weinte Aoko überhaupt nicht mehr. Heute nahm sie alles hin. Er wusste, dass es sie ärgerte – nun, zumindest konnte er es sich gut vorstellen – doch sie würde ihm nie einen Vorwurf machen. Dabei hatte er so viele Vorwürfe verdient. Und Schuld an allem war nur dieser Kaito Kid! Nakamori schlug wütend mit der Faust auf seinen Schreibtisch, von dem nun Kaitos Schreiben ehrfürchtig herunter flatterte.
 

Kaito legte sich die Sachen für den nächsten Tag sorgfältig zusammen. Der Anzug, der Zylinder, das Monokel. Alles aufpoliert und gebügelt – sofern es eben für das jeweilige Kleidungsstück möglich war. Der Gleitflieger war ebenfalls schon komplett vorbereitet. Ja, morgen würde ein guter Tag werden. Seine Zeichnungen und Pläne hatte er wild durcheinander ge- und verworfen. Papier konnte seine Genialität nicht festhalten. Sein Zauber würde morgen spontan kommen. Impulsiv. Die schönste Form der Magie. Er brauchte keine Pläne. Nicht mehr. Morgen würde alles so klappen. Und wenn nicht, dann endete es eben mit einem Knall.
 

Aoko hängte den Telefonhörer wieder auf die Gabel. Natürlich. Morgen würde Kaito Kid also mal wieder sein Unwesen treiben. Worte konnten ihren Hass gegenüber Kaito Kid nicht beschreiben. In ihr kochte es. Sie musste sich zusammenreißen, nicht laut loszuschreien. Ein Raubzug von Kaito Kid war das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Ihr Vater würde den ganzen Tag lang weg sein, sie wäre alleine zuhause und machte sich ununterbrochen Sorgen. Ohne es zu merken, war sie zurück an den Küchentisch gewankt, wo sie sich auf den Stuhl und ihren Oberkörper auf den Tisch hatte fallen lassen. Nein, morgen würde sie ihren Vater nicht alleine lassen. Sie würde mitkommen. So wie sie sonst mit Kaito mitgekommen war. Nur, dass es diesmal eben ohne Kaito sein würde. So wie jetzt vermutlich alles ohne Kaito sein würde.
 

Als Ginzo Nakamori um kurz nach Mitternacht sein Zuhause betrat, strömte ihm ein seltsamer Geruch entgegen, der aus der Küche zu kommen schien. Er schlich durch das Haus, um Aoko nicht zu wecken. In der Küche fand er auch sofort den Quell des Gestanks: ein Fisch. Doch dies war nicht das einzige, das er fand. Neben dem Fisch lag seine Tochter, mit dem Oberkörper ausgestreckt auf dem Tisch, die Arme unter dem Gesicht verschränkt. Ein seltsamer Anblick – eine Tochter und ein Fisch. Um Mitternacht in der Küche. Behutsam hob er Aoko auf seine Arme. Zärtlich, ganz zärtlich um sie nicht zu wecken. Er fühlte sich wieder wie der Vater einer Siebenjährigen, nicht wie der Vater einer Siebzehnjährigen. Lediglich in seinem Rücken und ein paar anderen Knochen fühlte er den Unterschied. Dennoch brachte er sie wohlbehütet in ihr Bett. Es wunderte ihn, dass sie nicht aufgewacht war – und vermutlich empfand er es auch als schade, war dies doch eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, seine Tochter zu sehen. Doch vermutlich hatte sie einen harten Tag hinter sich, und er wusste, es wäre selbstsüchtig gewesen zu hoffen, sie sei noch wach. Statt nun also Gespräche mit seiner Tochter zu führen entsorgte er den Fisch. Lediglich über die vielen, ihm bisher unbekannten Kerben und Schnitzer im Holzbrettchen wunderte er sich – doch vermutlich erschienen sie ihm nur so unbekannt, weil er so selten zuhause war. Das war zumindest seine Erklärung.
 

Kaito hingegen ging allein zu Bett – ohne Fisch und ohne, dass ihn jemand ins Bett trüge. Ihn begleiteten nur die Gedanken an den nächsten Tag. An seinen großen Coup. Ein Coup ohnegleichen. Er war schon fast aufgeregt. Oder war es Vorfreude? Auf jeden Fall kribbelte es ihn gewaltig in den Langfingern.
 

Als Aoko die Augen langsam aufschlug, fühlte sie die Schwere ihrer Bettdecke auf sich und blickte im Halbdunkel an ihre Zimmerdecke. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, ins Bett gekrochen zu sein. Sie blickte auf die Digitaluhr neben ihrem Bett. Drei Uhr früh. Noch genügend Zeit, um sich zurechtzulegen, wie sie ihrem Vater erklären würde, dass sie am morgigen – oder inzwischen auch schon heutigen – Tag unbedingt während Kaito Kids Überfall dabei sein müsse. Kaum hatte sie einen halbwegs klaren Gedanken gefasst, fielen ihr die Augen auch schon wieder zu.

Case 9: Countdown

Der nächste Tag begann mit einem seltsamen Mischwetter. Die Sonne war eindeutig am Himmel auszumachen – irgendwo hinter zwei, drei riesigen Wolken, die den Himmel für sich beanspruchten. Ein frischer Wind wehte durch die Straßen und trieb Blätter mit sich fort. Als Kaito nach draußen trat, wusste er noch nicht so recht, was er von diesem Tag halten sollte. Es war mild, ja fast schon angenehm, falls man doch in den Genuss eines raren Sonnenstrahls kam… doch kaum wurde man Opfer einer zufällig daher irrenden Windböe, fröstelte es am ganzen Körper. Ein seltsamer Tag. Ein Tag, der alles bringen mochte. Oder auch nichts. Kaito zuckte mit den Schultern. Er würde ja sehen, was daraus werden würde.
 

Es war erst Mittag, doch das Polizeiquartier war in heller Aufregung. Die Sicherheitsmaßnahmen waren rigoros und wurden in hektischer Sorgfalt durchgeführt. Überall wo Kaito hintrat, sah er Polizisten, die mit Armen voller Stacheldraht, Überwachungskameras und anderem Zeug, das eindeutig für Fallen gedacht war, umher eilten. Es war, als sähe man einem Ameisenstaat zu. Ein Ameisenstaat, der sich auf den Überfall des größten Meisterdiebs Japans vorbereitete.
 

Kaito wusste, dass es nicht ungefährlich war, sich kurz vor einem Überfall an dem Ort des Verbrechens aufzuhalten, doch natürlich interessierte es ihn brennend, was im Polizeiquartier vor sich ging. Außerdem hielt er die Augen anch einem ganz bestimmten Polizisten offen. Diesem Polizeihündchen, das es wagte, an Kaitos Knochen herumzuknabbern! …als Kaito näher darüber nachdachte, missfiel ihm die Metapher des Polizeihündchens plötzlich. Aoko als Kaitos Knochen zu bezeichnen… das fand er doch irgendwo unangemessen. Zwischendurch dachte er immer mal wieder, dass er jemanden gesehen hatte, der zumindest ansatzweise wie dieser Tateno aussah, doch immer, wenn er ihn gerade ins Auge gefasst zu haben glaubte, war er auch schon wieder verschwunden. Und so starrte Kaito weiter auf den unorganisierten Haufen von Polizisten. Es würde ihn wohl kaum jemand bemerken, so unumsichtig wie die Polizisten gerade durcheinander rannten, um möglichst viel Sicherheitszeug in das doch eher kleine Polizeiquartier zu schleppen. Es war ein Wunder, dass das Zeug noch nicht kistenweise wieder aus den Fenstern herausquoll.
 

„Kaito!“ Kaito schreckte hoch. Er hatte so gedankenverloren die Polizisten beobachtet, dass er gar nicht daran gedacht hatte, dass er noch andere Sinnesorgane als nur seine Augen hatte. Die Quelle dieses Ausrufes war schnell gefunden. Nakamori. Leider war es nur der Kommissar, nicht seine Tochter. Dann musste er sich eben mit seinem zweitliebsten Nakamori abgeben. Der Kommissar kam auf Kaito zugeeilt und für einen Moment zweifelte Kaito daran, ob es so eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Der Kommissar hatte ihn zwar schon öfter verdächtigt und auch wenn im Moment eigentlich kein Grund bestand, Kaito zu beargwöhnen, sorgte er sich dennoch etwas, dass sein Auftauchen am Tatort nicht doch Misstrauen erwecken konnte.
 

Doch der Kommissar strahlte über das ganze Gesicht und sah keineswegs so aus, als würde er Kaito auch nur der kleinsten Missetat bezichtigen. „Kaito, willst Du Aoko etwa Gesellschaft leisten?“
 

„Aoko?“, Kaito stutzte. Nakamori schien es nicht wahrzunehmen, denn er plapperte munter weiter – viel zu munter für einen Polizeikommissar.
 

„Ja, sie ist drinnen. Ich hatte ihr zwar gesagt, sie solle lieber zuhause bleiben, aber du weißt ja wie sie ist. Hat sie sich einmal was in den Kopf gesetzt…“ Nakamori winkte ab. Kaito wusste genau, was er meinte. „Sag mal, hatte sie Dir gar nichts davon erzählt?“ Anscheinend waren Kaitos Gesichtszüge ein wenig entgleist, sonst konnte er sich Nakamoris Frage nicht erklären.
 

„Äh, nein, nicht direkt“, antwortete Kaito wahrheitsgemäß. Nakamori sah betreten drein und brauchte einen Moment, um seine Fassung wiederzuerlangen. Er blickte sich nach links und rechts um, als prüfe er, ob jemand mithören würde. Immerhin hatte er einem Zivilisten gegenüber, der nichts mit diesem Fall zu tun hatte und auch eigentlich nichts davon wissen sollte, zumindest Andeutungen gemacht, dass etwas Ungewöhnliches im Polizeiquartier vor sich ging.
 

„Hm, ich hatte gedacht, du wärst ihretwegen hier?“

„Nein, ich… ich kam nur zufällig vorbei und sah ihre Polizisten wie aufgescheuchte Hühner herumrennen.“ Das war immerhin eine Halbwahrheit. „Da dachte ich mir… mh… könnte es sein, dass es eine neue Ankündigung von Kaito Kid gegeben hat?“
 

Kurz runzelte Nakamori die Stirn, wobei sich seine Augenbrauen dicht zusammenzogen. Er sah Kaito durchdringend an. Dann ließ er ein schallendes Gelächter vernehmen und schlug Kaito heftig, aber freundschaftlich gemeint, auf den Rücken. „Dir kann man nichts vormachen, was? Tja, wenn du wüsstest… Aoko ist natürlich völlig durch den Wind. Ich hab sie schon lange nicht mehr so voller Eifer gesehen. Na ja, so gefällt sie mir besser als... du weißt schon, du wirst es ja selbst gemerkt haben…“ Ein lauter Knall aus Richtung des Polizeiquartiereingangs unterbrach das Gespräch abrupt.
 

Nakamori drehte sich zur Quelle des Lärms um und begann direkt damit, darauf einzuschreien. Jemand hatte einen der Scheinwerfer fallen gelassen – Nakamori war voll in seinem Element, als es darum ging, patzende Polizisten zusammenzufalten. Das Gespräch war wohl beendet. Kaito stahl sich langsam davon und lief in einem weiten Bogen zurück nach Hause. Er hätte zwar gerne mehr über Aokos Gemütszustände und Stimmungsschwankungen von Nakamori erfahren, aber… es reichte ihm auch, zu wissen, dass Aoko heute Abend da sein würde. Denn wie wollte sie ihm ausweichen, wenn sie nicht einmal wüsste, dass er da sein würde? Kaito konnte sie ausweichen – Kaito Kid jedoch nicht!
 

Erst als Kaito wieder Zuhause war, fiel ihm auf, dass diese Massen an Scheinwerfen und Fallen ihm galten. Das Polizeiquartier dürfte einem Minenfeld gleichen. Den Konsequenzen war er sich zuvor gar nicht bewusst gewesen – jetzt trafen sie ihn wie ein Kuchen den Clown in der Manege. Und genau wie einem Clown blieb auch ihm nichts anderes übrig als zu lachen. Nakamoris jämmerliche Versuche, Kaito vom Diebstahl abzuhalten waren für Kaito nicht mehr als ein Witz. Er wähnte sich durch und durch siegessicher. Heute konnte gar nichts schief gehen. Sämtliche soziale Niederlagen in den letzten Tagen würden durch den heutigen Sieg kompensiert werden. Oder zumindest kompensiert werden müssen.
 

Kaito nutzte die letzten Stunden, sich seinen Plan bis auf’s Äußerste einzuverleiben. Besonders komplex war der diesmal nun wirklich nicht, doch Kaito gab sich der Vorstellung hin, dass es ihm helfen würde, den Plan wieder und wieder in seinem Kopf durchzugehen. Die Zeit konnte gar nicht schnell genug vergehen – schleichend kroch der Minutenzeiger vorwärts, eine nervenzerreißend langsame Runde nach der anderen. Die Stunden quälten Kaito zunehmend – er hatte seinen Gleithänger schon mehrfach kontrolliert, sein Monokel so stark und so oft poliert, dass es eine weitere Politur wohl nicht überleben würde und seinen Anzug noch ein weiteres Mal gebügelt. Ihm war ganz klar bewusst, dass er schon am vorigen Abend alles auf’s Penibelste kontrolliert hatte… er wusste einfach nichts anderes mit seiner Zeit anzufangen. In Gedanken schweifte er immer wieder zu Aoko, die sich gerade im Polizeiquartier aufhielt. Bestimmt unterstützte sie ihren Vater tatkräftig… half mit, Fallen aufzubauen. Vielleicht dachte sie sich auch eigene aus. Bestimmt solch einen Anfängerkram wie Suchscheinwerfer oder Lasersicherheitssysteme…
 

Kaito amüsierte sich köstlich über die Vorstellung, wie dieses Trampeltier versuchen würde, sich eine Falle auszudenken, mit der sie Kaito Kid, den Meisterdieb überlistete. Er konnte sich regelrecht vorstellen, wie sie im Büro ihres Vaters am Schreibtisch saß, über ein vollgeschmiertes Stück Papier, auf dem sie mit kruden Zeichnungen versuchte, einen Plan zu entwickeln. Doch dann machte sich seine Vorstellung selbstständig. Zwei Hände, die ihre mit dem Bleistift bewaffnete Hand festhielten, um sie für einen Moment vom Schreibtisch zu entführen und für einen romantischen Plausch in eine andere Ecke des Büros zu gewinnen. Ja, natürlich, dieser Tateno-Polizei-Überflieger-Typ würde natürlich auch da sein! Vermutlich verbrachte er schon die ganze Zeit mit Aoko – ach was, natürlich hatte sie nur seinetwegen überhaupt darauf gepocht, mit zum Polizeiquartier zu kommen! Oh, dieses Luder! Dieses furchtbar berechenbare Luder! Kaitos erheiterte Stimmung verschwand sofort. Nun loderten die Flammen der Vergeltung und der Siegeswille in seinen Augen – so etwas würde er sich nicht so einfach gefallen lassen. Sie würde schon sehen, was sie davon hat!

Case 10: Kuscheln mit Kaito KID

Als Kaito am frühen Abend das Polizeiquartier von einem Baum aus mit einem Feldstecher beobachtete, fand er es fast vollständig verdunkelt vor. Von den Polizisten, die sich noch vor wenigen Stunden dort getummelt hatten, fehlte nun jede Spur. Wahrscheinlich befanden sie sich alle auf Position im Polizeiquartier. Umso besser. Je mehr Leute da waren, desto mehr Möglichkeiten gab es für Kaito, sich zu maskieren und unterzutauchen. Sein größtes Problem sah er momentan darin, sich in dem Polizeiquartier zurechtzufinden. Doch er hatte ja keineswegs vor, direkt als Kaito Kid hineinzuspazieren.
 

Sorgfältig zog Kaito sich eine Polizeiuniform über seinen weißen Anzug an. Es galt, die Umgebung erst einmal auszukundschaften und das Versteck des Juwels – und optimaler weise auch gleich ein paar Positionen von Fallen – zu erfahren. Kaito hockte wie auf glühenden Kohlen – und das wäre auf einem Baum echt blöd gewesen -, doch er musste auf den richtigen Moment warten. Obwohl er zwei Lagen Kleidung trug, fröstelte es ihn doch ein wenig. Doch gerade als er ungeduldig zu werden drohte, kam sein Augenblick: einer der Polizisten verließ das Gebäude, um zu einem in der Nähe geparkten Lastwagen zu laufen. Er versuchte, sich zu beeilen, doch Kaito war schneller. Während der Polizist sich damit abmühte, eine Kiste hochzuhieven, schaltete Kaito ihn mit einem gezielten Schlag in den Nacken aus.

„Ablösung!“, flüsterte Kaito und ärgerte sich ein wenig, dass niemand seinen Witz mitgehört hatte – aber das war eben einer der Negativaspekte, wenn man immer allein arbeiten musste. Der Polizist lag lang ausgestreckt vor ihm. Blitzschnell durchsuchte Kaito die Taschen des Polizisten nach dem Ausweis.
 

„Tateno Mishiba“.
 

Als Kaito den Namen desjenigen las, den er gerade ausgeknockt hatte, schauderte er. Erst jetzt fiel ihm auf, wen er sich da ausgesucht hatte. Einerseits missfiel es ihm, ausgerechnet dieser Typ sein zu müssen… andererseits erkannte er auch sofort Vorteile darin. Ganz abgesehen von der Genugtuung, dieses Arschloch, das sich an Aoko ranmachte, Gewalt anzutun. Kaito vergewisserte sich, dass noch keiner der anderen Polizisten in der Nähe war. Dann trat er dem armen, ihm hilflos ausgelieferten Polizisten einmal gegen’s Schienbein. Und weil man einen Künstler nicht hetzen soll, nahm er sich auch noch die Zeit, ihm mit Edding einen Schnurrbart aufzumalen. Das würde ihm eine Lehre sein! Nach diesen zwei kleinen emotionalen Entladungen besann sich Kaito wieder – es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Nachdem er Tateno gefesselt und geknebelt hatte, verwandelte er sich in ein perfektes Abbild ebendessen. Kaito schnappte sich die Kiste, die er anscheinend holen sollte, verließ den Lastwagen und ließ den geschundenen Polizisten alleine zurück. Mitleidlos.
 

In seinem neuen Aufzug näherte sich Kaito dem Polizeiquartier. Die Lichter waren nach wie vor gelöscht und Kaito begann zu mutmaßen, dass das wohl Teil des Plans war. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so war das alles andere als dumm. Die Polizisten würden sich vermutlich alle blind im Quartier zurecht finden Kaito Kid hingegen, als Außensteher, wäre wohl für’s erste aufgeschmissen. Für’s Erste. Aber noch war er nicht Kaito Kid – noch war er Tateno Mishiba. Er hasste diesen Namen. Er hasste es, ihn denken zu müssen und er hasste es, dass das nun seine Identität sein musste.
 

Kaum hatte Kaito die Eingangstür durchquert und sich im tatsächlich stockdunklen Polizeiquartier eingefunden, wurde er von zwei Paar Armen gepackt und zur Seite gezogen. Hatte man ihn etwa direkt durchschaut?!
 

„Man, was dauert das denn so lange?!“ Kaito blickte zwei Polizisten entgegen. Einen von beiden erkannte er als denjenigen Polizisten, der ihm – in Nakamoris Gestalt – von dem Red Beryll erzählt hatte.

„Jetzt bring‘ die Kiste schon in Nakamoris Büro, man!“

„Junge, hast Du eigentlich eine Ahnung, wie ernst die Situation ist?“

Die beiden Polizisten brüllten munter auf Kaito ein, sodass er kein Problem damit hatte, sich eiligst mit der Kiste, die langsam schwer zu werden begann, zu Nakamoris Büro zu bewegen. Eigentlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Kiste so schnell wie möglich irgendwo loszuwerden – warum sollte er, wie er vermutete, Waffen und Fallen, die für ihn gedacht waren, an den Feind ausliefern? – und auf eigene Faust die Örtlichkeiten und Begebenheiten checken, aber da sein erster Anhaltspunkt sowieso Nakamoris Büro war, kam ihm das ganz gelegen. So erweckte er auch nicht sofort Aufsehen. Den Weg zu Nakamoris Büro schaffte er sogar im Dunkeln – und es machte Kaito ein wenig stolz.

Kaito hatte schon fast die Hand an der Klinke von Nakamoris Bürotür, da hörte er ein Stimmengewirr durch die Tür dringen. Es klang dumpf und verschwommen und Kaito war sich nicht sicher, ob er alles korrekt mitbekam.
 

„…war da…? … rum erzählst … das jetzt…?

„… fiel mir … gerade ein, weil...“

„…jetzt keine Zeit für sowas…“
 

Kaito wartete bis die Stimmen abgeebbt waren und er eine zuknallende Tür hören konnte, bevor er das Zimmer betrat. Im Bürostuhl saß eine Person. Sie war der Zimmertür abgewandt und schien aus dem Fenster zu sehen.

„Kommissar Nakamori?“, frug Kaito unsicher in den dunklen Raum hinein.

„Gerade gegangen“, antwortete der Schatten und drehte den Drehstuhl so zu Kaito, dass er ihn genau ansehen konnte. Für einen kurzen Moment erschrak Kaito, als er erkannte, wer dort im Drehstuhl saß. Auch Aoko schien sich zu erschrecken, als sie sah, wer ihr gegenüberstand.

„T-Tateno!“, stieß sie aus – doch für Kaito klang es wie die schlimmste Beleidigung, die er sich ausmalen konnte. Mit dem widerlichen Beigeschmack eines gebrochenen Herzens. Kaitos Sicherungen brannten durch. Wenn er als Kaito nicht das haben konnte, was er wollte, so holte er sich als Tateno, was er kriegen konnte.
 

„Aoko“, seufzte Tateno-Kaito und erfasste ihre Hände.

„Ähm, was…?“, erwiderte Aoko verdutzt und sah sich hilflos um.

„Aoko“, wiederholte Kaito und zog sie an ihren Händen zu sich heran, sodass sie sich von ihrem Drehstuhl erheben musste und Kaito ganz nah gegenüberstand. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie. Kaito legte eine Hand an Aokos Hüfte, um sie gänzlich an sich zu drücken, doch noch bevor seine Finger ihren Platz vollständig gefunden hatten und sich dort ausruhen konnten, schob sie ihn unsanft weg, sodass er ein paar Schritte vorwärts taumelte.
 

„Was soll das? Was ist nur los mit Dir?“
 

Die Stimme war eindeutig Aokos Stimme, doch sie verursachte bei Kaito ein Gefühl wie Nägel, die über eine Tafel kratzten Aoko sah ihn verständnislos und mit einem furchterregenden Funkeln in den Augen an. Kaito hatte einen ähnlichen Blick schon oft an ihr gesehen, doch so intensiv hatte er ihn noch nie getroffen.
 

„Hast Du die Kiste geholt?“ Aoko klang weitaus geschäftlicher und ernster, als er sie jemals erlebt hatte. Sie wirkte wie eine knallharte Polizistin, die genau wusste, was sie tat – und keine Zeit für zwischenmenschlichen Quatsch hatte. Kaito hätte nie gedacht, sie jemals so zu sehen. Es war ein irrealer Anblick – dort stand sie, in einem senffarbenen Langarmshirt und einem Minirock mit dunkellilafarbenem Tartanmuster. Sie sah so sehr wie ein Schulmädchen aus und benahm sich so sehr wie eine Erwachsene - es war gruselig.
 

„Ach so, die Kiste, ja!“ Kaito hatte ganz vergessen, dass „er“ ja mit einem Auftrag losgeschickt worden war. Nachdem er an der Tür gelauscht hatte, hatte er ganz vergessen, die Kiste mit ins Büro zu nehmen. Kaito war fast ein wenig dankbar, dass er so eine Fluchtmöglichkeit aus dieser unangenehmen Situation hatte. Er eilte zurück in den Flur, um mit der Kiste zurückzukehren.
 

„Sehr schön, setz Dich doch“, sagte Aoko, nun plötzlich lächelnd, und deutete auf den Stuhl, der dem Drehstuhl, auf dem Aoko zuvor noch gesessen hatte, gegenüberstand – eben nur auf der anderen Seite des Schreibtisches. Aokos plötzlicher Gemütswechsel irritierte Kaito – und er machte ihn misstrauisch.
 

„Nein, danke… ich stehe lieber.“

„Ach so…“, erwiderte Aoko verträumt und näherte sich Kaito.
 

Die Nähe, die sie eben noch zu verabscheut hatte, schien sie jetzt zu suchen. Sie legte eine Hand auf seine Brust und kam ihm so nahe, dass ihre Gesichter sich fast berührten. Kaito konnte ihren Atem auf seiner Haut spürten und ihm stieg der süßliche Geruch ihrer Haare in die Nase. Seit Wochen war sie ihm aus den Weg gegangen, und nun war er ihr so nah. Er war fast wie benebelt.
 

„Könnte es daran liegen, dass Du…“, hauchte sie ihm entgegen und ihre Stimme war dabei so sanft, dass er sie am liebsten direkt in seine Arme schließen würde – wenn das alles nicht so verdächtig wäre… Stimmungsschwankungen sahen Aoko ähnlich, aber diese weiche, verführerische Seite… nun, vielleicht zeigte sie sie auch nur Tateno gegenüber. Doch Kaito sollte eines besseren belehrt werden.
 

„Könnte es daran liegen, dass Du… KAITO KID bist?“
 

Kaito hob abwehrend die Arme. „Aoko, was redest Du denn da?“
 

„Hör mir auf mit „Aoko“ – aus deinem Mund klingt es fürchterlich!“ Aokos Worte trafen Kaito. Zwar sagte sie es zu Kaito Kid, doch trotzdem war es doch Kaitos Mund, aus dem sie ihren Namen nicht hören wollte. Hinter Aokos Rücken konnte er ein leises Klicken vernehmen. Eine Waffe? Kaito merkte, dass es brenzlig wurde, und er musste sich eindeutig einen Ausweg schaffen – oder Aoko davon überzeugen, dass er der echte Tateno war.
 

„Aoko, hör zu, ich bin es doch! Der Tateno Mishiba, der mit dir im Café war und…“

Kaito entging nicht, wie sich Aokos Augen kurz weiteten, bevor sie ihn angiftete: „Spar Dir das.“
 

Lautes Fußgetrampel war auf den Fluren zu hören – war das das Klicken gewesen? Ein Alarm, der allen zeigen sollte, dass Kaito Kid eingetroffen war?
 

„Jetzt, da die Polizisten den Raum bereits umzingeln… es ist die Kiste. Jeder Polizist ist eingeweiht. Nur Kaito Kid konnte nicht wissen, dass ausgemacht war, dass die Kiste hier nie ankommen sollte. Derjenige, der sie trotzdem ins Büro bringen würde, wäre Kaito Kid.“
 

Kaito starrte Aoko unentwegt an. Dieses durchtriebene Luder. Nun, dann hatte es wohl keinen Sinn mehr, die Scharade aufrecht zu erhalten.
 

„Nun, wie fühlt es sich an, von einem Schulmädchen enttarnt zu werden, großer Meisterdieb?“
 

Sie grinste hämisch – ein Grinsen, das Kaito den kalten Schauder über den Rücken jagte. Langsam streckte sie ihre Hände nach Kaitos Maske aus. Doch noch bevor ihre Fingerspitzen seiner Maske nah genug kamen, stolperte er zwei, drei Schritte zurück: Er war schon aus schlimmeren Situationen entkommen und auch aus dieser würde er entkommen. Er checkte die Situation: er konnte durch die Fenster entkommen oder versuchen, durch die Tür zu kommen, durch die sich vermutlich gleich dutzende Polizisten zwängen würden. Er konnte das allgemeine Durcheinander nutzen, so wie er es immer tat… zumal unter den Fenstern vermutlich ebenfalls irgendwelche Fallen aufgestellt worden waren.
 

Gut, dann galt es nur noch auf die Polizisten zu warten – sie dürften ja jeden Moment da sein. Eigentlich war es verwunderlich, dass sie noch nicht da waren. Kaito klatschte langsam mit seinen mit Handschuhen versehenen Händen, was ein dumpfes Geräusch leisen Applauses verursachte.

„Bravo, Nakamori-chan. Damit hast du es weiter gebracht als dein nichtsnutziger Vater. Vielleicht hat man den falschen Nakamori zum Kommissar gemacht?“ Kaito konnte hören, wie Aoko energisch mit dem Alarmschlage-Gerät herumklickte. „Wer hätte denn auch schon mit so einem simplen, dummen Kleine-Mädchen-Trick gerechnet?“
 

„Du kannst noch so viel reden, Kaito Kid. Diesmal bist du in unserem Jagdrevier. Du hast keine Chance.“

Case 11: Minenfeld

„Du kannst noch so viel reden, Kaito Kid. Diesmal bist du in unserem Jagdrevier. Du hast keine Chance.“

Die Türen flogen auf und eine Vielzahl an Polizisten stürmte herein und drängte sich zwischen Aoko und Kid. Jeder versuchte, Kid zu packen und festzunehmen, während Kommissar Nakamori aus den hinteren Reihen unverständliche Befehle brüllte. Das war Kaitos Chance: als die Polizisten ihn umringten und sich dabei nur selbst im Weg standen, zündete er eine Rauchbombe. Der Raum füllte sich sofort mit Rauch und die meisten der Polizisten begannen zu husten und zu fluchen. Kaito nutzte den Augenblick, entfernte seine Maske und setzte sie in einer blitzschnellen Bewegung schon in der nächsten Sekunde einem anderen Polizisten auf, der sich noch gegen die Rauchbombe zu behaupten versuchte. In dem allgemeinen Chaos wurde sein Manöver von niemandem bemerkt – es ging perfekt auf. Plötzlich konzentrierten sich die Polizisten auf ein neues Opfer und Kaito war in der Lage, sich Schritt für Schritt von den Polizisten zu entfernen. Er konnte Aokos und Nakamoris Schreie vernehmen – natürlich würden sie den Trick schnell durchschaut haben, doch so konnte er sich immerhin einen kleinen Vorsprung verschaffen.
 

In wenigen Schritten hatte Kaito die Bürotür erreicht und schlich hinaus. Noch schien keiner seine Abwesenheit bemerkt zu haben. Lautlos eilte er in den Raum, der am weitesten von Nakamoris Büro entfernt war – nur um diesen komplett leer zu finden. Kaum hatte er einen Schritt in den Raum hinein getan, konnte er sich auch schon denken, was vor sich ging. Natürlich, eine neue von Aokos Fallen. Meine Güte, dieses Mädchen hatte es ja wirklich faustdick hinter den Ohren. Doch zu diesem Spiel gehörten immer noch zwei!
 

Kaito versuchte herausfinden, welche Art von Falle sich wohl in diesem Raum verbergen mochte. Er entschied sich für die einfachste Variante: Kaito schrie. Er schrie, als wäre er direkt in eine Falle getappt. Als wäre er unsanft in eine Fallgrube gefallen oder als würde er nun von einem Seil von der Decke hinab baumeln. Dann schwang er sich nach oben an die Decke, um sich dort zu verstecken. Und es lief alles wie am Schnürchen. Es war schon fast absurd, wie gut sein Plan funktionierte.
 

Augenblicklich ertönte ein lautes Getrampel aus dem Nebenraum, verbunden mit einem lärmenden Stimmengewirr. Kaito könnte förmlich spüren, wie sich dutzende Polizisten in Bewegung setzten, um Kaito Kid zu fassen. Als sie allesamt in den Raum stürmten, in dem Kaito gerade „abhing“, brachten sie noch Rauchschwaden der kurz zuvor gezündeten Nebelgranate mit sich. Wie Kaito es vorhergesehen hatte, rannten sie vollkommen kopflos direkt in den Raum hinein – keiner nahm auch nur die leiseste Notiz von Kaito, der direkt über ihnen unter der Decke klebte. Mit einem großen Geholper und Gepolter drängten acht, neun Paar Polizistenfüße darauf, in den Raum hineinzugelangen – und kaum hatten sich alle irgendwie durch die Tür gequetscht, schwoll der Lärm um ein Vielfaches an: der Boden verschwand schlagartig unter den Füßen der Polizisten. Eine Falltür! Wie Kaito es sich gedacht hatte. Aoko war wirklich so einfach zu durchschauen!

Dort hockten sie nun – ein Rudel Polizisten, das sich in einem dreckigen, tiefen Loch tummelte, völlig planlos und konfus. Kaito konnte das schmerzverzerrte Stöhnen der in die Falle Getappten vernehmen und lachte sich freudig ins Fäustchen, als er sich langsam von der Decke wieder auf den Boden runter gleiten ließ. Genüsslich bewegte sich Kaito an den Rand der Fallgrube, um einen Blick auf den Haufen Polizisten zu erhaschen – es war ein herrlicher Anblick. Ein Mahnmal seines Triumphs. Als die Polizisten Kaito Kid bemerkten, erhob sich ein Stimmgewirr – eine Mischung aus Fluchen, wüsten Beleidigungen und dem Flehen, er möge sie raus lassen.

Kaito winkte lachend ab, als er sich gemächlich von den Polizisten entfernte. Ja, jetzt wusste er, wie er Aokos Fallen zu umgehen hatte. Er frug sich, wie viele Polizisten wohl noch übrig seien – und wie viele er wohl noch dazu benutzen konnte, etwaige Fallen zu entschärfen. Lautlos verließ er den Raum, schloss die Tür und schob einen der Beistelltische, die auf dem Flur standen und eigentlich dafür gedacht waren, Blumenvasen einen Platz zum Stehen zu bieten, so vor die Tür, dass er die Türklinke so blockieren konnte, dass sie nicht mehr herunterzudrücken war. Er gab sich Mühe, so leise wie möglich vorzugehen – auch, wenn dort nun fast 10 Polizisten hinter der Tür hockten und vermutlich gerade verzweifelt versuchten, mithilfe einer Räuberleiter (war das nicht ironisch? Polizisten, die eine Räuberleiter machten?) aus ihrer selbst zuvor eingerichteten Falltür zu entkommen, so blieben doch noch mehr als genug Polizisten, die ihm in die Quere kommen konnten. Mal ganz zu schweigen von Aoko und ihrem Vater!
 

Der Raum, den Kaito soeben unpassierbar gemacht hatte, lag ganz in der Nähe des Eingangsbereiches. Wenn er Glück hatte, waren Nakamori und seine Untergebenen zu sehr damit beschäftigt, Kaito Kid nachzujagen, als dass sie ihre Kollegen befreien würden.
 

Der Rest des Abends war schon fast ein Spaziergang für Kaito – zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Kaum hatte Kaito erkannt, dass er die Massen an Polizisten zu seinem Vorteil nutzen konnte, nutzte er das auch schamlos aus. Auf dem Weg zum nächsten Raum wäre Kaito fast in einen einzeln herumstreunenden Polizisten hineingerannt – er schaffte es gerade noch so, sich in einem Türrahmen zu verstecken. Im Vergleich zu seinen sonstigen Täuschungsmanövern war so ein einfaches Sich-in-der-Tür-verstecken natürlich ein Witz, doch es bewährte sich: er packte den Polizisten, als dieser ihn gerade passierte, öffnete die Tür und warf den Polizisten in den soeben geöffneten Raum. Kaum war der Körper des Polizisten auf dem Boden aufgekommen, konnte Kaito schon hören, wie Gas in das Zimmer einströmte. Vermutlich war es ein Betäubungsgas, das den Polizisten erst einmal lahm legen würde. Man, diese Aoko war sich echt für keinen Trick zu schade.
 

So legte Kaito Falle für Falle offen und Polizist für Polizist brach – es gab Räume, die lähmende Stromstöße verabreichten, sobald man Boden oder Wände berührte, Netze, die herauf schnellten und den Unglücklichen, der in sie hineingetappt war, nach oben rissen, es gab Schlingen und Bärenfallen (so sehr Kaito sich auch mit der Polizei auseinander setzen musste – er brachte es doch nicht über’s Herz, jemanden in die Bärenfalle zu schubsen… gleichzeitig war er entsetzt, zu welchen Methoden Aoko und ihr Vater griffen), herunterfallende Käfige und Falltüren über Falltüren. Besonders viele Polizisten konnten nicht mehr im Einsatz sein – dafür hatte Kaito schon viel zu viele weggesperrt und in Fallen tappen lassen. Nur Aoko und Inspektor Nakamori… die beiden hatte er schon ewig nicht mehr gesehen. Genauso wenig hatte er auch nur die leiseste Spur vom Juwelen entdeckt…
 

Kaito brauchte gar nicht lange zu kombinieren. Er war so dumm gewesen. Natürlich war der Juwel bei Aoko. Vermutlich noch dazu direkt in Nakamoris Büro. Außer Nakamoris Büro und dem Flur, der durch das gesamte Gebäude führte, war keiner der Räume mehr betretbar… natürlich war der Red Beryll in Nakamoris Büro. Kaum zu glauben, wie nah er dem Juwel schon gekommen war, ohne es zu bemerken! Das einfachste war vermutlich, Aoko und ihren Vater zu trennen, um es dann mit Aoko alleine aufzunehmen. … Kaito frug sich einen Moment lang, mit wem er wohl eher fertig werden würde – Inspektor Nakamori war ein Tölpel, den er schon abertausend Mal ausgetrickst hatte. Aoko war eine Irre. Eine Psychopathin.
 

Kaito begab sich erst einmal wieder in die Nähe von Nakamoris Büro – er hatte zwar keinen wirklichen Plan, doch das würde sich schon noch ergeben. Er setzte zwei seiner Dummies in der Nähe des Büros ab; je nachdem ob der Inspektor sich von seinem Büro aus nach links oder rechts wandte – nach zwei Ecken in der jeweiligen Richtung würde er einem falschen Kaito begegnen. Um im Falle aller Fälle nicht direkt entdeckt zu werden, schwang er sich unter die Decke und verharrte dort. Auf der Lauer liegend galt es nur noch, den richtigen Moment zu erwischen. Und tatsächlich kam Kaitos Moment schneller als gedacht. Er hing noch nicht lange unter der Decke, als er Nakamoris Stimme durch die Tür dringen hören konnte. Seine Stimme klang hohl und dumpf:

„Es ist still… zu still. Ich… ich werde mal nachsehen gehen.“

„Nein, Papa, bitte, bleib hier, das ist doch ganz eindeutig eine Falle!“, erwiderte Aoko und sie klang dabei so gebieterisch und altklug, als wäre sie der Inspektor und er nur ein kleiner Handlanger.

„Ach, Aoko – vielleicht liegt Kaito KID gerade in irgendeinem Loch … oder seine Lungen füllen sich langsam mit Lähmungsgas. Vielleicht ist er auch schon daran erstickt – es wäre unverantwortlich, jetzt nicht nachzusehen.“

Aoko blieb still, doch Kaito konnte sich vorstellen, wie sich ihr Gesicht verzog.

„Und selbst wenn… Du wirst dich schon zu wehren wissen!“ Mit diesen Worten öffnete Inspektor Nakamori die Tür und trat heraus. Kaito konnte kaum an sich halten vor Begeisterung. Mensch, was für ein Glück. Er musste sich nicht einmal irgendeinen Trick ausdenken, um Inspektor Nakamori von Aoko wegzulocken! Jetzt musste er nur noch hoffen, dass tatsächlich sie diejenige war, die den Juwel bei sich trug. In den wenigen Sekunden, die die Tür offenstand, krauchte Kaito hindurch und war selbst entzückt, als er nun im Büro des Inspektors hing. Aoko schien ihn nicht zu bemerken. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und warf sich in den Bürosessel. Sie ließ die Beine baumeln und sah auf einmal wieder furchtbar kindlich aus.

„Na, hallo, kleine Polizistentochter!“, rief Kaito aus, als er sich behände von der Decke sinken ließ. Er warf die Polizistenkluft von sich und stand wie gestriegelt in seinem Anzug da. Die Kostümierung nützte ihm nichts mehr – jetzt, kam es ihm vielmehr darauf an, Eindruck zu schinden. Sein weißer Anzug schien in dem halbdunklen Raum richtig zu strahlen und sein Umhang wehte majestätisch, als Aoko ihn fassungslos ansah.
 

„Sieh einer an, der Meisterdieb“, sagte Aoko gehässig, als sie ihre Fassung wiedererlangt hatte. Sie tastete hinter sich auf den Schreibtisch, als suchte sie etwas Bestimmtes. Und Kaito konnte es sich auch schon denken.
 

„Papi kann dir jetzt nicht mehr helfen“, sagte Kaito und zückte seine Kartenpistole, um sie genau auf Aokos Brust zu richten.
 

„Das ist auch gar nicht nötig“, erwiderte Aoko kühl. Ihre Finger hatten gefunden, wonach sie gesucht hatten. Mit kaum merklich zitternden Händen ergriff Aoko die Pistole und zielte ebenfalls auf Kaito, „Nimm’s nicht persönlich, Kid.“ Ihr Zigefinger war am Abzug, doch er war schneller:

Mit einem Schuss entwaffnete er sie, mit einem zweiten zerfetzte er die Brusttasche ihres Pullis. Der Stoff riss mit einem unangenehmen Ratschen und legte ein kleines Stückchen von Aokos Haut frei - instinktiv versuchte sie ihre Blöße zu bedecken. Doch das war nicht das, worauf es Kaito ankam: ein kleines, matt glänzendes, schimmerndes Etwas war nach dem Schuss durch die Luft geflogen und mit einem leisen Tappen auf den Boden aufgekommen –

Der Red Beryll.

Case 12: Meisterdieb vs. Polizistentochter - FIGHT!

Kaum hatte Kaito erkannt, dass der Red Beryll soeben zu Boden gefallen war, hechtete er ihm hinterher – doch auch Aoko hatte ihren Verlust bemerkt. Sie kollidierte fast mit Kaito, als sie versuchte, den Juwel noch in die Hände zu bekommen… doch Kaito hatte einen minimalen Vorsprung. Seine Hände schlossen sich fest um den Juwel – ein angenehmes Gefühl. Endlich wieder ein Gefühl des Triumphes, des Erfolgs. Doch noch war er nicht in Sicherheit. Noch gehörte der Juwel nicht tatsächlich ihm. Aoko kämpfte wie eine Löwin – sie zerrte an seiner Kleidung, sobald sie sie zu fassen kriegte, und es gelang ihm nur mit Mühe, sie abzuschütteln. Es war, als ließe sie all die Aggression, die sie in den letzten Wochen auf Kaito geschoben hatte, jetzt an Kaito Kid aus.

Kaum hatte er sich befreit, spurtete er durch die Tür, die er zuvor aufgerissen hatte, und rannte den Flur herunter. Doch Aoko dachte nicht einmal daran, ihn entkommen zu lassen. Es war ein Wunder, dass Ginzo Nakamori nocht nicht durch den Lärm angelockt worden war. Vermutlich war er zu beschäftigt damit, seine Gefolgsleute aus Fallgruben und Fangnetzen zu befreien.
 

Kaito griff nach einer seiner Rauchbomben – nur um festzustellen, dass er nur eine mitgebracht hatte und diese bereits aufgebraucht hatte. So ein Anfängerfehler war ihm seit Ewigkeiten nicht passiert! Ach, das war nur die Schuld dieser blöden Aoko! Dann musste er eben so entkommen. Aber Aoko kämpfte eindeutig mit dem Ehrgeiz ihres Vaters. Sie war ihm dicht auf den Versen, als er mit dem Juwel zu entkommen versuchte. Er war bereits im Eingangsbereich, als sie ihm gefährlich nahe kam. Er wähnte die Flucht bereits nahe, als er die Eingangsschwelle passierte und im Freien stand, da setzte Aoko alles auf eine Karte. Mit einem harten Tackle warf sie Kaito zu Boden – so viel Körpereinsatz hatte er ihr gar nicht zugetraut. Sie schnaufte, Kaito ächzte, ihre beiden Körper machten ekelhaft knirschende Geräusche, als sie mit dem Boden kollidierten. Der Juwel entschlüpfte Kaitos Griff und fiel ebenfalls zu Boden und rollte einige Schritte weit weg von Kaito, der noch versuchte, den Juwel zu ergreifen, doch Aokos Gewicht, das auf ihm lastete, ließ ihn nicht so recht vorwärts kommen.
 

Aoko schien genau zu wissen, was sie tat. Sie hing sich fest an Kaitos Hüfte, um ein jegliches Vorwärtskommen zu verhindern. Er hätte ihr einfach in die Magengegend treten können, um sie abzuwimmeln, doch irgendwas hielt Kaito davon ab, um jeden Preis zu fliehen. Er wusste, dass seine Identität enttarnt werden könnte, doch er konnte es nicht über’s Herz bringen, ihr auch nur das kleinste Bisschen Gewalt anzutun.
 

Plötzlich verlagerte sich Aokos Gewicht. Anstatt ihn nur niederzuringen, ging sie nun soweit, sich einfach auf ihn drauf zu setzen. Kaito hatte gemixte Gefühle, was das anging. Natürlich hatte er sich in letzter Zeit mehr Kontakt zu Aoko gewünscht, aber das hier war einfach nur absurd. Langsam robbte sie sich auf Kaitos Körper vorwärts, doch so einfach wollte er es ihr nicht machen. Er drehte sich auf den Rücken, um sie besser unter Kontrolle zu halten. Mit seinen Händen packte er ihre Handgelenke und hielt sie so fest, dass sie sich kaum weiterbewegen konnte. Gleichzeitig versuchte sie sich mit ihren Füße vorwärtszuschieben und Kaitos Hände abzuwimmeln, während sie ihr Gewicht immer noch so auszubalancieren versuchte, dass Kaito selbst nicht aufstehen konnte, um sich den Edelstein zu schnappen. Es war ein wildes Gerangel, das durchaus missverständlich aussah.
 

Die Polizisten schienen sich inzwischen aus ihren verschlossenen Räumen befreit zu haben, denn eine Horde von ihnen kam nun ebenfalls aus dem Eingang des Quartiers herausgestürmt. Kaito sah ein, dass es diesmal keinen Sinn hatte, weiterzukämpfen. Ehe Aoko zwei oder drei der Polizisten rübergewunken hatte, befreite er sich in einem Moment, in dem sie sich zu den Polizisten umsah und lief in die Dunkelheit der Nacht.
 

Aoko schnaubte und nahm den Juwel an sich.

„Der kommt wieder.“

Case 13: Vogelfrei

„Was ist los, Kaito KID, gibst du auf? Ist es nicht das hier, was Du suchst?“, rief Aoko und hielt dabei das Juwel fest in ihrer Hand. Sie hatte die Hände derart verkrampft um den Red Beryll geschlossen, dass ihm auch seine Kartenpistole nicht weiterhalf – zumindest nicht, ohne sie zu verletzen. Sie sah erschöpft aus, aber entschlossen. Sie atmete schwer und ihr Haar war kaum mehr als Frisur zu bezeichnen. Dennoch strahlte Aoko die pure Siegessicherheit aus.
 

Da hockte Kaito nun in seinem Baum. Weit war er nicht geflohen. Er hatte sich, kaum dass er in den Schutz der Dunkelheit entkommen war, auf einen Baum gerettet, der so dicht bewachsen war, dass man ihn darin nicht sehen konnte, und doch die Möglichkeit bot, frei auf das Polizeirevier zu blicken. Auch an ihm war der Abend nicht spurlos vorbeigegangen – sein wunderschöner, strahlend weißer Anzug war die längste Zeit strahlend weiß gewesen. Jetzt reihte sich Grasfleck an Grasfleck. Dennoch – er war sich mindestens genauso siegessicher wie Aoko.
 

Er konnte genau sehen, wie sich ihr Oberkörper hob und senkte, wenn sie atmete. Es war ein faszinierender, fast schon hypnotisierender Anblick, der Kaitos Blicke mehrere Minuten lang fesselte. Auf. Und ab. Auf. Ab. Auf. Ab. Breitbeinig stand sie da, die schwarzen Schuhe in den Erdboden gedreht, sodass sie aussah, als wäre sie mit dem Boden verwachsen, als könne keine Naturgewalt sie ins Wanken bringen. Auf. Ab. Auf. Ab. Der laue Abendwind wehte ihr ab und an zwei, drei Haarsträhnen ins Gesicht, von denen sie kaum Notiz zu nehmen schien. Auf. Ab. Ihre Wangen glühten rot, das konnte er selbst aus der Entfernung erkennen. Vermutlich pulsierten sie heiß, hätte er sie berühren dürfen. Auf. Ihre Finger lagen nach wie vor so fest um den Juwel, dass Kaito sich schon fast frug, ob er ihn erst in seinen Händen halten würde, wenn er ihn ihren toten, kalten Klauen entrissen hatte. Ab.
 

Und da kam Kaito die Idee. Die Idee, die seine Probleme lösen sollte. Oder verschlimmern. Oder verschlimmbessern. Oder alles in eine Katstrophe stürzen würde. Das konnte er so im Voraus noch nicht sagen – es war waghalsig, und vermutlich ziemlich dumm. Aber Kaito ließ sich durch nichts davon abbringen. Nicht von den leisen Stimmen in seinem Kopf, die ihm zuflüsterten, dass das Wahnsinn und glatter Selbstmord sei, nicht von den Polizisten, die sich mit der Zeit um Aoko gesammelt hatten und auch nicht von Inspektor Nakamori, der vehement versuchte, seine Tochter dazu zu bewegen, sich wieder ins Polizeiquartier zu begeben, anstatt schnaufend und keuchend davor rumzustehen, wo man leichte Beute sei. Aoko schüttelte seinen Arm ab und blieb stehen, wo sie sowieso schon wie verwurzelt stand.
 

Innerhalb von Minuten war Kaito auf ein nahegelegenes Hochhaus gelangt. Er war direkt zum nächsten Wolkenkratzer, der ihm einfiel, gerannt und hatte sich den Fahrstuhl geschnappt. In der engen, metallenen Kabine, wippte Kaito nervös mit dem Fuß auf und ab. Unangenehme, grelle Geräusche erfüllten den Lift, während er sich in Richtung Dach bewegte. Im letzten Stockwerk angekommen, raste Kaito die verbleibende Treppe hinauf, um dann schließlich das Dach des Hochhauses zu erreichen und sich von dort einen Überblick zu verschaffen.
 

Hier war es unangenehm kalt und der Wind fegte erbarmungslos um Kaito herum. Auch von hier hatte er das Polizeiquartier mithilfe seines Fernglases genau im Blick – und zu seinem großen Glück stand Aoko noch genau wie zuvor vor dem Polizeiquartier. Er konnte sie nicht mehr so gut atmen sehen, doch er erahnte, dass sie nach wie vor wie eine Besessene alles misstrauisch beäugte und den Feind überall vermutete. Und das tat sie auch zurecht.
 

Dieser Teil des Abends war zwar recht improvisiert, doch Kaito war sich sicher, alles würde zu seiner Zufriedenheit verlaufen. Es war das große Finale. Quasi. Das große Finale des Abends. Und wenn etwas schief ging – das große Finale seiner Karriere. Er würde nicht wie sein Vater ermordet werden – nein, was er vorhatte, war blanker Selbstmord, wenn nicht alles richtig funktionierte. Er begab sich direkt in die Höhle des Löwen. Schlimmer noch, er holte den Löwen mit bloßen Händen aus seiner Höhle heraus, legte ihm ein Lätzchen um, um dann gemütlich mit ihm eine warme Schokolade zu trinken. Kurz: es war eine furchtbare Idee, doch die warme Schokolade machte sie so verführerisch. Der Löwe war natürlich Aoko. Und die warme Schokolade… na ja, war vermutlich warme Schokolade.
 

Mit der größtmöglichen Sorgfalt, die er so kurzfristig an den Tag legen konnte, bereitete sich Kaito vor – auch wenn er sich eingestehen musste, dass seine Vorbereitung lediglich darin bestand, tief durchzuatmen, Aoko genau anzuvisieren und das Beste zu hoffen.
 

Ein letztes Mal atmete Kaito tief ein, ehe er sich vom Dach des Hochhauses stürzte. Er hatte die Augen geschlossen und genoss den kurzen freien Fall. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit näherte er sich der Erde, während ihm der Wind ins Gesicht peitschte. Auf seinem Rücken, unter seinem wild flatternden Cape, ruhte sicher sein Hängegleiter. Im selben Moment, wie er die Augen öffnete, ließ Kaito den Hängegleiter entfalten und segelte wie ein Adler im Wind durch die Lüfte.
 

Er kannte sein Ziel. Er kannte es genau. Wenn er sich Mühe gab und die Augen ein wenig zusammenkniff, konnte er es deutlich erkennen. Direkt vor dem Hauptquartier, kaum zu verfehlen.
 

Er kannte sein Ziel. Er kannte es seit über zehn Jahren. Sein Monokel schimmerte im Mondlicht während er über die Stadt glitt – während in seinen Augen selbst funkenweise Hoffnung und Aufregung leuchtete.
 

Er kannte sein Ziel. Und doch, in den letzten Wochen war es ihm so furchtbar fremd geworden. Er näherte sich seinem Ziel stetig, wie auf emsigen weißen Schwingen. Sein Herz schlug ihm fast bis zum Hals und er fühlte sich, als ob es bald zerbersten würde, wenn er nicht endlich sein Ziel erreichen würde.

Case 14: Raubflug

Kaito sauste mitsamt seinem Hängegleiter beständig auf das Polizeiquartier zu. Unter ihm breitete sich die Stadt aus wie ein hässlicher graublauer Industrieteppich aus Stahl und Schutt, der durchsetzt wurde von einem Lichtermeer, das sich aus unendlich vielen, kleinen Lichtkegeln zusammensetzte. Kaito hatte kaum Augen für diesen Anblick, der jeden anderen Menschen vielleicht betören mochte.
 

Er hatte nur Augen für einen Ort. Das Polizeiquartier. Böe für Böe näherte er sich. Es kam ihm wie ein unendlicher Gleitakt vor. Als hätte er schon fünf Mal da sein müssen. Ohne sein Fernglas konnte er die Entfernung nicht genau abschätzen und alles, was er erkennen konnte, war ein weiteres graues, ödes Gebäude, das sich nur dadurch auszeichnete, dass sich eine Menschenhorde darum tummelte. Einer dieser Menschen musste Aoko sein.

Sie musste einfach noch da sein.

Den Juwelen immer noch fest umklammert.
 

Kaitos Puls raste – nicht wegen des durch den Hängegleiter ausgelösten Adrenalinkicks oder durch den Gedanken an den Red Beryll. Nein, es war Aoko, die ihm sein Blut mit Überschallgeschwindigkeit durch die Venen jagte, die ihm den Atem nahm, die seinem Herzen eine Härteprüfung auferlegte. Und Kaito wollte diese bestehen.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit des schwerelosen Gleitens wurden aus formlosen Umrisse klare Konturen. Klare Konturen von Menschen. Polizisten. Haufenweise Polizisten. Und eine Polizistentochter. Ein echtes Vorbild an Standhaftigkeit und Ausdauer. Aoko schien jeden Muskel anzuspannen. Jeder Quadratzentimer ihres Körpers war Dynamit, das jeden Moment zu explodieren drohte. Sie strahlte eine solche Willensstärke aus, dass Kaito selbst aus der Ferne das Blut, das ihm eben noch heiß durch den Körper gepumpt wurde, in den Adern gefror. Doch nun gab es kein Zurück.
 

Inzwischen konnte Kaito sie klar erkennen. Das wuschelige braune Haar, die verkrampfte Haltung, die weiche Haut. Ein Traum von einem Rivalen. Ihre Hand war nach wie vor fest zur Faust geballt, sodass Kaito davon ausging, dass sie auch den Red Beryll noch in ihrer Gewalt hatte.
 

Es war einer der Polizisten, die Kaito zuerst am Himmel entdeckte. Mit einem stummen Staunen starrte er still in den Nachthimmel, ehe er erkannte, wer sich dort durch die Lüfte näherte. Kaum war der erste heisere Schrei „K-Kaito K-K-Kid!“ getan, schien das gesamte Quartier durchzudrehen. Das wilde Toben, der steigende Geräuschspiegel drang auch an Kaitos Ohr heran, doch er ließ sich nicht irritieren und fuhr unbeirrt fort – mit seinem „Plan“. Seine Flughöhe hatte sich inzwischen soweit reduziert, dass er fast schon die Bäume streifte.
 

Die Polizisten begannen wild durcheinanderzulaufen, während einige besonders mutige versuchten, Aoko dazu zu bewegen, sich ins Quartier zu bewegen, statt wie auf dem Präsentierteller mit dem Juwel draußen zu bleiben. Inspektor Nakamori schien unterdessen hin und hergerissen zu sein, ob er die Standfestigkeit seiner Tochter, die eindeutig er an sie vererbt hatte, nun begrüßen sollte – oder ob doch die Sorge um sein eigen Fleisch und Blut obsiegte. In seinen Augen jedoch brannte unabdingbar und unbestreitbar der glühende Ehrgeiz, Kaito Kid, den Meisterdieb 1412 endlich zu fassen.
 

Aoko stand starr und unbewegt vor dem Eingang des Polizeiquartiers, als Kaito sich unaufhaltsam näherte.

„Kaito! Na komm schon, Du Feigling! Das ist es doch, was Du willst!“, tönte Aoko aus voller Brust und reckte dabei die Faust mit dem Red Beryll in die Höhe.

Kaito war Aoko so nah und nun würde er nicht mehr zulassen, dass sich ihm etwas in den Weg stellte. Die Polizisten schienen sich eh nicht schlüssig, was sie tun sollten. Einige fingerten unsicher an ihren Waffen herum, unsicher, ob sie sie einsetzen sollten oder nicht, andere schienen tatsächlich darüber nachzudenken, Kid mit bloßen Händen aus der Luft fangen zu wollen.
 

Mit einer flinken Bewegung brachte Kaito den Hängegleiter näher zum Boden, sodass er sich etwa auf Höhe der Häuser der Wohnhäuser befand und bereits einzelnen Straßenlaternen, die sich hoch in den Himmel reckten, ausweichen musste. Aber Kaito war siegessicher. Und verbissen. Er konnte die Untergebenen Nakamoris durcheinander schreien hören, doch er war unaufhaltsam. Auf Nakamoris Gesicht breitete sich ein siegessicheres Grinsen aus – immerhin flog Kid, der Meisterdieb, direkt auf ihn zu. Sicherheitshalber griff er nach seiner Waffe und klammerte seine Finger fest um den Griff. Nur für den Fall, dass es doch Schwierigkeiten gab… - und die gab es natürlich. Schwierigkeiten, die das Grinsen direkt vom Gesicht des Kommissaren wischten.
 

Kaito steuerte unvermittelt auf Aoko zu. Je näher er ihr kam, desto wuseliger wurden die Polizisten. Nur Aoko blieb unberührt. Sie stand da wie ein Fels. Wie ein unbewegliches Monument, das Wind und Wetter trotzte, das niemals in die Knie gehen würde. Und Kaito war das ganz recht so. Sein Herz schlug wie wild, das Blut rauschte ihm mit Überschallgeschwindigkeit durch die Adern.
 

Dies war sein Showdown, und er würde sich sein grande finale nicht nehmen lassen. Als er nur noch einen halben Meter von Aoko entfernt war, konnte er aus den Augenwinkeln erkennen, wie die Polizisten, die zuvor kopflos durcheinander gerannt waren, sich doch daran erinnern zu schienen, wie man seinen Job machte, und versuchten, auf Kaito zuzudrängen, doch es war zu spät. Nicht nur entglitt er ihren Bewegungen elegant und mühelos, nein, binnen Sekunden war er verschwunden. Allerdings erst, nachdem er den Juwel des Polizeireviers an sich gerissen hatte:
 

Kaito ließ sich unvermittelt zu Boden fallen und stürmte flink auf Aoko zu, während sein Hängegleiter weiter in der Luft schwebte. Nakamori sowie seine Untergebenen waren zu perplex, um sinnvolle Handlungen vorzunehmen. Aokos Gesichtszüge entgleisten, ihre Mundwinkel zuckten unkontrolliert, als wäre sie sich unsicher, was die passende Reaktion auf Kaito Kids Kamikaze-Aktion wäre. Ihre Mundpartie rang mit sich, ob sie nun Lachen oder die Zähne blecken sollte. Kaito war es relativ egal, was sie tat. Wichtig war, dass sein „Plan“ reibungslos verlief.
 

Er konnte ein leicht knirschendes Quietschen vernehmen, als sich Aokos Finger noch fester um den Red Beryll schlossen. Im nächsten Moment wurde Aoko fast schon schmerzlich bewusst, dass sie lieber einen Schritt zur Seite hätte treten sollen; Kaito machte genauso wenig wie Aoko Anstalten, ihr auszuweichen. Ganz im Gegenteil, er legte es regelrecht auf einen Zusammenstoß an.
 

Als er nur noch wenige Schritte von Aoko entfernt war, konnte er ihren süßlichen Duft wahrnehmen, der durchtränkt war von einer leichten Note der Anstrengung, die der Abend bisher von Aoko abverlangt hatte. Kaito ging leicht in die Hocke, während er seinen Endspurt hinlegte. Er ergriff mit seiner linken Hand Aokos Taille, mit der rechten Hand an ihre Oberschenkel. Mit einer blitzschnellen Bewegung riss er Aoko von den Füßen und hievte sie auf seine Arme.
 

Sofort schrie sie aus Leibeskräften auf. Vorbei war es mit ihrer stoischen Ruhe, mit ihrer felsenfesten Beständigkeit. Aber wer konnte es ihr schon verübeln? Sie trat mit ihren Füßen nach Kaito, doch sie erwischte nur die dünne Luft zwischen den beiden. Sie fuhr ihre Krallen aus, versuchte, Kaito mit ihren Händen zu erwischen und versengte ihre Fingernägel in seinem weißen Anzug. Unter Aokos Schreie mischten sich das wütende Brüllen Nakamoris sowie das hilflose, entsetzte Rufen der Polizisten.
 

Mit einem schnellen Knopfdruck aktivierte Kaito die Vorrichtung seines Hängegleiters, die dafür sorgte, dass das Drahtseil, das an Kaitos Gürtel befestigt war und ihn so nach wie vor mit dem Hängegleiter verband, eingeholt wurde und Kaito so, mit Aoko in seinen Armen, in die Höhe gezogen wurde, um sich wieder weiter mit dem Gleithänger fortbewegen zu können. Es war nicht besonders einfach, den Gleithänger wieder einigermaßen sorgfältig anzulegen und in der Luft nicht die Balance zu verlieren, während er Aoko festhielt, aber tatsächlich gelang es ihm. Nun war er wieder in seinem Refugium, weit über dem Polizeiquartier, weit entfernt von der Reichweite der Polizisten. Kaito spürte unzählige Blicke auf sich, während er am Nachthimmel entlang glitt. Nakamori richtete zwar zweifelsfrei eine Pistole auf Kaito KID, doch er ließ sie rasch mit einem wilden Fluch wieder sinken, als er erkennen musste, dass er seine Tochter gefährden würde.
 

Kaum hatte Aoko feststellen müssen, dass sie den festen Boden unter ihren Füßen verloren hatte und nun hoch über der Stadt schwebte und – und das war das Schlimmste von allem – Kaito KID ausgeliefert war, wehrte sie sich nach Leibeskräften. Krampfhaft versuchte sie, KID von sich wegzudrücken und sich aus seinem Griff zu befreien. Sie fluchte höchst unschicklich und wand sich in seinen Armen wie ein Regenwurm, der nicht in zwei Hälften geteilt werden wollte.
 

„Hör auf, so rumzuzappeln – wie soll ich denn so die Balance halten“, schimpfte Kaito mit solch einer KID gebührenden Überheblichkeit, dass er spüren konnte, wie sich Aokos Augenbrauen zusammenzogen und ihre Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, die ihn feindselig anfunkelten.

„Das hättest Du Dir vorher überlegen können!“, zischte Aoko und stemmte ihre Arme gegen KIDs Oberkörper. Tatsächlich löste sich Kaitos Griff und er ließ Aoko fallen -

zehn, zwanzig Zentimeter in die Tiefe. Es waren nur zwei Sekunden Schwerelosigkeit, zwei Sekunden des Fallens, ehe sich Kaitos Griff wieder festigte wie zuvor und er Aoko nach wie vor fest in den Armen hielt.
 

Dieser kleine Schockmoment hatte gereicht, um Aoko feststellen zu lassen, dass sie sich in schwindelerregenden Höhen befand und es vermutlich eine schlechtere Entscheidung wäre, sich ihre Freiheit zu erkämpfen, als sich einfach eine Weile entführen zu lassen.
 

Nichtsdestotrotz hatte Aoko entsetzlich aufgeschrien. Ein markerschütternder Schrei, gefolgt von einem panischen „Kaaaitooo!“

Seinen eigenen Namen zu hören brachte Kaito fast so sehr aus dem Konzept, dass er Aoko beinahe ein weiteres Mal fallen ließ – diesmal ungewollt. Es war eindeutig „Kaito Kuroba“, nicht „Kaito Kid“ gemeint gewesen.

Während Kaito noch stutzte, zeigte sich Aoko nun doch kooperativ, ja fast schon anhänglich. Sie hatte ihre Arme um Kaitos Hals geschlungen und klammerte sich an ihn – anscheinend hatte sie doch Sorge, fallen gelassen zu werden.
 

„Kaito?“, wiederholte Kaito und tat so, als wolle er sich als Kaito KID erkundigen, was sein Opfer soeben von sich gegeben hatte. Er gab sich Mühe überheblich und neugierig statt verunsichert zu winken.
 

„Ich rede nicht mit Dir“, antwortete Aoko knapp.
 

„Wie Du willst“, erwiderte Kaito ebenso knapp und noch eine Spur kühler. Er konnte es ihr eigentlich nicht verdenken, immerhin entführte er sie gerade. Vermutlich hatte sie gerade panische Angst, immerhin wurde sie von demjenigen Meisterdieb gekidnappt, der dafür sorgte, dass ihr Vater kaum eine freie Minute für sie übrig hatte. Dennoch… nun hatte er Aoko nach so langer Zeit wieder in seiner Nähe, da wollte sie sich nicht einmal mit ihm unterhalten. Es war eigentlich alles wie zuvor. Es hatte nichts gebracht.
 

Und dennoch… als Kaito zurückdachte… sie hatte seinen Namen gerufen. Sie hatte eindeutig seinen Namen gerufen, als sie dachte, sie würde in den Tod stürzen. Sie hatte nicht nach ihrem Polizeischoßhündchen gerufen, sondern nach ihm – Kaito Kuroba! Fast hätte sich Kaito siegessicher auf die Schulter geklopft und ihr zu dieser hervorragenden Wahl gratuliert – wäre er nicht derjenige, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte.
 

In einiger Entfernung konnte Kaito Polizeisirenen hören. Aoko vermutlich auch, doch sie gab kaum eine Regung von sich, während sie dicht an Kaitos Brust gepresst war. Er konnte sie atmen fühlen, ihren Herzschlag ganz nah an seinem spüren. Ihr Herz pochte schnell und aufgeregt und es tat ihm fast ein bisschen leid, sie derart malträtieren zu müssen… doch das hatte sie eben davon, wenn sie ihm so vehement aus dem Weg gehen muss.

Der Wind pfiff um die beiden herum, während sie so durch die Luft segelten. Kaito kam es vor, als wären sie schon Ewigkeiten gemeinsam so unterwegs. Sein Ziel war ihm klar, jedoch hatte er gedacht, sie hätten es bis jetzt längst erreicht.
 

„Ich hab ihn nicht.“ Es war ein leises, vorsichtiges Stimmchen, dass da an Kaitos Ohren drang.

„Was?“, fragt Kaito verdutzt und vergaß dabei einen Augenblick lang, seine Maskerade aufrecht zu erhalten.

„Den Red Beryll.“

Kaito legte den Kopf schief und starrte Aoko an, die ihren Kopf fest an seinen Hals gepresst hatte. Was erwartete sie nun von ihm?

„Du kannst mich also absetzen. Oder fallen lassen. Oder was ein Meisterdieb eben mit wertlosen Geiseln macht.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern und es klang mitleiderregend, ja fast schon erbärmlich in Kaitos Ohren. Er wollte seine starke, großartige Aoko nicht so schwach erleben.
 

„Tut mir Leid, Nakamori-chan, aber wir wollen deinen Vater doch nicht unglücklich machen.“ Kaito lächelte. Es war nicht sein süffisantes Kaito-KID-Lächeln, nicht das überlegene Grinsen eines Meisterdiebs. Es war ein ehrliches, aufrichtiges Lächeln, doch Aoko bemerkte es nicht.

Wie dumm dieses kleine Mädchen doch war… zu denken, es ginge hier nach wie vor um den Red Beryll…
 

Langsam konnte Kaito fühlen, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Vor lauter Aufregung konnte er die Zartheit von Aokos Haut an seiner kaum genießen. Er ertrug es kaum, noch nicht an seinem Zielort angekommen zu sein, um endlich alle Zweifel und Sorgen abzulegen. Noch rumorte ihm der Gedanke schwer in Kopf und Magen herum, ob das improvisierte Ablenkungsmanöver, dass er schnell mit Jii-chan zusammengewürfelt hatte, tatsächlich wirkte. Während Kaito mit seinem Hängegleiter unterwegs war, war Jii-chan in gleicher Verkleidung und ebenfalls mit einem Hängegleiter in fast entgegengesetzter Richtung mit einem Aoko-Dummy unterwegs.
 

Vor Aoko und Kaito erstreckte sich bald der Platz, an dem sich die beiden das erste Mal trafen. Der Glockenturm ragte hoch in den Sternenhimmel – er war kaum zu verfehlen.

Case 15: Im Glockenturm

Ein lautes Klacken ertönte, als Kaitos Schuhe auf den Boden des Glockenturmes aufkamen und die Stille der Nacht durchbrachen. Der Klang hallte in der großen, gusseisernen Glocke, die wenige Schritte neben ihm hing, wieder.
 

So viele glückliche Erinnerungen verband Kaito mit diesem Turm und er plante, eine weitere hinzuzufügen. Auch, wenn natürlich alles gründlich schiefgehen konnte.
 

Behutsam setzte er Aoko ab, die unbeholfen ein paar Schritte Richtung Glocke, weg von Kaito, tapste, und dabei aussah, als würde sie erst laufen lernen müssen. Schon nach wenigen Schritten ließ sie sich auf die Knie fallen und zu Boden sinken. Ihre Schultern hingen schlaff herab und sie betastete vorsichtig den Steinboden unter sich, als müsste sie sich erst vergewissern, dass sie tatsächlich festen Boden unter sich hatte. Anscheinend hatte der Flug sie mehr mitgenommen, als Kaito gedacht hatte. Es war schon fast niedlich.
 

Kaito schritt erhaben auf Aoko zu. Sie robbte vor ihm davon, bis sie sich fast unter der Glocke befand und mit ihrem Rücken gegen den Bauch der Glocke stieß. Ihr Fluchtweg war damit abgeschnitten und sie schien zu resignieren.
 

„Nakamori-chan…“, grinste Kaito KID, funkelte sie unter seinem Monokel an und beugte sich zu ihr herunter, indem er vor ihr in die Knie ging.

„Nakamori-chan…“, wiederholte Kaito KID und wiegte dabei den Kopf von einer Schulter zur anderen, „was mache ich nun bloß mit Dir?“
 

Aoko sah ihn nicht einmal an. Sie starrte zur Seite weg, in die Nacht hinaus. Kaito jedoch akzeptierte solch ein unkommunikatives, unkooperatives Verhalten nicht. Er legte seine mit einem weißen Handschuh bekleidete Hand an ihr Gesicht, berührte ihr Kinn mit zwei Fingern und drehte ihren Kopf zu sich.
 

Ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich gespannt, ihre Augen funkelten böse. Fast wäre Kaito bei diesem Anblick zurückgeschreckt, wäre er ihm nicht aus den letzten Tagen noch so bekannt gewesen.
 

„Du hättest mich töten sollen, als Du die Chance dazu hattest“, sagte Aoko miesmutig, während sie dazu gezwungen war, Kaito in die Augen zu sehen. Innerlich seufzte Kaito. Hatte dieses Mädchen eigentlich eine Ahnung, wie klischeemäßig sie gerade redete?
 

Kaito überging Aokos überflüssige Melodramatik.

„Nakamori-chan“… er musste sich einen Moment besinnen, um sie nicht „Aoko-chan“ zu nennen, auch wenn er eindeutig das Bedürfnis hatte.

„Ich habe nicht vor Dich zu töten. Warum dieser Todeswunsch?“

Aoko schwieg. Kaito sah das als stumme Erlaubnis, weiterzureden.

„Als würde ich dich entsorgen, nur weil Du den Juwel nicht dabei hast. Soll ich dir etwas sagen?“, frug Kaito so freundlich wie es ihm möglich war, ohne dass er dabei an nötiger Distantiertheit verlor. Aoko wirkte nur mäßig neugierig. Eine weitere stumme Erlaubnis, fortzufahren – perfekt.

„Natürlich hast Du den Juwel nicht. Niemand würde einer Oberstufenschülerin einen Juwel anvertrauen. Vermutlich war dein Red Beryll aus…Zucker, oder sonst was. Juwelen knirschen nicht.“

Erneut konnte Kaito ein Knirschen vernehmen – ein markerschütterndes Knirschen von Aokos Zähnen. Wow, er verstand es wirklich, sich mit ihr gutzustellen. Das würde ja noch eine nette, gemeinsame Zeit werden!
 

„Nein, nein, eine Schönheit wie Du ist doch viel mehr wert als so ein Edelstein“, wäre etwas gewesen, was Kaito als Gentleman-Dieb zu jedem anderen Mädchen, dass er für seine Zwecke bezirzen wollte, gesagt hätte. Doch Aoko war nicht wie jedes andere Mädchen. Bei ihr wollte er behutsam vorgehen. Er wollte keine alten Tricks aufwärmen. Genaugenommen wusste er nicht einmal, wohin ihn dieser Abend führen sollte. Bislang zeigte sich Aoko nämlich wenig kooperativ.
 

„Um zurück zum Thema zu kommen…“, begann Kaito genüßlich. Er dehnte die Worte extra und legte so viel Betonung in jede einzelne Silbe wie er konnte, um sich noch ein wenig Zeit zu verschaffen. In Wahrheit raste sein Herz wie wild. Doch bevor er die Gesprächsführung weiter an sich reißen konnte, fiel ihm Aoko ins Wort. Es war das erste, was sie seit langem aus eigenem Antrieb sagte, sodass ihre Worte unendlich viel Gewicht zu haben schienen.
 

„Spiel mit mir, so viel und solange du willst!“ Das erschien Kaito erstmal wie ein durchaus verlockendes Angebot. Hätte Aoko nicht noch folgendes hinzugefügt: „Wenn mein Freund, dich in die Finger kriegt, dann… dann…“

„Dein Freund?“, erwiderte Kaito, indem er sie unterbrach, lupfte eine Augenbraue und verlor dabei fast seine kühle Fassade. Zu tief traf ihn der Schock. Natürlich, da war dieser Tateno-Typ, aber… aber… aber es direkt aus Aokos Mund zu hören – von Angesicht zu Angesicht! – das war einfach zu viel.
 

„Ja! Er wird kommen und mich retten.“ Auf Aokos Gesicht machte sich ein leicht schwärmerischer Ausdruck breit, während Kaito sich am liebsten übergeben hätte.
 

„Klingt nach ‘nem Versager. Da kannst Du dich eher noch auf deinen Vater verlassen“, erwiderte Kaito trocken und klang dabei so sehr nach trotzigem Kind, dass er ganz froh war, dass Aoko seine Bemerkung einfach überging. Plötzlich benahm sie sich, als säße sie am längeren Hebel.
 

„Er würde mich niemals im Stich lassen. Er ist ein Magier, aber nicht so ein Möchtegern-Houdini wie Du!“, konterte Aoko und war dabei so selbstbewusst, wie Kaito es schon lange an ihr vermisst hatte. Mit ausgestrecktem Finger zeigte sie auf Kaito und rückte ihm plötzlich näher auf die Pelle, sodass sich der Abstand zwischen ihren Gesichtern verringerte. Sie sah mitgenommen aus, aber in ihren Augen strahlte ein unermüdlicher Kampfgeist.
 

Fast hätte er sich in ihren Augen verloren, ehe er den letzten Satz verstehen konnte. Niemals im Stich lassen. Magier. Magier. Momentchen – dieser Polizeihund ein Magier? Da galt es nachzuhaken.

„Zu niedlich! Ein Magier?“, lachte Kaito verächtlich, „Gebührt es Dir als Kommissarentochter nicht eher, den Polizeihund auszuführen?“

Aoko sah nicht im Geringsten so aus, als würde sie verstehen, was Kaito sagen wollte.
 

„Das bedeutet, dass Du mit einem Polizisten ausgehst“, fügte Kaito in einem Tonfall hinzu, dass es nicht mehr nur eingeschnappt klang, sondern auch so, als hielte er Aoko für zurückgeblieben.
 

Verächtlich schnaubte Aoko. „Hörst Du mir nicht zu? Er ist Magier, nicht Polizist.“

Kaitos Herz setzte einen Schlag aus. Kein Polizist. Magiere. Ihr Freund. Magier. Kein Polizist. Irgendetwas Seltsames ging hier vor.
 

„Ach, und, was kann er so? Kann er Kaninchen aus dem Hut zaubern? Oder den uralten Taschentuch-Trick? Oder kann er Dir eine Rose hervorzaubern?“, stichelte Kaito und ließ dabei einen Rosenstrauß aus dem Nichts erscheinen und überreichte ihn Aoko, die sich nicht einmal die Mühe machte, an ihnen zu riechen, geschweig denn, sie überhaupt in irgendeiner Art und Weise zu beachten.
 

„Misst Du Dich gerade mit meinem Freund?“, frug Aoko und fuchtelte mit dem Rosenstrauß in Kaitos Richtung, wobei die Rosen arg in Mitleidenschaft gezogen wurden und mehre Blüten danach geknickt den Kopf hängen ließen.
 

„Das muss ich gar nicht – ich kriege auch so, was ich will!“, rief Kaito aus, erhob sich zu seiner vollen Körpergröße und breitete die Arme aus. Augenblicklich erschien ein Schwarm Tauben unter Aokos Rock, die sich alle den Weg gen Himmel bahnen wollten und dabei Aokos Rock hochrissen und den Blick auf ihre Unterwäsche freilegten.
 

Erschrocken kreischend versuchte Aoko, ihre Blöße zu bedecken. Für einen Moment hatte sie vor, Kaito KID zu ohrfeigen – Kaito konnte es in ihren Augen sehen. Ja, sie hatte schon mit ihrer rechten Hand zum Schlag ausgeholt, doch dann ließ sie ihre Hand sinken, sodass sie sie gedankenverloren anschauen konnte. Diese Situation kam ihr so verdammt bekannt vor.
 

Kaito starrte sie an. Dieses Mädchen war ein einziges Rätsel. Da saß sie nun vor ihm auf dem kalten Steinboden und war doch so undurchschaubar wie zuvor, obwohl sie ihm so nah war. Alles, was sie sagte, gab ihm nur noch weitere Rätsel auf. Wäre er nicht selbst Kaito Kuroba und wüsste, dass er nicht mit Aoko Nakamori zusammen ist, so hätte er nun glatt gedacht, sie redete von ihm, wenn sie mit ihrem Freund angab – denn nach dem Polizeihündchen klang das so gar nicht. Aber… aber… er war nicht ihr Freund. Und sie hatte ihm auch in den letzten Tagen oftmals mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse an ihm hatte. Dass sie viel lieber mit den Untergebenen ihres Vaters ausging. Und doch… doch… nun war ihr Freund plötzlich Magier. Und dann hatte Aoko auch noch den Namen „Kaito“ ausgerufen, als sie geKIDnappt wurde… Das ergab alles keinen Sinn! Was war nur los mit diesem Mädchen?!
 

„Das ist alles, was der große Meisterdieb, der unfassbare Gentleman-Magier drauf hat? Schulmädchen bespannern?!“, brachte Aoko aufgebracht hervor, während sie sich an ihrem Rock herum zupfte und so immer neue weiße Federn offenbarte, die sich daran festgeheftet hatten.

Abermals ließ sich Kaito auf Aokos Augenhöhe herab. Ein süffisantes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Jetzt würde er in die Vollen gehen. Er war ja fast schon auf der Zielgeraden – was sollte noch groß passieren.

„Dann ist also dieser Kaito, nach dem du Dir vorhin die Seele aus dem Leib geschrien hast, dein Freund?“, bohrte Kaito nach.

Aoko sah fast ein bisschen peinlich berührt aus, als Kaito so direkt nachfragte und sie mit ihrer Geschichte konfrontierte.

„Was interessiert es dich!“, antwortete Aoko nach kurzem Zögern.

„Nun… ich will doch alles über meinen Rivalen wissen“, erwiderte Kaito und sein Grinsen wurde noch ein kleines Stückchen breiter. Wenn seine Überlegungen stimmten, dann konkurrierte er gerade mit sich selbst um Aokos Gunst. Als Kaito KID konnte er offensiv mit Aoko flirten – er fühlte sich viel freier, wenn er als KID mit ihr redete. Er hatte keine Angst vor Zurückweisung oder davor, dass sie ihn hassen könnte. Er wusste eh, dass sie für KID keine Sympathie übrig hatte. Daher konnte er so unverschämt provokant vorgehen, wie er wollte – solange er Gentleman blieb. Behutsam nahm er Aokos Hand in seine und hauchte einen Handkuss darauf. Angewidert zog Aoko ihren Arm weg, als Kaito sich über ihren Handrücken ihren Arm hinaufarbeitete und schon fast beim Ellenbogen angelangt war.
 

„Erzähl mir, was ich wissen will, oder…“
 

Es war die lächerlichste Drohung, die Kaito je ausgesprochen hatte. Entweder, er kriegte, was er forderte, oder er würde Zärtlichkeiten austauschen. Mit seinem Zeigefinger malte er Kreise auf Aokos Knieschreibe, während er die andere Hand in ihren Nacken legte. Es musste wirklich gruselig für Aoko sein, doch Kaito nutzte die Gelegenheit, Aoko endlich einmal so berühren zu können, wie er es sich schon seit Ewigkeiten wünschte. Gleichzeitig genoss er es und hasste sich selbst dafür, dass er die Gelegenheit so schamlos ausnutzte. Aoko zuckte unter seinen Berührungen zusammen und kniff die Lippen ganz fest zusammen.
 

Anscheinend wirkte diese wirklich absurde Herangehensweise.

„Pah, Du kannst die Wahrheit nicht mal ertragen, aber wie Du willst!“, zeterte Aoko. Für jemanden, der als Geisel gehalten wurde, war sie ziemlich gut drauf, fast schon putzmunter. Auf jeden Fall besser gelaunt und lebendiger als in letzter Zeit. Sie rückte auf Kaito zu, war ihm ganz nah. Die Nähe, die sie ihm eben noch am liebsten verwehrt hätte, suchte sie nun selbst. Ihre Knie berührten sich bereits, und es fehlte nicht viel, bis es auch ihre Nasenspitzen taten. „Mein Freund ist der Sohn des berühmten Toichi Kuroba!“, tönte Aoko siegessicher im Flüsterton.
 

Kaitos Herz blieb stehen - nur, um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter in seiner Brust zu hämmern. Es fühlte sich an, als wolle es jeden Moment seinen Brustkorb durchschlagen, um Aoko direkt entgegenzuspringen.
 

Toichi Kuroba hatte nur einen Sohn. Und der saß ihr gerade direkt gegenüber. Sie… sie ging doch mit einem Polizisten aus? Warum behauptete sie dann, dass er, Kaito Kuroba, ihr Freund sei?
 

Anscheinend entgleisten Kaitos Gesichtszüge gerade komplett – denn Aoko fühlte sich in ihrer Überlegenheit bestätigt, wackelte mit ihrem Zeigefinger vor Kaitos Gesicht auf und ab und fuhr weiter fort: „Siehst Du, da bist sogar Du beeindruckt, nicht wahr, du ach so großer Meisterdieb?“
 

Kaito verschränkte die Arme vor der Brust. Was hier gerade vor sich ging war vollkommen absurd. Aoko, die ihn seit Kurzem so vehement ignorierte und ihre Launen an ihm ausließ, saß nun strahlend wie ein Honigkuchenpferd vor ihm und gab vor ihm, Kaito Kuroba, den sie für Kaito KID hielt, damit an, dass sie mit Kaito Kuroba, der gerade als Kaito KID vor ihr saß, zusammen sei, während sie doch eindeutig in letzter Zeit viel zu viel Zeit an einen Polizisten verschwendete, der seine Zeit damit verschwendete, dass er Kaito KID jagte, der gerade vor seiner Vielleicht-irgendwie-sowas-Ähnliches-wie-Freundin saß, die aber behauptete, nicht mit besagtem Polizisten zusammen zu sein, sondern mit Kaito Kuroba, der von allem nichts wusste und sich keinen Reim daraus machen konnte.
 

In Kaitos Kopf drehte sich alles. Das war absurd. Verrückt. Was ging bloß in diesem Mädchen vor? Sein Blut floss ihm heiß durch die Adern, seine Nackenhaare stellten sich ein wenig auf und Aokos feuriger Blick jagte ihm Schauer über den Rücken. Was dachte sie sich nur?

In seinem Inneren rangen seine Emotionen miteinander. Sie würde doch nicht einfach behaupten, dass sie mit Kaito zusammen sei, wenn nicht doch ein Fünkchen Wahrheit drin steckte? Aber andererseits wusste Kaito, dass es eine glatte Lüge sein musste. Er fühlte sich unheimlich zu ihr hingezogen und nahm ihre dreiste Lüge als Anzeichen dafür, dass er ihr auch nicht ganz unsympathisch sein konnte. Gleichzeitig war er zu durcheinander, um klare Gedanken zu fassen.

Was, wenn sie nur behauptete, Kaitos Freundin zu sein, um KID zu beeindrucken? Doch andererseits… was hatte sie davon?
 

„Und was hast Du davon?“
 

Nun war es an Aoko ihre Fassung zu verlieren. Es war, als wäre noch nie ein Grinsen auf ihrem Gesicht gewesen – es war keine einzige Spur mehr davon zu sehen. Stattdessen sah sie Kaito aus verständnislosen braunen Rehaugen an. Kaito hingegen erhob sich und entfernte sich einige Schritte von Aoko, indem er sich dem Rand des Glockenturmes näherte.
 

„Es ist ja nicht so, als wäre er jetzt hier, um Dich zu beschützen. Du bist mir hilflos ausgeliefert. Ganz alleine, nachts, auf einem Glockenturm, während die Polizei einem Ablenkungsmanöver folgt. Und, wo ist dein Freund jetzt?“ Kaito betonte das Wort ‚Freund‘ besonders verächtlich. Es fühlte sich seltsam an, so in der dritten Person von sich zu reden. „Du bist alleine mit einem international gesuchten Verbrecher und dein Freund tut nichts, um das zu ändern. Er tut nichts, um Dich zu retten. Von daher gehe ich davon aus… dass Du mich anlügst, Nakamori-chan.“
 

Die Zornesröte stieg Aoko ins Gesicht, während sie aufsprang und ihrerseits den Abstand zu KID wieder verringerte.

„Du hast keine Ahnung! Kaito ist jetzt schon unterwegs, um mich zu retten. Er wird kommen. Und wenn er mit Dir fertig ist, kannst Du von Glück reden, wenn Du…“
 

„Aber das hier kann er nicht verhindern, oder?“, frug Kaito, während er sich umdrehte, Aokos rechte Hand ergriff, sie an sich heranzog und ihr, ehe wie sie wusste, wie ihr geschah, einen Kuss aufzwang.
 

Seine Lippen berührten ihre, während der Mond hell auf den Rathausplatz herab strahlte. Ein leichter Wind umwehte die malerische Szenerie – zwei Liebende auf einem Glockenturm, der sich hoch in den Mondschein erstreckte. Nur, dass Aoko nicht wusste, wer sich dort hinter Kaito KIDs Maske verbarg und man bei ihr wohl viel weniger von Liebe als von Angst sprechen konnte. Sie wehrte sich, versuchte Kaito wegzudrücken, doch dieser hatte seinen bisher freien Arm um ihre Schultern gelegt und sie fest an sich gedrückt.
 

Es waren vielleicht fünf Sekunden gewesen, ehe Kaito Aoko wieder losließ, doch es fühlte sich für beide wie eine Ewigkeit an – allerdings aus verschiedenen Gründen. Als Kaito seine Lippen von Aokos löste, stieß er sie – mehr oder weniger - sanft von sich und zog eine Granate hervor, die er sich für einen Spezialfall wie diesen aufgespart hatte.
 

Er bedeckte sein Gesicht mit seinem Umhang und lächelte zufrieden unter diesem, ehe er den Stift der Granate zog und sie zu Aokos Füßen warf. Ehe diese überhaupt reagieren konnte, schoss dicker, blauer Rauch hervor und hüllte Aoko ein. Und dann wurde alles um sie herum schwarz.

Case 16: Aoko angst

Aoko schlug die Augen auf. Eine fremde Decke. Eine weiß gestrichene, von der sich langsam die Farbe abschälte. Es baumelte eine einfache Glühbirne von ihr herab – ohne Lampenschirm, öde und langweilig. Allerdings… auch ein wenig beunruhigend.
 

Aoko hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und mit jeder Minute wurde sie unruhiger. Vorsichtig richtete sie ihren Oberkörper auf, um so mehr Einsicht in den Raum erhalten zu können. Jemand hatte sie auf eine harte, schlecht bezogene Matratze gelegt, die ihr kärgliches Dasein auf dem Fußboden fristete. Die Wände waren kahl und aus Stein – keine Tapete, kein Bild, keine Poster zierten sie. Lediglich zwei kleine Fenster auf der ihr gegenüberliegenden Seite sorgten dafür, dass ein bisschen Tageslicht in den Raum hineinströmen konnte. Wahrscheinlich war sie vom Sonnenaufgang, von den Lichtstrahlen, die ihr Gesicht kitzelten, geweckt geworden.
 

Je mehr Aoko sich umsah, desto mehr kam sie sich vor, als sei sie in einem schlechten Horrorfilm. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie nach wie vor bekleidet war. Wer auch immer sie hier abgesetzt hatte, hatte sie mit einer kratzigen, himmelblauen Decke drapiert und in diesem wirklich mehr als dubiosen Raum zurückgelassen – aber körperlich schien ihr nichts passiert zu sein. Nur ein wenig schummrig fühlte sie sich. Ihr Erinnerungsvermögen ließ sie bei bestimmten, wie sie vermutete wichtigen Details des gestrigen Abends im Stich – wie war sie hergekommen? Wer hatte sie… Kaito KID? Was hatte er mit ihr angestellt? Wenn sie versuchte, sich an den gestrigen Abend zurückzuerinnern, schwammen ihre Gedanken durcheinander, sodass es sie nirgendwo hinführte. Hastig fuhr sie sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand über ihre Lippen. Sie brannten fürchterlich, wenn sie an die Ereignisse der gestrigen Nacht dachte.
 

Sie zog ihre Knie dicht an ihren Körper und vergrub ihren Kopf. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sie, als Polizistentochter, verschleppt in irgendeine dubiose Absteige. Ein ungeheuer ekelhaftes Gefühl von Schuld erfüllte Aoko – wäre sie nur Zuhause geblieben. Hätte sie nur nicht darauf bestanden, mit ins Polizeirevier zu gehen. Hätte sie nur nicht all diese lächerlichen Fallen aufgestellt. Sie hätte es wissen müssen. Sie war so dumm gewesen. Letztlich hatte sie nichts ausrichten können. Sie hatte Kaito KID nicht aufhalten können. Stattdessen war sie zum Entführungsopfer geworden. Nur Kummer und Sorgen konnte sie bereiten. Wie es ihrem Vater wohl gerade ging? Er war bestimmt außer sich vor Sorge. Wie ein unbändiger Berserker würde er gerade mit einer Polizeikolonne durch die Stadt jagen – auf der Suche nach KID und seiner Tochter. Fast hätte Aoko angefangen, bei dem Gedanken an ihren von Ängsten zerfressenen Vater große, unzähmbare Tränen in ihren Schoß zu weinen, doch sie schluckte sie angestrengt herunter und versuchte sich selbst neuen Mut zu machen.
 

Ob Kaito wohl an sie dachte? Jetzt gerade? Oder zumindest generell? Immerhin hatte sie ihm in letzter Zeit eine so kalte Schulter gezeigt, dass es ein Wunder war, dass weder er noch sie bislang erfroren waren.

Bestimmt hatte er die Schnauze bereits voll von ihr – hatte sich einem anderen Mädchen zugewandt. Einem, das sagen konnte, was sie dachte. Einem, das sich nicht wie ein totaler Vollidiot benahm. Je mehr Aoko an Kaito dachte, desto schwerer fiel es ihr, nicht in Tränen auszubrechen. Was gäbe sie darum, dass er jetzt hier, in diesen kargen, unliebsamen Raum gestürzt kam, um sie auf Händen hier rauszutragen und zu retten. Doch er war nicht ihr Ritter in strahlender Rüstung. Diese Chance hatte sie längst vertan – falls es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Bei diesem Gedanken schüttelte Aoko energisch den Kopf, als wolle sie ihn einfach abschütteln – was zur Folge hatte, dass sich ihr Schwindelgefühl nur verstärkte und sich alles um sie herum drehte und schwankte.
 

Inzwischen war sie sich mehr oder weniger sicher, dass sie sich in Kaito KIDs Geheimbasis befand. Oder zumindest in einer kleineren, von ihm genutzten Abstiege, in der er seinen gemeinen Plänen frönte und neue Wege fand, den Menschen zu schaden.
 

Nur weil er ihr bislang nichts angetan hatte, hieß das nicht, dass er es nicht noch tun würde. Vermutlich würde er im Laufe des Tages herkommen. Bis dahin saß sie in der Falle. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als hier zu sitzen und zu warten. Abzuwarten, bis der Mann, den sie mehr als alles andere hasste, zurückkehrte, und ihr was-weiß-ich-was antat. Es schüttelte sie beim Gedanken daran, dass KID irgendwann zurückkehren würde.
 

Für einen Moment glaubte Aoko etwas außerhalb des Raumes gehört zu haben. Sie hatte keine Ahnung, wo sich dieses Zimmer befand – war es Teil eines größeren Komplexes? Oder nur ein einzelnes Zimmer? Irgendwo in einem schäbigen Teil Tokios, wo niemand hinsah und sich niemand frug, was wohl in diesen kellergleichen Räumlichkeiten vor sich ging? Ein Ort, an dem Blutspritzer an der Wand und gellende Schmerzensschreie niemals gehört werden würde? Vielleicht ein altes Lagerhaus? Eine Abstellkammer einer verlassenen Fabrik?
 

In der von Aoko aus gesehenen rechten Ecke befand sich eine Tür, die auf den ersten Blick weder Türgriff noch Knauf hatte, sodass ein eigenständiges Entkommen zunächst unmöglich schien. Dennoch, so leicht wollte Aoko nicht aufgeben – sie wollte sich das wenigstens einmal näher ansehen…
 

Doch erst als sie sich erheben wollte, merkte sie, wie wackelig sie auf den Beinen war. Augenblicklich gaben ihre Beine nach und sie fiel zurück auf ihre Matratze. Aoko biss sich frustriert und langsam Panik entwickelnd auf die Unterlippe und sah sich stattdessen in den anderen Ecken des Zimmers nach etwas wie einer Waffe um. Etwas, das sie gegen Kaito verwenden konnte. Kein Kerzenständer, keine Tischlampe, keine Blumenvase. Nichts Stumpfes, mit dem man einem arroganten Meisterdieb die Schädeldecke zertrümmern konnte. Kein Messer, keine Glasscherben. Nichts Scharfes, mit dem man dem Gentleman-Dieb das feiste Grinsen aus dem Gesicht schneiden konnte. Kein Schraubenzieher. Nichts, das man dem Möchtegern-Magier ins Herz rammen konnte. Nicht mal ein Wisch-Mopp war vorhanden. Warum auch? Warum sollte Kaito KID ihr die Werkzeuge zu ihrer Flucht quasi in die Hände legen?
 

Da war es wieder. Eindeutig. Ein Geräusch jenseits der Wände. Diesmal verhallte es nicht so schnell. Es verschwand nicht. Stets frischte es wieder auf, kam näher. Aoko machte sich bereit. Sie war sich sicher, jeden Moment würde Kaito KID wieder auftauchen. Würde zurückkehren. Und wer wusste, was er mit ihr anstellen würde? Aoko hatte genug Geschichten von ihrem Vater gehört, was Menschen einander antun konnten. Und auch antaten. Langjährige Freunde. Ehepaare. Und vollkommene Fremde. Vielleicht wollte er ihr Körperteile abschneiden und sie ihrem Vater schicken, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen – falls er denn vorhatte, ihn zu erpressen. Vielleicht musste sie sich nur von einem Zeh oder einem Finger verabschieden. Vielleicht von einer ganzen Hand. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken.
 

Was… wenn er noch Schlimmeres mit ihr vorhatte? Wenn es ihm nicht um Geld oder irgendwas ging, sondern nur darum, ihr weh zu tun? Sie zu foltern? Er konnte ihr die Fingernägel einzeln herausreißen. Ihre zarte Mädchenhaut aufschneiden und Salz hinein streuen. Ihr Gesicht entstellen. Oder… ihre Weiblichkeit. Er konnte sich an ihrer Weiblichkeit vergehen. Kaito KID nahm sich immerhin immer alles, was er wollte. Und gestern Nacht… gestern Nacht… da schien er außergewöhnlich fixiert auf Aoko und ihre Beziehungen gewesen zu sein… Aoko malte sich die schlimmsten Szenarien aus und versuchte sie wegzudenken, indem sie sich daran erinnerte, dass Kaito KID ein MeisterDIEB war, dem es um’s Geld ging… und nicht um sadistische Machtspielchen.
 

Das Geräusch war nun so präsent, dass Aoko das Gefühl hatte, KID stünde direkt vor der Tür. Ihre Gedärme verkrampften, ihre Muskeln spannten sich bis zum Zerreißen an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie spürte, wie sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht wich.
 

Ob sie bereit war oder nicht spielte jetzt keine Rolle.

Sie musste es einfach sein.

Case 17: Kaito KIDnapping

Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte den kleinen Raum, indem Aoko gezwungen war sich aufzuhalten, als offenbar derjenige auf der anderen Seite der Tür auf ebendiese einschlug, ehe sie mit einem lauten Splittern aus den Angeln brach und von einem lauten Krachen begleitet in den Raum hineinfiel.
 

Aoko, die immer noch verängstigt und von der unbekannten und ungeahnten Situation heillos überfordert auf ihrer Matratze kauerte, hob schützend den Arm vor ihr Gesicht und traute sich kaum hinzusehen, wer im wahrsten Sinne des Wortes ins Zimmer geplatzt war.
 

Aus diesem Grunde übersah sie ihn auch.

Ihren strahlenden Ritter.
 

Zwei Hände packten sie an den Schultern und rüttelten sie, als sie nach wie vor ihr Gesicht in ihrer Ellenbeuge vergrub.

„Geh weg… geh weg… lass mich in Ruhe!“, flüsterte Aoko heiser, die Augen fest zusammengepresst, und versuchte, sich so klein und geschützt wie möglich zu machen. „Ich will nicht… ich will nicht…“

Es war ein entsetzlicher, beklagenswerter Anblick. Erst, als ihr Ellenbogen unsanft von ihrem Gesicht weggezerrt wurde und sie keine andere Möglichkeit mehr hatte, als dem ‚Eindringling‘ doch ins Gesicht zu sehen, veränderte sich der Grundtenor der Situation.
 

Kaum blinzelte Aoko ihrem Gegenüber entgegen, weiteten sich Aokos Augen mit einer Kombination aus Entsetzen und schierer, unnachahmlicher Freude. Sofort trat der dezente, glänzende Glitzer von Freudentränen hinzu. Ihr Mund konnte nicht anders, als weit geöffnet zu staunen, während sie erkannte, wen sie vor sich hatte.
 

„Kaito!“
 

Sofort und ohne nachzudenken schlang Aoko die Arme um Kaito und drückte sich fest an seine Brust. Augenblicklich begann sein Herz darin unzähmbar zu schlagen – in den letzten zwei Tagen hatte er sie so oft wie nie zuvor an seine Brust gepresst. Als Tateno, als KID. Aber es hatte sich bei weitem nicht so richtig angefühlt wie in diesem Augenblick. Aoko und Kaito. Aoko Nakamori und Kaito Kuroba. Das war ein Pärchen, das dazu bestimmt war, zu sein – nicht Aoko und Kaito KID und erst recht nicht Aoko und Tateno.
 

Instinktiv legte auch Kaito die Arme um Aoko und hielt sie fest an sich. Seine Arme um ihre Schultern. Ihre Arme um seine Brust. Er kniete vor ihr, sie hockte auf einer schäbigen Matratze. Ihr Kopf vergrub sich an seinen Hals. Es war ein Knäuel von Gliedmaßen und Extremitäten, das sich so anfühlte, als ob es dafür bestimmt war, so ineinander verschlungen zu sein. Kaito atmete tief den Duft von Aokos Haaren ein. Er konnte spüren, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, wie ihr heißer, aufgeregter Atem mit seinen Nackenhaaren spielte und wie sich ihr Griff beständig wieder festigte, sobald sie für einen kurzen Moment lockerer gelassen hatte. Kaito begann, ihr mit einer Hand den Rücken zu streicheln und er glaubte fast, bemerken zu können, dass sie augenblicklich ruhiger wurde. Unterdrückte Laute, die sich aus Schluchzen und wohligem Seufzen zusammen setzten, drangen an sein Ohr.

Eine gefühlte Ewigkeit, die nach Kaitos Empfinden niemals hätte enden müssen, drückte er Aoko sanft von sich weg, um ihr ins Gesicht zu sehen. Ihre Augen waren gerötet, aufgequollen, doch konnte sich Kaito völlig in ihren verlieren. Tief in ihnen strahlten eine bodenlose Dankbarkeit, eine unendliche Zuneigung und ein unbedingtes Vertrauen – zumindest glaubte Kaito, dass er das Leuchten in Aokos Augen so zu interpretieren hatte. Aoko schien kaum glauben zu können, wen sie da vor sich hatte. Ihre Wangen waren gerötet, der Rest ihres Gesichtes blass und wie Papier, das jeden Moment einzureißen drohte. Ihr Haar stand strähnchenweise wild in alle Richtungen ab, ihre Finger zitterten, ihre Lippen bebten, doch schienen sie sich zu einem leichten Lächeln zu kräuseln. Es war ein wüster Anblick, und dennoch konnte Kaito sich kaum an ihr satt sehen. So liebevoll, so voll Gefühl hatte Aoko ihn lange nicht angesehen.
 

„Aoko“, wisperte Kaito vorsichtig und strich ihr eine Strähne zerzausten Haares hinter’s Ohr.

Das war’s. Aoko war endgültig mit den Nerven am Ende. Mit einem lauten Schluchzen warf sie sich Kaito erneut an den Hals – diesmal viel fester und klammernder als zuvor und eindeutig nicht mit dem Bestreben, ihn so schnell wieder loszulassen. Kaito konnte sie weinen hören und fühlte, wie seine Schulter und der Stoff seines Shirts langsam durchnässt wurden. Aber für Kaito war das vollkommen in Ordnung. Lediglich ein schlechtes Gewissen plagte ihn, dass er Aoko überhaupt in diese Situation gebracht hatte.
 

„Ssch, sssch, alles ist gut“, flüsterte Kaito Aoko beschwörend ins Ohr und bugsierte Aoko sanft so, dass sie, statt vor ihm zu knien, auf seinem Schoß saß und sich an ihn schmiegen konnte. Schließlich platzierte er einen Arm unter ihre Kniekehlen und den anderen an ihrem Rücken, sodass er sich vorsichtig mit ihr in seinen Armen erheben konnte. Aokos Griff um seinen Hals festigte sich noch ein bisschen mehr, als sie spürte, dass sie den festen Boden unter den Füßen verlor. Sie ließ einen weiteren, tiefen Schluchzer vernehmen.
 

Es war so sehr wie die letzte Nacht. Genauso hatte Kaito Aoko gestern als Kaito KID in seinen Armen gehalten. Es musste furchtbar für sie gewesen sein. Vermutlich durchlebte sie denselben Schrecken gerade noch einmal – bestimmt würde sie das Getragenwerden sofort an letzte Nacht erinnern. Andererseits – bestimmt würde sie für eine Weile erst einmal alles an ihre Entführung durch Kaito KID erinnern.
 

Doch für Kaito fühlte es sich nun viel richtiger an. Ihm war um so Vieles wohler zumute, wenn er Aoko als Kaito aus diesem Raum heraustrug. Sie bewusstlos in diesen abgelegenen Lagerraum geschleppt zu haben, hatte sich unheimlich pervers und verrucht angefühlt. Ihre Gliedmaßen hatten leblos herabgebaumelt, ihr Mund die ganze Zeit offen gestanden – für einige Schreckminuten der letzten Nacht hatte Kaito gedacht, er hätte seine Sandkastenliebe tatsächlich auf dem Gewissen gehabt. Dass er sie nun wohlbehalten als er selbst aus seinem Kurzzeit-Versteck heraustragen konnte, war die größte Wonne.
 

Bei fast jedem Schritt, den Kaito in Richtung Ausgang tat, konnte er Aoko leise wimmern hören. Ihre Finger bohrten sich in regelmäßigen Abständen tiefer in sein Fleisch, doch Kaito ertrug es ohne Murren und Knurren. Er trug Aoko über die Tür, die er eingetreten hatte und kam sich dabei fast vor, wie ein Bräutigam, der seine frisch Vermählte über die Hausschwelle trug. Er trug sie, während er die Treppen aus dem Keller, indem sich der Raum befunden hatte, hinaufstieg, während er durch die Eingangstür schritt, während er die Seitengasse, in der das schäbige, alte, abgewrackte Gebäude stand, hinter sich ließ und langsam wieder auf belebtere Straßen zusteuerte. Er trug sie den ganzen Weg, ohne sich auch nur einmal zu beschweren, ohne zu schnaufen und ohne außer Puste zu geraten. Er genoss ihre Körperwärme an seinem Oberkörper, ihr stetes Atmen, ihre Nähe, ihren Duft. Sie waren es, die ihn dazu bewegten, den ganzen Weg ohne Anstrengung hinter sich zu lassen.
 

Je mehr sie sich der Innenstadt näherten, desto mehr Blicke zog Kaito auf sich, sodass er sich entschied, Aoko nun doch auf einer Parkbank ab- und sich daneben zu setzen.

Kaum hatte Kaito sich von Aoko gelöst, zog sie ihre Knie an ihren Oberkörper und umklammerte ihre Knie. Ihr Gesicht vergrub sie, sodass nur noch ihre Augen hervorlugten und sie ihre Umgebung mustern konnte. Kaito verharrte eine Weile regungslos neben Aoko, ehe er es wagte, das Wort an sie zu richten.
 

„Hey, Aoko…“

Aoko reagierte nur kurz, indem sie unsicher zusammenzuckte.

„Wie geht’s Dir?“ Kaito war sich bewusst, wie dumm und oberflächlich diese Frage klingen musste. Aoko murmelte als Antwort etwas vor sich hin, was kaum bis an Kaitos Ohren zu dringen vermochte.

„Was?“, hakte Kaito nach.

„Nach… Hause…“, wisperte Aoko. Das reichte Kaito als Antwort – er wollte nicht mehr aus Aoko herausquetschen, das war alles, was er wissen musste. Zumal er ja eh schon die ganze Geschichte kannte, vermutlich sogar besser als Aoko. Kaito wollte nun nur noch Aokos Wünschen schnellstmöglich nachkommen, und so richtete er sich wieder auf, stellte sich vor Aoko und streckte ihr die Hand entgegen. Zögerlich ergriff Aoko seine Hand mit der ihren – ihr Griff war schwach und sie fühlte sich zerbrechlich an. Kaito ging es durch Mark und Bein, als sich seine Finger um ihre zitternden schlossen. Er schluckte sein schlechtes Gewissen herunter, als er Aoko hoch half. Wie ein dürrer Zweig, den schon ein Windhauch zerbrechen könnte, oder eine Feder, die sich sofort mitreißen lassen würde, stand Aoko schließlich vor ihm, ihre bleiche Hand in seiner.
 

Langsam und behutsam setzte sich Kaito in Bewegung. Aoko tapste hinter ihm her, den Blick stets zu Boden gewandt. Sie blieb zumeist eine Armlänge hinter Kaito, da sie doch ein wenig langsamer und zaghafter lief als er, doch sie hielt fest an seiner Hand fest, als hätte sie Angst, sich zu verlieren, wenn sie losließe.

Case 18a: Familienbande

Der Rest des Tages zog sich hin wie Kaugummi. Kaitos anfängliche Glücksgefühle wichen der Schuld, die er all denjenigen gegenüber empfand, die in den letzten Stunden bangen und zittern mussten.
 

Als er Aoko im Hause Nakamori ablieferte, dachte Kaito auf alles gefasst zu sein. Er hatte sich eine mehr oder weniger plausible Story zurechtgelegt, mit der er erklären konnte, wie und wo er Aoko finden konnte, um damit allen Fragen der Polizisten trotzen zu können. Doch auf das, was hinter der Tür auf ihn wartete, hätte ihn niemand vorbereiten können.
 

Aoko stand neben ihm, und sah emotional schon wieder ein wenig gefestigter aus, als sie erkannte, dass sie nur noch ein paar Zentimeter von ihrem trauten Heim, ihrer sicheren Zuflucht trennten. Kaito war ein wenig von Nervosität geplagt, als er mit seinem Zeigefinger, der sich plötzlich anfühlte, als wolle er lieber krumm werden, als nun das zu tun, was er sollte, die Klingel betätigte. Ein Schellen erklang im Haus und war auch von draußen zu hören. Es folgte ein wildes Fußgetrappel, das unmissverständlich von Nakamori kommen musste. Die Haustür wurde jäh aufgerissen und vor Kaito und Aoko bäumte sich Nakamori im Türrahmen auf. Er dünstete den Geruch nach Alkohol förmlich aus. Sein Gesicht wirkte vor lauter Augenringen zerfurcht, als wäre er über Nacht um Jahre gealtert. Vor ihnen stand ein 41 Jahre altes Häufchen Elend, das aussah, als habe es die Sonne seit Jahren nicht mehr aufgehen sehen. Bis Ginzo Nakamori erkannte, wer da vor ihm stand.
 

Die geröteten, aufgequollenen Augen weiteten sich. Sorgen- und Kummerfalten mussten den Lachfalten der Erleichterung weichen. Die taumelnde, schwerfällige Masse des Polizeiinspektors setzte sich in Bewegung und stürzte sich auf seine Tochter, die er so fest an sich drückte, dass es sie von den Füßen riss. Sofort schlang auch Aoko die Arme um ihren Vater. Kaito konnte aus dem Wirrwarr von menschlichen Extremitäten gedämpfte Laute des Schluchzens und schweren Atmens hören, und konnte dabei nicht genau ausmachen, von wem sie stammten. Peinlich berührt hatte er ob diesen herzlichen Wiedersehens einen Satz zur Seite gemacht und beäugte die Szene. Als Aoko wieder auf ihren eigenen Füßen stand, konnte er sehen, dass ihr Gesicht vor lauter Tränen ganz nass war und auch in Inspektor Nakamoris aufgequollenen Augen Tränen glitzerten. Selbst, als die Nakamoris ihre Umarmung aufgelöst hatten, ließ der Inspektor seine Tochter nicht los, sondern hielt sie fortwährend an den Schultern fest, als hätte er Angst, seine Tochter könne ihm erneut genommen werden. Überschwänglich vor Glück sah er zunächst Aoko, dann Kaito an und wechselte dann seinen Blick stets zwischen den beiden hin und her, ehe er die beiden schließlich in einer zweiten Umarmung gleichzeitig an sich drückte. Kaito musste nach Luft schnappen und hörte seine Knochen unter der gewaltigen Kraft des liebenden Vaters ächzen. Schließlich wand er sich aus dem Klammergriff und taumelte ein, zwei Schritte zurück. Nakamori starrte nichtsdestotrotz seine Tochter weiter selig an. Es versetzte Kaito einen Stich ins Herz, dass er dieses Leid überhaupt erst verursacht hatte.
 

Darüber hinaus fühlte er sich ein wenig überflüssig, als er mit ansah, wie sich Vater und Tochter in den Armen lagen. Aoko wiederholte ein Wort in Dauerschleife: „Papa“. Dabei schmiegte sie sich stets an seine Brust, und Ginzo Nakamori sah drein, als könne er sein Glück selbst kaum fassen, während er ihr über den Rücken strich und seine eigenen Tränen zurückhielt.
 

Über den Kopf seiner Tochter hinweg stellte Nakamori Kaito eher beiläufig die Fragen, auf die dieser schon gefasst war. Kaito merkte, dass Nakamori nur halbherzig als Inspektor bei der Sache war – hier ging es nicht um Ermittlungen, sondern nur darum, zu erfahren, weswegen er seine Tochter wieder im Arm halten durfte – und welchen Göttern er deswegen wohl danken durfte. Kaito beantwortete die Fragen so kurz und so kryptisch wie möglich. Er könne sich an den genauen Ort nicht mehr erinnern. Er hatte einfach im Gefühl, dass er dorthin müsse. Als hätte ihm irgendetwas den Weg gezeigt. Vielleicht war es Schicksal. Vielleicht göttliche Fügung. Er sei nur heilfroh, Aoko wiedergefunden zu haben. Nakamori nickte all seine Angaben ab und gab sich schon nach wenigem Nachfragen zufrieden.
 

Als Kaito den beiden dabei zusah, wie sie ihre Wedervereinigung nach kurzer, schreckenhafter Trennung feierten, wurde ihm ganz flau im Magen. Seine Arbeit hier war getan. Die beiden wollten jetzt bestimmt alleine sein. Miteinander reden, Wunden lecken, die Seele heilen. Außerdem… Kaito erschauderte. Außerdem würde Tatemo doch bestimmt auch überglücklich sein, zu hören, dass seine Aoko wohlbehalten zurückgekehrt war. Er würde herkommen, sie in seine Arme schließen und noch fürchterlicher liebkosen, als es gerade Nakamori tat.
 

Nein, das musste Kaito sich nicht antun.
 

Er würde nach Hause gehen – zu sich nach Hause. Er würde sich nach Edelsteinen umsehen, hinter denen sich Pandora verbergen könnte, würde Pläne schmieden, würde sie ausführen. Er würde Inspektor Nakamori an der Nase herumführen, sich über ihn lustig machen und keinerlei Mitleid verspüren. Es war Zeit, dass er sich wieder um seine Angelegenheiten kümmerte. Seine Ziele verfolgte. Er war dieser Aoko lange genug hinterhergerannt. Auch wenn sie behauptet hatte, dass er ihr Freund sei – wer weiß, was dieses launische Gör sich dabei gedacht hatte.
 

Seine Arbeit war hier getan.



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Kommentare zu dieser Fanfic (47)
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Von: abgemeldet
2015-04-03T23:18:45+00:00 04.04.2015 01:18
Hab deine Geschichte gelesen und ich bitte dich weiter zu schreiben bittttteeeeee:D
Von:  Yoru_Kurayami
2015-02-19T16:31:02+00:00 19.02.2015 17:31
hey :3
hab die Geschichte gerade erst gefunden und sie ist wirklich gut!
Ich hoffe doch, du schreibst noch daran weiter?
Deine Leser warten gespannt!
Von:  xxAnimeGirlxx
2014-03-08T13:13:47+00:00 08.03.2014 14:13
Ui ui ui....man wie toll...ich konnte mir alles sehr genau vorstellen.*-* Echt ne super Story. Freu mich schon ^^
Von:  xxAnimeGirlxx
2014-03-08T13:12:04+00:00 08.03.2014 14:12
Ui ui ui....man wie toll...ich konnte mir alles sehr genau vorstellen.*-* Echt ne super Story. Freu mich schon ^^
Von:  Sayajori_Dragon
2014-02-08T13:58:54+00:00 08.02.2014 14:58
Hihihi^^
Supii^^
Ichi michi freui^^
Von: abgemeldet
2014-02-08T08:27:12+00:00 08.02.2014 09:27
Voll toll, wie schnell du noch ein Kapitel veröffentlicht hast :)
Ich frag mich wie es weitergehen wird und wie Aoko in der nächsten Zeit zu Kaito sein wird, bin gespannt!
Von: abgemeldet
2014-02-08T08:25:57+00:00 08.02.2014 09:25
Super tolles Kapi *__*
Kaito hat sie gerettet wuhu :D
Ich find es richtig gut, wie du alles beschreiben kannst!! Man kann es sich gut vorstellen ;)
Von:  EmGaARTS
2014-02-07T18:55:48+00:00 07.02.2014 19:55
jeahr^^
gleich so viel neues zum lesen
dankööö^^
beeile dich aber mit dem weiterschreiben
lg
Von:  Sayajori_Dragon
2014-02-07T13:03:52+00:00 07.02.2014 14:03
Wunderschön...mehr kann ich nicht in Worte fassen *dahinschmelz*
Freu mich wenns weiter geht X3
Von:  EmGaARTS
2014-02-06T14:19:23+00:00 06.02.2014 15:19
MAN SCHREIB WEITER!!!!
hab deine ff auf ff.de verschlungen und da einen kommi als "maggie" geschreiben aber ich schreib lieber hier nochmal
SCHREIB WEITER!!!!!
LG

Antwort von:  Mopsbacke
07.02.2014 01:05
Ich hoffe, das ist nicht so aggressiv gemeint, wie es klingt. Neues Kapitel ist hochgeladen, dürfte auf ff.de schon da sein, hier in ein paar Tagen auch.
Antwort von:  EmGaARTS
07.02.2014 15:42
Danköööö(nicht aggro gemeint^^)


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