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Home, sweet home?

Rumishipping vs. Rocketshipping
von

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Stolpern und Fallen

Anm. d. A.: Ich habe etwas mit dem nächsten Kapitel auf mich warten lassen und ja, ich weiß, es ist sehr lang geworden. Aber ich wollte es nicht noch einmal unterteilen, da alle neuen Begebenheiten zusammengehören und aufeinander aufbauen. Ich verspreche aber, dass ich euch so bald nicht noch einmal mit einer solchen Länge erschlagen werde.

Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen. :)

 

 

 

Es war vollkommen ruhig, als Kojiro das erste Mal blinzelte. Fahles Licht begrüßte ihn, doch von den ersten Sonnenstrahlen, die ihn sonst wie gewohnt aus dem Schlaf kitzelten, war nichts zu sehen. Kein Taubsi, nicht einmal ein mildes Blätterrauschen tönte das morgendliche Lied an, was äußerst ungewöhnlich war. War es wirklich schon Morgen?

Träge hob er den Kopf vom Kissen, welches er fest umklammert hielt, und versuchte seinen Blick auf die grünen Ziffern zu konzentrieren, die er auf Armeslänge vor sich erkennen konnte. Seine Augen brauchten einen Moment, um die Striche einem Code zuzuordnen und in seinem Kopf ratterte es nur mühselig.

„AH! Verdammt!“, fluchte er nur einen Moment später und wirbelte die Decke in wüsten Bewegungen von sich. Als hätte ihn ein Bibor gestochen, schrak er auf und saß nun kerzengerade auf seinem Nachtlager. „Wir haben verschlafen! Musashi, Nyasu, wir müssen…“

Er verstummte schlagartig, als er die leere Fläche neben sich bemerkte. Normal hätten dort die beiden Schlafsäcke von den beiden Freunden gelegen, oder zumindest der von Musashi, hätte sich Nyasu eine andere Schlafstelle gesucht gehabt. Doch da war nichts bis auf das makellose weiße Laken, das lediglich ein wenig zerknirscht aussah. Von den Freunden fehlte jede Spur.

Einen Moment lang musste er seine Gedanken ordnen, dann zog er sich bis ans oberste Kopfende des großen Bettes zurück, in dem locker drei Personen Platz gefunden hätten, und er winkelte die Knie an, die Decke wieder bis ans Kinn hochgezogen.

Stimmt ja, er hatte für einen Augenblick ganz vergessen, wo er war. Er war nicht mehr bei seinen beiden Freunden, irgendwo im Nirgendwo auf ihrer endlosen Jagd stets diesem Knirps und seinem Pikachu hinterher. Durch eine Reihe unglücklicher Begebenheiten war er wieder Zuhause gelandet, zurück in diesem übergroßen Anwesen seiner Familie, in dem es so viel Platz und Luxus gab, dass es ihn schon wieder auf unangenehme Weise bedrängte. Unwillig rief er sich wieder ins Gedächtnis, wie es dazu gekommen war – erst der große Streit mit Musashi, dann das unnötige Pflichtbewusstsein des Butlers und, als könnte es gar nicht anders sein, zu guter Letzt seine unausstehliche Verlobte, Rumika. Und nun war er hier.

Etwas schnürte ihm die Kehle zu und er kämpfte gegen den Kloß an, der sich in seinem Hals zu bilden versuchte. Ja, ihm war zum Heulen zumute, aber er wusste, dass ihn das nicht weiterbringen würde. Wäre doch nur dieser dumme Streit nicht gewesen… Wäre er doch nur nicht davongelaufen… Hätte er doch einfach die Klappe gehalten und sich bei Musashi entschuldigt, dann wäre es niemals erst zu dieser verdammten Situation gekommen. Noch nie zuvor hatte er einen Streit mit ihr so sehr bereut, wie es nun der Fall war. Er bereute, was er gesagt hatte und dass er tatsächlich gegangen war in dem Glauben, mit nur etwas Abstand zwischen ihnen würde sich alles schnell wieder beruhigen. Was mit Sicherheit auch der Fall gewesen wäre, hätte er nicht zur falschen Zeit die falschen Entscheidungen getroffen. Und nun saß er hier und bereute seine Fehler – und vermisste seine beiden Freunde wahnsinnig.

Er ließ seinen Blick gedankenverloren durch den Raum schweifen, der einst sein Kinderzimmer gewesen war. Nichts hatte sich verändert, die Einrichtung war immer noch dieselbe wie damals – alles war akkurat und ordentlich – und er könnte wetten, dass auch in den Schränken noch immer seine Kindersachen und Spielzeuge waren. Erinnerungen wurden wach, als er an der gegenüberliegenden Wand das eingerahmte Bild entdeckte, das eine alte Zeichnung von ihm zeigte, die ihn mit seinem Fukano darstellen sollte. Es war so eine typische Kinderzeichnung mit eher krakeligen als kunstvollen Strichen, einer grünen Strichwiese und einer grellgelben Sonne im Hintergrund. Die Wachsfarben hatten kaum an Intensität verloren und er erinnerte sich, wie er stolz er damals auf sein Kunstwerk gewesen war, dass er es unbedingt in seinem Zimmer einrahmen und aufhängen wollte. Und nun hing es dort, etwas schief und ziemlich tief, und strahlte ihm förmlich entgegen.

Erinnerungen an eine sorgenfreie Kindheit wärmten sein Herz und sie kämpften gegen das Unwohlsein an, das er empfand, als er sich daran erinnerte, wie diese schönen Zeiten mehr und mehr den vielen Pflichten gewichen waren, die ihm seine Eltern immer wieder und wieder vorgehalten hatten. Sie hatten ihn früh darauf geprägt, dass er „kein normales Kind“ sei und er sowohl „das Ansehen wahren“ als auch die „Familientraditionen fortführen“ sollte. Die Erwartungen an ihn wurden immer größer und größer, bis er es schließlich nicht mehr ausgehalten hatte und von Zuhause davongelaufen war. Erst, als er Musashi etwas später kennenlernte, kamen neue schöne Zeiten dazu und er hatte sich lange nicht mehr so frei gefühlt, als zu seiner Zeit bei Team Rocket.

Mit einem schweren Seufzen schlug er die Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Je mehr er darüber nachdachte, was schon alles passiert war, umso mehr wuchs die Gewissheit, dass er unmöglich hier bleiben konnte. Das hier war schon längst nicht mehr sein Zuhause und hier wollte er auch nicht sein. Er würde nicht hierbleiben!

Kurz blickte er sich in seinem Zimmer um, auf der Suche nach seiner Uniform. Sie lag weder ordentlich auf der Ablage neben seinem Bett, noch lag sie irgendwo achtlos auf dem Boden. Ihm fiel erst nach einigen Minuten erfolgloser Suche wieder ein, dass er sie im Badezimmer gelassen haben musste. Er hatte gestern kein Verlangen mehr danach verspürt, sie wieder anzuziehen, nachdem er geduscht hatte – zu viele unschöne Erinnerungen an seinen Streit mit Musashi waren wieder in ihm hochgestiegen, dass er es einfach nicht mehr fertiggebracht hatte, die letzte Verbindung wieder zu ihr herzustellen, die er im Augenblick noch besaß –, und hatte stattdessen den Pyjama vorgezogen, den man ihm bereitgelegt hatte. Entsprechend konnte sie nur noch dort sein und das war eigentlich gar nicht mal so schlecht, so konnte er sich gleich noch etwas frischmachen.

Mit diesem Gedanken ging er also hinüber zu besagtem Badezimmer, öffnete die Tür … und schlug sie nur einen Augenblick später wieder mit einem lauten Knall zu. Er presste sich mit aller Kraft mit dem Rücken dagegen, den Blick starr in sein Zimmer gerichtet, und in seinem Gesicht stand die Panik geschrieben.

Sein Herz hämmerte heftig gegen seine Brust, etwa zehn Takte lang, und noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, klang es auch schon hinter ihm: „Kojiro-sama?“

Er musste träumen! Das musste ein Albtraum sein, anders ließ es sich nicht erklären. Vielleicht hatte er nach dem letzten Sturz eine Gehirnerschütterung erlitten und halluzinierte nun. Der Streit mit Musashi, seine Entführung, sein Zimmer, das eben Gesehene… das konnte doch nur ein Streich seiner Einbildung sein!

„Kojiro-sama“, klang es erneut in seinem Rücken und selbst die Tür, die in diesem Moment viel mehr als eine Barriere zwischen ihm und dem im Badezimmer diente, konnte den hohen Tonfall nur gering dämpfen. „Kojiro-sama, ein Gentleman klopft an, ehe er eintritt, nicht wahr?“

„Das ist mein Badezimmer!“, wehrte er ab und seine Stimme überschlug sich fast dabei. „Was hast du dort drin zu suchen?“

„Es schickt sich nicht, durch Türe oder Wände miteinander zu sprechen. Zwei Gesprächspartner schauen einander in die Augen, wenn sie miteinander sprechen, nicht wahr?“

Kojiro schluckte. Der Gedanke daran, ihrer Zurechtweisung nachzukommen, behagte ihm überhaupt nicht. Genauso wenig wie der Gedanke, dass Rumika keinen Meter entfernt hinter dieser Tür stand – in SEINEM Badezimmer. Schon dieser kurze Wortaustausch mit ihr spannte ihn aufs Äußerste an und er wusste schon gar nicht mehr, was ihn mehr aufregte: Dass sie sofort wieder etwas an seinem Betragen auszusetzen hatte oder die Tatsache, dass sie in seine Privatgemächer vorgedrungen war?

Hinter ihm klopfte es, zaghaft, aber präzise. Er atmete einmal tief durch, dann griff er nach dem Türknauf und öffnete die Tür nur einen Spalt breit, ohne sich dabei umzudrehen.

„Was machst du hier?“, wagte er einen erneuten Anlauf und gab sich alle Mühe dabei, ruhig und gefasst zu klingen. Nur der Höflichkeit halber schielte er durch den schmalen Spalt zu ihr herüber.

Rumika, bereits adrett gekleidet und mit ihrer typischen Spirallockenfrisur hergerichtet, stand in gerader Haltung vor ihm und blickte ihm geradewegs in die Augen. „Guten Morgen, Kojiro-sama“, grüßte sie mit glockenheller Stimme.

Nochmals schluckte er, ehe er ein leises „Morgen“ kaum verständlich durch seine Lippen presste.

Sie setzte daraufhin ein zufriedenes Lächeln auf. „Rumika wohnt hier“, erklärte sie wie selbstverständlich und Kojiro seufzte entnervt.

„Das konnte ich mir schon denken, ich meine…“ Dann fiel es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen und er riss erschrocken die Augen auf und schlug die Tür zurück. „Einen Moment! Du meinst, hier? Also, hier, ich meine… hier?!“

„Kojiro-sama, Ihr sprecht wirr“, mahnte sie ihn ruhig und zog die Augenbrauen in Sorge um sein Artikulationsvermögen kraus.

Er versuchte sich daraufhin wieder zu sammeln und atmete ein weiteres Mal tief durch. „Hier??“, war aber wieder nur alles, was er zustande brachte.

Rumikas Brustkorb hob und senkte sich deutlich, als sie es ihrem verwirrten Verlobten gleichtat und ebenfalls einmal tief durchatmete, um sich ihre Ruhe zu bewahren. Dann zeigte sie Gnade ihm gegenüber und erklärte in aller Geduld: „Rumika wohnt in dem Zimmer nebenan. Okaa-sama war so freundlich, es ihr zur Verfügung stellen in Kojiro-samas langer Abwesenheit, nicht wahr? Damit Rumika immer ein Auge auf seine Räumlichkeiten haben konnte und ihm auch in seiner Abwesenheit eine gute Ehefrau sein konnte. Und natürlich auch, damit, wenn Kojiro-sama nach Hause zurückgekehrt ist, sie sich voller Fürsorge um ihn kümmern kann, nicht wahr?“

„In meinem Kulturzimmer?!“ Er konnte es einfach nicht glauben. Andererseits hatte er keinerlei Zweifel daran, dass Rumika die Wahrheit gesagt hatte. Es war seinen Eltern durchaus zuzutrauen, dass sie ihr seine Gemächer überließen, während er sowieso nie Zuhause gewesen war. Und dennoch war er schockiert – nein, er war regelrecht entsetzt! Nicht, dass es nicht schon immer irgendwie „normal“ für alle gewesen war, dass Rumika bereits fester Bestandteil der Familie war und deswegen auch in so ziemlich jeder Villa einen eigenen Raum bewohnte, aber noch nie hatte sie direkt nebenan von ihm gewohnt. Die jetzige Situation war aber nochmal eine vollkommen andere als alles, was er bisher noch gekannt hatte in diesem Bezug: Jetzt war sie schon bis in seine Privatsphäre vorgedrungen! Und das war weit mehr, als er zulassen wollte.

„Deswegen“, holte sie ihn in diesem Moment aus seinen Gedanken zurück, „ist es besonders wichtig, dass Ihr Euch als Erstes wieder Eurer guten Manieren besinnt, nicht wahr? Bevor wir einander die Zimmer betreten, das Badezimmer inbegriffen, klopfen wir erst höflich an und warten auf Antwort, nicht wahr?“

Er straffte die Schultern, schwieg aber. Dass es ihr missfiel, blieb ihm nicht verborgen, aber ihm gefiel das Ganze schließlich auch kein bisschen. Flüchtig suchte er das Badezimmer ab und versuchte dabei die neue Einrichtung zu ignorieren, die er gestern in seiner Geistesabwesenheit allem Anschein nach gar nicht bemerkt hatte. Rumika hatte „ihre Hälfte“ deutlich gemacht und bei dem vielen Rosa im Raum wurde ihm ganz unwohl zumute.

„Kojiro-sama, Ihr solltet Euch umziehen“, schlug sie von der Seite vor und Kojiro wusste, dass es nur ein weiterer Befehl an ihn war. „Rumika wird das Frühstück zubereiten lassen und Euch im Gemeinschaftssaal erwarten. Es gibt viel zu bereden, nicht wahr?“

„Wo ist meine Uniform?“, verlangte er zu erfahren, nachdem er alle möglichen Plätze im Raum inspiziert hatte, wo sie hätte liegen können. Als sie ihm nicht antwortete, sah er zu ihr und bemerkte ihren fragenden Blick. „Die Klamotten, die ich gestern anhatte“, half er ihr auf die Sprünge.

„Ah“, machte sie und ihr Gesicht hellte sich wieder für einen kurzen Moment auf, ehe es wieder ernst wurde. „Rumika hat sie der Reinigung übergeben. Die Kleidung war so schmutzig… Kojiro-sama wollte sie doch bestimmt nicht noch einmal anziehen, nicht wahr?“ Letzteres war keine Frage, das wusste er, es war eine Bestimmung. Kurz biss er sich auf die Unterlippe, um sich seinen Kommentar zu verkneifen, überlegte sich dann aber etwas anderes.

„Soll ich etwa im Pyjama herumlaufen?“

Der Gedanke schien sie zu amüsieren, denn auf seinen Kommentar hin begann Rumika vergnügt zu kichern, wobei sie sich höflich die Hand vor den Mund hielt. Sie fasste sich aber schnell wieder und lächelte ihm selbstsicher entgegen.

„Seid unbesorgt, Kojiro-sama, Rumika hat für Euch vorgesorgt, nicht wahr?“, erklärte sie gelassen und legte eine kurze Pause ein, um die Worte des Eigenlobes im Raum wirken zu lassen. Dann aber wandte sie sich um und sprach noch einmal über ihre Schulter zu ihm: „Rumika wird sich dann jetzt um das Frühstück kümmern, nicht wahr? Kojiro-sama lässt sie hoffentlich nicht zu lange auf ihn warten, nicht wahr?“ Und damit verließ sie das gemeinsame Badezimmer in Richtung ihres beanspruchten Zimmers und ließ Kojiro auf der anderen Seite zurück.

 

„Verdammt“, fluchte er leise und blickte sich ratsuchend in seinem Zimmer um. Doch er fand nichts, das ihm den entscheidenden Funken geben konnte, um einen Ausweg aus seiner verzwickten Situation zu finden. So war das alles nicht geplant gewesen.

Hätte er nur seine Uniform nicht so achtlos liegen gelassen. Aber wie hätte er auch ahnen sollen, dass er eine solche Lappalie so schnell bereuen können würde? Normal schlich sich nicht mal eben so jemand in seine Privatgemächer, zumindest nicht, ohne dass er dabei anwesend war. Zumindest hatte er das noch so in Erinnerung. Es hatte bisher keinen Anlass für ihn bestanden, sich über so etwas Gedanken zu machen. Alles, woran er gestern noch gedacht hatte, war seine Dusche und sein Bett gewesen, obwohl es noch helllichter Tag gewesen war. Die letzten Tage, die er noch mit Musashi und Nyasu unterwegs gewesen war, hatten sehr an seinen Nerven und Kräften gezehrt und wie viel Schlaf ihm wirklich gefehlt hatte, wusste er ja nun.

Gedankenverloren ging er wieder hinüber zum Bett und setzte sich an den Rand, neben den hölzernen Nachttisch nahe dem Kopfende. Nachdenklich blickte er auf die beiden rot-weißen Kugeln, ehe er sie an sich nahm und mit einem schmerzlichen Lächeln betrachtete. Wenigstens an seine Pokémon hatte er gestern noch gedacht. Unvorstellbar, wo sie jetzt wären, hätte er die Bälle in seiner Uniform gelassen.

„Was tun wir jetzt nur?“, sprach er leise vor sich hin und fuhr dabei vorsichtig mit dem Daumen über die glatte Oberfläche der minimierten Pokébälle. Die Antwort darauf lag eigentlich auf der Hand: Abhauen, so schnell es ging! „Ich kann meine Team Rocket-Uniform nicht hier zurücklassen“, mahnte er sich selbst seiner Gedanken. „Sie bedeutet mir zu viel dafür.“

In diesem Moment klopfte es an seiner Tür, drei Mal exakt im regelmäßigen, genügsamen Abstand. Widerwillig legte Kojiro die beiden Pokébälle zurück auf seinen Nachttisch und ging zur Tür hinüber, um sie zu öffnen.

Der junge Mann vor ihm trug eine edle, rote Bedienstetenuniform mit einem hohen, akkuraten Kragen. Goldene Knöpfe blitzten linkerseits der seitlich gesetzten Knopfleiste auf und die langen Ärmel waren mit einem breiten, weißen Überschlag zurückgeschlagen. Eine dunkelblaue, ordentlich gebügelte Bundhose mit schwarzem Gürtel und schwarzen, edlen Herrenschuhen wurde dazu getragen und ein zur Uniform passender, schmaler Pagenhut thronte auf dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar.

Er hob seine rechte, weiß behandschuhte Hand an die linke Brust und verneigte sich leicht vor seinem jungen Herrn, ohne den Rücken dabei zu krümmen. „Hiroshi steht Euch zu Diensten, Kojiro-sama“, sprach er dabei mit souveräner Stimme.

„Hiro!“, rief Kojiro überrascht und begeistert zugleich laut aus und der Junge, der kein ganzes Jahr jünger war als Kojiro, aber durch seine Uniform wesentlich älter wirkte, zwinkerte schelmisch zu ihm hoch. Hinter ihnen war ein lautes, vornehmes Räuspern durch den ganzen Saal zu vernehmen, das definitiv auch von ihnen gehört werden sollte, und Kojiro bat den Bediensteten mit einer Geste in sein  Zimmer.

Kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, fielen sich die beiden Jungen in die Arme.

„Hiro!“

„Kojiro-sama! Ihr seid wieder zurück!“

„Ich freue mich so, dich zu sehen!“

„Es ist so lange her. Ich habe Euch schrecklich vermisst!“ Der junge Diener mit Namen Hiroshi drängte sich von seinem Herrn zurück, um ihn anschauen zu können. „Wo habt Ihr nur all die Jahre gesteckt? Wir haben uns alle wahnsinnige Sorgen um Euch gemacht! Wir haben immer gewartet und gehofft, dass Ihr zurückkommen würdet.“

„Tut mir leid…“, gab Kojiro nuschelnd zur Antwort, doch er meinte es dem Jungen gegenüber ernst.

Der Jüngere lächelte erleichtert. „Aber jetzt seid Ihr ja endlich wieder da.“

„Unfreiwillig“, stellte der Rocket richtig.

Das Lächeln des jungen Dieners wurde zu einem schiefen Grinsen. „Egal, Hauptsache, Ihr seid zurück.“

Kojiro seufzte leise und ihm wurde das Herz schwer. Gerne würde er ihm alles erklären, doch er brachte es einfach nicht fertig. Hiroshi hatte schon immer zu ihm aufgesehen, schon seit sie kleine Kinder waren – Kojiro wusste nicht, wie Hiroshi reagieren würde, wüsste er, was sein junger Herr die letzten Jahre über Übles getrieben hatte. Auch wenn es auf eine gewisse Art heuchlerisch war.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren“, warf der junge Diener plötzlich ein und schon hastete er hinüber zu Kojiros Schränken. „Rumika-sama hat mich beauftragt, Euch beim Ankleiden zur Seite zu stehen. Sie erwartet Euch bereits und ich denke, Ihr solltet sie nicht warten lassen.“

Kojiro schnaufte verächtlich und ließ sich protestierend auf sein Bett fallen. Mit einem Mal, kaum dass Rumika zur Sprache gekommen war, war alle Wiedersehensfreue bei ihm verflogen und er wollte lieber wie ein kleines Kind zetern und strampeln, um seinen Widerwillen zum Ausdruck zu bringen. Auf der anderen Seite aber kannte er Hiroshi noch gut genug und wenn es in diesem Haus auch nur irgendeinen Menschen gab, dem er genug vertraute, um ihm nicht ernsthaft böse sein zu können, dann war er es.

„Wieso eigentlich dieser Aufzug?“, wollte er stattdessen wissen, um ein anderes Thema anzuschneiden, und richtete sich in eine sitzende Position auf.

Kurz hielt Hiroshi in seiner Kramerei inne und sah über die Schulter zu Kojiro hinüber. „Was? Meine Uniform?“, fragte er zurück und Kojiro nickte daraufhin. Blind suchte er die letzten Kleidungsstücke aus dem Schrank zusammen, während er weitersprach: „Findet Ihr Sie etwa nicht schick?“

Darauf wusste Kojiro nichts zu sagen. Oder doch, er wüsste schon so einige Dinge, die er ehrlich antworten könnte, aber er war sich nicht sicher, ob diese angebracht wären. Also schwieg er lieber.

Mittlerweile hatte Hiroshi wohl alles gefunden, was er gesucht hatte, und er breitete die ausgesuchten Kleidungsstücke neben seinem jungen Herrn aus. „Also mir gefällt sie“, flötete er dabei und Kojiro konnte aus seinem Gesicht ablesen, dass das noch milde formuliert war. „Ich weiß, ich müsste sie nicht tragen, aber ich tue es sehr gerne. Es macht mich stolz, irgendwie.“

„Hiro…“

„Ich bin Euer Kammerdiener“, sagte Hiroshi plötzlich mit ernster Stimme und er richtete sich in eine gerade Haltung auf. Er schlug sich die rechte Hand auf die linke Brust, so wie er es auch bei seiner Begrüßung getan hatte, und fuhr dabei fort: „Man hat mir eine große Verantwortung für Euch übertragen und ich nehme meine Aufgabe sehr ernst, jawohl!“

Kojiro seufzte daraufhin schwer und schüttelte mit dem Kopf. „Oh nein, nicht diese Leier. Übertreib es doch nicht gleich wieder, bitte.“ Er fuhr sich anschließend in den Nacken und blickte betreten zur Seite. „Ich meine, ich freue mich natürlich, dass ich dich noch an meiner Seite habe, aber ich mag es nicht, wenn du so redest“, fügte er als knappe Erklärung hinzu, um seine vorherigen Worte ein wenig zu beschwichtigen.

Hiroshi grinste, sagte aber nichts darauf. Stattdessen schnappte er sich das weiße Hemd vom Bett und warf es dem Älteren in den Schoß. „Hier, probiert das an“, forderte er dabei auf.

Widerwillig nahm der Rocket das Kleidungsstück an sich und hielt es kurz prüfend vor sich, um die Größe abzuschätzen. Dann zog er sich das Oberteil seines Pyjamas über den Kopf und schlüpfte in das Hemd hinein. Es erschien ihm etwas zu groß, als er sich anschließend hinstellte, um es an sich zu betrachten.

„Hätte vielleicht eine Nummer kleiner sein können“, bestätigte auch Hiroshi neben ihm und er reichte nun eine schwarze Stoffhose und ein dunkelblaues Jackett. „Probiert das dazu.“

Kojiro seufzte geschlagen und wartete einen Moment, bis sein junger Diener sich umgedreht hatte. Dann drehte auch er sich um und machte sich daran, auch die übrigen Kleidungsstücke anzuprobieren.

„Von wem sind die Sachen?“, wollte er wissen, als er gerade dabei war, das Jackett zuzuknöpfen.

„Fürs Erste aus einem guten Schneiderladen“, antwortete Hiroshi, ohne sich nach dem Älteren umzudrehen. „Es ist aber vorgesehen, Euch einen Schneider kommen zu lassen, damit Ihr bald etwas Ordentliches bekommt.“

Als Kojiro mit dem Ankleiden der neuen Stücke fertig war, drehte er sich wieder zu Hiroshi um und räusperte sich kurz. Der junge Kammerdiener wandte sich ihm daraufhin ebenfalls wieder zu und musterte ihn kurz, während sich Kojiro skeptisch drehte und versuchte, sich von allen Seiten zu betrachten.

Hiroshi schmunzelte zufrieden. „Gut abgeschätzt“, kommentierte er und machte eine Geste zu dem großen Spiegel, der bereits in den weiten Schrank mit eingebaut worden war. Während sich Kojiro darin betrachtete und sich abermals zu allen Seiten drehte, um sich zeitgleich auch in den beiden Flügelspiegeln beschauen zu können, nickte er mehrere Male anerkennend. „Die Hose hätte sogar noch zwei Nummern kleiner gekonnt, aber das Jackett passt einwandfrei und kleidet Euch ausgesprochen gut. Rumika-sama wird sehr zufrieden mit Euch sein.“

„Wer hat die denn ausgesucht?“

„Rumika-sama, selbstverständlich.“

„Selbstverständlich…“, murmelte der Rocket zurück und fühlte sich dadurch noch unwohler in seiner Haut, als ohnehin schon.

„Eure Kleider wären Euch inzwischen zu klein gewesen“, erklärte Hiroshi und bückte sich, um geeignete Socken und Schuhe aus der unteren Etage herauszusuchen. „Ihr seid schließlich kein kleines Kind mehr. Und Rumika-sama war die Einzige, die Euch zwischenzeitlich ausreichend zu Gesicht bekommen hatte, um Eure heutige Statur und Größe einschätzen zu können. Sie hat sich darum gesorgt, dass Eure Garderobe auf einen aktuellen Stand gebracht wird, damit Ihr etwas zum Anziehen hättet, wenn Ihr zurückkommt.“ Dann wies er seinen jungen Herrn, sich zu setzen, und übernahm es gleich selber, ihm die Füße zu bekleiden. „Ihr habt eine sehr aufmerksame und fürsorgliche Frau an Eurer Seite, Kojiro-sama. Ihr könnt Euch glücklich schätzen.“

„Sie ist nicht meine Frau“, korrigierte Kojiro leise, woraufhin Hiroshi zu ihm hoch grinste.

„Aber sie wird es schon bald sein.“

‚Das wird sich erst noch zeigen‘, dachte Kojiro daraufhin still bei sich, sprach es aber lieber nicht laut aus. Stattdessen ließ er ein weiteres Seufzen ertönen und erhob sich schließlich, als Hiroshi sein Werk vollendet hatte. „Rumika hat meine Klamotten in die Reinigung gegeben“, wechselte er das Thema und ging hinüber zu dem Nachtschrank, um seine Pokémon an sich zu nehmen. „Tust du mir bitte den Gefallen, und bringst sie sofort zu mir, sobald sie fertig ist? Ich möchte sie zurückhaben. So schnell es geht.“

„Natürlich, wenn Ihr es wünscht.“

 

Nach einem weiteren, kurzen Aufenthalt im Badezimmer, wo sich Kojiro noch erfrischen und zurechtmachen konnte, waren die beiden Jungen schließlich auf dem Weg zum Gemeinschaftssaal der Familie. Kojiro hielt es einerseits für unnötig, da ohnehin niemand Weiteres als ihm und Rumika – und natürlich den vielen Bediensteten – anwesend war und sie daher genauso gut in dem großen Aufenthaltssaal seines Flügels hätten essen können, aber andererseits blieb ihm so noch etwas Luft, sich auf das nächste Zusammentreffen mit ihr vorzubereiten. Natürlich hatte er über einen Ausweg nachgedacht, doch er wusste, dass er Hiroshi in arge Schwierigkeiten bringen würde, würde er einen Fluchtversuch starten, während er in seiner Begleitung war. Und das wollte er für den einzigen Freund, den er in diesem Haus hatte, natürlich nicht. Also folgte er seinem Kammerdiener schweigend und mit gesenktem Kopf, ohne auch nur irgendetwas zu sagen.

„Wir sind da“, verkündete Hiroshi schließlich irgendwann und blickte kurz zu seinem jungen Herrn zurück, der hinter ihm zum Stehen kam. Als er keine Antwort erhielt, wollte er weiter vorangehen.

„Warte, Hiro“, bat Kojiro just in diesem Moment und der Jüngere sah sich noch einmal nach ihm um. „Wo ist Gar-chan? Ich habe ihn seit meiner Ankunft noch gar nicht gesehen.“

„Gar-chan?“, wiederholte Hiroshi und Kojiro nickte. „Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass er schon seit einiger Zeit nicht mehr hier ist.“

„Wo ist er?“, verlangte der Rocket sofort zu erfahren und wurde dabei lauter. Die Besorgnis um den treuen Pokémon-Freund, der ihn schon seit seiner Kindheit an immer und in jeder noch so schweren Zeit begleitet hatte, war ihm von den Augen abzulesen.

Hiroshi setzte ein betretenes Gesicht auf. „Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, Rumika-sama hat ihn in eines der anderen Anwesen bringen lassen.“

Dem jungen Diener blieb nicht verborgen, was diese Neuigkeit in dem Freund auslöste, und er bedauerte es augenblicklich, ihm diese Mitteilung gemacht zu haben. Er machte einen Schritt auf ihn zu und machte sich daran, die schmale Fliege nachzukorrigieren, die er seinem jungen Herrn noch mit Mühe und Not aufgebürgt hatte. „Nur keine Sorge, ihm geht es ganz bestimmt gut. Vielleicht fragt Ihr sie einfach selbst, dann wird sie Euch bestimmt nähere Auskünfte geben können.“ Die Fliege saß tadellos. Beruhigend legte er seinem jungen Herrn freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Fragt Sie einfach. Ich würde Gar-chan auch sehr gerne wiedersehen.“

Kojiro schenkte dem Jüngeren ein mühseliges Lächeln, dann nickte er und Hiroshi führte ihn weiter in den Saal hinein, wo im Herzen des weit-geräumigen Raumes auch schon Rumika an einem langen, gut gedeckten Tisch auf sie wartete. Sie nippte gerade an ihrer hellen Keramiktasse mit dem edel verzierten Blumenmuster darauf, als sie die beiden Männer bemerkte und zu ihnen aufblickte. Augenblicklich stellte sie die Tasse zurück auf den dazugehörigen Untersatz und wartete, bis Hiroshi seinen Herrn an seinen Platz verwiesen hatte.

„Danke“, sprach sie anschließend deutlich und der junge Kammerdiener trat mit einer leichten Verbeugung einige Schritte zurück, ehe er den Raum verließ. Rumika musterte derweil ihren Verlobten ausgiebig, ehe sie ein Lächeln aufsetzte. „Rumika freut sich, dass Kojiro-sama gekommen ist, nicht wahr?“

Kojiro schwieg und vermied jeglichen Augenkontakt mit ihr. Er beobachtete lediglich den Küchendiener dabei, wie er ihm frischen Tee in die Tasse gab.

„Bitte, nehmt Euch doch etwas, Kojiro-sama“, forderte sie ihn sanft auf und er bemerkte nur aus dem Augenwinkel ihre flüchtige Geste auf die Speisenauswahl vor ihm. Er wählte sich das Nächste, was vor ihm stand, und vermied jegliche unnötige Bewegung, um Rumika keinerlei Ansatz zu geben, gleich wieder etwas an ihm auszusetzen.

„Okaa-sama hat sich nach Euch erkundigt“, begann sie eine Unterhaltung, als sein Schweigen weiterhin andauerte. „Sie freut sich schon sehr darauf, Euch bald wiederzusehen, nicht wahr? Rumika hat ihr in Kojiro-samas Namen seinen Dank ausgerichtet, nicht wahr?“

Ihm lag es auf der Zunge, etwas dazu zu sagen, doch er schluckte die Worte zusammen mit dem ersten Bissen seines Brötchens hinunter.

„Oh, und bevor wir es vergessen“, wieder winkte sie einen der Bediensteten zu sich, der mit einem kleinen, schwarzen Kästchen zu Kojiro hinüberging und dieses vor ihm abstellte. Mit einer höflichen Verbeugung trat er anschließend wieder zurück. „Angesichts Eurer künftigen Pflichten, hat Rumika Kojiro-sama ein kleines Geschenk besorgt.“

Mit einer Mischung aus Neugierde und Skepsis hob er sich das kleine Kästchen auf den Schoß und öffnete es vorsichtig, stets mit der Erwartung, eine neue Überraschung zu erleben. Doch nichts geschah und er entdeckte auf einem kleinen, weißen Kissen gebettet eine edle, schwarze Herrenuhr. Er vermutete, dass das Band aus Leder gefertigt war.

„Tragt sie stets bei Euch, Kojiro-sama. Ihr werdet sie sicher brauchen können, nicht wahr?“

Er hob die Uhr heraus und musterte sie nur kurz, ehe er sie in die Tasche seines Jacketts verschwinden ließ. Tragen würde er sie vermutlich nicht, außer, Rumika würde sie ihm an sein Handgelenk tackern. Aber wer wusste schon, wann er sie wirklich einmal gebrauchen könnte.

Kurz nuschelte er ein leises „Danke“, dann lenkte er sich wieder mit seinem Frühstück ab.

„Rumika hat sich außerdem bereits um einen Schneider für Kojiro-samas Kleider gekümmert“, fuhr sie in aller Seelenruhe fort, um der Stille keine Möglichkeit zu geben, sich zu weit zwischen ihnen auszubreiten. „Er ist ihr wärmstens empfohlen worden, nicht wahr? Sie hat ihn für heute Nachmittag kommen lassen, zusammen mit dem neuen Gärtner, der sich um das Arrangement des Grundstücks für die Hochzeitsvorbereitungen kümmern wird, und den besten Köchen, die unsere Hausköche für das Hochzeitsmenü unterstützen werden. Rumika hat ihnen ans Herz gelegt, dass sie nur das Beste wünscht für diesen besonderen Tag, nicht wahr?“

Ihm blieb für einen Moment ein Bissen im Halse stecken und er musste sich ein paarmal auf die Brust schlagen, um wieder Luft zu bekommen.

„Kojiro-sama?“

„Schon gut“, gab er knapp zurück und wies ihre Besorgnis damit von sich zurück.

„Schlingt nicht so. Seid stets besonnen bei jedem Bissen, den Ihr tut, nicht wahr?“

Wieder fand er zu seinem Schweigen zurück und begnügte sich damit, sich selbst keine weitere Gelegenheit zum Sprechen zu geben, indem er zum nächsten Brötchen griff.

Rumika seufzte leise. „Wie dem auch sei. Rumika hat einige Juweliere ins Haus eingeladen und wird sich die schönsten Stücke zeigen lassen, nicht wahr? Kojiro-sama sollte dann auch anwesend sein. Seine werten Eltern stellen uns alle verfügbaren Mittel zur Verfügung, um die Vorbereitungen sorgsam durchzugehen und auszusuchen. Jedoch dürfen wir uns nicht blenden lassen, nicht wahr? Okaa-sama hat bestätigt, dass Rumika die Vorbereitungen überwachen soll, nicht wahr?“

Mit einem leisen Klappern des feinen Geschirrs ließ Kojiro sein angefangenes Brötchen wieder auf den Teller fallen. Der Appetit hatte ihn viel zu früh wieder verlassen und er bekam einfach keinen weiteren Bissen hinunter, obgleich er vorher noch gedacht hatte, genug für drei essen zu können. Die letzten Tage war eine ordentliche Mahlzeit ebenso rar gewesen wie ausreichend Schlaf, um bei vollen Kräften zu bleiben. Dass er entsprechenden Hunger haben müsste, stand außer Frage, doch es wollte einfach nichts mehr gehen.

Rumika beobachtete sein Verhalten überaus aufmerksam und ihr Blick verriet, dass sie alles andere als entzückt war. Doch aus irgendeinem Grund ersparte sie ihm eine Predigt und fügte stattdessen ihrer Rede hinzu: „Natürlich hat sich Rumika auch bereits um den Hochzeitstermin gekümmert.“

„Wo ist Gar-chan?“, unterbrach er sie sofort, nachdem sie diesen Satz beendet hatte, und biss sich sogleich auf die Unterlippe. Die ganze Zeit über hatte er versucht, einen günstigeren Zeitpunkt für sein ihm wichtigstes Anliegen abzuwarten, doch nun ging das nicht mehr. Er wollte nichts über Vermählung und dergleichen hören – wäre er ihr jetzt nicht ins Wort gefallen, und da war er sich sicher, dann hätte er seine einzige Gelegenheit, die sie ihm geben würde, verpasst.

Einen Moment lang blieb es still zwischen ihnen und Kojiro musste gegen das Verlangen ankämpfen, zu ihr aufzublicken, um nur irgendeine Reaktion von ihr zu bemerken. Doch er blieb standhaft und behielt seine Augen auf den Teller vor sich fixiert.

„Es war nicht einfach“, begann sie dann erneut und Kojiro erkannte sofort an dem neutralen Klang ihrer Stimme, dass sie damit nicht auf seine Frage einging, „aber mit etwas Überredungskunst ist es Rumika dann doch noch gelungen, einen angemessenen Termin auszuhandeln.“

„Wo ist er?!“, wiederholte er seine Frage, dieses Mal deutlich lauter, und er hob nun doch seinen Blick. Rumika saß ihm regungslos auf der anderen Seite des Tisches gegenüber und zeigte im ersten Moment keinerlei Regung.

„Wovon sprecht Ihr?“

„Gar-chan.“

Gar-chan?“

„Ja, ganz recht – Gar-chan!“, betonte er ausdrücklich und hasste dieses Spiel, das sie da mit ihm spielte.

„Ah, dieses Fukano.“

„Ja, mein Freund Gar-chan! Wo ist er?“

Betont ruhig langte Rumika nach ihrer Tasse und hob sie sich an die Lippen. „Er ist nicht hier, nicht wahr?“

„Lass dieses dumme Spielchen und sag mir, wo du ihn hingebracht hast!“

„Rumika wird ihm nichts sagen, wenn er sie so anbrüllt, nicht wahr?“ Daraufhin nippte sie betont langsam an ihrem Tee und ließ ihrem aufgebrachten Verlobten einige Sekunden Zeit, um sich wieder zu fassen. Als sie anschließend wieder zu ihm hinüberblickte, kämpfte er sichtlich mit sich und sie konnte das leise Klirren seiner Teetasse bis zu sich hören, so sehr zitterten seine Fäuste auf dem Tisch. „Rumika hat ihn zu diesem alten Pärchen bringen lassen. Es wird dort gut für ihn gesorgt, nicht wahr?“, gab sie ihm schließlich die erlösende Antwort und Kojiro fiel sichtbar ein großer Stein vom Herzen.

„Bei Jiiya und Baaya?“

„Nicht wahr?“

„Ich will zu ihnen!“

„Nein.“

„Dann will ich, dass man Gar-chan herbringt!“

„Ausgeschlossen.“ Sie stellte ihre Tasse zurück auf das Gestell und blickte fest zu Kojiro herüber. „Er wäre hier nur im Weg, nicht wahr? Die Hochzeitsvorbereitungen sind im vollen Gange und binnen der nächsten zwei Tage muss alles hergerichtet sein. Ein herumstreunendes Pokémon wäre allen nur im Weg, nicht wahr? Er bleibt da, wo er jetzt ist, und Kojiro-sama ebenso, nicht wahr?“

„Vergiss es!“

„Wir vergeuden mit dieser Unterhaltung nur Zeit“, beendete sie die Diskussion und wies einem Diener, mit dem Abräumen des Tisches zu beginnen. „Es gibt viel zu tun, nicht wahr? Rumika erwartet, dass sich Kojiro-sama an den Vorbereitungen beteiligen wird.“

„Vergiss es! Ich werde dich nicht heiraten!“ Mit diesen Worten war er auch schon von seinem Platz aufgesprungen und befand sich im nächsten Augenblick bereits auf der Flucht. Er rannte einfach nur stur geradeaus, raus aus dem Zimmer, rempelte dabei beinahe die Bediensteten um, hechtete die Treppen hinunter und als ihm weitere Bedienstete in den Weg kamen, darunter auch Hiroshi, machte er eine Kehrtwende und sprang mit einem Satz aus dem offenstehenden Fenster im ersten Stock des Gästebereiches. Den Sturz fing er gut auf und rannte sofort weiter, immer nur stur geradeaus, und nahm die erstbeste Gelegenheit wahr, aus einem der Seitentore von dem großen Grundstück zu entkommen. Alarmsirenen heulten hinter ihm laut auf und unzählige Stimmen riefen ihm hinterher, während er verfolgt wurde, doch er blendete das alles einfach aus und rannte, was das Zeug hielt. Wohin er rannte, das war ihm vollkommen egal – Hauptsache weg von hier! So schnell und so weit weg, wie nur irgend möglich.

Bald wurden die Sirenen hinter ihm leiser, die Rufe waren recht schnell wieder verstummt, bis er gar nichts mehr hinter sich hörte und einfach nur noch rannte. Er machte erst Halt, als er beinahe in ein wildes Nidorina gerannt wäre, geriet dadurch ins Straucheln und stützte sich schließlich an einem Baumstamm in seiner Nähe ab, um seine Lungen wieder mit genug Luft zu versorgen. Sein Hals brannte von dem Sauerstoff, den er viel zu hastig in sich aufnahm, und in seinen Seiten stach und zog es. Ginge es nach seinen Beinen, die von der Anstrengung unter ihm nachgeben wollten, hätte er sich eine kurze Verschnaufpause gegönnt. Doch er empfand den Abstand zwischen sich und dem Anwesen als noch zu gering und zwang sich zum Weitergehen.

Nach etwa einer halben Stunde war die ganze Aufregung auch schon wieder vorbei und Kojiro gab den Protesten seines Körpers nach, der nach einer Pause verlangte. Erschöpft lehnte er gegen den nächsten Baumstamm, sank an dessen Seite zu Boden und schlug verzweifelt mit den Fäusten auf. Tränen standen ihm in den Augen und lösten sich endlich von ihnen. Die feuchten Bahnen, die sie über seine Wangen zogen, brannten heiß auf der erhitzten Haut.

„Scheiße!“, fluchte er laut, und noch einmal: „Scheiße!“ Sein Weinen nahm zu.

Wohin sollte er? Wo konnte er sich schon verstecken? Wie lange konnte er überhaupt weglaufen? Jetzt, wo er wieder in Kanto war.

Die Gewissheit, dass er meilenweit von seinen beiden Freunden, Musashi und Nyasu, getrennt war, die er in Sinnoh zurückgelassen hatte, schnürte ihm regelrecht die Kehle zu. Nichts würde er lieber tun, als zu ihnen zurückzukehren und sich in ihre Arme zu werfen, in denen er Schutz und Geborgenheit wusste. Doch das war unmöglich, die Entfernung war einfach zu groß. Wie sollte er sie nur finden? Sie könnten mittlerweile schon über alle Berge sein und ganz bestimmt hatten sie ihn ohnehin längst vergessen. Das Team brauchte ihn nicht, die beiden waren taff genug, um auch ohne ihn gut zurechtzukommen.

Sie würden niemals nach ihm suchen, kam ihm der Gedanke. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie es würden, würden sie ihn hier niemals finden. Sie würden niemals auf die Idee kommen, dass er nicht mehr in derselben Region wie sie war und kämen niemals auf den Gedanken, in Kanto nach ihm zu suchen. Er würde seine beiden Freunde vermutlich niemals wiedersehen.

„Scheiße…“, fluchte er ein weiteres Mal und schlug wieder auf den Boden ein. Sein Körper bebte, während er seinen Tränen freien Lauf ließ. Es gab keinen Grund, sich gegen diese Schwäche zu wehren. Niemand sah ihn, niemand würde ihn hier finden.

Er konnte nirgendwo mehr hin. Durch die Lande zu ziehen, ganz ohne Geld und Besitz, war keine Option auf die Dauer. Es wäre sowieso nur eine Frage der Zeit, bis er wieder irgendwem in die Arme rennen würde, und er fände sich im Nullkommanichts erneut in seinem trügerischen Gefängnis wieder. Zu Team Rocket konnte er ebenfalls nicht gehen, obgleich es keinen Tag dauern würde, das Hauptquartier in Kanto zu erreichen. Was würde der Boss dazu sagen, wenn Kojiro dort alleine aufkreuzen würde? Er war sich sicher, dass es Musashi, als die Anführerin ihres Teams, gewiss nicht zugutekommen würde. Im schlimmsten Fall würden sie alle mit einem Wimpernschlag suspendiert werden und dann hätte Kojiro das Schicksal seiner beiden Freunde zu verschulden. Nein, das konnte er nicht verantworten. Er wusste doch, was ihnen ihre Arbeit bei Team Rocket bedeutete.

 

Erste, schwere Regentropfen fielen neben dem Rocket zu Boden und vermischten sich mit den Tränen. Es kümmerte ihn nicht, ob er nass werden würde. Im Gegenteil, sollte doch der Himmel über ihm zusammenbrechen, was machte das schon noch aus?

Mit angezogenen Knien lehnte er gegen den Baumstamm, die Arme darum verschlungen und das Gesicht an ihnen verborgen. Wie er es auch drehte und wendete, er sah keinen Ausweg. Er konnte nur warten – warten auf irgendetwas.

Der Regen nahm schneller zu, als erwartet, und der Himmel dröhnte ein fernes Grollen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Kojiros Kleider vollkommen durchnässt waren, doch er fand noch immer keinen Antrieb dazu, sich einen Unterschlupf zu suchen. Wen kümmerte es schon, wie erbärmlich er jetzt ausschauen musste? Was kümmerte es ihn, ob er krank werden würde? Er hatte schon Schlimmeres durchgestanden als ein bisschen Regen.

Leise Schritte näherten sich ihm. Obwohl er sie durchaus hörte, schenkte er dem Geräusch keine Beachtung. Sie kamen ohne Umschweife direkt auf ihn zu und um wen auch immer es sich dabei handelte, dieser Jemand kam neben ihm zum Stehen. Keiner sprach ein Wort, Kojiro sah nicht auf. Er bemerkte lediglich, dass keine weiteren Regentropfen mehr auf seinen Kopf prasselten.

„Kojiro-sama“, sprach dann, nach einiger Zeit des Schweigens, die vertraute Stimme Rumikas sanft zu ihm, doch er zuckte nicht einmal unter diesem Klang zusammen. Er rechnete damit, ihren Tadel ertragen zu müssen, doch stattdessen fuhr sie ganz ruhig fort: „Bitte, steht auf. Rumika kann es nicht ertragen, ihn so zu sehen, nicht wahr? Ihr werdet Euch noch erkälten, nicht wahr?“

Er schwieg für einige Zeit. Sein Kopf war vollkommen leer. Kein Muskel wollte sich in ihm rühren.

„Zu wann ist die Hochzeit angesetzt?“, fragte er dann leise und mit monotoner Stimme, dass man hätte denken können, er würde nur wirr mit sich selbst reden. Doch Rumika fing seine Frage auf.

„In drei Tagen“, gab sie sanft zur Antwort.

Wieder schwieg er für einige Zeit und schien die Worte auf sich wirken zu lassen. Rumika hetzte ihn nicht, sie stand einfach nur mit ihrem großen, dunklen Regenschirm neben ihm und wartete geduldig seine nächsten Worte ab.

„Gar-chan“, sprach er dann, noch immer ohne jegliche Regung in der Stimme. „Ich möchte ihn sehen.“

Rumika sagte nichts, sie wartete einfach nur ab.

„Ich möchte Jiiya und Baaya besuchen gehen“, fügte er leise hinzu.

„Das geht nicht“, entgegnete sie noch immer ruhig, ohne jeglichen Zwang in der Stimme. „Kojiro-sama würde nicht zurückkommen, nicht wahr? Rumika würde ihn nie wiedersehen, nicht wahr? Rumika kann dieses Risiko nicht eingehen, wo sie ihn doch gerade erst wiedergefunden hat.“

„Ich laufe nicht davon“, sagte er ruhig, seufzte dann einmal, ehe er anfügte: „Ich verspreche dir, nicht noch einmal davonzulaufen.“

„Kojiro-sama ist immer nur davongelaufen, nicht wahr?“, gab sie zu bedenken. „Wie soll Rumika seinen Worten Glauben schenken?“

„Versprich mir einfach nur, dass ich Gar-chan sehen darf, dann verspreche ich dir im Gegenzug, es nicht noch einmal zu versuchen.“ Er sah nun zu ihr auf, keinerlei Emotion zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Nur in seinen Augen stand geschrieben, dass sein Willensmut gebrochen war. „Ich werde nicht vor der Hochzeit davonlaufen. Ich verspreche, dass ich dich heiraten werde.“

Rumika schien seine Worte genauestens abzuwägen, denn sie zögerte.

„Kojiro-sama verspricht es?“

Er nickte.

„Hm… Nun, Rumika gefällt dieser Gedanke nicht wirklich, doch wenn Kojiro-sama es ihr verspricht und ehrlich meint, was er sagt, dann will sie sich mit seinem Wunsch arrangieren, nicht wahr?“, ging sie schließlich zögerlich auf seinen Vorschlag ein und legte die Stirn dabei in Falten. „Rumika wird sich darum kümmern, dass Kojiro-sama sein Fukano zurückbekommt. Aber er muss ihr versprechen, dass Gar-chan in seiner Hütte bleibt! Er hat im Haus nichts zu suchen, nicht wahr?“

Wieder nickte Kojiro und zeigte sich mit ihrem Entgegenkommen einverstanden. Solange er nur seinen alten Freund wieder bei sich wissen konnte, hatte er zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass er alles Künftige irgendwie überstehen würde. Er hatte ohnehin keine andere Wahl mehr, als sich seinem Schicksal zu fügen, und damals hatte er die schlimmen Zeiten ja auch irgendwie mit seinem Fukano an seiner Seite überstanden. Er brauchte den Freund jetzt an seiner Seite, mehr, als er ihn je zuvor gebraucht hatte.

Auch Rumika nickte daraufhin einverstanden und sie reichte ihm, ganz entgegen den Gepflogenheiten einer Dame, ihre Hand, um ihm aufzuhelfen. Dabei lächelte sie in versöhnlicher Sänfte zu ihrem Verlobten herunter.

Einen kurzen Augenblick lang zögerte Kojiro noch, dann aber nahm er ihre Hand an und ließ sich aufhelfen. In jenem Moment, in dem sich ihre beiden Hände ineinander verschlossen, wusste Kojiro, dass es nun keinen Weg mehr zurück für ihn gab.



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