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Christmas of 1997

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Christmas of 1997

December 23; 7.49 PM

Sie stritten wieder. Trotz der Musik, die aus den Kopfhörern seines Walkmans plärrte, konnte Brice die Stimmen seiner Eltern vernehmen.

„Du weißt, ich hab keine Ahnung, wie man einen Truthahn brät!“, kreischte seine Mutter in einem Ton, der Glas zum Klirren bringen konnte.

Etwas schepperte daraufhin – in Brice’ Ohren klang es wie die Ofentür, die zugeschmissen wurde. „Bist du sogar zu blöd, die verdammte Anleitung richtig zu lesen?“, brüllte sein Vater. „Hier steht’s doch schwarz auf weiß. Du—“

Brice stellte die Lautstärke seiner Musik höher, ohne den Streit vollkommen auszublenden. Die Scorpions dienten ohnehin nur der Ablenkung. Die Musik beruhigte seine Nerven, obwohl sein gesamter Körper förmlich vor Anspannung bebte.

Er saß im Schneidersitz und mit durchgedrücktem Rücken auf seinem Bett, als wollte er jede Sekunde aufspringen. Sein Finger lauerte derweil beständig in der Nähe der Pausetaste. Im Grunde wartete er nur darauf, energische Schritte zu hören. Darauf, dass die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen wurde und sein Vater im Rahmen erschien. Seine Lippen würden zu einer schmalen Linie gepresst und seine Hände zu Fäusten geballt sein, so wie es jedes Mal der Fall war.

Ein Blick in die Richtung seines kleinen Bruders bestätigte ihm, dass er nicht der Einzige mit dieser Angst war. Obwohl Jesse erst acht Jahre alt war, hatte er inzwischen begriffen, wie das Leben funktionierte. Verstanden, dass auch auf Kinder keine Rücksicht genommen wurde, dass seine Mutter ihn nicht vor allem beschützen würde.

In diesem Moment kauerte der Junge mit den dunkelblonden Haaren auf seinem Bett und blätterte in seinem Spider-Man-Comic. Doch Brice konnte beobachten, wie seine blauen Augen bei jedem lauteren Geräusch zur Tür zuckten.

Trotz der Superhelden-Poster, die er mit Jesse dort aufgehangen hatte, war sie nichts weiter als eine Mauer, die sie von der Außenwelt trennte, vor ihr beschützte. Doch sie war in Wirklichkeit mehr Schein als Sein.

Einige Sekunden betrachtete er Jesse, ehe er seinen Walkman beiseite legte und sich von seinem Bett herunterhievte.

Augenblicklich lag die Aufmerksamkeit seines Bruders auf ihm. Trotzdem überbrückte Brice wortlos den Abstand zwischen ihren Betten und ließ sich neben seinen Bruder fallen. Sie waren ohnehin nur von einem einzelnen Nachttisch getrennt. Dessen Zwilling befand sich im Schlafzimmer seiner Eltern, ebenso wie das Ebenbild der kleinen Lampe. Sie war die einzige Lichtquelle im Raum, da die Dunkelheit längst über Texas hineingebrochen war.

„Bist du mit dem Comicbuch nicht schon längst durch?“, fragte Brice, als er nach hinten sank, um den Kopf gegen die Wand zu lehnen. Er zog ein Bein an, doch trotz seiner gelassenen Haltung lauschte er noch immer mit halbem Ohr den Geschehnissen in der Küche.

„Das Problem ist, dass du gar nichts auf die Reihe kriegst“, konnte er seinen Vater hören. „Guck dir diesen Schweinestall doch mal an!“

Aus der Kehle seiner Mutter drang ein lautes Schluchzen.

„Also?“, wiederholte Brice und Jesses Blick löste sich widerwillig von der geschlossenen Tür. „Hast du es schon durch?“

„Schon lange...“, murmelte dieser und blätterte lustlos die Seite um. Das Comicbuch wies bereits einige Eselsohren auf, doch Brice wusste, wie sehr Jesse an ihm hing. Es war nicht das einzige in seinem Besitz, doch Spider-Man hatte von Anfang an einen besonderen Platz in Jesses Herzen eingenommen. Zwar vermochte Brice beim besten Willen nicht zu sagen, was an einem Menschen, der Spinnenweben aus seinen Handgelenken schießen konnte, so interessant war, aber deswegen würde er Jesse sicherlich nicht das einzig Gute in seinem Leben zunichte machen. Jeder brauchte einen Helden, an den er glauben konnte. Und da weder seine Eltern noch Brice eine Vorbildsfunktion waren, blieb es eben an Peter Parker hängen, Jesse zu einem anständigen Menschen zu formen.

„Vielleicht hast du Glück und der Weihnachtsmann bringt dir ein Neues“, erwiderte Brice, als er den Gedanken verwarf. Auf Jesses unverständlichen Blick hin zuckte er mit den Schultern. „Was?“

Doch Jesse drehte den Kopf weg und klappte zeitgleich den Comic zu. „Jeder weiß, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Ich bin kein kleines Kind mehr, Brice.“

Der Schmollmund, den Brice selbst von der Seite aus erkennen konnte, sprach von dem Gegenteil, doch er ließ es unkommentiert. Stattdessen ließ er sich zu einem schmalen Grinsen hinreißen. „Mh... Dann bin ich also der einzige Mensch, der noch an ihn glaubt.“

Daraufhin sah Jesse ihn erneut an. Seine geweiteten Augen sprachen von Überraschung, während der offenstehende Mund auf eine Skepsis hinwies, die er nur nicht in Worte fassen konnte.

„Es gibt eine Menge merkwürdiger Sachen auf der Welt“, entrann es Brice. , „warum soll es da also keinen Weihnachtsmann geben?“

„Weil—“

„Weil deine Schulkameraden das sagen?“, fragte Brice.

Jesse nickte, während ihm eine Röte auf die Wangen kroch.

„Das sagen die nur, weil sie schnell erwachsen werden wollen.“ In dieser Hinsicht waren alle Kinder gleich, das wusste Brice aus Erfahrung. Während seiner Mittelschulzeit hatten seine Klassenkameraden sogar einen Jungen verprügelt, der zugegeben hatte, noch an die Zahnfee zu glauben.

Brice’ Hand hob sich, als wollte er Jesses Haare verwuseln, doch er ließ sie unbenutzt wieder sinken. Stattdessen verschränkte er die Arme vor dem Oberkörper und sah an die vergilbte Decke ihres Zimmers. „Aber nur, weil es keine Beweise für etwas gibt, heißt das nicht, dass es nicht existiert. Verstanden?“

Aus den Augenwinkeln konnte Brice erkennen, wie Jesse neben ihm an die Wand rutschte, um sich ebenfalls dagegen zu lehnen. Auch er legte den Kopf in den Nacken, um an die Decke zu schauen. „Aber woher weiß man dann, dass es den Weihnachtsmann gibt?“

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, in dem Brice die Augenbrauen zusammenzog. Warum konnte der Bengel die Dinge nicht einmal so akzeptieren, wie Brice sie hinstellte? „Das hat etwas mit dem Glauben zu tun.“

Der Krach aus der Küche war inzwischen abgeklungen, obwohl Brice noch immer leise Stimmen vernehmen konnte. Hatten seine Eltern sich wieder versöhnt? Ein Teil von Brice wollte aufstehen und nachsehen gehen, der andere wollte niemals mehr die Tür öffnen. „Wenn ich dir sage, dass es den Weihnachtsmann gibt, dann gibt es ihn. Das wirst du übermorgen schon sehen.“

Trotz seiner groben Worte wanderten Jesses Mundwinkel langsam in die Höhe und entblößten zwei Grübchen. Es war mehr als Brice erwartet hatte.

Sich dazu durchringend Jesse locker auf die Schulter zu klopfen, stand Brice auf, als auch das letzte Stimmengewirr verstummte. Es hinterließ eine unnatürliche Stille, die Brice jedoch versicherte, dass sich sein Vater noch immer im Haus befand.

Meistens setzte sich sein Erzeuger nach einer dieser Auseinandersetzungen mit einem Bierchen vor den Fernseher oder er stieg in seinen Ford und kehrte für Stunden am Stück nicht mehr nach Hause zurück.

Wo genau er an solchen Abenden hinfuhr, vermochte Brice nicht zu sagen. Allerdings wusste er eigentlich kaum etwas über den Mann, der sich seinen Vater schimpfte. Dabei hatte er sich oft genug gefragt, wann, vor allem aber wie, sein alter Herr zu solch einem Menschen geworden war. Was hatte ihn derart hasserfüllt gemacht, so verbittert? Waren es die Kinder gewesen, die er nicht hatte haben wollen? Oder der Schreibtischjob, in dem er gefangen war und mit dem er niemals ordentliches Geld verdienen würde? Gab ihm das das Privileg tun und lassen zu können, was immer er wollte? Das Recht, Leben zu zerstören?

So leise wie es ihm möglich war, öffnete Brice die Tür und schob sich durch einen Spalt hinaus in den dunklen Flur. Mit geübten Schritten bewegte er sich über die Dielen und schlug den Weg in die Küche ein. Der Rest ihres Hauses lag im Dunkeln. Lediglich aus dem Wohnzimmer drang flackerndes Licht, das Brice dem Fernseher zuordnete.

Seine Mutter hingegen fand er an der Anrichte in der Küche lehnend vor. Ihr Gesicht war von einer Hand abgeschirmt, während der andere Arm um ihren Körper geschlungen war. Sie wirkte alt, viel älter als ihre dreiundvierzig Jahre, in diesem fahlen Licht, das von der Lampe über dem Herd stammte.

Brice lehnte die Küchentür an, nachdem er eingetreten war. „Alles in Ordnung?“ Trotz allem waren seine Worte leise und ohne Besorgnis. Wie oft hatte er diese Frage bereits gestellt? Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen. Es war ohnehin nicht mehr als eine simple Floskel, weil überhaupt nichts in Ordnung war.

Ohne seiner Mutter einen weiteren Blick zu schenken, sammelte er die Ofenhandschuhe vom Boden auf und legte sie neben dem Herd ab.

„Ja, nur der Truthahn...“, murmelte sie, beendete ihren Satz jedoch nicht. Sie löste lediglich die Hand von ihren Augen und deutete vage in die Richtung des Ofens.

Sie hatte geweint, das konnte Brice an den dunklen Schattierungen unter ihren Augen erkennen. Auch ihr blondes Haar war unordentlich, einige Strähnen hatten sich aus der Klammer gelöst und umrahmten nun ihr rundes Gesicht.

Seufzend warf Brice einen Blick in den Ofen. Ein leises Zischen drang an seine Ohren, während er den eingefallenen und angebrannten Vogel betrachtete – so viel dann zu ihrem Weihnachtsessen.

Im vorigen Jahr hatte sich Tante Lisa noch um den Truthahn gekümmert, doch im Sommer hatte sie genug gehabt und den Kontakt zur Familie abgebrochen. Ihre Besuche waren ohnehin nur von Streit gefolgt gewesen. Lisa und sein Vater standen auf dem Kriegsfuß, seit Brice denken konnte. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wusste Lisa jedoch wie man Schlussstriche zog.

„Darüber wollte ich mit dir reden“, sagte er, als er den Ofen wieder schloss und sich seiner Mutter zuwandte. „Debbies Großeltern und ihre Cousins kommen extra von Wisconsin runter, um Weihnachten mit ihr zu verbringen. Ich bin morgen Abend zum Essen eingeladen – Jesse auch.“ Vielleicht war es sogar ein glücklicher Zufall, dass der Truthahn nichts geworden war. Somit bestand wenigstens die Möglichkeit, dass sie es ihnen erlauben würde.

„Jesse würde sich freuen. Er hat einen Narren an Debbie gefressen.“ Womöglich beruhte das sogar auf Gegenseitigkeit, denn auch seine Freundin fand seinen Bruder niedlich. Mit Jesses Schüchternheit war das wahrscheinlich bei den meisten Mädchen der Fall, nahm Brice an.

Seine Mutter lächelte. „Debbie ist aber auch ein liebes Mädchen.“ Mit den Fingern der einen Hand wischte sie sich über die Augenwinkel, bevor ihr Blick zur Tür wanderte. „Meinetwegen kannst du gehen. Mit siebzehn hab ich die Festtage auch lieber mit meinem Liebsten verbracht.“

„Was ist mit Jesse?“

Fast so, als wäre der Name seines Bruders ein Tabuwort gewesen, verschwand das Lächeln von dem schattenbesetzten Gesicht seiner Mutter. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Dein Vater... er würde sauer sein, wenn keiner seiner Söhne da wäre, um mit ihm den Weihnachtsabend zu verbringen.“

Eine Weile starrte Brice seine Mutter an, ehe er den Blick auf seine Socken senkte.

„Tut mir leid, Brice...“

Dieser rang sich zu einem Nicken durch, während er die Zähne aufeinander biss.

Mit einer Entschuldigung war es natürlich getan, die machte alles wieder gut. Mit einem ‚Es tut mir Leid’ konnte man Krankheiten heilen und Wunden flicken und Tage, Wochen und Jahre ausradieren. Wie hatte er das nur vergessen können?

Brice fuhr sich durch die blonden Haare, während er die Wut herunterzuschlucken versuchte. „Bitte...“, entrann es ihm, wobei sein Ton noch etwas mehr an Lautstärke verloren hatte. „Er... braucht mal eine Auszeit.“

Doch kein Muskel in dem Gesicht seiner Mutter zuckte. „Du kennst deinen Vater“, war alles, was sie von sich gab. Anschließend löste sie sich von der Anrichte, nahm die Ofenhandschuhe und holte den Truthahn aus dem Ofen. Sie stellte ihn auf dem Herd ab und betrachtete ihn mitleidig. Brice meinte sogar erneute Tränen in ihren Augen erkennen zu können, als er ihr mit dem Blick folgte. Ein Hauch von Zufriedenheit stillte den Zorn in seinem Bauch und ließ eine Distanziertheit zurück.

„Dann lass ihn wenigstens nicht so viel trinken.“ Es war beinahe erschreckend, wie einfach Brice die Entscheidung fiel, Jesse bei seinen Eltern zu lassen, während er den Weihnachtsabend mit Debbies Familie verbringen würde. Machte ihm das zu einem Egoisten? Zu einem schlechten Bruder? Zu einem schlechten Sohn? Die Frage blieb unbeantwortet in seinen Gedanken hängen.

„Lass ihn einfach nicht trinken...“, wiederholte er und verließ die Küche auf leisen Sohlen.
 

December 24; 6:07 PM

„Reichst du mir mal die Kartoffeln, Debbielein?“, fragte ihre Großmutter. Die fünfundsechzigjährige Ann und ihr Ehemann Eric befanden sich zu Debbies Linken, während Brice auf ihrer rechten Seite saß.

Weihnachten mit Debbies Familie war, als sei Brice in eine andere Welt eingetaucht. Es gab zwei Truthähne, beide stattlich und knusprig. Zudem war jedes Fenster und der künstliche Weihnachtsbaum festlich dekoriert. Im Gegensatz zu seinem Zuhause, an dem lediglich ein Kranz vor der Eingangstür hing, war dieses Haus größtenteils von innen geschmückt worden. Es war nicht für die Nachbarn hergerichtet, sondern für die Familie.

Das Gelächter und das Klappern von Geschirr vermischten sich mit der langsamen Musik, die aus der Anlage im angrenzenden Wohnzimmer spielte.

„Willst du auch noch Kartoffeln, Brice?“, sprach Debbie ihn von der Seite an, während sie die Schale von ihrer Großmutter wieder entgegen nahm, um sich selbst ebenfalls noch welche auffüllen zu können.

Ihr braunes Haar, in das sie bläuliche Strähnen hineingefärbt hatte, war zu einem Zopf gebunden, wodurch ihre abstehenden Ohren sichtbar waren. Es geschah nicht häufig, doch in diesen seltenen Momenten zogen sie Brice’ Augen ganz instinktiv auf sich.

Kurz betrachtete er sie, ehe er den Kopf schüttelte und ein Nein murmelte. Sein eigener Teller war noch immer zur Hälfte gefüllt, obwohl alle Anwesenden inzwischen bei ihrer zweiten Portion waren.

Auch Debbie bemerkte es, die ihn nun von der Seite ansah. „Schmeckt es dir nicht?“ Ihre Worte gingen beinahe in der hitzigen Diskussion unter, die zwischen ihrem Vater und ihren Cousins entfacht war. Brice bekam nur einige Fetzen mit, die von der letzten Footballsaison erzählten – genauer gesagt über das Spiel der Texas Longhorns gegen die Wisconsin Badgers. Wer gewonnen hatte konnte Brice nicht sagen, doch ein großer Football-Fan war er ohnehin noch nie gewesen. Bisher hatte kein Sport eine wirkliche Leidenschaft in ihm entfachen können.

„Nein. Das ist das Beste, was ich jemals gegessen habe“, sagte Brice und hob einen Mundwinkel. Seine Mutter hatte noch nie ein Talent für das Kochen besessen und sein Vater hatte noch nie einen Finger gerührt. Wenn Brice nicht zu Hause mit seiner Familie aß, kaufte er sich meistens irgendwo ein paar Hamburger, die er auf irgendeinem Parkplatz in seinem zerbeulten Truck zu sich nahm.

Entgegen seiner Antwort häufte Debbie ihm noch einen Löffel Kartoffeln auf den Teller. „Dir ist aber schon klar, dass das Essen nicht zum Angucken gedacht ist, ja? Egal, wie lecker es aussieht.“ Damit wandte sie sich ihrem eigenen Teller zu und Brice schob die neuen Kartoffeln von einer Seite zur anderen, ehe er das Essen wieder aufnahm.

Obwohl Debbie genauso alt war wie er selbst und keine leichte Kindheit gehabt hatte, nahm sie das Leben einfacher als er. Das war schon so gewesen, als Brice ihr zum ersten Mal in der Schule über den Weg gelaufen war. Ihre Mutter war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Debbie noch klein gewesen war. Seitdem hatte sie viel Zeit bei den Eltern ihrer Mutter in Wisconsin verbracht, während ihr Vater in der Weltgeschichte umherflog. Den Beruf als Pilot konnte er nicht aufgeben, hatte Debbie ihm anvertraut. Es war die letzte Verbindung, die er noch zu seiner Frau hatte, die er als Stewardess auf einem seiner Flüge kennen gelernt hatte.

Brice fand diese Geschichte deprimierend, doch Debbie hatte sie ihm mit einem breiten Lächeln erzählt. Warum machte es sie nicht traurig? Auch heute war sie meistens noch alleine in diesem riesigen Haus – außer an Feiertagen, die ihr Vater für sie reservierte. Aber machte ein Tag im Jahr die restlichen wieder wett? Konnte eine nette Geste all die Enttäuschungen davor gutmachen? Aus dem Gedächtnis streichen? Machte einem das nicht zum Spielball der anderen? Zu einer Marionette, die nach Fäden tanzte?

Brice spürte, wie ihm schlecht wurde. Er ließ die Gabel fallen und der Stuhl schabte über den Boden, als er sich ruckartig erhob. Wortlos entfernte er sich vom Tisch, während die Blicke von Debbies Familie ihm folgten.

Brice nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hochstieg und ins Badezimmer stürmte. Die Tür schmiss er krachend hinter sich zu, bevor er den Toilettendeckel aufriss und sich würgend übergab.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sackte er neben der Toilette auf den Boden und betätigte halbherzig die Spülung.

Da hatte er einen schönen Auftritt hingelegt... Zwar war es nicht das erste Mal, dass er bei Debbie zum Abendessen blieb, doch das Übergeben war definitiv neu. Was hatte er sich dabei nur gedacht?

Mit einer Hand fuhr sich Brice über das klamme Gesicht, ehe er sich auf die Beine kämpfte und sich den Mund mehrmals mit Wasser ausspülte. Finger schrubbten über seine Zahnreihen und über seine Lippen.

Sein Spiegelbild sah derweil genauso erbärmlich drein, wie er sich in diesem Moment fühlte. Trotz seiner gesunden Gesichtsfarbe wirkte er plötzlich blass und sein blondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. Er versuchte erfolglos etwas Ordnung hineinzubringen, während blaue Augen seinen Blick abgestumpft erwiderten.

Was machte er überhaupt hier in Debbies Badezimmer? Er sollte jetzt zu Hause bei Jesse sein. Da gehörte er hin und nicht zu dieser Familie. Dabei machte es keinen Unterschied, wie willkommen er war oder wie herzlich er aufgenommen wurde. Er hatte seinem kleinen Bruder den Rücken gekehrt, um dieser Hölle zu entkommen, obwohl Jesse niemanden außer ihm hatte.

Da war nur ihre nichtsnutzige Mutter, die vor Angst beinahe verging und keinen Finger rühren würde, um Jesse zu beschützen. Das hatte sie während den restlichen Tagen des Jahres auch nicht getan. Warum sollte es heute also anders verlaufen? Frauen wie sie sollten sich nicht Mütter nennen. Dazu hatten sie kein Recht!

Brice’ Faust kollidierte mit der Wand neben dem Badezimmerspiegel. Im gleichen Moment explodierte Schmerz in seinen Fingern. Er blitzte seinen Arm hinauf, bis sich Brice keuchend auf dem Rand der Badewanne sinken ließ und ihn festhielt, als wäre er drauf und dran auseinander zu fallen. Laut atmete er durch die Nase ein und aus und blinzelte verloren.

Außerhalb der Tür ertönten Schritte. Dielen ächzten. „Brice? Brice, alles in Ordnung?“, war Debbies Stimme dumpf durch das Holz zu vernehmen und der Angesprochene hielt instinktiv den Atem an. Brice blieb still, obwohl er nicht vortäuschen konnte, dass er sich nicht im Badezimmer befand.

„Was war das für ein Geräusch?“, fragte Debbie nach einer Weile. „Wenn du nicht reden willst, ist das auch in Ordnung. Öffne aber wenigstens die Tür. Bitte, Brice.“

Der Schmerz in seiner Hand kehrte in Wellen zurück, als das Adrenalin langsam aus seinem Blut wich und von Schuldgefühlen ersetzt wurde. Kurzzeitig erhob er sich, um das Schloss an der Tür zu öffnen. Anschließend ließ er sich wieder auf den Badewannenrand sinken und Debbie trat lautlos ein.

Brice’ Augen klebten an dem Boden zu seinen Füßen, als seine Freundin näher trat und sich neben ihm niederließ. Das war der peinlichste Tag in seinem Leben. Das konnte er mit Überzeugung behaupten.

„Hast du gegen die Wand geschlagen?“, fragte Debbie und zeigte auf die Delle, die er neben dem Spiegel hinterlassen hatte. Allerdings gab sie Brice nicht die Gelegenheit mit einem sturen Schweigen zu antworten, sondern zog ihn an seinem gesunden Arm auf die Beine.

„Greg wäre wegen dir beinahe an seinem Truthahn erstickt“, erzählte sie die Eskapaden ihrer Cousins, als sie Brice widerwillig in ihr Zimmer bugsierte. „Und Joshua wollte schon das Heimlich-Manöver anwenden. Bei all den Muskeln hätte er Greg aber wahrscheinlich bloß alle Rippen gebrochen.“

Derweil spürte Brice die Bettkante in den Kniekehlen und er ließ sich auf der Matratze nieder. Seine schmerzende Hand war dicht an seinen Oberkörper gepresst, doch bei der Vorstellung an Debbies Cousins brachte er dennoch ein Schmunzeln zustande.

„Du bist echt ein Spinner, Brice“, murmelte Debbie, als sie ihm eine Haarsträhne aus den Augen strich. „Wenn dir das Essen so furchtbar schmeckt, hättest du einfach den Mund aufmachen können.“ Die trockene Tonlage verriet Brice jedoch, dass Debbie sich damit abgefunden hatte, dass er ihr nicht Rede und Antwort stehen wollte. Wahrscheinlich hatte sie Erfahrung darin. Sie hatte in den zwei Jahren, in denen sie nun schon zusammen waren, immer schon das Reden für sie beide übernommen.

Nun wandte sie sich von ihm ab. „Ich bin gleich wieder da.“

Die Stille, die Debbie hinterließ, war erdrückend. Langsam ließ sich Brice auf den Rücken sinken und seine Augen über die Wände ihres Zimmers wandern. Jede freie Stelle, die nicht mit Möbeln zugestellt worden war, war mit Zeichnungen beklebt worden. Einige hatten die Größe von Klebezetteln, während andere halbe Plakate einnahmen. Unter Debbies Zeichnungen waren Landschaften und Flugzeuge, selbst eine Karikatur von Brice, die ein viel zu eckiges Kinn und zu kleine Augen hatte. Sie hing über ihrer braunen Kommode, auf der Familienphotos ihren Platz hatten.

Debbie kehrte kurz darauf mit einem Kühlelement zurück, das sie in ein Handtuch wickelte und ihm reichte. Zeitgleich ließ sie sich ebenfalls auf dem Bett nieder. Sie lag in der entgegengesetzten Richtung neben ihm und starrte an die Decke ihres Zimmers.

„Ich hab nichts für dich zu Weihnachten“, gestand Brice, als er seine Hand kühlte und das Schweigen sich wie Kaugummi zwischen ihnen zog. „Ich wusste nicht, was ich dir kaufen sollte. Wenn du willst, hol ich es nach. Wenn du mir sagst, was du haben möchtest.“

Doch Debbie antwortete nicht und Brice schaffte es nicht den Mut zusammenzunehmen, um den Kopf in ihre Richtung zu drehen. Sie war der einzige Mensch, der ihn niemals enttäuscht hatte und der letzte, den er hatte enttäuschen wollen.

„Brauchst du neue Stifte?“, nahm er das Wort daher wieder auf. „Meinetwegen auch einen Jahresvorrat an Papier.“ Sparsam genug ging er jedenfalls mit seinem Geld um, das er in Musk’s Shoeland neben der Schule verdiente.

„Ich hab dir auch nichts gekauft, Brice...“, erwiderte Debbie schließlich.

Der Stich, den Brice daraufhin fühlte, überraschte ihn. Immerhin erwartete er kein Geschenk, nur weil sie zusammen waren. Diesmal war es jedoch an ihm zu schweigen, sich auf die Unterlippe zu beißen.

Neben ihm drehte sich Debbie auf die Seite und er konnte ihren Blick förmlich auf seiner Haut spüren. „Dafür hab ich was anderes.“

Nun drehte Brice doch den Kopf in ihre Richtung. „Hm?“

Debbie schmunzelte, als sie etwas aus ihrer Hosentasche herausholte. Das Etwas entpuppte sich unter Brice’ Blick zu einem unechten Mistelzweig, der keine fünf Zentimeter lang war. Es war ein erbärmliches Stück. Wo hatte Debbie das bloß her?

„Damit hast du wenigstens keine Ausrede mehr, mich nicht zu küssen.“

Es war unangenehm, diese Tatsache unter die Nase gerieben zu bekommen. Peinlich beinahe.

Brice’ Gesicht glühte, als Debbie das armselige Exemplar eines Mistelzweig über seinen Kopf hielt und sich vorlehnte. Ihre Lippen legten sich tastend auf seine, bis er sie zurückküsste. Die Berührung hielt nur für Sekunden, bevor sich Debbie von ihm entfernte und ihn anlächelte.

Wieder befand sich zwischen ihnen ein Abgrund, den Brice selbst gegraben hatte. Er war auch der Grund, warum sie noch nie über Zärtlichkeiten wie dem Küssen hinausgekommen waren, während ihre Schulkameraden längst mit ihren Abenteuern prahlten. Es war Brice, der den Gedanken an das Anfassen nicht ertragen konnte.

„Tut mir leid...“

Debbie stützte sich auf einen Ellenbogen ab, als sie Brice betrachtete. „Du weißt, dass du mir alles sagen kannst, oder?“

Brice sah an die Decke, nickte jedoch.

„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest“, setzte sie nach, obwohl ihre Stimme auch weiterhin sanft war. Fast so, als würde sie mit einem Kind sprechen. Auch das war erbärmlich. Aber wie sollte er ihr klarmachen, dass er ihr das niemals erzählen würde? Dass ihm das Leben, das er führte, zu unangenehm war, als dass er es jemals über die Lippen bringen würde?

Brice antwortete mit einem Schweigen.
 

December 25, 11.18 AM

Der Ford stand in der Auffahrt, als Brice seinen weißen Truck am Straßenrand parkte. Sein Vater war eindeutig zu Hause. Aber wo sollte er auch sonst sein, ging es Brice durch den Kopf, als er sich abschnallte.

Kurz hing sein Blick an dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Es hatte dieselbe stupide Farbe wie der Sand der kahlen Gegend und jedes andere Haus in ihrer Straße. Die einzigen Unterschiede bestanden in den Lichterketten und dem Weihnachtsschmuck in den anderen Vorgärten. Schnee gab es keinen, doch Brice hatte in seinen siebzehn Jahren auch nur einmal Schneeflocken in Texas fallen gesehen. Trotzdem war es kalt genug, um in einem Pullover frieren zu können.

Mit raschen Schritten ging Brice über das Grundstück und erklomm die Treppe zu ihrer Veranda. Die Haustür fand er offen vor, doch noch bevor er gänzlich eingetreten war, hörte er bereits die Stimmen seiner Eltern.

„Jetzt wissen wir, woher das Kind seine Manieren hat“, hallte die Stimme seines Vaters durch die Räume. Sie bebte vor Zorn und mit einem Mal war die Anspannung zurück, die Brice versucht hatte abzuschütteln.

Seine Mutter sagte etwas, doch ihre Worte waren zu leise, als das Brice sie vom Flur aus aufschnappen konnte.

Es ähnelte einem Déjà-vu. Es erinnerte ihn an den vorgestrigen Tag, eigentlich sogar an alle anderen dreihundertvierundsechzig Tage des Jahres.

Einen Augenblick lang hielt Brice inne. Vielleicht sollte er einfach wieder kehrtmachen und zurück zu Debbie fahren. Oder er setzte sich in seinen Truck und fuhr, bis er die Staatsgrenze nach Louisiana hinter sich zurückgelassen hatte. Doch dieser Gedanke war alt und verbraucht, schon hunderte von Male gedacht und verworfen.

Seufzend schloss er die Tür hinter sich und streifte sich seine Schuhe ab, die er verloren neben denen seiner Familie stehen ließ.

„Tu doch nicht so, als wüsstest du, wo sich dein Sohn rumtreibt, Mary!“, herrschte sein Vater sie an, als Brice sich dem Wohnzimmer annäherte. „Er könnte dir ins Gesicht lügen und du dumme Kuh würdest das nicht bemerken.“

Sie stritten über ihn, wurde Brice schlagartig bewusst.

Jesse verließ selten das Haus außerhalb der Schule. Doch ob es an seiner Schüchternheit lag oder den blauen Flecken, die er unter seinem Pullover versteckte, konnte Brice nicht genau sagen. Vielleicht war es eine Mischung aus beidem oder die Schüchternheit war in seinem Elternhaus geboren worden. Brice war kein Psychologe – obwohl er auch so wusste, dass ihre Familienverhältnisse gestört waren.

Es gab Tage, an denen er die Leute vom Jugendamt anrufen wollte. Allerdings würde man Brice und Jesse in irgendwelchen Pflegefamilien unterbringen, bis Jesse adoptiert werden und sie sich aus den Augen verlieren würden. Sobald er volljährig war und ein stabiles Eigenheim hatte, würde er jedoch in der Lage sein, sie aus diesem Schlamassel zu befreien. Es war nur eine Frage der Zeit.

„Er ist ein guter Junge“, hörte Brice seine Mutter sagen. Es war nicht mehr als ein Wispern, als wäre sie selbst nicht davon überzeugt.

Daraufhin schob sich Brice ins Wohnzimmer hinein, verharrte jedoch nahe der Tür. „Hier bin ich doch.“

Sogleich hatte er die Aufmerksamkeit seiner Eltern. Sein Vater, der in seinem Lieblingssessel vor der Flimmerkiste saß, beäugte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Wurde aber auch Zeit. Wo warst du?“

Brice zuckte mit den Schultern. „Bei Debbie. Wie ich Mum gesagt habe.“ Seine Augen zuckten derweil zu seiner Mutter herüber, die auf dem Sofa saß und die Hände in ihren Schoß gebettet hatte. Ihre Finger waren ineinander verhakt, als wollten sie einander festhalten.

„Ihr Vater wollte nicht, dass ich so spät alleine nach Hause fahre.“ Es war eine Lüge, doch kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Sein Pokerface hatte er schon vor einer langen Zeit perfektioniert. Anders als Jesse und seine Mutter wusste er, dass es der einzige Schutz gegen einen Menschen wie Henry Lamar war. Sobald er die Schwächen seiner Gegenüber kannte, nutzte er sie aus. Genauso, wie er es damals getan hatte, als er das erste Mal mit einem Mädchen ausgegangen war und zu glücklich ausgesehen hatte.

„Glaubst du, du kannst die Schnecke halten?“, hatte sein Vater ihn mit einem Grinsen auf seinem unrasierten Gesicht gefragt. „Frauen wollen, dass man es ihnen richtig besorgt. Deine Mutter ist da nicht anders.“

Auch jetzt grinste er, so dass sich tiefe Grübchen in seine Mundwinkel gruben und vergilbte Zähne blitzten. Zeitgleich nahm er einen tiefen Schluck aus der Bierflasche in seiner Hand. „Und dann hältst du es nicht für nötig mal anzurufen, ja?“

„Das Telefon war besetzt.“ Es war zu schnell über Brice’ Lippen. Geplant und gelogen.

Auch sein Vater schien es zu bemerken, als die Belustigung mit einem Mal von seinem Gesicht abfiel. Der Zorn, der unter der Oberfläche gelauert hatte, entstellte seine grimmigen Züge. Mit einer Hand fuhr er sich durch das angegraute Haar, das strähnig von seinem Kopf hing. Im nächsten Moment heftete sich sein Blick wieder an Brice.

Dieser gefror in seiner Haltung, zuckte nur, als die Flasche geflogen kam und neben ihm an der Wand zerschellte.

Seine Mutter stieß einen Schrei aus, während Brice das Atmen vergaß. Auch als sein Vater sich schwerfällig aus dem Sessel bewegte und in seiner Unterwäsche und Bademantel auf ihn zukam, stand Brice noch unbewegt dort.

Seine Hand packte Brice am Kragen seines T-Shirts und zog ihn näher. „Man lügt seinen Vater nicht an, Brice. Was hat dir deine Mutter überhaupt beigebracht, huh?“, entrann es ihm mit leiser Stimme.

Brice schlug die Alkoholfahne entgegen und er musste mit sich ringen, damit sich seine Augen nicht schlossen, er den Kopf nicht wegdrehte.

„Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich die Erziehung übernehme. Was meinst du?“

„Lass ihn doch, Henry...“, mischte sich seine Mutter von dem Sofa aus ein.

Doch sein Vater schnaubte. „Halt dich da raus, Mary.“ Selbst während er das sagte, bohrten sich seine Augen auch weiterhin in Brice hinein, der stocksteif dastand. Es war das einzige, was er tun konnte. Alles andere wäre nur eine Einladung für seinen Vater, weshalb er schweigend den Blick erwiderte.

Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, in der sie sich ansahen, doch dann stieß sein Vater ihn von sich und kehrte zu seinem Sessel zurück. Dort ließ er sich mit einem Ächzen nieder, ehe seine Hand nach der Fernbedienung auf dem Ecktisch griff.

Brice hingegen wandte sich ab und verließ das Wohnzimmer. Er bemerkte nicht, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte, bis er sich im Badezimmer wieder fand und benommen die Hände wusch.

Sein Herz klopfte ihm noch immer bis zum Hals und sein Mund fühlte sich staubtrocken an. Wenigstens hatte Debbie eine Ersatzzahnbürste für ihn gehabt und er war den säuerlichen Geschmack gestern noch losgeworden. Trotzdem spülte sich Brice abermals den Mund aus, ehe er nach dem Handtuch griff und es gegen sein Gesicht presste.

Hinter ihm knarrte derweil eine Diele und Brice hob den Kopf. Der besorgte Blick seiner Mutter begegnete ihm im Spiegel über dem Waschbecken.

„Er hat dir doch nicht weh getan, oder, Brice?“, fragte sie leise, was ihm sagte, dass sein Vater es nicht gutheißen würde, dass sie sich um sein Wohlbefinden erkundigte.

Brice schluckte ohne in der Lage zu sein, den plötzlichen Kloß in seinem Hals loszuwerden. Daher antwortete er mit einem Kopfschütteln, ehe er das Handtuch weglegte.

„Dein Vater meint es nicht so...“, begann seine Mutter, als sie auf ihn zukam. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem traurigen Lächeln, das Brice den Magen umzudrehen drohte. „Er hat sich bloß Sorgen um dich gemacht. Auch wenn er es nicht zeigen kann, liebt er dich, Brice.“ Ihre Hände legten sich sanft auf seinen Schultern ab und wollten ihn in eine Umarmung ziehen, doch er entwand sich ihr. Seine Bewegung war so ruckartig, als hätte er sich verbrannt.

„Lieben?“, entfuhr es Brice, als er die Frau vor sich mit einem verständnislosen Blick strafte. „Du denkst, das ist Liebe? Er liebt dich nicht. Keinen von uns. Dazu ist er doch gar nicht fähig.“

„Brice—“

„Nein“, fuhr dieser seiner Mutter über den Mund. „Du solltest ihn verlassen. Wir sollten zu Tante Lisa ziehen, aber dazu hast du zu wenig Courage – genauso wie Dad immer sagt!“

Ein Klatschen hallte durch das Haus. Brice’ Kopf ruckte zur Seite und seine Wange stach schmerzhaft.

„Oh mein Gott...“, stieß seine Mutter aus. Abermals waren da diese Hände, die nach ihm griffen, den Schmerz lindern wollten, nachdem sie ihn selbst verursacht hatten. „Es tut mir so leid. Ich weiß nicht... Ich wollte nicht... Brice, bitte...“

Sich die Wange haltend entzog er sich seiner Mutter, um sich an ihr vorbeizuschieben. „Fass mich einfach nicht an“, presste er hervor, leise und mit bebender Stimme.

Seine Mutter kam ihm nicht hinterher, als Brice in die Richtung des Zimmers marschierte, das er in mit seinem Bruder teilte. Er schloss die Tür hinter sich und bedachte den auf dem Bett sitzenden Jesse nur mit einem Seitenblick, als er sich auf sein eigenes warf und das Gesicht in seinem Kissen vergrub. Das einzige Geräusch im Zimmer war die billige Melodie, die aus Jesses Gameboy drang. Die Melodie von Super Mario. Sie bestand aus hellen Tönen und einer rosaroten Fröhlichkeit, die es hinter Brice’ geschlossenen Augen unangenehm brennen ließ.

„Jesse?“, murmelte er in sein Kissen.

Der Gameboy wurde leiser gestellt. „Was?“

„Tut mir leid, dass ich gestern nicht hier gewesen bin.“

Daraufhin herrschte Schweigen, in dem die Melodie wieder an Lautstärke gewann. Allerdings konnte Brice es seinem Bruder wohl kaum verübeln nachtragend zu sein, wo doch er derjenige gewesen war, der ihn hier ohne einen Hintergedanken zurückgelassen hatte.

Nach einer Weile drehte Brice den Kopf zur Seite, um Jesse betrachten zu können. Dieser starrte stur auf den Bildschirm seines Gameboys. Umso länger Brice ihn beobachtete, umso grimmiger wurde sein Gesicht.

Brice erwischte sich bei einem Schmunzeln. Zeitgleich verlagerte er sein Gewicht auf die Seite und zog ein verpacktes Comicbuch unter der Matratze seines Bettes hervor. „Der Weihnachtsmann hat dich übrigens nicht vergessen“, sagte er und warf es zu Jesse herüber. Es landete neben ihm auf dem Bett und Brice vergrub das Gesicht erneut im Kissen. „Ich bin ihm auf den Weg hierher begegnet. Er meinte, ich soll dir das geben. Er ist scheinbar mit den Geschenken dieses Jahr etwas im Verzug.“

Jesse ließ ein Glucksen verlauten, doch der Gameboy verstummte und ein Rascheln ertönte.

Wahrscheinlich spielte es keine Rolle, ob Jesse ihm diese alberne Geschichte abkaufte oder nicht, letztendlich kam es doch nur auf das Endergebnis an. Auf den einen Tag, der nicht einfach in den restlichen dreihundertvierundsechzig unterging.

„Cool! Spider-Man!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kunoichi
2012-12-26T00:23:20+00:00 26.12.2012 01:23
Wow! Diese Geschichte klingt ein bisschen wie ein Auftakt zu einer längeren FF, auch wenn du das Ende natürlich wie einen OS gestaltet hast. Aber ich würde sehr gerne mehr lesen über Jesse und Brice und ob sie es schaffen diesem schrecklichen Vater zu entkommen. Und wie das jetzt mit Brice's Freundin weiter geht und überhaupt alles! Es klingt alles so unfertig und irgendwie auch wiederum nicht. xD
Ich habe richtig mit den beiden Brüdern mitgefühlt. Diese Streiterein sind wirklich furchtbar und das gerade zu Weihnachten! Die armen Kinder! Mir hat's so leid getan, dass Brice einfach nicht sagen kann, was zuhause los ist, nicht mal zu der Person, die er am meisten vertraut. Und das Ende war ja mal richtig süß, wie Brice Jesse einen Comic geschenkt hat. ^^ Es freut mich, dass die beiden trotz allem ein gutes Verhältnis haben.
Dein Schreibstil ist wirklich toll und du hast die Story gut aufgebaut. Da war nix zu viel und nix zu wenig. Hat mich richtig mitgerissen! Vielleicht machst du ja noch ein, zwei Kapitel mehr? ;D
Lg, Kunoichi


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