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Federspiel

von

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Unwahrheiten

Als er nach dem Hörer griff, stellte er überrascht fest, dass er die Nummer noch immer auswendig kannte. Er hatte sie in den letzten Jahren nicht mehr gewählt, war, wenn überhaupt, für einen Besuch hinüber gelaufen, anstatt das Telefon zu benutzen; aber in seinem Gedächtnis war die Zahlenreihenfolge fest verankert. Mit einem Lächeln auf den Lippen, weil er sich über diese Tatsache irgendwie freute, wollte er zu wählen beginnen, doch da legte sich Garys Hand auf seine und hielt ihn davon ab. Fragend sah Ash den anderen Jungen an.

„Ash, tu mir einen Gefallen, wenn du mit Opa sprichst … Sag ihm nicht, dass ich hier bin oder dass du mich getroffen hast.“

Verwunderung machte sich in seinem Gesicht breit.

„Was? Warum nicht? Du hast dich all die Jahre nicht bei ihm gemeldet, meinst du nicht, er macht sich Sorgen und würde sich freuen, mal wieder was von dir zu hören?“

„Ja … Wahrscheinlich.“ Er wandte den Blick ab, unsicher, wie er seinen Satz fortführen sollte. „Er soll nicht wissen, dass ich kein Trainer mehr bin und wie es dazu kam. Schon gar nicht jetzt und einfach so nebenbei am Telefon. Aber wenn du ihm sagst, dass ich hier bin, dann wird er mit mir sprechen wollen, und ich kann ihm das nicht verheimlichen. Ich kann es ihm aber auch nicht sagen.“

Sehr langsam nickte Ash. Ja, er konnte einigermaßen nachvollziehen, was in Gary vorging. Und er verstand, dass jetzt wirklich nicht der optimale Zeitpunkt war, um diese große Last, die Gary seit so langer Zeit mit sich herumtrug, zu offenbaren.

„In Ordnung, ich sage ihm nichts. Aber wenn das hier vorbei ist, dann kommst du wieder mit nach Hause, und dann sprichst du mit ihm.“ Gary nickte.

 

„Ja bitte? Hier ist das Labor von Professor Eich, und ich bin höchstpersönlich am Telefon!“ Ash hatte den Professor schon immer nur als Mann fortgeschrittenen Alters gekannt, der sich in seiner Art und seinem Verhalten seine Jugendlichkeit jedoch bewahrt hatte. Aber in den letzten Jahren war er zusehends gealtert, und auch wenn er es zu verbergen versuchte, so wie jetzt am Telefon, verriet etwas in seiner Stimme doch, dass er nicht mehr der gleiche Mann wie vor fünf Jahren war.

„Professor Eich, ich bin es! Ash!“ Und auf die gleiche Art und Weise, mit der der Professor vorzutäuschen versuchte, dass die Welt noch immer in Ordnung war, setzte auch Ash nun ein Lächeln auf und hoffte, dass es seine Stimme erreichte.

„Ash! Na so eine Überraschung! Delia hat mir erzählt, dass du mit Misty zu einer neuen Reise aufgebrochen bist. Du hast dich ja nicht mal mehr verabschiedet.“

„Ja, das ging alles ein wenig schnell.“

„Und wo seid ihr jetzt?“

„In Dansazu City.“

„Donnerwetter, da seid ihr ja wirklich weit gekommen. Dann habt ihr sicherlich auch schon eine ganze Menge erlebt?“

„Ach na ja, es geht.“ Er war froh, dass er sich dagegen entschieden hatte, die Bildfunktion des Telefons zu nutzen.

„Hmhm, ist ja fast wie in alten Zeiten, nicht wahr? … Es ist wirklich lange her, dass ihr zu eurer Pokémonreise aufgebrochen seid.“ Seine Stimme klang mit einem Mal noch rauer als zuvor und Ash wusste, dass er nun nicht mehr über ihn und Misty, sondern über Gary sprach.

„Professor Eich, weswegen ich eigentlich anrufe … Wir haben ein ausgesetztes Evoli gefunden. Im Pokémoncenter hier ist kein Platz dafür, darum würde ich es gerne behalten. Aber ich glaube, momentan wäre es besser für das Kleine, wenn es bei Ihnen wäre und erst mal wieder zur Ruhe kommen könnte.“

„Oh, ein Evoli?“ Ashs Hand verkrampfte sich um den Hörer und er erwartete, dass der Professor irgendetwas sagen würde, was er jetzt absolut nicht hören wollte. Aber nach kurzem Schweigen fuhr er gespielt gelassen fort. „Natürlich, dann schick es mir doch her.“

„Vielen Dank, Professor! Ich muss dann jetzt auch auflegen, wir haben noch eine Menge vor. Ich schicke Ihnen das Evoli sofort.“

„Mach das, Ash. Und viel Erfolg auf deiner Reise! Und grüß Misty von mir!“

„Mach ich.“

Er legte so viel Freude in seine Stimme, wie er nur konnte.

Er fühlte sich wie ein Verräter.

 

„Na, hat alles geklappt?“

Ash nickte auf Mistys Frage.

„Ja, das Evoli ist sicher bei Professor Eich angekommen. Ich denke, da wird es ihm erst mal gut gehen. Er lässt dich grüßen.“

„Oh, danke.“

„Und Gary“, der Angesprochene sah auf, „ich habe dir den Gefallen getan und dem Professor nicht gesagt, dass wir dich getroffen haben. Ich verstehe deine Gründe und ich respektiere sie, auch wenn es nicht gerade einfach war, ihm das zu verheimlichen.“ Misty sah überrascht auf, wollte wohl etwas sagen, aber Ash ließ sie nicht zu Wort kommen. „Aber dafür möchte ich, dass du Misty erzählst, was du mir gestern Nacht erzählt hast.“ Nun war es an Gary, ihn überrascht anzusehen, aber auch ihm ließ Ash nicht die Gelegenheit, etwas zu erwidern. „Ich weiß, dass das eine schwierige Sache ist und ich verstehe, dass du sie lieber für dich behalten willst. Aber darauf kann ich momentan leider keine Rücksicht nehmen. Wir sind darauf angewiesen, uns gegenseitig blind vertrauen zu können und dafür ist es meiner Meinung nach wichtig, dass wir alles übereinander wissen. Du hast mir schließlich auch von Mistys Vergangenheit erzählt, ihr kennt meine, und nun ist es an der Zeit, dass du ihr deine offenbarst.“

Für ein paar Augenblicke sahen sich beide Jungen schweigend in die Augen. Es war erstaunlich, mit welchem Ernst, aber auch mit welcher Kühle Ash diese Worte von sich gegeben hatte. Worte, die keinerlei Widerworte akzeptierten, und das verstand auch Gary, weshalb er nun langsam nickte und sich von der Bank, auf der er und Misty gesessen hatten, erhob.

„Na schön. Aber nicht hier.“

 

Beinahe erschrak Ash darüber, wie gefasst Gary jetzt war, als er seine Geschichte ein zweites Mal erzählte. Hatte er in der vergangenen Nacht noch verzweifelt und unheimlich verletzlich gewirkt, so waren seine Worte diesmal knapp, sachlich und beinahe ausdruckslos.

Es musste ihn Einiges an Überwindung kosten.

Und auch ohne dass man ihm sein Leid ansah, schwieg Misty betroffen, unterbrach ihn kein einziges Mal und schien, als er geendet hatte, ihre Tränen zurückhalten zu müssen.

„Das tut mir wirklich, wirklich sehr leid, Gary. Bist du deswegen spurlos verschwunden und hast dich nie bei einem von uns gemeldet?“

Er nickte und sie gab dem Bedürfnis nach, aufzustehen und ihn in den Arm zu nehmen.

„Warum hast du uns denn nicht mal jetzt was gesagt? Das muss doch furchtbar sein, so etwas für sich zu behalten.“ Er löste sich sanft aus der Umarmung.

„Es ist auch furchtbar, darüber zu reden. Und es ändert nichts.“

„Doch, das tut es.“ Die beiden sahen zu Ash. „Nicht für dich, aber für uns drei als Federn. Ishi hat beide Male einen wunden Punkt aus unserer Vergangenheit genutzt, um uns anzugreifen. Es liegt auf der Hand, dass sie bei dir das gleiche versuchen wird.“

„Ash hat leider recht. Ich weiß nicht, ob sie bei dir auch versuchen wird, dich in eine Traumwelt zu locken, in der Nachtara noch lebt. Aber sie weiß sicher von diesem Vorfall, und irgendwie wird sie versuchen, dieses Wissen für ihre Zwecke zu benutzen.“

„Hat sie ja schon.“

Fassungslosigkeit und Entsetzen machten sich in den Gesichtern der anderen beiden Federn breit.

„Was?! Sie hat was? Und warum erzählst du uns das erst jetzt?“ Ash sah ihn wütend an.

„Weil es nicht weiter wichtig ist! Mit so blöden Tricks kriegt Ishi mich nicht. Sie hat es einmal versucht und ich habe ihr klargemacht, dass ich darauf nicht reinfalle und sie sich die Mühe schenken kann. Ich weiß, dass Nachtara tot ist und dass es nichts gibt, was es zurückbringen könnte.“

„Dann hättest du uns erst recht davon erzählen können! Noch vor kurzem hast du mich quasi dazu gezwungen, euch zu erzählen, was mich 'damals' so belastet hat, und Mistys Vergangenheit hast du mir auch einfach so erzählt!“ Noch immer lag Wut in Ashs Blick. „Aber du machst aus allem eine große Geheimniskrämerei. Wo du warst, was dir passiert ist – und jetzt das! Wie sollen wir einander denn vertrauen, wenn du uns so etwas Wichtiges verheimlichst?!“

„Ich hab doch schon gesagt, es ist nicht wichtig!“ Auch Gary schien nun wütend zu werden, und es war ein seltsamer Anblick, weil er in den vergangenen Tagen immer nur still und abweisend gewesen war.

„Und woher sollen wir wissen, dass du nicht schon längst unter dem Bann von Ishi stehst?! Bei mir ist das schließlich auch ganz schleichend passiert.“

„Dann ändert es eh nichts, oder?! Wenn du glaubst, dass ich so blöde bin, mich von Ishi bequatschen zu lassen –“

„Ach, soll das etwa heißen, Misty und ich wären blöd? Weil uns genau das passiert ist?“

„Jungs, bitte …“ Beschwichtigend hob Misty ihre Hände, brachte etwas Abstand zwischen die beiden aufgewühlten Federn. „Lasst nicht zu, dass wir Ishi gar nicht brauchen, um uns zu zerstreiten.“

Einen Moment lang sahen sich die beiden feindselig an, dann atmete Gary tief durch und senkte den Blick.

„Entschuldige, Ash. Und du auch, Misty. Nein, das habe ich natürlich nicht gemeint. Ich weiß, dass ihr nichts dafür konntet, dass Ishi euch so beeinflusst hat. Und ich behaupte ganz bestimmt nicht, dass mir das nicht passieren könnte. Aber ich bin ganz sicher, dass in dieser Nacht, als sie es versucht hat, nichts passiert ist. Es gäbe keine Möglichkeit, wie sie Nachtara verwenden könnte, um mich irgendwie zu beeinflussen oder gegen euch aufzuhetzen. Ich glaube, das hat sie auch verstanden.“

„Na schön.“ Ash war nun ebenfalls ruhiger. „Hat sie irgendwas zu dir gesagt?“ Gary schüttelte den Kopf. „Ok … Aber damit wissen wir nun, dass sie es wirklich als nächstes auf dich abgesehen hat. Das heißt, wir sollten ab jetzt noch wachsamer sein. Und Gary? Keine Geheimnisse mehr, verstanden?“

Er nickte.

„Keine Geheimnisse.“

Er unterdrückte das Husten.

 

***

 

„Und ehe sie sich versehen, werden sie nicht mehr Seite an Seite kämpfen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: MiyaToriaka
2017-01-06T11:25:15+00:00 06.01.2017 12:25
Hier kommt endlich das sehr verspätete Kommentar! Bei der Kälte kann ich kaum an den PC sitzen. D: Trotz Heizung hat mein Zimmer nur 15°C! *brr*

Es ist so toll, dass du weiter geschrieben hast. ♥ Es war zwar überraschend kurz (XD), aber ich weiß immer noch nicht, was ich von Gary halten soll. Er ist so verschlossen und vertraut niemandem (kommt mir zwar bekannt vor, aber trotzdem. XD Und es passt auch 1A zu seinem Charakter). Trotzdem haben Ash und Misty recht, für diese Mission ist es wichtig, alles voneinander zu wissen und trotzdem kann Gary nicht über seinen Schatten springen und andere vor etwas bewahren, nur, weil er nicht den Mund aufbekommt. Natürlich will er die anderen schützen, aber macht es das besser? Man weiß es nicht.
Ich bin jedenfalls sehr gespannt, wie es weiter geht!

Wünsche dir noch ein frohes neues Jahr und hoffe auf weitere Kapitel von "Federspiel". :D ♥
Antwort von: MiyaToriaka
06.01.2017 12:25
*DER verspätete Kommentar. OTL Ich nix deutsch...


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