Zum Inhalt der Seite

Federspiel

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Hirngespinst

„Ash, hörst du mir überhaupt zu?“

„Was?“ Verwundert sah der Junge auf. Nein, er hatte tatsächlich nicht zugehört.

Noch immer schwirrten ihm so unendliche viele Gedanken durch den Kopf, von denen er nicht wusste, woher sie kamen, warum er sie dachte und was sie bedeuten. Aber sie beunruhigten ihn, und so warf er nun einen überaus skeptischen Blick zu dem rothaarigen Mädchen, das ihn seinerseits unschlüssig betrachtete.

„Und du bist sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Ja doch!“

„Ok, schon gut…“ Sie wandte sich von ihm ab und blickte wieder nach vorn, deutete mit der Hand auf einem Punkt am Horizont. „Siehst du das?“ Ash kniff die Augen ein wenig zusammen, um zu erkennen, was sie meinte, und erblickte in der Ferne die schemenhaften Umrisse einer Häuserreihe, vielleicht sogar eines ganzen Dorfes. Von hier oben jedoch wirkte es nur wie eine Spielzeugstadt.

„Natürlich, ich bin ja nicht blind. Und?“

„Ich hab das Gefühl, die Vögel wollen hin. Vielleicht finden wir Lavados ja dort.“ Sie ließ Arktos schneller fliegen.

Für einen Moment zögerte Ash, war sich kurz nicht sicher, was er tun sollte, doch Mistys aufforderndes „Nun mach schon!“ riss ihn aus den Gedanken, bevor er sich abermals darin verlieren konnte.

 

„Tja…“ Sie sah sich unsicher um, und auch er ließ seinen Blick über die Szenerie schweifen, die sich ihnen nun bot. Im fahlen Abendlicht reihten sich in unregelmäßigen Abständen kleine Häuser aneinander, manche davon noch gut in Schuss, andere heruntergekommen und verwahrlost. Die schwächlichen Lichter in einigen der Fenster waren das einzige Zeichen dafür, dass es sich nicht um eine Geisterstadt handelte; auf den grauen Straßen zeigte sich nicht eine Menschenseele. „Wirklich ganz schön trostlos… Und von Lavados keine Spur. Aber was soll's. Am besten schauen wir, ob wir ein Pokémoncenter oder irgendwas finden, wo wir erst mal bleiben können.“ Der Junge nickte nur stumm.

Es war nicht so, dass er diesen Gedanken wirklich Glauben schenkte, die sich da plötzlich in seinen Kopf gestohlen hatten. Es waren Hirngespinste, nichts weiter, einfach nur Zweifel geboren aus der ungewöhnlichen Situation, in der er sich gerade befand.

Und trotzdem kein beruhigender Gedanke, dass sie nur zu dir gekommen ist, um dich zu töten.

Ash warf einen unsicheren Blick zu Misty.

Na gut, sie hatten sich eine Ewigkeit nicht gesehen, und theoretisch konnte niemand wissen, was inzwischen geschehen war, wie sie sich verändert hatte. Aber das bedeutete ja nun nicht, –

Und dann diese Geschichte von der Legende der Federn.

Nichts, aber auch gar nichts deutete auf irgendeine Katastrophe hin. Niemand hegte irgendwelche Befürchtungen. Nur Misty. Misty verhielt sich sonderbar, erzählte diese seltsame Legende, von der er noch niemals gehört hatte. Von der wohl noch nie jemand außer ihr gehört hatte. Selbst die Pokémon verhielten sich ruhig und kein bisschen anders als sonst. Abgesehen von Arktos und Zapdos natürlich, die, –

Und dann diese Ausrede, sie sei damals nur gegangen, weil du von ihr abhängig warst.

„Kommst du nun endlich?“ Ihre Stimme klang genervt und gereizt, der Blick, mit dem sie ihn besah, war tadelnd und vorwurfsvoll.

Nein. Das war sie nicht mehr. Das war nicht mehr die Misty, die er einmal gekannt hatte. Und dieser Misty hier musste er vielleicht Dinge zutrauen, die er früher für unmöglich gehalten hätte.

Missmutig folgte er ihr.

Fall nicht auf sie herein.

Sie waren einmal Freunde gewesen.

Aber das ist nicht mehr.

 

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme der alten Frau klang freundlich, direkt herzlich und passte so gar nicht an diesen kargen Ort und in dieses Haus, das sich Hotel schimpfte, aber eigentlich nicht mehr als eine heruntergekommene Baracke war.

Ein Pokémoncenter gab es in diesem kleinen Dorf nicht, und ehrlich gesagt hätte er auch nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich so etwas wie ein Hotel finden würden. Als Misty der Dame nun mitteilte, dass sie zwei Zimmer für die Nacht bräuchten und die Frau daraufhin suchend in einem großen, eingestaubten Buch zu blättern begann, hätte er beinahe verächtlich gelacht. Musste sie wirklich erst nachsehen, ob etwas frei war? Oder war das nur Routine, nur Show, um die brüchige Fassade eines hübsch geführten Hotels aufrecht zu erhalten? Wer würde an diesem trostlosen Ort schon Urlaub machen wollen, wer hier länger als nötig verweilen?

Natürlich war etwas frei, und nachdem Misty ein paar Geldscheine über den Tresen geschoben hatte, überreichte die alte Frau ihr zwei Schlüssel.

„Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.“

Es war die pure Ironie.

Er blieb stumm, als Misty ihm einen der Schlüssel gab, als sie gemeinsam die Treppe in den ersten Stock hinaufstiegen, wo sich die Zimmer befanden, und auch, als sie den Vorschlag machte, sie sollten es für heute gut sein lassen und schlafen gehen, entgegnete er nichts. Er wollte mit einem Mal nicht mehr mit ihr reden, nicht mehr diskutieren, sich nicht mehr von ihr einlullen oder zu irgendetwas bequatschen lassen, von irgendetwas überzeugen oder zu irgendetwas überreden. Er wollte einfach nur noch Abstand.

Hastig schloss er die Tür seines Zimmers hinter sich, drehte den Schlüssel im Schloss herum, einmal, zweimal. Erst, als er sich sicher war, dass die Tür wirklich verriegelt war, wagte er aufzuatmen und lehnte sich erleichtert gegen das kalte Holz.

Woher kam diese Panik mit einem Mal?

Er entschied, dass es wahrscheinlich wirklich das Klügste war, einfach ins Bett zu gehen. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, wahrscheinlich war sein Kopf nur überfordert von all den Dingen, die ihm heute widerfahren waren.

 

Aber er kam nicht, der Schlaf, den er sich eigentlich so redlich verdient hatte.

Stattdessen wälzte er sich unruhig von einer Seite auf die andere, versuchte, die Gedanken loszuwerden, den Kopf leer zu bekommen, aber es ging nicht, es ließ ihn nicht los, dieses eigenartige Gefühl, das er zu vergessen geglaubt hatte.

Du hast Angst.

Er hasste es, Angst zu haben, denn Angst war ein unnützes Gefühl.

Ebenso wie Liebe oder Zuneigung.

Denn sie brachten nur den Verstand durcheinander, ließen einen nicht mehr klar denken. Und Angst war ein Zeichen von Schwäche. Er war nicht schwach. Er wollte nicht schwach sein.

Und an alldem ist nur sie schuld.

Wenn Misty nicht wieder aufgetaucht wäre, dann würde er diese Angst nicht empfinden, dann würde er nicht jetzt hier liegen, Schlaf suchend seit Stunden, aber viel zu aufgefühlt, um ihn finden zu können.

Wäre sie doch bloß nie wieder in dein Leben getreten.

Hätte er sie doch bloß nie wieder sehen müssen! Aber sie musste ja zurückkehren und sein ganzes Leben durcheinander bringen.

Und sie will dich töten.

Abermals wälzte er sich herum, den Blick nun direkt durch das dunkle Fenster im Zimmer gerichtet, wo sich ein blassweißer Mond vor dem inzwischen schwarzen Nachthimmel abzeichnete.

Sie wird dich heute Nacht töten, wenn du ihr nicht zuvorkommst.

Er sprang auf. So konnte das nicht weitergehen. Er musste irgendetwas tun.

Töte sie.

Er musste irgendwie wieder runterkommen, oder –

Töte sie.

Er musste irgendetwas tun.

Hektisch begann er, sich in dem kleinen, schäbigen Zimmer umzusehen. Das Bett, ein morscher Stuhl, ein heruntergekommener Schreibtisch, ein halb verfallener Schrank. Er öffnete seine Türen, und die Türen knarrten. Der Schrank war leer. Hektisch zog er die Schubladen des Schreibtisches heraus. Alte Prospekte, die zu zerfallen drohten. Teelöffel, für die es keine Tassen und erst recht keinen Tee gab. Stifte, Notizzettel, rostige Büroklammern. Ein paar Gabeln. Ein Messer.

Sein Blick blieb daran hängen.

Es war nicht besonders groß, nicht besonders imposant, aber die Klinge, auf der sich das hereinscheinende Mondlicht brach, wirkte überraschend scharf.

Oh ja, solch ein Messer ist gewiss dazu in der Lage, all deine Probleme innerhalb von Sekunden zu lösen.

Er konnte nicht…

Du musst.

Er sollte nicht…

Du musst.

Oder sollte er?

Eine Feder wird sterben.

Und er würde ganz bestimmt nicht diese Feder sein.

Entschlossen umfasste er den Griff des Messers, drückte es fest gegen seine Handfläche. Er würde sich vor ihr nie wieder fürchten müssen, sie würde ihm nie wieder in die Quere kommen. Alles, was er dazu brauchte, hatte er, und alles, was er dazu tun musste, würde er tun.

Wie benebelt verließ er leise, unhörbar sein Zimmer; das Messer hatte er keine Sekunde aus der Hand gelegt. Und niemand bemerkte ihn, niemand diese Gestalt, die zu solch später Stunde durch den Flur schlich, sich nicht umwandte, nicht zögerte und ein ganz genaues Ziel zu haben schien.

Niemand, der das Mädchen hätte warnen können.

 

Abgeschlossen. Natürlich. Es wunderte ihn nicht. Schließlich war Misty nicht so naiv, ihre Tür unverriegelt zu lassen.

Aber solch eine simple Tür wird dich ganz sicher nicht zurückhalten.

Auf keinen Fall.

Sie wird büßen, für all das,

was sie ihm angetan hatte. Und diese Lüge, sie wäre nur gegangen, um ihm zu helfen, und dass es seine schuld war, dass sie gegangen war, das würde er ihr auch nicht mehr abkaufen. Misty hatte ihn sein Leben lang nur belogen. Nun würde sie die Konsequenzen davon zu spüren bekommen.

Gerade wollte er die Türklinke ein zweites Mal herunterdrücken, auch wenn ihm eigentlich klar war, dass dies kein anderes Ergebnis haben würde als zuvor. Doch in diesem Augenblick glimmte für einen Moment plötzlich ein schwaches, violettes Licht im Türschloss auf, bevor es wieder erlosch. Ash nahm es kaum wahr, aber das leise Knacken im Schloss, das ihm unmissverständlich mitteilte, dass das nun offen war, registrierte er dafür umso deutlicher.

Er zuckte zurück, rechnete damit, dass vielleicht Misty die Tür entriegelt hatte und sie nun öffnen würde. Aber im Zimmer regte sich nichts, die Tür blieb geschlossen, und auch er wurde wieder ruhigerer, sicherer.

Seinem Vorhaben stand nichts mehr entgegen.

Er festigte seinen Griff um das Messer, drückte mit der anderen Hand vorsichtig, sachte, um ja kein Geräusch zu machen, die Türklinke herunter. Doch trotz aller Vorsicht knarrte das alte Holz leise und für einen Moment fürchtete er, er hätte sich verraten. Doch als abermals alles still blieb und in dem dunklen Zimmer auch diesmal keine Bewegung zu vernehmen war, da wagte er es, die Tür ganz zu öffnen und leise in den Raum zu treten.

Es brauchte einen Augenblick, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Hier im Zimmer war es dunkler als zuvor auf dem Flur, wo ebenfalls Mondlicht durch ein Fenster eingedrungen war; das Fenster in diesem Zimmer lag auf der anderen, vom Mond abgewandten Seite.

Langsam, beinahe andächtig ging er auf das schlafende Mädchen zu.

Töte sie.

Sah sie kurz an.

Töte sie.

Seine Miene war unwirklich starr, ausdruckslos. Eisig.

So wie die Klinge des Messers, das er nun an ihren schmalen Hals legte.

Töte sie.

Winzige Millimeter. Ein winziger Schritt. Den er gehen würde.

Töte sie.

„Stirb…“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: MiyaToriaka
2013-05-24T10:13:55+00:00 24.05.2013 12:13
Mein einziger Gedanke (und das nach den ganzen CSI und NCIS Folgen, die ich in den letzten Tagen gesehen habe): WAS GEHT MIR ASH?! ;____; Ich möchte echt gerne wissen, wer ihm diese Gedanken einpflanzt. Sind das echt seine eigenen Gedanken oder spielt da jemand mit? Der Gegenpart der Federn etwa?
Ich bin wirklich sehr gespannt. Das violette Licht ist ja schon verdächtig...
Das ist besser als jeder Krimi, aber für mich umso beängstigend, da es sich um mein OTP handelt. ;__; Ich glaube, ich hab mehr Angst als Ash, aber ich will unbedingt wissen, was passiert und ob ihn doch jemand aufhält, oder das vielleicht gar nicht real passiert(?). Hammer Psycho! Auch im Zwiespalt mag ich es! >3<
Danke für die tolle Story bisher!

LG
Miya


Zurück