Nur ein kleines Desaster
“Brutalanda, zurück.”
Innerhalb weniger Augenblicke war das über 2 Meter große Pokémon, das ohne Mühe eine halbe Stadt in Schutt und Asche legen konnte, in seinem Pokéball verschwunden.
Nur schemenhaft war das große Anwesen, in dessen Vorgarten Oras gelandet, war zu erkennen. Bis auf wenige Sterne war der Nachthimmel hinter dicken Wolken verborgen und tauchte das mehrere Hektar große Grundstück in Dunkelheit.
Doch als er sich umwand, um den gepflasterten Weg hinauf zur Anhöhe zu gehen, auf dem das Gebäude stand, sah er bereits, dass mehrere Laternen entlang des Weges und der Außenwand des Gebäudes entflammt waren und sich das imposante, schmiedeeiserne Eingangstor geöffnet hatte, um die zierlich wirkenden Umrisse einer Frau auszuspeien.
Lylas kam ihm winkend entgegen und rief seinen Namen.
„Wie ich sehe, bin ich nicht gänzlich unbeobachtet angekommen,“ antwortete Oras, als sie ihn fast erreicht hatte.
Lylas blieb wenige Meter vor ihm stehen und zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
„Dann würde ich mich aber auch leicht wundern, wozu wir hier fast zwei Dutzend Magnetilos patrouillieren lassen, wenn selbst dein Trampeltier von Drache hier unbemerkt unter ihrem Radar fliegen würde.“
Ihre langen blonden Haare, die wie so oft eine Hälfte ihres Gesichts bedeckten, wurden leicht vom Wind umspielt, als sie sich bei ihm einhakte und ihm gar keine Zeit ließ auf ihre Spitze zu antworten.
„Und, ein Absol aufgetrieben?“ Oras entging nicht der spöttische Unterton in ihrer Stimme. Obwohl sie es nie zu einem Kampf zwischen sich hatten ankommen lassen, ließ sie ab und zu durchblicken, dass sie sich ihm gegenüber sowohl was ihre Fähigkeiten als Jäger als auch als Trainer anging überlegen fühlte. Doch im Grunde war das Oras egal. Er hatte es ja auch nicht nötig jedem Raupy, auf das er traf, zu beweisen, dass er es ohne weiteres in Grund und Boden stampfen konnte. So schenkte er ihr nur einen spöttischen Blick, als er ihr antwortete:
„Gefangen und Abgerichtet, Übergabebereit.“ Er zog den Pokéball mit dem Unlichtpokémon aus seiner Hosentasche und warf ihn ihr zu.
„Im Gegensatz zu dir habe ich bisher ja noch jeden Auftrag erfolgreich ausgeführt, nur für den Fall, dass du es vergessen haben solltest.“
Mit absichtlich gekräuselten Mundwinkeln drückte Lylas ihm den Pokéball härter als nötig wieder in die Hand. Vor über einem Jahr war sie beim Versuch ein Stahllos zu fangen unbeabsichtigt in ein ganzes Nest dieser Pokémon in den Bergen geraten. Dass es ihr deshalb nicht gelungen war, sofort ihren Auftrag zu erledigen, wäre alleine schon unerfreulich genug gewesen. Dass die mehreren Dutzend Stahllos jedoch, erst einmal aufgestöbert, wie ein in Raserei verfallener Scharm Bibor gewütet hatten und sie sich mit Hilfe ihres Kryppuk mehrere Stunden in einer Felssparte verstecken musste, war noch sehr viel unerfreulicher gewesen. Und Oras ließ manchmal keine Gelegenheit aus, sie daran zu erinnern. Schließlich hatte er auch tags darauf ihren Auftrag übernommen und erfolgreich zu Ende gebracht, als sie von einer Erkältung niedergestreckt im Bett lag. Sich bei heftigen Regen zwischen kalten Steinen zu verkriechen war noch nie förderlich für die Gesundheit gewesen – und für das Ego umso weniger.
Oras steckte den Pokéball wieder zurück in seine Hosentasche, als sie durch das Tor gingen. Die große Eingangshalle lag völlig im Dunkeln, als er sie mit Lylas betrat. Die gläserne Kuppel oberhalb der Halle war wenig mehr als ein schwarzer Fleck, doch kaum als sich das Tor hinter den Beiden geschlossen hatte, begannen mehrere Kandelaber den Raum mit warmen Licht zu durchfluten. Vielfach gespiegelt von einem riesigen Springbrunnen in der Mitte des Raumes, dessen Fontäne von einem in die Höhe gestreckten Onyx aus echtem Onyxmarmor ausging, befand sich dahinter eine breite Treppe, die in eine Galerie mündete, von der mehrere Zimmerfluchten abzweigten. Und hätte Oras es nicht besser gewusst, hätte er den kühlen Lufthauch, der just in dem Moment an ihm vorbei zog, als sich die Tür schloss, als einfachen Zug aufgefasst. Aber Oras wusste es genauso wie Lylas besser und war sich sicher, dass er gerade von einem der drei Nebulak gemustert wurde, die hier zu jeder Tag- und Nachtzeit Wache hielten. Hätte er die Musterung nicht bestanden, würde er bereits von einer Schlecker-Attacke paralysiert am Boden liegen. Nun, er hatte sie anscheinend jedoch wie immer bestanden.
„Aimée und Geremy sind noch unten, dein Auftraggeber scheint sehr begierig auf das Absol zu sein. Während du weg warst, bekamen wir stündlich Anrufe. Als ob es unsere Schuld ist, dass er uns erst einen Tag vor dem Geburtstag seines dummen Görs informiert hat.“
„Nun, dann lassen wir ihn wohl besser nicht warten, am Schluss steht er morgen noch mit leeren Händen vor seiner kleinen, verzogenen Tochter dar.“
„Und wir beide wollen das ja nun wirklich nicht.“
Der Tonfall und die Ironie in Lylas und Oras Stimmen ließen keinen Zweifel an ihrer geteilten Geringschätzung aufkommen, die sie solchen Menschen entgegenbrachten. Obwohl sie für die zwei Pokémonjäger eine so gut wie nie endende Geldquelle darstellen, sahen Beide auf alle, die nicht fähig waren, Pokémon aus eigener Kraft an sich zu binden, herab. Und eben dieses arrogante Verhalten war auch der Grund, wieso sie Aimée und Geremy brauchten, die für sie alle zwischenmenschlichen und finanziellen Angelegenheiten in die Wege leiteten. Kunden fühlten sich gerne wie Könige, nicht wie Abschaum, auf den man nur allzu gerne und sehr berechtigt hinab sah.
Seitlich der Treppe drückte Lylas gegen eine auffällige Musterung innerhalb der mit Marmor ausgekleideten Wand. Geräuschlos verschwand ein menschengroßes Rechteckt genau vor ihr im Boden und gab den Blick auf eine Fahrstuhlkabine frei
„Alter vor Schönheit.“ Mit spöttisch nach oben gezogenen Augenbrauen trat sie einen Schritt zurück und wies Oras mit überzogener Gestik den Weg.
Schulterzuckend betrat er den im Gegensatz zur protzig ausstaffierten Halle völlig nackten, von Neonlicht erhellten Aufzug. Lylas fischte einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche, führte ihn in eine kleine Vertiefung in der Wand und drehte ihn um. Anschließend drückte sie den untersten der drei daneben liegenden Knöpfe und schweigend fuhren sie mehrere Meter unter die Erde.
Ruckelnd blieb der Aufzug wieder stehen und die Tür öffnete sich. Vor ihnen lag ein kahler, grob verputzter Raum, von dem mehrere Türen abzweigten. Eine davon war nur angelehnt und Licht drang daraus hervor. Drei Stimmen waren zu hören, wovon eine definitiv nicht Geremy oder Aimée gehörte.
„Ach ja, bevor ich es vergesse: Ich soll dir von Aimée ausrichten, dass du dich benehmen sollst, falls dein Auftraggeber gerade an der Strippe ist.“ Kichernd ging Lylas voran und stieß die Tür gänzlich auf.
„Als ob ich derjenige bin, der bereits mehr als einen Deal im Vorhinein durch seine… zuvorkommende Art versaut hat,“ murmelte Oras still vor sich hin, als er ihr in den hell erleuchteten Raum folgte.
Teure Designerlampen spendeten fast ebenso teures Licht und gaben die Sicht auf einen riesigen Bildschirm frei, der fast die komplette, hintere Wand des Raums einnahm. Vor dem Bildschirm stand ein schwerer, geschnitzter Schreibtisch aus Mahagoni, hinter dem Aimée auf einem schwarzen, ledernen Schreibtischstuhl thronte. Wie immer, wenn sie mit einen Kunden sprach, trug sie eines ihrer stechend grellen Businesskostüme, deren Herkunft bisher noch niemand auf die Spur gekommen war. Bis auf 2 lockige Strähnen, die zu beiden Seiten ihr Gesicht umrahmten, war ihr rotblondes, üppiges Haar zu einem straffen Knoten zusammen gefasst. Und genauso straff und kontrolliert wie ihre Frisur war ihre Stimme, als sie per Videochat mit dem Mann auf der Leinwand sprach.
„Wie versprochen, ihr Absol ist soeben eingetroffen.“
Mit einem kurzem, angedeuteten Grinsen wand sie sich Oras und Lylas zu. Vor Kunden stellte sie nie Gefühle über die Maßen zu schau, es galt seriös zu wirken.
„Wenn du so nett wärst, das Pokémon vorzuführen.“
Ohne weitere Worte zog Oras den Pokéball mit dem gefangen Pokémon hervor und entließ es zwischen Aimées Schreibtisch und dem überdimensionalen Bildschirm. Das Absol erschien ohne einen Laut von sich zu geben und stand still, auf weitere Befehle wartend. Sein weißes Fell glänzte seidig, nichts deutete mehr auf seine Begegnung mit dem Kabutops nur wenige Stunden zuvor hin. Nachdem Oras Hypno den einstmals freien Willen des Pokémon gebrochen und abgerichtet hatte, hatte der Pokémonwilderer selbst noch einige Zeit damit verbracht, es in vorzeigbaren Zustand zu bringen – und es für seine weitere Zukunft zu modifizieren.
Skeptisch blickte das Gesicht des Mannes vom Bildschirm auf das Pokémon. Ohne sein Gesicht zu verziehen betrachtete Oras seinen Kunden näher. Nun, er hatte seine besten Jahre wohl schon hinter sich, was sowohl seine mehr als verschwindenden Haare als auch das schwammige, aufgedunsene Gesicht bewiesen. Sogar leichte Schweißtropfen hatten sich auf seiner spiegelnden Glatze gebildet – der Geburtstag seiner Tochter musste ihn ja unheimlich in Stress versetzen. Oras widerte dieser Stereotyp von Vater an, dessen Tochter das Wort Nein wohl nur aus Büchern oder wohl eher dem Fernsehen kannte. Doch Geld stank bekanntlich nicht.
„Und woher soll ich wissen, dass dieses Absol meine Tochter nicht sofort attackiert?“ Oras hätte nach dem Äußeren des Mannes keine so gefasste, ernste Stimme erwartet.
„Eine berechtige Frage, die ich ihnen gerne anschaulich beantworten werde.“
Gelassen erhob sich Aimée aus ihrem überdimensionalen Schreibtischstuhl, trat vor ihrem Schreibtisch hin zu dem gezähmten Pokémon – und trat ihn mit der gesamten Kraft ihrer schlanken Beine in die Flanke.
Ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu verziehen, fing sich das Absol sofort wieder und nahm erneut seine ursprüngliche Position ein, ohne Aimée auch nur eines Blicks zu würdigen. Sie wusste, was für Arbeit man von Oras erwarten konnte, sie hatte diesbezüglich völliges Vertrauen.
„Unter keinen Umständen wird es ihre Tochter gegenüber jemals Gewalt anwenden. Ebenso sind seine Krallen kupiert. Unsere Referenzen sollten ihnen bekannt sein. Es ist gezähmt und jederzeit bereit zur Entgegennahme.“
Sie nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz.
Die Gesichtszüge des Mannes, dessen Namen Oras nicht einmal wusste, noch dass sie ihn interessierten, waren aufgrund der offenen Gewaltdarstellung für eine Sekunde entgleist, doch schnell hatte er sich wieder gefasst, begriffen und ein Grinsen umspielte seinen Mund.
„Nun gut, Miss A. Morgen, 8 Uhr. Ich werde am vereinbarten Ort warten. Ich erwarte ihren Unterhändler. Die vereinbarte Summe wird ihnen in Bar ausgehändigt.“
„Ja, 7 Millionen Pokédollar, wie ausgemacht. Wir werden morgen auf sie zu treten, am von ihnen festgelegten Ort. Alles wird wie zu den vereinbarten Modalitäten geschehen. Ich hoffe, damit ist alles zu ihrer Zufriedenheit geklärt.“ Sie schenkte ihm ein einladendes Lächeln. Geld brachte sie immer zum lächeln.
Ohne weitere Worte beendete der Kunde das Gespräch, der Bildschirm wurde schwarz.
„Du kannst dieses Vieh nun wieder in seinen Ball sperren.“ Seufzend erhob sie sich von ihrem Stuhl. Ihrer Stimme war deutlich die Entnervtheit anzuhören, die die von Lylas vorhin erwähnten, stakkatoartigen Anrufe in ihr hervorgerufen hatten. Auch Geremy, der die ganze Zeit schweigend auf einer gepolsterten, bordeauxfarbenen Couch im Hintergrund gesessen hatte, erhob sich. In einem roten Lichtblitz verschwand das Unlicht-Pokémon wieder in seinem Ball.
„Du kannst das Absol gleich mir geben, in ein paar Stunden ist es ja schon so weit. Du hättest dich ruhig ein wenig mehr beeilen können, dann hätten wir uns nicht so lange mit diesem Weichei rumschlagen müssen.“ Die Aussicht, in wenig mehr als sechs Stunden bereits fast 250 Kilometer entfernt am Treffpunkt zu sein schien ihn nicht gerade zu begeistern. Doch andererseits war das eine seiner am wenigsten anfordernden Aufgaben, die er für ihre kleine Gruppe erfüllte.
„Hey, nicht umsonst heißen diese hässlichen Dinger auch Desaster-Pokémon. Und wenn ich dich erinnern darf, das hast du mir heute Morgen doch selbst erzählt.“ Oras warf ihm den Pokéball zu.
Lylas begann zu lachen: „Desaster-Pokémon? Hat ihm ja wohl nicht viel gebracht, als du über es hergefallen bist.“
„Nein, in der Tat nicht,“ stimmte ihr Aimée zu.
Mit einem überheblichen Grinsen wandte sich Oras der Tür zu und Geremy gab ein belustigtes Schnauben von sich, als er ihm folgte.