Zum Inhalt der Seite

Auf den zweiten Blick

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Brücke

Am nächsten Morgen wachte Luca mit Kopfschmerzen und verstopfter Nase auf. Er warf schnell einen Blick auf die Uhr, um festzustellen, dass Jochen und seine Mutter wohl noch schliefen. Wenn er leise war, konnte er sich vielleicht ein oder zwei Aspirin aus der Hausapotheke stehlen. Die brauchte er dringend. Zum Glück hatte er den Bus gestern noch erwischt, auch wenn er die ganze Stecke rennen musste und der Bus schon an der Haltestelle stand, als er diese erreichte. Der nette Busfahrer hatte extra für ihn die Tür noch einmal geöffnet, und ihn hineingelassen.

Luca zog sich an. Diesmal genügte die dünne Trainingsjacke wohl nicht, weswegen er noch eine Strickjacke drüber zog. Außerdem packte er sich Wechselsachen ein, sicher war sicher.

Die Küche war leer, wie erwartet. Leise schlich er zum Eckschrank, in welchem seine Mutter die Medikamente aufbewahrte, öffnete ihn und nahm sich eine Packung Aspirin, als er seine Mutter im Flur fröhlich summen hörte.

Sofort schloss er den Schrank wieder und ließ die Tabletten in seiner Hosentasche verschwinden. Hoffentlich vermisste sie keiner, bevor er sie wieder zurücklegen konnte. Dann nahm er seine Trinkflasche und füllte sie mit Leitungswasser.

Das war es auch, was seine Mutter sah, als sie die Küche betrat.

„Mach nicht so laut", mahnte sie ihn, „Jochen schläft noch. Er hat gestern bis spät in die Nacht hinein gearbeitet."

Er war wohl eher saufen gewesen, aber das erwähnte Luca nicht. Es würde nichts bringen. Was Jochen betraf, war seine Mutter blind.

Er schaute erneut auf die Uhr. Bis sein Bus fuhr hatte er noch eine gute Dreiviertelstunde Zeit.

„Weißt du, Jochen bemüht sich wirklich, dir ein guter Vater zu sein", fuhr Sonja fort.

„Er ist nicht mein Vater", schoss es Luca aus dem Mund, bevor er die Chance hatte, nachzudenken, weshalb er schnell das Thema wechselte.„Erzähl mir lieber von meinem richtigen Vater."

„Jochen ist dein Vater", sagte Sonja mit ernster Stimme.

Luca seufzte. „Ich meine den Mann, der mich gezeugt hat, nicht den, den du geheiratet hast."

Sonjas Gesicht verfinsterte sich. „Er will nichts von dir wissen", antwortete sie kalt.

Gern hätte Luca noch weiter nachgebohrt, um an einen Namen zu kommen, doch als er die Schlafzimmertür hörte, schnappte er sich seine Sachen und floh aus dem Haus. Wenn Jochen einen Kater hatte, war er doppelt unerträglich. Da wollte er ihm auf keinen Fall über den Weg laufen. Erst nach einem starken Kaffee und zwei Aspirin wurde er wieder erträglicher. Luca fasste in seine Hosentasche. Scheiße! Hoffentlich hatte seine Mutter noch einen Pack zu Hause. Ansonsten würde er den Abend nicht überleben.

Wie fast jeden Morgen holte er sich ein Brötchen vom Bäcker, er hatte seiner Mutter gestern noch 2€ aus der Geldbörse entwendet, was sie aber nicht bemerkt zu haben schien. Aber er nahm ja auch keine großen Beträge, sondern nur so viel, dass er über die Runden kam.

In der Turnhalle begann wieder der übliche Zirkus, doch diesmal ließen sie ihn in die Umkleide. Nicholas hatte sich letzte Woche gehörig Respekt bei seinen Klassenkameraden verschafft und wenn er in der Nähe war, wagte es keiner mehr, Luca als Schwuchtel, Schwulette oder ähnliches zu beschimpfen. Alles, was mit seiner sexuellen Ausrichtung, ja er stand auf Männer, zu tun hatte, wurde nicht erwähnt, so lange Nicholas in der Nähe war.

Erschöpft ließ sich Luca nach den Aufwärmübungen auf die Bank fallen. Ihm war schwindlig und er fürchtete, wenn er noch weiter mitmachen musste, würde er ohnmächtig werden. Alles um ihn herum drehte sich.

Das schien auch dem Sportlehrer aufgefallen zu sein. Neumann, ein junger Mann mit kurzen, braunen Locken, kam auf ihn zu und setzte sich neben ihm auf die Bank. „Geht es Ihnen nicht gut?", fragte der Lehrer.

„Schwindlig", antwortete Luca ihm, ohne nachzudenken. Denken strengte an und er hatte keine Kraft mehr.

Neumann legte ihm die Hand auf die Stirn. „Sie glühen ja", stellte er fest.

Irgendwie mochte Luca den jungen Mann. Er war anders als die anderen Lehrer, machte keinen Bogen um ihn.

„Sie gehen besser nach Hause", meinte Neumann, „Kann Sie jemand abholen?"

„Keiner zu Hause", log Luca. Seine Mutter war zwar da, aber sie würde ihn nicht abholen, egal wie dreckig es ihm ging.

Neumann seufzte. „Schaffen Sie es mit dem Bus? Eigentlich darf ich das nicht, aber ihnen scheint es wirklich nicht gut zu gehen."

Luca nickte. Das würde schon irgendwie funktionieren.

Neumann brachte ihn noch in die Umkleide, wo er sich unter einigen Schwierigkeiten umzog. Dann lief er langsam, sich an der Wand abstützend zum Ausgang, als er plötzlich gegen einen warmen Körper lief.

Der Sechzehnjährige verlor das Gleichgewicht und wäre umgefallen, hätte sein Gegenüber ihn nicht an den Schultern gepackt und gegen die Wand gedrückt. Überrascht sah Luca auf und blickte in das emotionslose Gesicht von Nicholas.

Dieser musterte ihn kurz, ehe er Lucas Stirn fühlte. „Du bist wirklich krank", stellte er leise fest, „Neumann hat mich gebeten, dich zur Bushaltestelle zu bringen", erklärte er danach.

Nicholas schlüpfte schnell in seine Straßenschuhe, die Sportkleidung ließ er an, ehe er Luca dessen Gepäck abnahm und mit ihm gemeinsam die Turmhalle verließ. „Wo musst du hin?"

Luca zeigte ihm die Richtung. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Erst wenige Meter vor der Haltestelle brach Nicholas das Schweigen: „Bist du wegen gestern krank?"

Luca blieb stehen und sah ihn verwundert an.

„Du hast gestern den ganzen Tag mit nassen Klamotten im Unterricht gesessen", fuhr Nicholas mit neutraler Stimme fort.

Luca nickte. Es abzustreiten machte keinen Sinn.

„Warum wehrst du dich nicht endlich gegen sie?", wollte Nicholas wissen, „Wenn du sie weiterhin gewähren lässt, werden sie noch wer weiß was mit dir anstellen. Willst du das?"

Luca schüttelte seinen Kopf. „Sie sind zu viert", flüsterte er, „Ich kann nichts gegen sie ausrichten."

„Dann geh zu einem Lehrer! Oder rede mit deinen Eltern!", verlangte Nicholas.

„Als ob das etwas bringen würde. Die interessiert das einen Scheißdreck!"

Nicholas packte ihn am Kragen und stieß ihn gegen das Haltestellenschild. Luca zuckte zusammen, was der Schwarzhaarige ignorierte. „Jetzt hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden! Wie lange will du noch das Opfer spielen? Wach endlich auf und tu etwas!"

Was denn, hätte Luca ihn am liebsten an den Kopf geworfen, doch sagte nichts. Stumm schüttelte er seinen Kopf.

Nicholas schnaubte. „Genau aus diesem Grund hasse ich Leute wie dich. Nichts bekommt ihr auf die Reihe! Ständig heult ihr rum, wie schlecht es euch doch geht, aber ihr ergreift trotzdem nicht die Initiative! Hoffst du darauf, dass irgendwann jemand Mitleid mit die bekommt und dich rettet? Du bist einfach nur erbärmlich!" Mit diesen Worten warf er Luca dessen Taschen vor die Füße, drehte sich um und lief zurück zur Turnhalle.

„Es tut mir leid", flüsterte Luca, in dessen Augen inzwischen Tränen standen. Er verstand Nicholas nicht. Mal half er ihm und mal machte er ihn herunter. Was wollte der Schwarzhaarige von ihm?

Als der Bus eintrudelte, stieg er ein, allerdings fuhr er nicht nach Hause. Jochen war sicher noch da. Deshalb stieg Luca eine Haltestelle früher aus und schlenderte durch die Stadt. Auf einer Brücke blieb er stehen. Er beugte sich über das Geländer und sah nach unten. Das Wasser war tief, die Strömung dagegen nicht besonders stark, das wusste er. Ein guter Schwimmer konnte den Fluss ohne große Probleme überqueren. Aber Luca konnte nicht schwimmen, er hatte es nie gelernt.

Fasziniert betrachtete er das Wasser. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihn jemand entdeckte? Ob er inzwischen ertrunken wäre? Er beugte sich weiter über das Geländer. Was wohl passierte, wenn er jetzt sprang? Vermissen würde ihn keiner. Seine Mutter und Jochen würden wahrscheinlich sogar feiern, ihn endlich losgeworden zu sein. Er beugte sich noch ein Stück weiter über das Geländer. Ertrinken sei schmerzhaft, das hatte er zumindest gehört. Er hatte Angst vor Schmerzen.

Schluchzend ließ Luca sich auf die Knie sinken. Sogar zum Selbstmord war er zu feige. Nicholas hatte Recht, er war erbärmlich.

Es dauerte lange, bis er die Kraft fand, wieder aufzustehen und nach Hause zu gehen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  mizzan
2014-01-07T18:55:07+00:00 07.01.2014 19:55
Kein Wunder, dass Luca krank wird. Wäre wohl jeder geworden. Aber dass er mit Selbstmordgedanken spielt... Hoffentlich tut er sich nichts an.
Antwort von:  Seira-sempai
07.01.2014 20:08
Noch trat er sich ja nicht. Mal sehen, wie lange das noch so bleibt...
Von:  chrono87
2013-12-03T09:52:32+00:00 03.12.2013 10:52
Ha, wie ich vermutet habe. Er ist krank geworden und es macht sich in seinen Leistungen bemerkbar! Zum Glück ist der Sportlehrer sozial und kümmert sich um seine Schüler. Ich wünschte alle wären so. Dass er aber Nicholas als Begleiter ausgesucht hat, war schon überraschend. Nun, aber Nicholas hätte ruhig mehr Taktgefühl aufbringen können. Aber was verlangt man von einem Eisklotz? Er hat mit seinen Worten Luca sicher den Rest gegeben, auch wenn dieser selbst einsieht, dass er feige ist.
Antwort von:  Seira-sempai
04.12.2013 14:43
Hey^^
Ja, der Sportlehrer ist sozial. Er wird auch noch später eingreifen, wenn das Mobbing in seinem Unterricht passiert. Aber da er die ganze Zeit über in der Turnhalle ist, immerhin ist er Sportlehrer, kann er nicht beeinflussen.
Warum er Nicholas hinherherschickt, ist einfach. Neumann und Nicholas kennen sich nämlich und Neumann weiß, dass Nicholas nicht zu den Leuten gehört, die Luca mobben. Aber das kommt alles noch.
Seira


Zurück