Der neue Mathelehrer
Am Montag ging Luca wieder in die Schule. Er war zwar noch nicht ganz gesund, wollte aber nicht noch länger zu Hause bleiben. Das ganze Wochenende hatte seine Mutter ihm vorgehalten, wie nutzlos er doch sei und dass er sich wegen einer kleinen Erkältung nicht so haben solle. Aber die Packung Aspirin, die immer noch in seine Hosentasche steckte, hatte sie nicht vermisst. Sie hatte wohl noch eine auf Reserve gehabt.
Er ließ sich auf seinen Platz fallen, den er heute relativ unbeschadet erreicht hatte. Aus irgendeinem Grund hatte Thomas' Gang sich entschlossen, ihm heute nur mit den Üblichen Beschimpfungen zu begrüßen. Handgreiflich waren sie nicht geworden.
Es klingelte und er staunte nicht schlecht, als Neumann, ihr Sportlehrer, das Zimmer vertrat. Der Mann stellte sich vor die Klasse. „Da wir uns schon kenne, können wir gleich beginnen. Ich bin bis auf Weiteres die Vertretung für Ihren ursprünglichen Mathelehrer. Da sich auf die Schnelle niemand anders gefunden hat, der Sie unterrichten kann und Ihr neuer Lehrer erst nach Weihnachten Zeit hat, werde ich bis dahin übernehmen. Keine Angst, ich habe neben Sport auch Mathe und Physik studiert, es nur die letzten Jahre nicht unterrichtet, aber das kommt schon wieder", scherzte er zum Schluss.
Einige aus der Klasse lachten höflich, aber der Großteil schaute ihn immer noch verwirrt an.
Doch Neumann ließ sich davon nicht weiter stören und begann mit dem Unterricht. Dafür, dass er Mathe lange nicht mehr unterrichtet hatte, machte er sich erstaunlich gut. Luca hatte keinerlei Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen und schrieb fleißig mit. Auch schaffte der Lehrer es irgendwie Thomas, Leonie, Martin und Jan zu beschäftigen, wofür ihm Luca sehr dankbar war.
Nach der ersten Unterrichtsstunde bat er Luca, ihn nach draußen zu begleiten.
„Geht es Ihnen wieder besser?", fragte Neumann.
„Ich bin wieder gesund", antwortete Luca. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber war glaubhaft genug, dass sein Lehrer nicht weiter nachfragen würde.
„Das freut mich zu hören", fuhr Neumann fort, „Ihnen schien es wirklich schlecht zu gehen. Deshalb habe ich Nicholas hinterhergeschickt. Hat er sich ordentlich um Sie gekümmert?"
Luca nickte. „Er hat meine Sachen getragen und mich zur Bushaltestelle gebracht."
Neumann lachte. „Das freut mich zu hören. Wissen Sie, Nicholas kann manchmal etwas schwierig sein. Aber Sie scheint er zu mögen."
Luca horchte auf. Nett? Wovon redete Neumann da? Mögen? Nicholas hatte ihm letzte Woche mehr als deutlich gesagt, was er von ihm hielt. Wie kam der Mann auf die abwegige Idee, dass Nicholas ihn mögen könnte.
„Dann will ich Sie mal nicht weiter stören", beendete Neumann das kurze Gespräch.
Luca trat zurück ins Zimmer und hätte es am liebsten sofort wieder verlassen. Seine Sachen lagen auf dem Boden. Während seiner Abwesenheit hatte jemand seine Schultasche und sein Federkästchen ausgeschüttet und den Inhalt am Boden verteilt. Der Sechzehnjährige schluckte. Bloß nichts anmerken lassen. Am besten er klaubte das Zeug schnell und ohne großes Drama wieder ein. Wenn die anderen glaubten, dass es ihn nicht störte, hörten sie vielleicht damit auf.
„Hey du kleiner Spinner", Leonie trat auf den Hefter, den er gerade aufheben wollte, „hast du zufällig etwas verloren?" Sie nippte an ihrem Kaffee und betrachtete ihn abschätzend von oben herab.
Hinter ihr lachten Martin und Jan.
„Was kniest du denn hier so am Boden?", spottete Thomas, „Hast du endlich kapiert, wo du hingehörst?" Er trat Luca in die Seite.
Luca biss sich auf die Unterlippe, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben und versuchte, die vier zu ignorieren.
Das schien Thomas jedoch nicht zu gefallen. Er trat erneut nach ihm, diesmal kräftiger. „Hey! Ich rede mit dir!", bellte er.
Luca erhob sich und brachte die Schulsachen, die er bis jetzt eingesammelt hatte, an seinen Platz. Um den Rest würde er sich später kümmern, sobald die vier ihm nicht mehr den Weg versperrten.
Doch sie gingen nicht zur Seite. Bald würde die nächste Stunde beginnen und Luca brauchte seine Sachen. Er wollte nicht, dass Neumann sah, wie er behandelt wurde. Der Lehrer war die ganze Zeit nett zu ihm gewesen, hatte ihn behandelt, wie jeden anderen Schüler auch. Das würde vorbei sein, wenn er hiervon erfuhr. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu Fynn, dem Klassensprechen, doch dieser sah sofort weg, tat, als würde er Luca nicht bemerken.
Luca schluckte, ehe er seinen Blick ebenfalls abwandte und auf den Boden starrte. So war es immer. Noch nie hatte ihm jemand geholfen. Aber warum tat es dann jedes Mal so weh? Wieder kamen ihm die Tränen. Verzweifelt kämpfte er gegen sie an. Es gelang ihm nicht. Leise schluchzte er.
„Guck mal, jetzt fängt er an zu heulen!" Thomas spazierte auf seine Bank zu und wischte mit dem Arm die eben aufgehobenen Bücher wieder vom Tisch.
Luca zuckte erschrocken zusammen, als er den anderen erblickte, tat aber nichts.
Die anderen lachten, auch diejenigen, die nicht zu Thomas' Gang gehörten.
„Soll ich deine Mama anrufen, damit sie dich trösten kann, du Heulsuse?", höhnte Leonie während sie sich ihre Platinblonden Haare aus dem Gesicht strich.
„Verschwinde von hier", fuhr Thomas ihn an, „Ich kann deine hässliche Visage nicht mehr ertragen." Er holte aus und schlug Luca mit der flachen Hand ins Gesicht.
Luca wurde immer kleiner auf seinem Stuhl.
„Sag mal, sind wie hier im Kindergarten?", hörte er plötzlich Rebeckas aufgebrachte Stimme. Wütend erhob sie sich, klaubte Lucas Schulsachen auf und knallte sie vor dem Sechzehnjährigen auf den Tisch.
„Holst du dir jetzt schon ein Mädchen als Bodyguard", spottete Martin.
„Bist dir selbst wohl noch nicht Mädchen genug. Wenn ich in deinem Körper stecken müsste, würde ich wahrscheinlich auch auf Kerle stehen." Thomas fuhr mit einer Hand Lucas sein Haar.
„Du hast Recht, mit den Haaren sieht er wirklich wie ein Mädchen aus. Aber das lässt sich vielleicht beheben." Mit diesen Worten schüttete sie ihm ihren Kaffee über den Kopf.
Es brannte, als die heiße Flüssigkeit ihm über das Gesicht lief.
„Jetzt sieht er aus wie ein begossener Pudel", meinte Jan. Der Rest der Gang lachte.
Das war zu viel für Luca. Er griff nach den Büchern, stopfte sie in seine Tasche und rannte aus dem Zimmer. Im Flur blieb er stehen und überlegte kurz, auf die Toilette zu gehen. Doch dann fiel ihm wieder ein, was dort passiert war. Er verließ die Schule über den Hinterausgang und rannte los. Keine Sekunde länger wollte er hier bleiben.
Auf dem Heimweg kam er wieder an der Brücke vorbei, an der er schon letzte Woche gestanden hatte. Wie das letzte Mal lehnte er sich auf das Geländer und sah hinunter auf das Wasser.
Er wollte dieses Leben nicht weiterleben. Er wollte, dass es aufhörte. Doch er war zu schwach, konnte sich nicht wehren, weder gegen Jochen noch gegen Thomas' Gang. War es sein Leben überhaupt noch wert, gelebt zu werden? Wäre es nicht leichter, wenn er aufgab. Es gab nichts, was ihn hier hielt. Er hatte keine Freunde, keine Familie. Nicht eine Person sorgte sich um ihn.
Ob auf seiner Beerdigung wohl jemand anwesend war?
Er verließ sie Brücke und stieg neben ihr zum Fluss hinunter, um sich den Kaffee aus Haaren und Gesicht zu waschen. Er trocknete sich mit seiner schwarzen Trainingsjacke ab.
Jetzt sah er wieder einigermaßen passabel aus. Er beschloss, noch einmal auf den Spielplatz zu gehen und dort abzuwarten, bis die Schule offiziell vorbei war. Wenn er zu früh nach Hause kam, würde Jochen ihn nur wieder schlagen. Seine blauen Flecke waren gerade dabei, zu verheilen.
„Pass doch auf!", rief eine Frau mittleren Alters, als er sie anrempelte und ihre Einkäufe auf dem Gehweg landeten.
Sofort hockte Luca sich hin und half ihr, ihre Sachen wieder einzusammeln, bis seine Finger an einer Packung Schlaftabletten hängen blieben. Unauffällig steckte er sie in die Tasche seiner Trainingsjacke, den Rest reichte er der Frau, die sich mit keinem Wort bei ihm bedankte und ihren Weg fortsetzte. Sie bemerkte nicht, dass die Tabletten fehlten.
Lucas Finger schlossen sich um die kleine Schachtel. Damit müsste es gehen.
Am Dienstag erschien er nicht in der Schule.