Der Montag danach
Wie erwartet, schloss Jochen die Tür am Montag nicht auf. Luca hörte, wie er gemeinsam mit seiner Mutter das Schlafzimmer verließ, um in der Küche zu frühstücken. An ihn dachte keiner. Also schnappte er sich seine Sachen, zum Glück war es Sommer, sonst wäre ihm ohne Jacke kalt geworden, und öffnete das Fenster. Er steckte noch schnell die Aspirin ein und zog sich noch einen dünnen Pullover über das T-Shirt, damit keiner seine blauen Flecke sah. Dann warf er seine Schulsachen aus dem Fenster. Er kletterte hinterher, setzte sich auf den Fensterstock und ließ sich fallen, bis er sich nur noch mit den Händen festhielt. So war der Sprung nicht so hoch. Er lehnte das Fenster an, damit Jochen nicht bemerkte, dass er es zur Flucht verwendet hatte. Sonst würde er es womöglich noch vergittern und das konnte Luca wirklich nicht gebrauchen.
Trotzdem tat ihm alles weh, als er auf dem weichen Rasen landete. Er schnitt eine Grimasse, bevor er sich schnell seine Schultasche schnappte und so schnell er konnte das Grundstück verließ.
Er holte sich vom Bäcker sein übliches Brötchen und zusätzlich noch eins zum gleich essen. Er hatte Hunger, was auch verständlich war, immerhin hatte er bis auf die Reste seines Pausenbrotes das ganze Wochenende nichts zwischen die Zähne bekommen. Die Trinkflasche würde er erst in der Schule auffüllen können. Dann konnte er auch endlich die Aspirin nehmen.
Während er sein Brötchen aß, wartete er wie jeden Morgen auf seinen Bus. Dieser errichte mit zwei Minuten Verspätung die Haltestelle.
Auf dem Schulgelände angekommen, nahm er den kürzesten Weg in sein Klassenzimmer. Weit kam er allerdings nicht, da Thomas und dessen Gang ihm den Weg versperrten. Eigentlich hatte er gedacht, dass sie durch Nicholas' Eingreifen eingeschüchtert waren und ihn zumindest für eine Weile in Ruhe ließen. Aber da hatte er sich wohl geirrt.
Thomas ging einige Schritte auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen. Er legte eine Hand ans Kinn und tat, als würde er überlegen. „Du siehst scheiße aus, hat dich jemand verprügelt?", höhnte er.
Hinter ihm lachten Jan und Martin.
Leonie kicherte. „Ich frage mich, wie dein Vater auf das Foto reagiert hat, dass wir so schön für ihn platziert haben. Hat er es gefunden?"
Luca erstarrte. Sie hatten Jochen das Foto zukommen lassen? Das erklärte, wo er es her hatte. Aber woher wussten sie, wo sie Jochem antrafen?"
„Wir gehen seit Sechs Jahren in dieselbe Klasse", spottete Leonie auf seinen verwirrten Blick hin, „Glaubst du nicht, da erfährt man das ein oder andere über seine Mitschüler?"
Luca wollte an ihnen vorbeigehen, doch als er auf gleicher Höhe war wie Jan, stellte dieser ihm das Bein. Der Blonde fiel hin. Er biss sich auf die Lippe, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Ihm tat alles weh! Doch er ließ sich nichts anmerken. Es gelang ihm sogar, die Tränen zu unterdrücken, bis er es ins Schulgebäude geschafft hatte. Überraschenderweise wurde er nicht verfolgt.
Doch Luca traute dem Frieden nicht, weswegen er zügig zu seinem Klassenzimmer lief. Als er die Tür öffnete, stellte er fest, dass Nicholas und René bereits anwesend waren.
„Morgen", grüßte Luca die Beiden und ging auf die beiden zu.
René nickte ihm kurz zu, von Nicholas kam keine Reaktion. Er sah ihn noch nicht einmal an.
Luca hielt inne, ehe er sein Ziel änderte und zum Waschbecken ging, wo er seine Trinkflasche auffüllte. Danach ließ er sich auf seinen Platz fallen.
Nicholas wollte wohl nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das schmerzte, Luca hatte angefangen, den Schwarzhaarigen zu mögen, bestätigte aber seine Vermutung: Nicholas hatte nur Mitleid mit ihm gehabt.
Er drückte zwei Aspirin aus der Packung und schluckte sie mit etwas Wasser. Renés verwunderten Blick ignorierend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und wartete, dass die Tabletten anschlugen.
Das Zimmer füllte sich. René wurde wie jeden Morgen von Rebecka mit einem Kuss begrüßt und als es klingelte, betrat Neumann das Zimmer.
„Heute machen wir eine Gruppenarbeit", verkündete er grinsend, worauf einige der Schüler begannen, zu jubeln, „Findet euch bitte zu fünf Gruppen mit jeweils fünf Personen zusammen. Es geht nicht ganz auf, deshalb werden in einer Gruppe sechs Personen sein."
Luca starrte auf die Bank. Er hasste Gruppenarbeiten. Nie wollte jemand mit ihm arbeiten. Immer blieb er zum Schluss noch übrig, so auch heute. Die Gruppen hatten sich recht schnell gefunden und platzierten sich jetzt um einige Tische herum, aber keiner sprach ihn an und Luca traute sich nicht, die anderen anzusprechen.
Nervös faltete er seine Hände ineinander und ließ seinen Blick kurz durch die Klasse schweifen, ehe er zurück auf den Tisch starrte.
„Das kann ja keiner mit ansehen", schnaubte Nicholas. Er stand auf, ging auf Luca zu, packte ihn am Oberarm und zog ihn auf die Beine.
Um ein Haar wäre Luca zusammengezuckt oder hätte sich durch einen Schmerzenslaut verraten, es gelang ihm nur knapp, sich nichts anmerken zu lassen.
Nicholas nahm seine Sachen und drückte sie Luca in die Arme, dann warf er sich die Schultasche des Blonden über die Schulter. „Mitkommen!"
Luca wagte nicht, ihm zu widersprechen, weswegen er ihm stumm folgte. Nicholas lief zurück zu seinem Platz, wo René inzwischen gemeinsam mit den Zwillingen die Tische aneinandergeschoben hatte. Rebecka stellte gerade die Stühle wieder an die Tische.
Nicholas drückte Luca auf einen der Stühle, woraufhin sich der Sechzehnjährige setzte.
Neumann ging durch die Klasse und teilte die Aufgaben aus. „Hier ist euer Thema." Er reichte ihnen einige zusammengeheftete Blätter.
Florian nahm diese entgegen und schnitt sofort eine Grimasse. „Quadratische Funktionen", erklärte er, woraufhin sein Bruder und Rebecka stöhnten.
„Ich bin darin auch nicht sonderlich gut", erklärte René, „Meine Stärken liegen eher in Sport und Informatik." Er nahm die Blätter entgegen und überflog sie kurz. „Ich kann über die Hälfte der Aufgaben nicht lösen", erklärte er nüchtern, ehe er sich an Nicholas wandte.
„Schau mich nicht so an", entgegnete dieser trocken, „Du bist in Mathe besser als ich."
„Wir sind geliefert", stellte Florian fest.
Es folgte ein synchrones aufseufzen.
„K- Kann ich mir die Aufgaben ansehen?", fragte Luca nach einer Weile schüchtern. Er war in Mathe bis jetzt immer gut gewesen. Es hatte zwar nie für eine Eins gereicht, aber er war mit seiner Zwei auch ganz zufrieden gewesen.
Nicholas reichte ihm die Zettel.
Luca blätterte sie kurz durch. Es waren nur Dinge gefragt, die er bereits behandelt hatte und die er demzufolge beherrschte. „Das ist doch ganz einfach", sprach er aus, was er dachte.
Daraufhin starrten ihn vier Augenpaare, Nicholas sah aus dem Fenster, geschockt an. Er hätte das wohl lieber nicht sagen sollen.
„Du kannst das?", hakte Rebecka nach.
Luca nickte, nicht sicher, was er erwidern sollte.
„Sieht aus, als wären wir doch nicht so geliefert", meinte René.
Die Zwillinge nickten, ehe sie Luca je auf eine Schulter klopften. „Unsere Rettung."
Luca war die ganze Aufmerksamkeit unangenehm. Er konnte nicht damit umgehen, hatte es nie gelernt. Um sich abzulenken, nahm er seinen Block und einen Stift und begann, die erste Aufgabe zu rechnen, ohne Taschenrechner. Die anderen schauten ihm dabei zu.
„Kannst du mir das nochmal erklären?", fragte Rebecka als er fertig war und deutete auf den mittleren Teil seiner Rechnung.
Luca zwang sich zu einem Lächeln. „Also das ist ganz einfach, du musst nur..."
Während er Rebecka die Aufgabe erklärte, schrieben die anderen sie von ihm ab. So verfuhren sie auch mit den anderen Aufgaben. Je schwieriger die Aufgaben wurden, desto mehr Fragen stellte Rebecka und nach einer Weile schaltete sich auch René in das Gespräch mit ein.
Die Aufregung und das Unwohlsein ließen langsam von Luca ab und er begann, sich in der Gruppe wohlzufühlen.
Als es nach der zweiten Stunde klingelte, hatten sie Dreiviertel der Aufgaben geschafft.
„Erledigen Sie bitte den Rest der Aufgaben zu Hause", rief Neumann noch, bevor die ersten Schüler das Zimmer verließen.
Die Zwillinge warfen ihm böse Blicke zu, meinten dann aber zur Gruppe: „Gehen wir nach der Schule zu uns? Wir wohnen nur zwei Straßen weiter."