Bei den Zwillingen
Der Rest des Tages verlief verhältnismäßig ruhig. Thomas' Gang schien eine neue Beschäftigung gefunden zu haben, denn sie ließen Luca weitestgehend in Ruhe. Nur ein paar dumme Sprüche musste er sich von ihnen anhören, aber damit konnte er leben. Er war es nicht anders gewohnt.
Er hatte beschlossen, nach der Schule mit zu den Zwillingen zu gehen und die Aufgaben zu beenden. Wenn er nach der Schule seine Mutter anrief, würde sie es Jochen vielleicht ausrichten und dieser würde nicht zu sauer sein. Sein Handy konnte er dazu nicht verwenden. Dazu müsste er erst die Karte wieder aufladen, weil er sein gesamtes Guthaben verbraucht hatte, was er vielleicht mal tun sollte. Jetzt hatte er immerhin wieder Geld.
Andererseits wäre es vielleicht sinnvoller, das Geld zu sparen. Er war sich sicher, es kam der Augenblick, an dem er sich wünschte, das Geld nicht ausgegeben zu haben. Also beschloss er, mit dem Aufladen noch etwas zu warten. Er hatte eh niemanden, den er anrufen konnte.
Die Zwillinge warteten auf dem Schulhof auf den Rest der Gruppe. Geschlossen ging die Gruppe zum Haus der beiden, sie wohnten wirklich nicht weit von der Schule entfernt. Luca betrachtete die Doppelhaushälfte und den gepflegten Vorgarten mit den vielen Blumenbeeten, die bestimmt eine Menge Arbeit machten. Hier schien jemand einen grünen Daumen zu haben.
„Kann ich von euch aus bei mir zu Hause anrufen?", fragte Luca als sie das Haus betraten, „Ich habe kein Geld mehr auf meinem Handy."
„Natürlich", antwortete Fabian und führte ihn durch den Flur zum Festnetztelefon. „Wir sind in meinem Zimmer. Die Treppe hoch die zweite Tür links", erklärte er noch, dann ließ er Luca allein, damit dieser in Ruhe telefonieren konnte.
Luca holte noch einmal tief Luft, hoffentlich ging auch seine Mutter ans Telefon. Mit Jochen wollte er nicht sprechen. Er wählte die Nummer und hörte das gewohnte Tuten.
„Anders", erklang die Stimme seiner Mutter am anderen Ende der Leitung. Wie immer ging sie mit dem Nachnamen ran.
„Hier ist Luca", sagte der Sechzehnjährige, „Wir sind heute in Mathe mit der Gruppenarbeit nicht fertig geworden, weshalb ich noch mit zu Klassenkameraden bin, damit wir sie fertigstellen können."
„Ich werde es Jochen ausrichten." Mit diesen Worten legte seine Mutter auf.
Luca seufzte. Irgendwie war er froh, dass die anderen schon vorgegangen waren. Sonst hätten sie das Gespräch vielleicht seltsam gefunden. Schnell machte er sich auf den Weg zu Fabians Zimmer, welches er auch gleich fand.
Die anderen hatten die Aufgaben inzwischen auf dem dunkelgrünen Teppich ausgebreitet. Florian verteilte ein paar dicke Bücher, die wohl als Unterlage beim Schreiben dienen sollten. Als er Luca erblickte, winkte er ihn schnell in die Mitte der Gruppe.
Sie machten dort weiter, wo sie in der Schule aufgehört hatten. Allerdings fiel Luca auf, dass nur René, Rebecka und Nicholas sich von ihm erklären ließen, wie er auf die Lösungen kam. Die Zwillinge schrieben nur von ihm ab. Aber das konnte Luca egal sein. Wenn sie meinten, dass sie es nicht brauchten, war das nicht sein Problem.
ein wenig überraschte ihn, wie gut er mit Nicholas arbeiten konnte. Der Schwarzhaarige war zwar immer noch etwas kühl ihm gegenüber, blieb aber höflich.
Nach etwas mehr als einer Stunde hatten sie die Aufgaben endlich geschafft. Sie verglichen noch einmal die Lösungen, um sicherzustellen, dass sich keine Fehler eingeschlichen hatten, dann packten sie ihre Mathesachen weg.
„Endlich geschafft", freute sich Florian. Doch seine Freude hielt nicht lange.
Die Tür wurde aufgerissen und ein Mädchen, so um die dreizehn oder vierzehn Jahre stampfte wütend ins Zimmer. Es hatte hellbraunes Haar, das hochgesteckt war, und blaue Augen, aus denen heraus es die Zwillinge wütend anfunkelte. „Wer von euch Idioten war an meinen Schminksachen?", rief es aufgebracht.
„Dir auch einen Guten Abend Chrissie", grüßte Fabian das Mädchen, dann wandte er sich an seine Klassenkameraden, „Darf ich vorstellen: Unsere kleine Schwester, Christine."
„Lenk nicht vom Thema ab: Wer von euch beiden war an meinen Sachen?", fauchte Christine.
Florian hob beschwichtigend die Hände. „Jetzt mach mal halblang, wir haben alles wieder zurückgelegt."
Christine schnaubte: „Und dabei alles durcheinandergebracht! Wie oft muss ich es euch noch sagen? Finger weg von meinen Sachen!" Sie schien allerdings einzusehen, dass sie bei ihren Brüdern auf keinerlei Verständnis stoßen würde, weswegen sie ihnen einen letzten vernichtenden Blick zuwarf und aus dem Zimmer stolzierte. Die Tür warf sie so stark zu, dass Luca befürchtete, sie würde sie kaputt machen.
„Nett", brummte René, der, wie alle anderen auch, verdutzt auf die Tür starrte.
Fabian kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Sorry, manchmal kann Chrissie echt ein Biest sein."
„Also ich wäre auch wütend, wenn jemand einfach so meine Sachen durchwühlen würde", sagte Rebecka, woraufhin René zustimmend nickte.
„Wir haben alles wieder zurück getan, ehrlich", entgegnete Florian.
Rebecka strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht. „Trotzdem, ihr seid ohne ihre Erlaubnis an ihre Sachen gegangen. Sie hat jedes Recht, wütend zu sein."
„Zum Glück bin ich Einzelkind", stellte René nüchtern fest.
„Ich bin auch Einzelkind", meinte Rebecka, „Hätte aber gern noch Geschwister."
Die Blicke richteten sich auf Nicholas, der seufzte. „Ich habe einen älteren Bruder. Er heißt Samuel und ist 22."
„Und du?", fragte Rebecka Luca, „Hast du Geschwister?"
Der Blonde wollte gerade mit einem „Nein" antworten, als er bemerkte, dass das nur auf die Seite seiner Mutter zutraf. Es konnte gut sein, dass er einige Halbgeschwister auf der Seite seines Vaters hatte, von denen er nichts wusste. „Keine Ahnung", murmelte er leise, ärgerte sich aber sofort, als er die verwirrten Blicke der anderen sah. Warum hatte er nicht lügen oder zumindest seine Klasse halten können? Er hätte einfach nur verneinen brauchen und die Sache wäre erledigt gewesen.
„Wie meinst du das?", fragte René.
Luca senkte seinen Blick, beantwortete die Frage nicht. Hätte er doch nur nichts gesagt.
„Du wirst doch wohl wissen, ob deine Eltern noch weitere Kinder haben", vernahm er Nicholas' genervt klingende Stimme, „Auch wenn sie geschieden sind oder dein Vater tot ist, wirst du-" Nicholas brach ab, als er Lucas verletzten Blick sah.
„Ist er tot?“, fragte er leiser.
Luca schüttelte den Kopf, ehe er mit den Schultern zuckte. Er wusste es nicht.
Eine Weile war es still. Luca konnte förmlich spüren, wie die Blicke von ihm zu Nicholas wanderten. Am liebsten wäre er im Boden versunken, doch er konnte sich nicht rühren.
„Kann es sein, dass du nicht weißt, wer dein Vater ist?", brach Nicholas das Schweigen. Diesmal klang er viel ruhiger.
Ob er richtig kombiniert oder nur geraten hatte, wusste Luca nicht, wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Zögernd nickte er.
„Nichts?", hakte Florian nach.
„Nichts", flüsterte Luca, „Keine Adresse, keinen Namen, noch nicht einmal ein Foto. Es ist, als hätte er nie existiert."
„Und deine Mutter? Hat sie dir nichts über ihn erzählt?", wollte René wissen.
Luca schüttelte seinen Kopf. „Sie will nicht über ihn sprechen." Mehr sagte er dazu nicht. Er wollte nicht darüber sprechen.
Fabian öffnete den Mund, wurde allerdings von Rebecka mit einem Stoß in die Rippen zum Schweigen gebracht. „Hört auf, Luca so auszuquetschen! Ihr seht doch, dass es ihm unangenehm ist, darüber zu sprechen."
Fabian rieb sich die Seite, in die sie ihn gestoßen hatte, schwieg aber tatsächlich.
Luca warf Rebecka einen dankbaren Blick zu, den diese mit einem Lächeln erwiderte.
Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, sich über irgendwelche unwichtigen Dinge zu unterhalten, wie, wann die nächste Party stattfand. Wieder beteiligte sich Luca nicht am Gespräch, außer er wurde etwas gefragt. Doch das schien die anderen nicht zu stören. Langsam entspannte er sich wieder und die Sache mit seinem Vater geriet in den Hintergrund.
Allerdings beschloss er, dass er herausfinden würde, wer sein Vater war. Wenn seine Mutter die Wahrheit gesagt hatte, wusste sie, wer sein Vater war. Er musste es nur irgendwie aus ihr herausbekommen.
Luca wollte endlich wissen, wer sein Vater war, wo dieser lebte und warum er noch nie von ihm gehört hatte. Wollte sein Vater ihn wirklich nicht haben oder hatte seine Mutter das nur gesagt, weil sie mit Jochen einen auf glückliche Familie machen wollte. Wie viel von dem, was seine Mutter gesagt hatte, war wahr? Es gab so viel, was er wissen wollte.