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Auf den zweiten Blick

von

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Flucht

Erschrocken schnappte Thomas nach Luft. „Das ist ein schlechter Scherz“, murmelte er, „Sag, dass das nicht wahr ist!“

Wenn Luca anfangs noch befürchtet hatte, sein Mitschüler würde ihn auslachen, brauchte er sich darüber jetzt keine Gedanken zu machen. Thomas schien echt getroffen zu sein. „Es ist wahr. Was glaubst du, woher die ganzen blauen Flecken kamen? Die langen Sachen hab ich auch nicht getragen, weil mir kalt war.“

„Scheiße!“, schimpfte Thomas und schlug mit der Faust gegen die Mauer, nur um sie sich gleich darauf zu halten. „Autsch, tat das weh!“

Eine Weile war es still. Luca starrte auf seine Füße. Er begann, den Schnee mit einer seiner Krücken wegzuschieben. Ob sich sein Vater inzwischen wieder etwas beruhigt hatte. Vielleicht war es besser, wenn er erst einmal nach Hause ging und später noch mal mit ihm sprach. Sein Blick fiel auf die Bushaltestelle.

„Das erklärt einiges“, meinte Thomas, der den Blonden eindringlich ansah, „Aber wieso sagst du mir das? Soll ich mich jetzt besser fühlen? Das macht das, was ich getan habe, doch noch schlimmer!“

„Du sollst dir nicht die Schuld für alles geben“, erklärte Luca.

Thomas seufzte. „Versteh einer deine Logik...“ Dann deutete er auf die Bushaltestelle. „Was hältst du davon, wenn ich dich nach Hause bringe und du mir unterwegs erzählst, was in den letzten Wochen so passiert ist? Also das, was du erzählen willst.“

Luca nickte. Etwas besseres hatte er momentan eh nicht zu tun. Außerdem musste er seinem Klassenkameraden ja nicht alles erzählen. „Die Sache ist eskaliert. Ich hab Jochen zwischen die Beine getreten und bin abgehauen.“

„Echt jetzt?“, fragte Thomas.

Sie hatten die Haltestelle erreicht und warteten auf den nächsten Bus, der nach Plan in ein paar Minuten eintreffen musste. Bei Schnee und Glätte verspäteten sich die Linienfahrzeuge aber auch gerne mal.

„Blöd, wie ich bin, musste ich natürlich in ein Auto rennen“, fuhr Luca fort. Von dem, was dazwischen passiert war, erwähnte er nichts. „Offiziell hatte ich nur einen Autounfall.“

„Davon habe ich gehört“, entgegnete Thomas.

Des Bus hielt pünktlich an der Haltestelle. Die beiden Jungen stiegen ein und setzten sich in die hinteren Reihen, so dass sie nicht direkt nebeneinandersaßen, sondern der Gang noch zwischen ihnen war.

„Ich war ein paar Tage bewusstlos. Nicholas hat in der Zwischenzeit meinen Vater kontaktiert, der sich dann um alles gekümmert hat“, beendete der Blonde die sehr kurze Zusammenfassung.

„Nicholas wusste also davon“, überlegte Thomas, „Seit wann eigentlich?“

Luca hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er den Verdacht schon eine Weile hatte.“

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Thomas brachte Luca noch bis zur Haustür, bevor er sich von ihm verabschiedete und ebenfalls nach Hause ging. Er wohnte ebenfalls in der Nähe, allerdings ein Stück weiter weg als Nicholas, weswegen er zu Fuß ging.

Luca hängte seine Jacke an die Garderobe, zog seine Hausschuhe an und humpelte in sein Zimmer. Dort ließ er sich auf das Bett fallen und wartete, bis sein Vater zurückkam.

Eine halbe Stunde später hielt dann ein Auto vor der Einfahrt, allerdings stieg Nina aus, nicht Peter. Kurz spielte Luca mit dem Gedanken, zuerst mit ihr und dann mit seinem Vater zu sprechen, doch er verwarf ihn schnell wieder. Er kannte Ninas Meinung nicht, am Ende war sie die gleiche wie Peters und er würde dadurch nur alles noch schlimmer machen.

Der Siebzehnjährige wartete noch eine weitere Stunde, ehe das nächste Auto hielt und sein Vater ausstieg. Er beobachtete, wie Peter den Weg zum Haus lief und aus seinem Blickfeld verschwand. Luca schnappte sich seine Krücken und humpelte zur Tür, die er leise öffnete.

Schon im Flur hörte er stimmen, die sich leise unterhielten und je länger das Gespräch andauerte, desto lauter wurden sie. Er legte seine Hand auf den Griff und öffnete die Tür einen Spalt.

„... verstehe nicht, was dein Problem ist“, erklang Ninas aufgebrachte Stimme.

„Was gibt es da nicht zu verstehen?“, brauchte Peter aus, woraufhin Luca erschrocken zusammenzuckte. So wütend hatte er seinen Vater noch nie gehört. „Mein Sohn ist schwul, das ist das Problem!“

„Das steht noch nicht mit Sicherheit fest!“, erwiderte Nina hitzig, „Er könnte genauso gut bi sein!“

Der Siebzehnjährige schluckte. Er löste seine Hand von dem Griff. Das klang nicht gut. Das klang gar nicht gut. Luca bemerkte erst, dass er weinte, als es ihm immer schwerer fiel, zu atmen. Er biss sich auf die Unterlippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken.

„Das ist ja fast noch schlimmer“, schrie Peter.

„Jetzt beruhig dich mal wieder!“ Langsam schien auch Nina gereizt zu sein. „Du hast ihn angeschleppt, also mach jetzt gefälligst keinen Rückzieher!“

„Ich soll mich beruhigen? Mein Sohn ist schwul! Wenn ich das gewusst hätte-“

Leise schloss er die Tür wieder. Er hatte genug gehört. Peter wollte ihn nicht länger hier haben. Er hatte es befürchtet. Es war zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Plötzlich fühlte er sich erdrückt von den ganzen teuren Dingen. Er flüchtete in sein Zimmer, aber das half nicht wirklich. Immer noch hatte er das Gefühl, hier raus zu müssen, sonst würde er erdrückt werden. Aber Peter und Nina stritten im Flur und er konnte jetzt unmöglich an ihnen vorbei.

Sein Blick fiel auf das Fenster und den darunter liegenden Balkon. Das könnte gehen. Entschlossen öffnete er es und warf seine Krücken hinaus. Dann kletterte er hinterher, so gut er es mit dem gebrochenen Bein konnte. Es dauerte länger als er es von seinem alten Zimmer gewohnt war, allerdings gab es hier auch mehr Stockwerke. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er erschöpft und mit vor Kälte steifen Fingern den Boden. Es hatte zu schneien begonnen, wodurch seine Finger noch schneller ausgekühlt waren. Er hob seine Krücken auf und humpelte vom Grundstück. Hier hielt er es keine Sekunde länger aus.

Dicke, weiße Flocken rieselten zu Boden als er die Straße entlanglief. Er hatte so sehr gehofft, es geschafft zu haben, endlich glücklich werden zu können. Doch nun stand er wieder allein da.

Seine Füße trugen ihn zu Nicholas‘ Haus. Der Weg war nicht besonders lang, trotzdem fühlte Luca sich, als sei er ewig gegangen. Der Siebzehnjährige betrachtete die Klingel und wollte sie gerade drücken, da erinnerte er sich, was passiert war, als er das letzte Mal unangemeldet hier aufgetaucht war. Er zog seine Hand wieder zurück. Er konnte nicht die Kraft ausbringen, die er brauchte, um auf den Klingelknopf zu drücken, zu groß war die Angst, wieder von Nicholas verstoßen zu werden. Aber gehen wollte er auch nicht, er konnte eh nirgendwo hin. Also kauerte er sich vor der Tür auf den Boden zusammen, um sich etwas vor der Kälte zu schützen. Wie es jetzt wohl mit ihm weiterging?

Er bemerkte nicht, wie die Tür hinter ihm leise geöffnet wurde und Nicholas sich neben ihn hockte. Erst als der Schwarzhaarige ihm mit der Hand durch das Haar fuhr, zuckte er zusammen und schaute ihn erschrocken an.

„Lass uns reingehen“, sagte Nicholas leise, mehr nicht. Er fragte nicht, was Luca hier tat oder wieso er vor der Tür gesessen hatte. Er stellte nicht eine Frage.

Der Blonde versuchte, wieder aufzustehen, doch sein durchgefrorener Körper wollte sich nicht bewegen. Nicholas schien das zu bemerken, denn er beugte sich zu ihm herunter und hob ihn vorsichtig auf seine Arme. Die Krücken beförderte er mit einem Fußtritt in den Flur, ehe er die Tür wieder schloss. Dann trug er Luca durch das halte Haus bis in sein Zimmer, wo er ihn auf das Bett setzte.

Langsam begann er, Luca aus den nassen und an den Rändern inzwischen auch teilweise gefrorenen Klamotten zu schälen, was der Blonde widerstandslos über sich ergehen ließ. Er nahm es noch nicht einmal richtig wahr. Seine Wahrnehmung spielte verrückt. Er fühlte sich, als würde er schweben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  chrono87
2014-04-10T10:14:15+00:00 10.04.2014 12:14
Tja, so schnell kann es gehen. Vom Regen in die Traufe. Manchmal können Eltern wirklich dumm sein. Ich kann nur hoffen, dass sich Peter wieder beruhigt. Ninas Worte hatten auch einen eher abfälligen Ton. Sie hätte es auch anders ausdrücken können, so denkt Luca sicher, dass sie ihn eigentlich von Anfang an nicht im Haus haben wollte.
Ich möchte mal wissen woher Nicholas wusste, dass Luca da vor der Tür saß. Hat ihn Peter oder Nina informiert? Oder hat er einfach nur einen sechsten Sinn für Luca entwickelt?
Antwort von:  Seira-sempai
10.04.2014 21:07
Nina und Peter streiten. Da achtet man nicht auf die Wortwahl. Außerdem sind sie wohl nicht davon ausgegangen, dass Luca mithört.
Peter und Nina werden Nicholas wohl eher nicht angerufen haben. Vielleicht haben sie noch nicht einmal bemerkt, dass er nicht mehr da ist.
Von:  tenshi_90
2014-04-09T13:18:17+00:00 09.04.2014 15:18
Luca hat es echt nich leicht... Dass sein Vater so reagiert kann ich ein bisschen nachvollziehen, aber trotzdem ist es nicht in Ordnung.
Wie gut, dass er wenigstens noch Nicholas hat.
Antwort von:  Seira-sempai
10.04.2014 21:06
Die meisten Eltern reagieren so. Erst später bemerken sie ihre Fehler und entschuldigen sich.


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