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Nicht weinen sollst du, Hanako

Geschichten über Konoha
von

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Team 15, Teil zwei – Versprichst du mir, dass du kletterst?

Aus irgendeinem Grund sieht Nene keine blaue Tür, als sie aus dem Aufzug steigt. Vor ihr steht ein schlichter Tisch mit zwei Stühlen, und nach rechts geht ein Gang weiter, der nach drei verschlossenen Türen abknickt. Sie runzelt die Stirn.

„Hallo?“

Niemand antwortet, weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Vielleicht befindet sich die blaue Tür ja hinter der Biegung des Ganges. Hoffnungsvoll geht sie hinüber und hört schon beim Näherkommen die Stimme eines Mannes.

„Mamoru. Jetzt komm schon raus da.“

Neugierig geht Nene weiter und späht durch eine geöffnete Tür in den Raum, aus dem die Stimme kommt. Ein Mann in grauer Uniform, der nur ein Bein hat und sich auf eine Krücke stützt, steht vor einem Schrank und redet auf ihn ein.

„Wenn es nicht geht, geht es eben nicht.“

„Lassen Sie mich in Ruhe“, antwortet die gepresste Stimme eines Kindes.

„Ich habe Tonbo gesagt, er soll Ibiki holen. Aber er weigert sich bestimmt, mit dir zu reden, solange du in diesem dummen Schrank sitzt.“

„Wenn ich nicht auf die Akademie darf, kann ich genauso gut hier im Schrank bleiben.“

Der Mann seufzt frustriert, wendet sich ab und runzelt die Stirn, als er Nene sieht. Sein Gesicht unterhalb der Augen ist von einem Tuch verdeckt.

„Hallo. Wer sind Sie denn?“

„Shimokawa Nene! Ich bin die Praktikantin.“

„Wir haben eine Praktikantin?“, fragt der Mann irritiert.

„Ja, seit heute! Haben Sie hier irgendein Problem?“

„Allerdings“, knurrt der Mann. „Der Junge hat sich in diesem Schrank verkrochen und kommt nicht mehr heraus.“

„Oh, warum das denn nicht?“

Aus dem Schrank erklingt ein Schniefen.

„Beim Bart des Hokage“, stöhnt der Mann. „Wieso hat Ibiki mir so eine Aufgabe gegeben? Kinder und ich ... es passt einfach nicht.“

„Soll ich helfen?“, fragt Nene strahlend und tritt neben ihn. „Ich komme super mit Kindern klar! Wie heißt er? Mamoru?“

„Ja. Aber ...“

„Hallo, Mamoru!“ Sie geht vor dem Schrank in die Hocke. „Ich heiße Nene.“

„Lass mich in Ruhe“, antwortet die Stimme von drinnen.

„Warum sitzt du in einem Schrank?“

Mamoru zögert kurz. „Shintaro-san ist blöd.“

„Ach, blöd bin ich also auch noch“, knurrt Shintaro. „Steht in Ibikis Regeln nichts davon, dass man keine Erwachsenen beleidigt?“

„Ibiki-san sagt bestimmt, ich darf. Der ist nämlich gerecht.“

„Was sagt Ibiki-san?“, fragt Nene.

„Das würde mich auch interessieren“, erklingt eine grollende Stimme von der Tür her.

„Na endlich, Ibiki. Das wurde auch Zeit.“

Nene richtet sich wieder auf und dreht sich um. In der Tür stehen zwei Männer, der eine groß und mit vernarbtem Gesicht, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Der zweite bleibt einen Schritt hinter ihm, den Kopf mit Bandagen umwickelt, die sogar die Augen bedecken.

„Was ist hier das Problem?“, fragt der, der anscheinend Ibiki ist, und mustert Nene mit gerunzelter Stirn. „Wer bist du?“

„Shimokawa Nene! Ich bin die Praktikantin.“

„Wir haben keine Praktikantin“, sagt der zweite Mann misstrauisch.

„Doch! Ich habe mich bei den Codeknackern beworben.“

„Aber die sind ...“

„Und warum haben Sie mich gerufen?“, unterbricht Ibiki ihn mit einem Blick auf Shintaro, der in Richtung des Schrankes nickt.

„Mamoru sitzt da drin und schmollt.“

„Mamoru, lass diesen Unsinn. Komm sofort da raus.“

Ohne weitere Fragen wird die Tür aufgeschoben und Mamoru klettert heraus. Er trägt ein viel zu weites Hemd mit mehrfach umgekrempelten Ärmeln. Die Arme ragen dürr daraus hervor, schuppige Haut spannt sich über spitze Knochen.

„Also. Was ist das Problem?“

Mamoru zieht die Nase hoch und deutet auf Shintaro. „Der hat gesagt, ich darf nicht auf die Akademie.“

„Weil er keine Chakrakontrolle hat“, erläutert Shintaro. „Gar keine, Ibiki. Und mit seiner Produktion sieht es auch nicht so rosig aus.“

Ibiki seufzt tief. „Das wundert mich nicht im Geringsten.“

„Aber Sie haben gesagt, ich darf auf die Akademie!“, ruft Mamoru. „Sie haben es versprochen!“

„Ich habe gesagt, wenn du dich gut benimmst, werde ich es mir überlegen“, stellt Ibiki klar. „In deinem momentanen Zustand, und damit meine ich insbesondere dein Körpergewicht, würde ich dich sowieso nicht auf die Akademie lassen. Du wirst erst einmal ein bisschen kräftiger werden und dabei möglichst keine Tuberkulose bekommen. Danach sehen wir weiter.“

Mamoru beißt sich auf die Lippe, Tränen in den Augen.

„Oh, nicht weinen!“, sagt Nene und beugt sich zu ihm hinunter. „Willst du vielleicht mit zum Spielplatz kommen? Ich habe eine Schwester in deinem Alter, und wir wollen sowieso heute hin. Sie heißt Mikiko. Ihr würdet euch bestimmt gut verstehen!“

Mamoru blinzelt verwirrt.

„Endlich mal jemand, der einen realistisch durchführbaren Plan hat“, knurrt Ibiki. „Ich hasse es zwar, unterbrochen zu werden ...“

„Tut mir leid“, sagt Nene sofort. „Kommt nicht wieder vor!“

„... aber in diesem Fall werde ich das durchgehen lassen. Shimokawa Nene, nicht wahr?“

„Ja.“

„Dienstgrad und Registriernummer?“

Nene blinzelt überrumpelt. „Das wollte noch nie jemand von mir wissen.“

„Ich leite diese ANBU-Abteilung, und ich will es wissen. Also?“

„Genin. Die Nummer ist ... 012590? Irgendwas mit null-zwölf-fünfhundert, nageln Sie mich bitte nicht drauf fest.“

Sie grinst schief. Ibiki mustert sie missbilligend, nickt aber.

„Du würdest also Mamoru und Shintaro auf diesen kleinen Ausflug mitnehmen?“

„Klar!“

„Ausflug?“, fragt Mamoru, offensichtlich überfordert.

„Das wird toll“, sagt Nene. „Das Wetter ist herrlich heute!“

„Und es würde dir sicher Spaß machen, auf den Spielplatz zu gehen, oder, Mamoru?“, fragt Ibiki ernst.

„Aber ... die Akademie ...“

„Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, werden wir noch einmal über die Sache mit der Akademie reden. Vorerst gehst du da nicht hin. Heute gehst du zum Spielplatz, hast du verstanden?“

„Ja, Ibiki-san.“

„Zweite Regel?“

Zweite Regel. Du tust alles, was ich sage.“

„Ganz genau, und jetzt ab mit dir.“

Mamoru nickt, erst langsam, dann eifriger. „Ich muss nur noch meine Handschuhe holen!“

„Mach das“, sagt Nene munter und folgt ihm aus dem Raum. Shintaro wirft Ibiki einen fragenden Blick zu.

„Gehen Sie mit“, sagt Ibiki. „Ich halte Nene in jedweder Hinsicht für harmlos, aber es kann nicht schaden, wenn Sie auf die beiden achtgeben. Sie haben für heute frei.“

Shintaro zuckt die Achseln. „Wenn du meinst ...“

Er verlässt den Raum ebenfalls. Tonbo tritt respektvoll beiseite, um ihn durchzulassen, und sieht Ibiki misstrauisch an.

„Ich gebe zu, ich hätte es schon vor Jahren aufgeben sollen, zu erraten, was in dir vorgeht. Aber warum hast du das jetzt getan?“

„Warum nicht?“, fragt Ibiki, tritt auf den Gang und sieht dem ungleichen Trio nach. „Ich kenne Nene zwar nicht persönlich, aber ich habe ihre Eltern kennengelernt – sehr anständige Leute. Abgesehen davon hat Mamorus Arzt gesagt, er braucht Vitamin D, dafür muss der Junge mal raus an die Sonne. Und ich kann mich ja wohl schlecht mit einem Kind auf dem Spielplatz blicken lassen. Ich habe einen verdammten Ruf zu verlieren.“

„Das meine ich eigentlich gar nicht.“

„Was denn?“

„Warum um Hokages Willen hast du dem armen Mädchen nicht gesagt, dass wir nicht die Codeknacker sind?“

„Weil ich spontan den Eindruck hatte, dass sie viel besser zu uns passt“, sagt Ibiki leichtfertig. „Aber dass sie ihre eigene Registriernummer nicht nennen kann ... die Jugend von heute!“

Er schüttelt den Kopf, besinnt sich dann und sieht Tonbo an. „Was machen wir hier noch? Zurück an die Arbeit.“
 

*
 

„Wir sind zu früh“, stellt Nene fest, als sie den Schulhof der Akademie erreichen. „Obwohl wir mit Shintaro-san im Schlepptau verdammt lange gebraucht haben!“

Mamoru starrt sie an.

„Das war unhöflich, Nene“, sagt Shintaro und stützt sich auf seine Krücke.

„War es? Entschuldigen Sie, war nicht so gemeint.“

Bis auf einige Eltern, die wohl ebenfalls zum Abholen gekommen sind und miteinander plaudern, ist der Schulhof menschenleer. Das Akademiegebäude liegt ruhig da, einige der mit bunten Basteleien beklebten Fenster sind geöffnet. Gedämpft hört man einen Chor von hellen Kinderstimmen, der das kleine Einmaleins herunter leiert. Mamoru sieht sich mit großen Augen um.

„Es sieht genau so aus wie früher.“

„Oh, warst du früher schon mal hier?“, fragt Nene.

„Manchmal. Mein Papa hat hier gearbeitet.“

„Was, wirklich?“ Nene lacht. „Vielleicht war er einer meiner Lehrer!“

Mamoru beißt sich auf die Lippe.

„Wie heißt denn dein Vater, Mamoru?“

Er windet sich, sucht Shintaros Blick, malt mit dem Fuß Linien auf den Boden. Seine Lippen bewegen sich, aber er bringt keinen Laut hervor.

„Wie?“, fragt Nene munter. „Ich habe dich nicht verstanden.“

„Sein Vater ist vor kurzem gestorben“, raunt Shintaro ihr zu. „Er spricht nicht gerne über ihn.“

„Oh, das wusste ich nicht.“

Nene verstummt, und Mamoru wirft Shintaro einen scheuen Blick zu.

„Shintaro-san?“

„Ja?“

„Sie sind gar nicht wirklich blöd. Das war nur so gesagt.“

„Na, das freut mich aber“, sagt Shintaro trocken, bemerkt Mamorus ernsthaft geknickten Blick und seufzt. „Ist schon in Ordnung.“

Nene überlegt kurz und deutet dann auf die Schaukel. „Möchtest du schaukeln, Mamoru? Ich schubse dich an.“

Mamoru hebt den Kopf und nickt eifrig.

„Dann lauf! Wer zuerst da ist!“

Sie rennen hinüber zum Baum, und Shintaro folgt ihnen langsamer. Als er sie erreicht, hat Nene schon begonnen, Mamoru anzuschaukeln.

„Nicht so hoch, Nene. Er hat das doch schon ewig nicht mehr gemacht.“

„Ewig nicht mehr? Warum denn das?“

Shintaro schließt kurz die Augen, als ihm sein Fehler klar wird. „Er ... er hatte sonst niemanden, der mit ihm auf Spielplätze gegangen ist.“

„Dann hat er einiges aufzuholen!“, erwidert Nene. „Du hältst dich doch gut fest, Mamoru?“

„Ich fliege!“, jauchzt Mamoru, der sich an den Seilen festklammert, als ginge es um sein Leben. Jedes Mal, wenn er zurück schwingt, sieht Shintaro sein mageres, freudestrahlendes Gesicht. Er weiß nicht, ob er bei dem Anblick lachen oder weinen soll.

Mitten in Mamorus Flugerfahrung hinein klingelt die Glocke zum Schulschluss. Man hört Stimmengewirr und Stühlerücken, und nach wenigen Sekunden springt die Tür auf und die ersten Schüler stürzen in die Freiheit, Ranzen über den Rücken geworfen, fallen ihren Müttern in die Arme oder rennen gleich zum Tor. Ein kleines Mädchen löst sich aus der Gruppe und hält auf den Baum zu. Sie hat dieselben dünnen, hellbraunen Haare wie Nene, links und rechts zu zwei Zöpfen gebunden.

„Nene! Ich hab ein Bild für dich gemalt!“

Strahlend hält sie ihr das Blatt Papier hin, eine Wiese und ein Baum und einige eingezeichnete Shuriken. Nene streicht ihr über den Kopf.

„Das ist schön, Bienchen! Wir hängen es zu Hause an den Kühlschrank, ja?“

„Ja! Nene, Nene? Yuki darf doch auch mit zum Spielplatz kommen, oder?“

„Natürlich, wenn sie möchte. Mamoru, ich halte dich an, ja?“

„Ja“, sagt Mamoru, wenn auch ziemlich enttäuscht.

„Wer ist das?“, fragt Mikiko neugierig.

„Das ist Mamoru“, sagt Nene und hält die Schaukel fest, sodass er absteigen kann. „Der kommt auch mit.“

„Kommt er?“

Ein Mädchen mit schwarzem Pferdeschwanz tritt neben Mikiko, wahrscheinlich ihre Freundin Yuki. Die beiden mustern Mamoru, und Shintaro kann an ihren schockierten Mienen ablesen, dass sie das sehen, was Nene nicht sieht. Mamorus Kopf ist viel zu groß für die schmalen Schultern, seine Bewegungen sind steif. Auch wenn auf den ersten Blick nicht festzustellen ist, was mit ihm los ist, merkt man gleich, dass irgendetwas nicht stimmt.

„Mamoru ist ein neuer Freund von mir“, sagt Nene und legt ihm die Hand auf die Schulter. „Er ist nett.“

Mikiko sieht sie an, nickt und lächelt Mamoru zu. „Hallo, Mamoru! Ich bin Mikiko. Das ist Yuki.“

Shintaro seufzt leise. Es ist ein wahrer Glücksfall, dass Nene so seltsam ist.
 

*
 

„Der sieht komisch aus“, zischt Yuki in Mikikos Richtung, als sie am Spielplatz angelangt sind und ihre Schultaschen auf den Boden werfen. Mamoru hört es trotzdem.

„Der ist voll dünn. Und er trägt Handschuhe, obwohl es viel zu warm ist.“

„Ich weiß“, antwortet Mikiko schlicht. „Aber er ist ein Freund von Nene, und deswegen ist er auch mein Freund.“

„Wirklich?“, fragt Mamoru aufgeregt. Yuki starrt ihn an.

„Klar!“, sagt Mikiko.

„Ich war noch nie ein Freund von irgendjemandem.“

„Echt nicht?“

„Also ... nicht so wirklich. Ich habe mit anderen gespielt, aber ... wir waren nicht so richtig Freunde.“

„Jetzt hast du ja Nene“, sagt Mikiko. „Die ist lieb.“

Mamoru zögert. „Ja, sie ist toll. Aber sie ist ... groß.“

„Dann bin ich eben deine Freundin“, entscheidet Mikiko und greift nach seiner Hand. Es ist die rechte, die kaputte, und Mamoru fährt zusammen. Aber Mikiko scheint gar nicht zu bemerken, dass der Fäustling nur ausgestopft ist. Zumindest sagt sie nichts dazu.

„Meine Freundin bist du aber auch“, sagt Yuki trotzig.

„Ja, von euch beiden. Gehen wir?“

Mikiko greift mit der anderen Hand nach der von Yuki, und sie rennen hinüber zum Klettergerüst.
 

„Ihre Schwester ist Ihnen sehr ähnlich“, sagt Shintaro, der sich mit Nene auf eine Bank im Schatten eines Gebüschs gesetzt hat. Er streckt das linke Bein aus und verschnauft erst einmal.

„Das sagen alle“, antwortet Nene fröhlich. „Ich habe sie gut erzogen.“

„Sie scheint ein richtiges Energiebündel zu sein ... selbst für ihr Alter.“

„Ja, ist sie. Es wird Mamoru gut tun, wenn sie ihn ein bisschen aufheitert.“

Shintaro brummt irgendetwas. „Ich hoffe nur, er übernimmt sich nicht. Er ist immer noch recht kränklich.“

„Aber irgendwann muss er ja wieder gesund werden“, entscheidet Nene. „Und Bewegung an frischer Luft ist immer gut!“

Sie lehnt sich auf der Bank zurück und sieht Shintaro an. „Was sind Sie eigentlich? Also, sein Vater jedenfalls nicht, soweit ich das verstanden habe. Ein Onkel?“

„Nein. Einfach jemand, der ... ein wenig auf ihn acht gibt.“

„Was sind Sie denn von Beruf?“

„Ich bin Jounin“, antwortet Shintaro. „Das heißt, das war ich.“

„Und jetzt sind Sie es nicht mehr?“, fragt Nene munter.

Er sieht sie an, und sein Blick wandert zu seinem halben rechten Bein.

„Oh! Okay, natürlich sind Sie das nicht mehr. Sie müssen mir verzeihen, Shintaro-san. Manchmal denke ich zu wenig, bevor ich rede. Mein Bruder Shinichi sagt immer, ich habe null Einfühlungsvermögen.“

Ihr Lächeln verwirrt Shintaro. Seit seiner Rückkehr hat niemand mehr so normal mit ihm gesprochen – außer Ibiki und Tonbo, die aber nicht zählen, weil er sie vorher schon kannte. Alle anderen waren befangen, haben seine Narben angestarrt oder bewusst weggesehen, er weiß gar nicht, was schlimmer ist. Aber Nene scheint gegen all das immun zu sein. Vielleicht liegt es an dem, was sie null Einfühlungsvermögen nennt.

„Warum haben Sie kein falsches Bein?“

„Ein was?“

„Ich kenne ein paar Leute, die so etwas haben“, fährt sie fort. „Es fällt kaum auf, wenn man es nicht weiß. Eine Freundin von Mama hat nur einen Arm, und ich habe es nicht gemerkt, bis ich zwölf war!“

Shintaro runzelt die Stirn. „Ich ... ich fände es unpraktisch, denke ich. Noch sperriger als die Krücke.“

„Warum? Die Dinger bewegen sich, mit Chakra oder so. Sie als Ex-Jounin müssten das doch super hinbekommen. Und es ist ja nicht so, dass das Bein eines schönen Tages nachwächst. Einfach so!“

Nene lacht über den Gedanken, aber Shintaro kann nicht lachen. Böse sein kann er allerdings auch nicht, nicht, wenn sie noch immer einen Tonfall benutzt, als würde sie über das Wetter sprechen.

„Es ist eine Weile her, dass ich Konoha verlassen habe, und damals gab es solche ... Spielereien noch nicht. Es ist schwer zu begreifen, wie viele Dinge sich verändert haben. Ich habe einfach noch nicht darüber nachgedacht.“

Nene will etwas sagen, aber er unterbricht sie.

„Und was machen Sie von Beruf?“

Verblüfft sieht sie ihn an. „Wer, ich? Nennen Sie mich einfach Nene, bitte. Ich fühle mich sonst so furchtbar alt.“

„Wie ... du willst, Nene.“

„Also, ich bin Genin. Eigentlich müsste ich mit meinem Team langsam mal zur Chuunin-Prüfung, aber wir sind ein solcher Hühnerhaufen. Naoko liegt immer noch mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus, eine völlig banale Geschichte. Und Tatsumi ... keine Ahnung, was der so macht. Jammern, vermutlich. Das tut er meistens. Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht so versessen auf diese Prüfung. Ich wäre schon froh, wenn ich eine Art Kampfstil hätte.“

„Welches Element hast du?“

„Ach ... Wasser, glaube ich? Oder Wind?“

Shintaro zieht eine Augenbraue hoch.

„Welches haben Sie?“

„Feuer.“

„Nein, das ist es jedenfalls nicht bei mir.“ Nene zuckt die Achseln. „Aber Feuer klingt ziemlich cool. Können Sie irgendwelche Tricks? So, ein bisschen Feuer spucken oder so?“

„Ich denke nicht.“

„Sie denken nicht?“

„Ich habe es in letzter Zeit nicht mehr ausprobiert.“ Als Shintaro es sagt, fällt ihm auf, dass es stimmt. Seitdem er wieder in Konoha ist, hat er nicht einmal mehr versucht, wieder ins Training zu kommen. Warum denn auch?

„Wollen Sie es jetzt ausprobieren?“

„Jetzt? Hier?“

„Warum nicht? Oder was glauben Sie, wie groß Ihr kleiner Trick wird?“

Sie lacht hell, und er überlegt. Rein aus einer Laune heraus versucht er, die linke Hand zu bewegen. Es klappt erstaunlich gut, natürlich bleibt der Arm steif, aber die Siegel wird er wohl hinbekommen.

„Hier“, murmelt er. „In aller Öffentlichkeit.“

„Schaut doch eh keiner hin“, sagt Nene, womit sie recht hat. Die Kinder auf dem Spielplatz haben Besseres zu tun, als sie zu beachten. Shintaro holt tief Luft, löst das Tuch von seinem Stirnband und zieht es herunter. Er hat eigentlich nicht erwartet, dass Nene auf seine Narben schockiert reagiert (ist es überhaupt möglich, sie zu schockieren?), aber trotzdem macht ihr unverändert aufmunterndes Lächeln ihn froh. Er dehnt die Finger, und plötzlich sind sie schlauer als er. Die Siegel schließen sich von ganz allein, die Worte stolpern über seine Lippen.

Katon: Goukakyuu no Jutsu!

Er pustet die Luft durch den kleinen Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Die Feuerkugel ist kaum so groß wie ein Tischtennisball, aber er spürt den heißen Luftzug auf seinem Gesicht und riecht den kaum wahrnehmbaren Geruch von Schwefel. Als er Luft holt, verschwindet die Kugel, aber es bleiben ein grünliches Flimmern auf seiner Netzhaut und der Schwefel, der nach Macht riecht. Macht ist eine Droge. Er hatte vergessen, wie schön sie ist.

„Wie niedlich!“, sagt Nene.

Er lacht grimmig, zieht das Tuch wieder über sein Gesicht und befestigt es sorgfältig. „Niedlich? In meiner besten Zeit habe ich Bälle von anderthalb Metern Durchmesser geschafft. Die waren jedenfalls nicht niedlich.“

„Immerhin können Sie es noch. Besser als nichts, oder?“

Und sie hat recht, denkt Shintaro. Sie hat so recht. Er sieht sie an, sie erwidert seinen Blick strahlend, und plötzlich zuckt ihm der Gedanke an Kaede durch den Kopf.

Wann lerne ich endlich die Mutter meiner Enkelkinder kennen?

Er wird hochrot und ist froh, das Tuch wieder hochgezogen zu haben. Was denkt er hier? Nene ist sechzehn, und er hält sich mittlerweile für zu alt und zu kaputt, um an eine Frau zu denken. Er hat die Chance verpasst. Nene ist jung und froh und hübsch, sie ist all das, was er gerne wäre und nicht ist. Sie macht ihn glücklich. Er liebt sie nicht, nicht auf diese Weise.

„Nene!“

Er zuckt zusammen, als Mikikos Stimme erklingt. Sie kommt auf Nene zu gerannt und zieht an ihrer Jacke.

„Was ist los, Fröschchen?“, fragt Nene.

„Mamoru weint.“

Erschrocken sieht Shintaro sie an.

„Er weint? Was ist denn passiert?“

„Gar nichts“, sagt Mikiko außer Atem. „Wir haben nichts gemacht, wirklich! Aber er sitzt da hinten in dem Häuschen und weint.“

„Ich gehe mal und rede mit ihm.“ Nene steht auf. „Bleiben Sie ruhig sitzen, Shintaro-san. Bin sofort wieder da.“

Sie lächelt ihn noch einmal an und lässt sich von Mikiko an der Hand mitzerren.
 

Mamoru hat die Knie vor die Brust gezogen und drückt sie an sich. Sie zittern immer noch. Anfangs hat er gedacht, es würde sich bald legen, und es ist ja wirklich nicht schlimm, dass er nicht schaukeln und nicht an den Seilen hochklettern kann wie Mikiko und Yuki. Rutschen ist ja auch nicht schlecht. Dann ist er nicht einmal mehr die Leiter zur Rutsche hinauf gekommen, und jetzt ist alles aus. Vielleicht muss er sterben.

„Mamoru? Bist du da drin?“

Ein Schatten schiebt sich vor die helle Türöffnung des kleinen Spielhauses. Er hebt den Kopf. Es ist das Mädchen mit dem braunen Zopf. Nene. In letzter Zeit hat er viel zu viele Menschen kennengelernt.

„Was ist los? Mikiko sagt, du weinst.“

Er zuckt die Achseln. Seine Knie zittern.

„Hast du dir wehgetan, Mamoru?“

Er schüttelt den Kopf.

„Warum kommst du dann nicht raus?“

Er weiß keine Antwort. Gibt es eine Antwort? Weil er nicht mehr weiß, wo er hingehört. Er war so lange im Dunkeln, im Kalten unten. Dann haben sie ihn wieder an die Sonne gelassen, und es ist alles zu viel. Der blaue Himmel, das Kreischen der anderen Kinder, ihre Gespräche über Ballspielen und Eis und Abendessen. Mamoru hat das Gefühl, er gehört nicht hierher mit seiner hässlichen Hand und seinen Armen und Beinen wie Streichhölzer. Aber wenn er hier nicht hergehört, wohin denn dann?

„Mamoru? Wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich dir auch nicht helfen.“

„Lass mich das machen, Nene.“

Mamoru zuckt zusammen, als er Shintaros Stimme hört. Der Schatten in der Türöffnung bewegt sich.

„Sie sollten doch sitzen bleiben, Shintaro-san! Mit der Krücke in dem Sand kommen Sie ja kaum voran!“

„Nene“, sagt Shintaro kurz angebunden. „Du bist ein wirklich liebes Mädchen, aber du hast, wie dein Bruder es so treffend ausdrückt, null Einfühlungsvermögen. Lass mich mit Mamoru sprechen.“

„Wie Sie meinen. Aber er sitzt da drinnen, und solange er nicht rauskommt ...“

„Wenn er nicht herauskommt, komme ich eben herein.“

„Das ist nicht ihr Ernst!“ Nene lacht auf. „Na, wie Sie meinen. Aber beschweren Sie sich nicht, wenn Sie stecken bleiben.“

Wieder wird die Türöffnung verdunkelt, diesmal von Shintaro. Stöhnend beugt er sich hinunter und quetscht sich durch die Tür in Kindergröße. Die Krücke nimmt er gar nicht erst mit.

„Na, Mamoru?“

Mamoru bleibt wie versteinert sitzen. Shintaro kriecht ein Stück in die Hütte und setzt sich umständlich, den Rücken gegen die rechte Wand gelehnt.

„Es ist schwer, plötzlich in eine gewohnte Umgebung zurück zu kommen, nachdem man lange ... anderswo war. Nicht wahr?“

Ungläubig sieht Mamoru ihn an.

„Ich kenne das auch“, sagt Shintaro. „Ich bin nach einer Mission in Gefangenschaft geraten, und es ist viel Zeit vergangen, bis ich zurückkehren konnte. Elf Jahre.“

„Das ist länger, als ich alt bin“, murmelt Mamoru.

„Unglaublich, was? Ich kann selbst nicht fassen, dass es so lange gedauert hat. Danach habe ich mich riesig gefreut, wieder in Konoha zu sein – anfangs. Aber nach einer Weile bin ich traurig geworden. Kannst du dir vorstellen, warum?“

„Warum?“

„Genau erklären kann ich es mir auch nicht. Ich denke einfach, das ist immer so, wenn man sich furchtbar auf etwas gefreut und es bekommen hat. Man kann nicht ewig froh sein. Irgendwann kehrt wieder Normalität ein, und man fällt in ein Loch.“

„In ein Loch.“

„Findest du, das ist ein guter Ausdruck dafür?“

Mamoru nickt. „Schon. Aber das ist es bei mir gar nicht.“

„Was ist es dann?“, fragt Shintaro ernst.

Er umarmt seine zitternden Knie.

„Du musst nie wieder in die Verliese zurück, Mamoru.“

„Ich weiß – nicht, wenn ich mich gut benehme. Hat Ibiki-san gesagt.“

„Hast du Angst?“

„Ja.“

„Wovor?“

Mamorus Lippen zittern. „Vor allem. Und vor mir selbst.“

„Warum?“

„Ich bin kaputt“, flüstert Mamoru, starrt den Fäustling an seiner rechten Hand an und weiß, dass darunter nur zweieinhalb Finger sind. „Ich gehöre überhaupt nicht hierher.“

„Kaputt“, wiederholt Shintaro. „Das bin ich auch. Und gerade deswegen, Mamoru, gehörst du hierher. Ibiki zieht kaputte Menschen wie magisch an.“

Mamoru schnieft geräuschvoll. „Aber ich bin so müde. Wozu soll ich Ibiki-san denn nützen, wenn ich so schnell müde werde?“

„Es wird sich legen. Deine Hand können wir nicht wieder ganz machen, aber wenn du besser isst und ein paar Medikamente bekommst, wirst du bald stärker werden. Gesünder, als du jetzt bist. Es ist keine Woche her, dass du wieder ... am Leben bist, Mamoru. Setz dich nicht selbst so unter Druck.“

Im dämmrigen Licht blinzelt Mamoru Shintaro an. „Wie haben Sie es geschafft?“, fragt er.

„Was?“

„Aus dem Loch wieder herauszukommen.“

Shintaro erwidert seinen Blick ernst. „Ich bin geklettert. Man braucht Ausdauer und eine ganze Menge Geduld dafür, aber es lohnt sich.“

Mamoru schnieft.

„Versprichst du mir, dass du kletterst, Mamoru?“

„Okay“, murmelt Mamoru.



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