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Dynamische Systeme

Wichtelgeschichte für Finicella
von

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Kreis


 

Dreht man auf einem Kreis,

kommt man an jedem Punkt unendlich oft wieder an.
 

Früher war es Friedrich oft passiert, dass er sich in seiner Arbeit verlor und vergaß, irgendwann nach Hause zu gehen. Dann wurde er von der späten Putzkolonne aufgescheucht, die durch die Gänge patrouillierte und Zurückgebliebene nach Hause schickte. Mit Houwang allerdings war es gar nicht so einfach, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Er lenkte einfach zu sehr ab. In der knappen Woche seit er ihn hatte, war er keinen einzigen Abend lang länger als bis acht Uhr auf dem Campus gewesen. Heute war Samstag und eigentlich hätte er erst recht früher nach Hause gehen sollen, allerdings musste Friedrich am darauffolgenden Tag einen Zwischenbericht abgeben, an dem er kaum gearbeitet hatte.

Nach einer außerplanmäßigen Veranstaltung zu seiner Vorlesung über chaotische Dynamik (eine lauthals von den Studenten verlangte Vorbereitung auf die nahende Prüfung), die um sechs Uhr abends geendet hatte, war er daher in sein Büro zurückgekehrt und hatte sich in seinen Unterlagen vergraben. Houwang, der zunächst eine Menge Lärm gemacht hatte, musste er ein paar Mal anfauchen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Jedes Mal tat es ihm hinterher leid, doch dieser Bericht musste einfach fertig werden, und je länger er über ihm brütete, desto stärker wurden seine Kopfschmerzen. Er konnte gerade absolut keine Unruhe ertragen.

Inzwischen war Houwang auf einem der Sessel eingeschlafen, den Kopf umständlich auf die Arme gebettet. Sein Mund stand ein wenig offen, während er tiefe Atemzüge machte. Trotz dem friedvollen Bild, das sich ihm bot, konnte Friedrich sich nicht konzentrieren. Minutenlang starrte er auf seinen Bildschirm und die paar Zeilen, die er bereits geschrieben hatte, ohne dass ihm etwas einfiel, das er hinzufügen konnte. Dann wieder überkam ihn eine wahre Schreibwut und er hackte mit rasenden Fingern etwas in die Maschine. Wenn er sich den Text dann Minuten später noch einmal durchlas, kam er ihm nicht im Mindesten bekannt vor. Sein Kopf schmerzte. Er wollte aufstehen und herumlaufen, aber er musste diesen Bericht schreiben. Seine Augen zuckten zu Houwang und dann hinüber zum Bücherregal. Seine rechte Hand hielt die Maus umklammert. Der Cursor blinkte. Und sein Kopf schmerzte. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er sich die Schläfen, doch das half nichts. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bereits nach neun war. Seit drei Stunden saß er schon hier und hatte es auf nicht mehr als eine Seite gebracht.

Neben dem Schreibtisch lagen seine Notizen, die ihm allerdings nicht viel nützten. Nichts davon konnte er in den Bericht einbauen. Aber er musste fertig werden.

Von Zeit zu Zeit nickte er ein. Nicht, dass er das mitbekommen hätte, doch er schien manchmal aus einer Schlafphase aufzuschrecken, an die er sich im Nachhinein nicht erinnern konnte. Diesen Zustand kannte er bereits von sich. Eigentlich hatte er gehofft, dass es mit Houwang besser werden würde. Letzte Woche, kurz bevor er in Ds Laden gewesen war, war es wieder besonders schlimm gewesen. Er hatte sich schon ernsthaft Sorgen um seinen geistigen Zustand gemacht. Doch dann war mit Houwang alles einfacher geworden und die Kopfschmerzen waren verschwunden. Zumindest bis heute.

Der Junge holte tief Luft, veränderte seinen Position ein wenig und schlief ruhig weiter. Unter Friedrichs Haut krabbelten Ameisen. Die Klimaanlage summte verzweifelt gegen die Hitze an.

Es war halb zehn. Wieso verging die Zeit so schnell?

Halbherzig tippte er ein paar Wörter, hielt inne, überlegte und löschte sie wieder. Dann wartete er und starrte ins Leere. Dachte nach.

Dabei musste er wohl ein weiteres Mal eingenickt sein, denn als er wieder zu Bewusstsein kam, ging es bereits auf Mitternacht zu und Houwang war aufgewacht. Er saß er im Schneidersitz auf dem Stuhl und starrte ihn besorgt an.

„Alles in Ordnung”, murmelte er. Es sollte beruhigend klingen, doch tatsächlich machte es seine Müdigkeit nur noch deutlicher. Der Schmerz in seinem Kopf hatte inzwischen einen neuen Höchstwert erreicht. Auf dem Bildschirm verschwammen die Buchstaben. Mühevoll schaltete er den Computer ab und erhob sich.

„Ich glaube kaum, dass das noch einen Sinn hat. Lass uns nach Hause gehen.”

Bereitwillig hüpfte Houwang von seinem Stuhl und hängte sich an Friedrichs Arm.

„Ich dachte schon du wirst nie mehr fertig!”

Friedrich lächelte gequält. „Du warst heute sehr geduldig mit mir, vielen Dank dafür.”

„Das ist schon okay, du musstest ja schließlich arbeiten.” Dabei klang Houwang so, als sei es selbstverständlich für ihn, ruhig zu sein, wenn andere arbeiten mussten.

Friedrich stopfte wahllos ein paar Unterlagen in seine Aktentasche. Dabei achtete er darauf, dass er nichts in das mittlere Fach steckte. Das war eine Angewohnheit von ihm, auf die er genauso penibel achtete, wie auf die alphabetische Ordnung der Bücher in seinen Regalen. Wie gewohnt wirkte das Gewicht der Tasche beruhigend auf ihn. Vielleicht würde ein kurzer Fußweg ihm gut tun und er konnte zuhause doch noch den Bericht beenden. Vielleicht würde das auch sein Kopfweh verbannen.

Er wandte sich um, um zu überprüfen, ob er etwas Wichtiges vergessen hatte. Auf seinem Schreibtisch befand sich neuerdings eine mit Obst gefüllte Schale. Sie befand sich dort erst, seit Houwang da war und obwohl Friedrich jeden Morgen neue Früchte mitbrachte, schien sie sich ganz von selber zu füllen. Viele seiner Kollegen und Studenten hatten Gefallen an Houwang gefunden und brachten ihm häufig etwas mit. Ganz zuoberst lagen heute sechs oder sieben Feigen, die Jane Parton, eine rundliche Kollegin aus dem Büro schräg gegenüber, mitgebracht hatte. Wie Friedrich selbst, beschäftigte auch sie sich mit numerischer Berechnung von dynamischen Systemen. Im Moment arbeitete sie an ihrer Dissertation und offensichtlich daran, Houwang mit essbaren Dingen zu versorgen.

Bevor sie gingen, huschte er zu der Schale hinüber, um sich eine Handvoll dieser Feigen zu greifen. Fast sofort war er wieder an Friedrichs Seite und machte sich über seine Beute her.

Vor seinem Büro war der Flur dunkel und nur von den Nachtleuchten erhellt. Nach zehn Uhr ersetzten diese die grelle Neonbeleuchtung, die die Gänge sonst zierte. Sie machten sich den Gang hinunter auf den Weg, doch diesmal ging Friedrich am Aufzug vorbei. Müdigkeit lag bleiern auf seinen Gliedern und sein Kopf fühlte sich nach wie vor an, als würde eine sich ausdehnende Bleikugel von innen gegen seine Schädeldecke pressen. Ein bisschen Bewegung würde ihm sicher gut tun. Eine Hand auf dem Geländer, stieg er die schmale Treppe hinunter, die neben dem Aufzug in den zweiten Stock führte. Vom unteren Treppenhaus dröhnte Staubsaugerlärm nach oben, welcher das vorherrschende Summen der Klimaanlage übertönte. Sonst war nichts zu hören. Ein Blick zwischen den Treppengeländern hindurch, hinunter in den ersten Stock, verriet Friedrich, dass die Putzkolonne sich dort gerade zu schaffen machte. Nach kurzen Zögern entschied er, dass er zu dieser späten Stunde lieber niemandem mehr begegnen wollte und bog stattdessen nach links in einen anderen Flur ab. An dessen Ende befand sich eine weitere Treppe, die ebenfalls hinunter in die Eingangshalle führte.

Inzwischen hatten seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt und er sah um einiges deutlicher. Unter einer Tür, ungefähr in der Mitte des Ganges, drang Licht hervor. Im Vorbeigehen erhaschte Friedrich einen Blick auf das Schild an der Tür uns blieb abrupt stehen. Houwang, immer noch mit seinen Feigen beschäftigt, lief einige Schritte weiter, bevor er bemerkte, dass Friedrich nicht mehr neben ihm ging. Gemächlich kehrte er zurück.

„Was ist los?” Die Stimme des Jungens klang ein wenig verloren im großen Klangkörper des Flures. Fast als würde sie von der Dunkelheit erstickt werden.

Friedrich achtete nicht auf ihn, sondern starrte weiterhin das Schild an. Dann, ohne dass er sich erklären konnte, warum, klopfte er. Gemurmel im Inneren, ein Stuhl wurde zur Seite geschoben. Ein dumpfer Laut, gefolgt von einem Fluch. Schließlich öffnete sich die Tür und Jay Block stand im Rahmen, hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein und fragte unwirsch: „Was ist los?”

Friedrich konnte hinter Block in das warm erleuchtete Büro sehen. Die Fenster an der gegenüberliegenden Wand waren geöffnet, um die kühle Nachtluft hineinzulassen. Allerdings hatte man sich nicht die Mühe gemacht, die Jalousien hochzuziehen, die tagsüber vor der Hitze der Sonneneinstrahlung schützten. Das Büro sah fast genau so aus wie das von Friedrich, nur war es weniger in die Länge gezogen. Der gleiche Tisch und die gleichen Stühle füllten den Raum. Trotzdem war dieses Büro viel persönlicher als seines. An den Wänden hingen Fotos und das Zertifikat, das Block als Doktor der Mathematik auswies. In der Ecke stand ein Ficus Benjamini, der dringend mal Wasser nötig hatte. Die Regale waren nur zur Hälfte voll mit Akten, den restlichen Platz nahmen Figuren, weitere Bilder und Modelle ein.

Offenbar hatte Block ihn erkannt, denn er sagte mit einem missglückten Lächeln: „Oh, hey, Friedrich, Sie arbeiten auch noch so spät.” Dann ließ er sein Bein los, verlagerte sein Gewicht und lehnte sich in einem mitleiderregenden Versuch, gelassen zu wirken, gegen den Türrahmen.

Blocks Atem roch nach Alkohol und der halbleeren Flasche auf dem Schreibtisch nach zu schließen war das auch keine Einbildung. Seine Augen waren gerötet und die Schatten darunter kamen Friedrich noch dunkler vor, als am heutigen Morgen. Bei diesem Gedanken sah er sich nach Houwang um, der nicht mehr hinter ihm stand, sondern sich in eine Türöffnung in der Wand gegenüber gedrückt hatte. Beinahe vorwurfsvoll starrte er Friedrich an.

„Ja .. ähm”, wandte er sich an Block und zermarterte sich das Hirn nach einer Rechtfertigung für sein Auftauchen, was nicht leicht war, denn er wusste ja selber nicht genau, warum er hier war. „Ich hab Licht gesehen und dachte … dass …”

Mitten im Satz brach er ab und schaute sich hilflos um. Wieder fiel sein Blick in das Büro. Diesmal konnte er, da Block links im Türrahmen lehnte, in die rechte Hälfte des Zimmers schauen. Dort stand auf drei Füßen ein Whiteboard. Seine rechte Hand zuckte und sein Kopfweh wandelte sich zu einem bedrohlichen Rauschen, direkt hinter seiner Stirn. Jemand - vermutlich Block selber - hatte den Ansatz eines Baumdiagramms auf die Tafel gemalt. Leider war es nicht irgendein Diagramm. Friedrich kannte diese Zeichnung nur zu gut. Einen kurzen Moment wurde es schwarz um ihn her, doch sofort fing er sich wieder, biss die Zähne zusammen und brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. Seine Stimme klang fest und selbstsicher, während die Worte aus ihm heraus drängten.

„Eigentlich wollte ich nur noch einmal sagen, wie leid mir das tut, was mit Jason Yorke geschehen ist. Ich weiß, Sie standen sich nahe und ich sehe, wie sehr es Sie mitnimmt, deshalb wollte ich Ihnen einfach nur mein Beileid aussprechen.”

Falls Block merkte, wie viel ruhiger Friedrichs Stimme auf einmal klang, schien es ihn nicht weiter zu beschäftigen. „Das ist … nett von Ihnen”, sagte er schleppend. „Das hätte ich ehrlich gesagt … gar nicht von Ihnen erwartet, Friedrich. Sie sind also … doch nicht so übel.” Zwischen den Satzabschnitten musste er sich immer wieder sammeln und über seine nächsten Worte nachdenken. Offenbar war er ziemlich betrunken.

Friedrich machte einen Schritt auf ihn zu. “Sie haben zusammen an diesem Projekt gearbeitet, wie hieß das noch gleich?”

„Projekt …?” Blocks Gesicht zerkrumpelte, als er den Eindruck eines plötzlich aufgeschlossenen Friedrichs und die intellektuelle Herausforderung seiner Frage gleichzeitig zu verarbeiten suchte. „Projekt, ja … wir haben viel zusammengearbeitet. Er war 'ne Art … Mentor für mich. Genau, ein Mentor! Eine Schande, dass er so sterben musste!”

„Das sehe ich ganz genau so”, erwiderte Friedrich kühl, während er mit einer Hand im mittleren Fach seiner Aktentasche fischte. Er merkte gar nicht, dass Houwang sich von hinten genähert hatte und ihn jetzt verstört anblickte. Irgendetwas hatte sich in seinem Verhalten grundlegend geändert, als stünde ein anderer Mensch vor ihnen. Zaghaft streckte Houwang die Hand aus, um Friedrich hinten am Anzug zu fassen, doch da machte dieser bereits einen weiteren Schritt in das Büro hinein.

„Ihr Projekt über die Auswirkung und die Berechnung von unvorhersehbarer Ereignisse .. wie haben Sie das noch so schön genannt? Decoding the chaos butterfly? Wirklich ein schöner Titel, das hat mir immer ganz besonders gefallen. Wie sind Sie eigentlich auf dieses Thema gekommen?”

„Ich .. ich weiß nicht, was Sie meinen!” In Blocks Augen schwamm jetzt eine Spur Panik. Man konnte deutlich sehen, wie er versuchte, sich zu beruhigen, wie er versuchte, diese für ihn unverständlichen Worte auf den Alkohol zu schieben. „Ich muss jetzt aber nach Hause. Meine ... mein … man wartet auf mich.”

„Einen Moment noch.” Friedrich zog seine Hand aus der Tasche. Sie hielt eine Pistole. Block fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Polternd machte er zwei Schritte rückwärts, doch eine winzige Bewegung Friedrichs ließ ihn augenblicklich zur Salzsäule erstarren. Lediglich seine Augen blinzelten, als könne er nicht fassen, war sich da vor seinen Augen abspielte. Und seine Hände hatten begonnen zu zittern. Gelassen deutete Friedrich hinüber zu dem Whiteboard.

„Eine sehr hübsche Zeichnung haben Sie da gemacht. Natürlich stark vereinfacht, wie -”

In diesem Moment drängte sich Houwang zwischen Friedrichs Beinen hindurch, das junge Gesicht offen und voller Angst.

„Was machst du denn da? Hör auf damit!” Sein Atem ging rasend. „Tu ihm nicht weh!” Mit diesen Worten stellte er sich vor Block in einem rührenden und auf bizarre Weise szenischen Versuch, ihn zu schützen.

Dann ging alles ganz schnell.

Block versuchte sich umzudrehen und hinter dem Schreibtisch in Deckung zu gehen. Friedrich jedoch ließ die Tasche, die er unter dem linken Arm hielt, fallen und griff mit der nun freigewordenen Hand nach Houwang. Zuerst bekam er nur den Kragen seines T-Shirts zu fassen und ein kurzes, reißendes Geräusch ertönte. Dann jedoch packte er ihn richtig und stieß ihn aus dem Weg. Er stolperte gegen eines der Regale, ließ seine letzte Feige fallen und fiel zu Boden. Bevor der Junge auf dem Boden aufkam, hatte Friedrich Block, der nicht schnell genug gewesen war, bereits zwei Kugeln in die Brust gejagt. Mit einem krächzenden Röcheln kippte der junge Mann nach hinten, schlug auf der Schreibtischkante auf rutschte nach unten.
 

Wie so oft bei Leichen, trug auch diese hier einen Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Erstaunen über den plötzlichen Tod, über die wahren Absichten des Mörders oder die plötzlichen, kaum vorstellbaren Schmerzen, nahm Leon an. Mit Sicherheit konnte er das natürlich nicht sagen, denn ermordet zu werden war noch kein Teil seines Erfahrungsschatzes. Der junge Mann lag auf dem Boden seines Büros, die Augen weit aufgerissen und den Mund wie zu einem stummen Schrei erstarrt. Er mochte zu Lebzeiten sehr gut ausgesehen haben, doch jetzt, mit diesem Gesichtsausdruck und mit dieser seltsamen Starre, die Tote so unheimlich machte, war diese Schönheit lediglich noch zu erahnen.

„Jay Block, 31 Jahre, Professor für Mathematik an der University of California, Los Angeles”, las ein Polizeibeamter, den Leon nicht kannte, von seinem Handy ab.

Zwei Schusswunden klafften rot und nass in seiner Brust. Das weiße Hemd, das er trug, hatte sich vollgesogen und klebte triefend an seinem Oberkörper, sodass Leon die Bauchmuskeln darunter sehen konnte.

„Ermordet in seinem eigenen Büro”, murmelte Jill und ließ ihren Blick über den Innenraum schweifen. Der Tür gegenüber befand sich ein großes Fenster, allerdings hatte jemand die Jalousien heruntergelassen, sodass man nicht hinaussehen konnte. Vermutlich wegen der Hitze am Nachmittag, doch leider hatte dies auch einen unbemerkten Mord ermöglichen können. Ein großer Schreibtisch mit einem Computer und Ordnern nahm einen Großteil des Raumes ein. Links der Tür befand sich ein Waschbecken, darüber ein blank polierter Spiegel. An den Wänden hingen Fotos und Urkunden. Und auf dem Teppich lag ein junger Mann in seinem Blut.

„Die Putzfrau hat ihn gefunden”, erklärte der Polizist, der vorhin bereits die Daten vorgelesen hatte. „Sie hat sofort die Polizei gerufen.”

„Wo ist die Putzfrau jetzt?”, wollte Jill wissen.

„Sie wird gerade auf dem Revier vernommen. Aber sie hat bereits am Tatort ausgesagt, dass sie nichts gehört oder gesehen haben will. Sie kam auf ihrem letzten Rundgang nochmal hier vorbei und fand das hier vor” – er gestikulierte in Richtung der Leiche – „Das war gegen halb eins.”

„Wieso sind Sie sich so sicher, dass die Morde in Verbindung stehen?“, hakte Jill nach. „Es könnte doch einfach nur ein Zufall sein.“

„Möglich, aber unwahrscheinlich“, erwiderte der Polizist. „Der Gerichtsmediziner hat uns bereits bestätigt, dass beide Kugeln aus derselben Waffe abgefeuert wurden. Außerdem sind sie Kollegen, die auch noch relativ viel miteinander zu tun hatten. Wir vermuten, dass der Mörder aus demselben Umfeld stammt, wie die beiden.“

„Wir haben bereits eine Liste von Yorkes Kollegen erstellt“, meinte Jill. „Wir werden sie um Blocks Kollegen erweitern, vermutlich wird es viele Überschneidungen geben. Mal sehen, ob uns einer besonders ins Auge fällt.“

„Er muss seinen Mörder gekannt haben”, meinte Leon zustimmend und kratzte sich am Kinn. „Ich nehme an jemand hat geklopft, er geht hin um zu öffnen” – er drehte sich um und tat so, als wolle er zur Tür hinaustreten – „der Mörder kommt rein, sie streiten sich und er erschießt ihn.” Seine Version der Ereignisse illustrierte er mit einer schauspielerischen Darstellung des Tathergangs.

„Der Mörder könnte ihn doch auch hier hereingebracht haben, um ihn dann so zu drapieren”, schlug Jill vor.

Kopfschüttelnd deutete Leon auf den weißen Teppichboden. „Das würde man sehen. Nein, er muss hier gestorben sein, nirgendwo sonst ist Blut.”

Mit prüfender Miene beugte seine Kollegin sich über die Leiche, sodass Leon zunächst glaubte, sie versuche seinen Theorie zu widerlegen. Nachdem sie Jay Block eingehend betrachtet hatte, hob sie mit enttäuschter Miene den Kopf, hob an etwas zu sagen und stockte dann.

„Sieh mal!”, keuchte sie leise und deutete auf etwas hinter Leon. Dort stand auf einer Art Stativ ein Whiteboard, wie er es von verrückten Wissenschaftlern aus Fernsehserien kannte. Darauf hatte jemand dasselbe Zeichen von der ersten Leiche gemalt, nur dass sich die beiden ersten Verzweigungen ein weiteres Mal aufspalteten, sodass es jetzt vier Enden gab.

Jill machte einen großen Schritt über die Leiche und besah sich die Zeichnung genauer. „Das ist eindeutig eine Art Diagramm. Sowas Ähnliches mussten wir in der Schule auch oft zeichnen, ich frage mich ...” Sie blickte nach unten. „Nein, den Stift hat der Mörder mitgenommen. Schade, sonst hätten wir vielleicht ein paar Fingerabdrücke gehabt.”

„Die Zeichnung ist uns auch aufgefallen”, erklärte der Beamte mit dem Handy. „Alle Stifte, die beim Whiteboard lagen, haben wir bereits der Gerichtsmedizin übergeben.”

„Sehr gut! So kommen wir dem Täter vielleicht auf die Schliche!” Voller Freude darüber, dass ihr Lieblingsindiz den entscheidenden Hinweis liefern konnte, strahlte Jill Leon an. Der war aber nicht gewillt zuzugeben, dass sie damit, der Zeichnung solche Wichtigkeit beizumessen, vermutlich Recht gehabt hatte.

„Wie steht dieser Mann hier mit dem ersten Opfer in Verbindung?”, fragte er etwas abweisend.

„Sie waren Kollegen. Yorke war ja ebenfalls Professor der Mathematik. Und sie haben zusammen an Projekten gearbeitet.”

„Ich brauche eine Liste dieser Projekte”, verlangte Jill sofort und rieb sich die Hände. „Und eine Liste all ihrer Kollegen. Einer von denen ist vermutlich der Mörder.”

Leon ging hinüber zu dem Whiteboard, um sich dann doch noch einmal die Zeichnung genauer anzusehen. Er sah nicht mehr als ein flüchtig mit grünem Stift hingekritzeltes Bild und hätten sie nicht eine ähnliche Zeichnung neben der ersten Leiche gefunden, wäre es Leon vermutlich nicht als besonders aufgefallen. Nun jedoch musste sogar er zugeben, dass es ein seltsamer Zufall war.

„Jill, sag mal, was für ein Diagramm soll das genau sein?“, fragte er, wobei er sich zu seiner Kollegin umwandte. Dabei spürte er etwas Weiches unter seinem Fuß zerplatzen. Entsetzt sprang er zurück (und unter Umständen könnte er auch einen winzigen Schrei ausgestoßen haben), denn weiche, zerplatzende Dinge in der Nähe von Leichen waren selten ein Anblick für schwache Nerven. Doch auf dem Boden lagen nur die traurigen Überreste einer Feige, die zwar ebenfalls rot, aber unverkennbar anders gefärbt waren, als das Blut des jungen Wissenschaftlers.

„Was hast du da?“, erkundigte sich Jill, von seiner plötzlichen Bewegung aufgeschreckt.

„Wer hat seine Feige hier fallenlassen?“, knurrte Leon zur Antwort die Umstehenden an. „Sowas ist wirklich nicht lustig.“

Mit Kennerblick beugte sich Jill über die Feige, und wandte sich ihm dann mit Mörderblick zu. „Leon, du Idiot, du hast gerade ein Indiz zerstört!“

„Wie bitte? Das ist doch kein Indiz, das ist eine doofe Feige!“

„Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Indiz, wie sonst sollte –“

Doch der Rest der Schimpftirade wurde von der Ankunft eines weiß gekleideten Mannes unterbrochen, der den Flur hinaufgekommen war und jetzt mit einem Plastiktütchen in der Hand in der Tür stand. Offensichtlich ein Gerichtsmediziner. Dankbar warf Leon seinem Retter einen erleichterten Block zu.

„Die Haare die wir hier gefunden haben, sind eindeutig tierischen Ursprungs”, erklärte der Gerichtsmediziner und schüttelte die Tüte, als wolle er sie dazu bringen, dies zu bestätigen. „Eine Art Affe, nehme ich an.”

Feige und Zeichnung waren vergessen. Wie eine Katze sprang Leon auf den erschrockenen Mann zu, riss ihm die Tüte aus der Hand und hielt sie ins Licht. Eindeutig ein Büschel Haare von orangener Farbe. Sofort schoss ihm das Bild des Mannes durch den Kopf, der mit einem kleinen, kupferfarbenen Affen an der Hand unterwegs war.

„D!”, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Na warte, diesmal krieg ich dich!”
 

Es kam nicht oft vor, dass der Graf seinen Laden verließ, und wenn er es tat, dann nahm er Chris meistens mit. Heute jedoch hatte er ihm einen Tee gemacht, Kekse hingestellt und Chris gesagt, er solle auf den Laden aufpassen, denn er habe etwas Wichtiges zu erledigen. Was auch immer der Graf vorhatte, es musste aufregendes sein, zumindest aufregendere, als hier im Laden zu sitzen und nichts zu tun. D hatte ihm zum Abschied noch ein Buch gegeben, mit dem Chris sich die Zeit vertreiben sollte, doch es war auf Chinesisch und das konnte er natürlich nicht lesen. Außerdem waren Bücher sowieso nicht wirklich interessant.

Am Anfang hatte er noch gedacht, er müsse Kunden empfangen - eine Vorstellung, die ihm einerseits Angst einjagte, andererseits aber etwas Spannendes hatte, doch das Schild am Eingang war - wie Pon-chan und er recht schnell bemerkten, auf „CLOSED“ gestellt.

„Mach dir nichts draus”, hatte sie versucht ihn zu besänftigen, „der Graf macht sich nur Sorgen um dich.”

„Außerdem könntest du doch mit den Kunden, die hier reinkommen, sowieso nicht reden.” T-chan war nicht die beste Gesellschaft, wenn man aufgeheitert werden wollte.

Und Aufheiterung hatte Chris jetzt bitter nötig. Er war auf den Verkaufstresen geklettert (nur weil er das sonst nicht durfte) und schmollte. Alle behandelten ihn wie ein kleines Kind! Leon hatte sich seit drei Tagen schon nicht mehr wirklich blicken lassen, weil er an einem unglaublich wichtigen Fall arbeitete. Gut, er hatte sich schon blicken lassen, aber nie länger als eine halbe Stunde, dann war er sofort wieder aufgesprungen und aus dem Laden gestürzt. Chris hätte gerne gewusst, worum es in dem Fall ging, doch Leon hatte anscheinend weder Zeit noch Lust ihm, seinem einzigen kleinen Bruder, etwas darüber zu erzählen. Nur dass es um einen Mordfall an irgendeiner halbwegs wichtigen Persönlichkeit ging, hatte Chris aufschnappen können. Das Entscheidende war aber doch, dass er ihm nicht vertraute und ihn nie bei irgendetwas dabeihaben wollte! Er hatte schon so viel erlebt und sich mehrfach als tapfer genug erwiesen, dass man ihm doch wohl mit solchen Informationen trauen konnte! Und der Graf war auch nicht besser, denn der ließ ihn einfach so alleine und ging seinen geheimen Aktivitäten nach, sodass er jetzt hier völlig auf sich selbst gestellt war. Seine Füße, die aufgrund der Höhe des Tresens einen guten halben Meter über dem Boden baumelten, schlugen rhythmisch gegen das Holz.

„Mach doch nicht so einen Krach!”, schimpfte T-chan.

Na toll! Sogar seine Freunde verrieten ihn!

‚Mir ist langweilig’, murrte Chris.

„Dann geh doch raus”, erwiderte T-chan, der unter der Hitze, die seit Tagen in LA herrschte, ziemlich zu leiden hatte und entsprechend gereizt war.

Ohne zu antworten, verzog Chris das Gesicht noch mehr. Er durfte nicht raus, und er wusste, dass er sowohl Leon als auch dem Grafen vermutlich kaum besser eins auswischen konnte, als wenn er einfach so verschwand. Das einzige Problem war nur, dass er nicht hinaus wollte. Er war in einem kleinen Dorf aufgewachsen und auch wenn er es niemals zugeben würde, machte ihm die Stadt ein wenig Angst. T-chan spürte das vermutlich, und zog er ihn bestimmten Momenten gerne damit auf. So wie jetzt.

Pon-chan, die von den Keksen des Grafen genascht hatte, versuchte das Thema zu wechseln. „Wir könnten irgendetwas spielen”, schlug sie halbherzig vor.

Entschieden schüttelte Chris den Kopf. Er hatte beschlossen, heute keinen Spaß zu haben und wenn Leon und D nach Hause kamen, würden sie ihn genau so vorfinden und hoffentlich bereuen, dass sie ihn ständig alleine ließen! Wütend blies er die Backen auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

In dieser Position hatte er vielleicht drei oder vier Minuten ausgeharrt, als sich plötzlich die Hintertür öffnete. Ein kühler Schwall Luft, begleitet von dem süßlichen Geruch des Weihrauchs, den D gerne entzündete, strömte in den Laden. Alle wandten sich um. Soweit Chris sich erinnern konnte, war es noch nie vorgekommen, dass ein Bewohner der hinteren Anlage die Tür von innen geöffnet hatte. Mit einer gleitenden Bewegung schob sich eine Gestalt ins Zimmer, bei deren Anblick mehrere Bewohner - Pon-chan eingeschlossen - aufsprangen und sich in die Küche oder hinter den Schrank verzogen. Pon-chan suchte bei T-chan Zuflucht, der den Neuankömmling mit kühlem Blick musterte. Auch Chris hatte sie sofort erkannt: Es handelte sich um die Frau, der er damals zusammen mit Magdalena in einem der Flure begegnet war. Wie war ihr Name noch gewesen? Irgendwas mit B … Bea? Ban?

„Bai Suzhen.” T-chan hatte sich zu seiner vollen Größe aufgebaut und musterte sie unverhohlen feindselig. Oder war das eine Spur Furcht, die da in seinen gelben Augen blitzte?

„Bai-chan reicht vollkommen”, lächelte sie höflich und sah sich aufmerksam im Laden um. „Ist D nicht da?”

Chris, der sich irgendwie doch wie Ds Stellvertreter fühlte, schüttelte den Kopf und antwortete: ‚Er muss etwas erledigen.’

Sofort richteten Bai-chans blanke Augen sich auf ihn und fixierten ihn aufmerksam. „Du warst damals mit dem Mädchen da.”

‚Ja. Ich bin Chris. Ich wohne hier.’ Dass sie ihn damals einfach ignoriert hatte, nagte doch ein wenig an ihm. Aber immerhin konnte sie sich an ihn erinnern.

„Hmm.” Sie kniff die Augen zu einen Spalt zusammen. „Du bist nicht wie wir.”

„Was willst du?”, fragte T-chan, bevor Chris etwas darauf erwidern konnte. „Der Graf wird gleich wieder da sein und er mag es nicht, wenn wir unsere Behausungen verlassen.”

„Du bist immer so feindselig, Tetsu”, sagte Bai Suzhen langsam, wobei sie das S in „Tetsu” ungewöhnlich lang zog. „Ich tu dir doch nichts. Außerdem brauchst du dir keine Sorgen machen, ich werde euch jetzt nämlich ohnehin verlassen.” Elegant glitt sie in Richtung der Eingangstür.

Chris warf T-chan einen alarmierten Blick zu und rutschte hastig vom Tresen hinunter. Mit einem dumpfen Plumps landete er auf dem Boden und hatte die Frau mit den weißen Haaren nach ein paar Schritten eingeholt.

‚Moment!’, rief er und kam vor ihr zum Stehen. ‚Du kannst nicht einfach so gehen!’

„Ach ja, wer sagt das?”

“Der Graf”, kam T-chan ihm zur Hilfe. Im Unterschied zu Chris hatte er sich von seiner Position am anderen Ende des Zimmers jedoch nicht fortbewegt. „Wir dürfen den Laden nicht einfach so verlassen, außer wir haben einen neuen Besitzer gefunden.”

Bai Suzhen seufzte tief, als wäre sie es leid, sich mit einer Gruppe dummer Kinder zu unterhalten. „Aber das habe ich bereits. Würdest du bitte zur Seite gehen?” Mit starrem Blick taxierte sie Chris, der immer noch mit gespreizten Beinen vor ihr stand. Er holte tief Luft und wollte T-chan schon zustimmen, als ihm einfiel, dass er ja eigentlich immer noch schmollte. Und dass er auch eigentlich immer noch böse auf den Graf und auf Leon war. Und irgendwie auch auf seine Freunde. Also stieß er den Atem wieder aus und nickte einmal kurz.

„Vielen Dank, Chris.” Ein breites Lächeln erschien auf Bai-chans Gesicht. „Nun sei doch noch so lieb und öffne mir die Tür, ja?”

„Chris”, rief T-chan mahnend, „lass dich von ihr nicht einwickeln.”

‚Ich weiß schon, was ich tue’, entgegnete er trotzig und, um das zu beweisen, sagte er zu Bai-chan: ‚Du willst zu Magdalena, stimmt’s?’

Sie wiegte den Kopf in einer Art, die sowohl Ja als auch Nein bedeuten konnte und bewegte sich langsam Richtung Tür. Chris beeilte sich, ihr zu folgen und öffnete mit einer beinahe überstürzten Bewegung die Tür. Draußen flimmerte das Straßenpflaster in der glühenden Hitze.

„Du bist ein schlauer Junge”, wisperte Bai-chan, als sie an ihm vorbei ins Freie glitt. „Auf Wiedersehen.”

Geräuschlos bog sie um die Ecke und war verschwunden.
 

Houwang war wirklich nicht besonders gut im Jonglieren. Ein Problem war das eigentlich nicht, nur wurde es eines, als er beschloss, dass man Jonglieren am besten mit Eiern lernte. Die zusätzliche Spannung steigerte angeblich die Konzentration. Am Ergebnis sah man jedwede gesteigerte Konzentration sicher nicht, weshalb Friedrich gerade auf dem Boden kniete und mit einem Schwamm Eigelb aus den Fugen im Boden wischte. Währenddessen hielt Houwang den Eimer mit Wasser und versuchte zerknirscht auszusehen. Wenigstens dass er das versuchte, war schon mal eine recht beeindruckende Leistung, denn Friedrich hatte nicht mal mit ihm geschimpft. Als die vier Eier in rapider Abfolge eins nach dem anderen auf dem Boden zerbarsten, hatte er nur geseufzt, den Kopf geschüttelt und war aufgestanden um das Putzzeug unter der Spüle hervorzuholen.

Es war nicht so, dass er sich nicht ärgerte, schon wieder putzen zu müssen. Obwohl er sich bereits an so viele Eigenarten seines Mitbewohners gewöhnt hatte, konnte er sich mit der ständigen Unordnung nur schwer abfinden. Nein, das Problem war eher, dass Houwang über dem Auge immer noch eine Prellung hatte, die von gestern Abend kam und die voll und ganz seine Schuld war. Wie so ziemlich alles, was gestern Abend passiert war. Und deshalb kämpfte in ihm ständig das Bedürfnis, den Jungen in den Arm zu nehmen mit dem Bedürfnis, ihm möglich nicht ins Gesicht zu schauen und den ganzen gestrigen Abend aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Das zweite Bedürfnis hatte bisher die besseren Karten. Er schrubbte stärker. In der vorigen Nacht war er mehrfach aufgewacht und hatte alles für einen Traum gehalten. Aber die Wut in seinem Bauch und dieser kalte Ring an Grausamkeit, der sich um seine Brust geschlossen hatte, und nicht zuletzt Houwangs Verletzung waren sehr real. Genauso wie die Schlagzeilen in der Zeitung heute morgen. Zum Glück konnte Houwang nicht lesen.

Er hatte den … Zwischenfall gut verkraftete, zumindest glaubte er das, denn weder er, noch der Junge verloren auch nur ein Wort darüber. Das passte nur gut zu seinem Vorsatz, alles zu verdrängen. Phasen in denen er unüberlegte Dinge tat, hatte er schon immer gehabt, aber in letzter Zeit waren sie immer stärker und häufiger geworden, bis er anfing -

„Ich glaube die Stelle da ist langsam sauber.” Grinsend deutete Houwang auf den Boden, wo Friedrich ein und dieselbe Stelle tatsächlich schon mehrere Minuten lang vehement mit dem Schwamm bearbeitet hatte.

„Geht es dir nicht gut?” Houwangs Kopf schob sich in sein Gesichtsfeld, allerdings verkehrt herum, da er sich zu ihm hinuntergebeugt hatte. Schnell schaute Friedrich zur Seite.

„Ich habe nur etwas Kopfschmerzen”, erwiderte er mit zugeschnürter Kehle und schrubbte verbissen weiter. „Aber das wird schon wieder.”

Houwang ließ sich neben ihm auf den Boden fallen - auf eine der Stellen, die er bereits geputzt hatte - und lehnte sich an ihn. Er fuhr sich durch die Haare, pulte sich im Ohr und starrte einige Momente lang die Decke an. Währenddessen schaffte Friedrich es, den größten Teil des Eier-Desasters aufzuwischen und in den Eimer zu verlagern.

„Du, Friedrich”, meldete Houwang sich plötzlich zu Wort und seine Stimme klang ganz weich. „Du passt doch auf mich auf, oder?”

„Natürlich. Warum willst du das wissen?” Von der Seite warf er dem Jungen einen prüfenden Blick zu.

Statt einer Antwort begann Houwang ein Lied zu summen, das Friedrich nicht kannte. Er wischte den Boden komplett sauber (und noch ein paar Mal extra, nur um sicher zu gehen), blieb dann jedoch sitzen und schaute auf seinen Freund hinunter. Hatte er Angst vor etwas? Oder etwa vor ihm, Friedrich? Er wollte gerade das Wort an ihn richten, als Houwang unvermittelt aufsprang und zum Fenster lief.

„Es ist nicht mehr so heiß”, rief er. „Lass uns gehen und einen Spaziergang machen! Du hast doch heute frei, oder?”

Sehr viel schwerfälliger als der Junge, erhob Friedrich sich und rückte seine Brille zurecht. „Houwang, hör mal, ich hab dir doch gesagt, dass ich heute auf die Beerdigung muss.”

„Ja ja, von deinem Kollegen, ich weiß. Aber der ist tot, dem ist doch eh egal, wer da antanzt und wer nicht.”

„Es geht darum, ihm die letzte Ehre -”

„Aber ich lebe noch!” Zum Beweis klopfte er sich theatralisch auf die Brust. „Mir ist es nicht egal, ob wir zu einer Beerdigung müssen, oder lieber in den Park gehen!”

„Ich weiß”, seufzte Friedrich, „aber ich muss da hin, da führt kein Weg dran vorbei.”

„Doch, der Weg führt durch den Park!”

Houwang nahm sich ein Wasserglas und versuchte, es auf drei Fingern zu balancieren. Das klappte ganz gut. Er probierte es mit zwei Fingern.

„Lass das”, meinte Friedrich gereizt. „Ich muss mich jetzt fertig machen und deine Jonglierübung hat mich schon genug Zeit gekostet. Wenn jetzt noch etwas - pass auf!”

Das Glas kippte von Houwangs Zeige- und Mittelfinger, doch er schaffte es gerade noch, es mit der anderen Hand aufzufangen, bevor es auf dem Boden zerschlagen konnte. „Nichts passiert!”

„Houwang, ich mein’s ernst”, schimpfte Friedrich und zerrte mit mehr Kraft als beabsichtigt seinen schwarzen Anzug aus dem Schrank. „Ich ziehe mich jetzt um und du machst währenddessen keine Dummheiten!”

Zu laut schlug die Badezimmertür hinter ihm zu. Während er unter der Dusche stand, dachte er, dass er tatsächlich viel lieber mit Houwang in den Park gehen würde, als zu Jason Yorkes Beerdigung. Im Grunde sträubte sich sogar alles in ihm dagegen. Leider war Yorke eine Art Koryphäe auf seinem Gebiet gewesen, was wiederum die gesamte Fakultät als Gäste bei seiner Beerdigung verpflichtete. Yorke selber hatte er nur sehr flüchtig gekannt, doch das was er über ihn wusste, reicht aus, um … beinahe panisch verbannte er den Gedanken aus seinem Kopf. Warm lief das Wasser über seine Schultern und prasselte geräuschvoll auf den Boden. Es war angenehm, einfach hier zu stehen und nichts zu tun. Nichts zu tun und an nichts zu denken, außer vielleicht an die angenehme Wärme. Vielleicht würde dann auch sein Kopfweh nachlassen.

Er ließ sich zu viel Zeit unter der Dusche und als er schließlich in Anzug und Krawatte aus dem Bad stürmte, war es bereits nach vier.

‚Verdammt, ich muss um halb fünf am Forest Lawn Memorial Park sein!’

Er rechnete bereits aus, wie er am schnellsten ans andere Ende der Stadt kam, als er mitten in der Bewegung innehielt. Der ganze Fußboden seines Zimmers war übersät mit Ordnern, Papieren, Büchern, Kleidern und anderen Gegenständen, die er gar nicht alle auf einmal erfassen konnte. Mitten drin stand Houwang, der immer noch (oder vielmehr wieder) das Glas in der Hand auf zwei Fingern balancierte.

„Was - Wie zum - Wie kann ein so kleiner Junge es schaffen in so kurzer Zeit so ein Chaos zu veranstalten?” Friedrichs Stimme war so laut und heftig, sodass Houwang zusammenzuckte und das Glas fallen ließ. Klirrend zerbrach es auf dem Boden. Ungerührt blieb er stehen ohne seine Pose im geringsten zu ändern.

„Du warst weg und mir war langweilig.”

„Langweilig? Dir war langweilig und du hast ein solches Chaos verursacht?”

Houwang zuckte die Schultern. Ein selbstgefälliges Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er blickte Friedrich von unten herauf scheel an. „Jetzt kannst du aber nicht zu dieser Beerdigung gehen. Du musst ja erst mal hier aufräumen.” Er machte eine ausholende Bewegung, die das gesamte Zimmer mit einschloss.

Es war viertel nach vier. In fünfzehn Minuten begann Jason Yorkes Beerdigung. Und er musste da sein. Er wollte nicht, aber er musste. Die Erkenntnis traf ihn fast noch heftiger als die Tatsache, dass er mit Sicherheit zu spät kommen würde. Er knirschte mit den Zähnen. Dass er zur Beerdigung von einem Menschen wie Yorke, einem Verbrecher musste, machte ihn unsagbar wütend. Und Houwang, den er in diesem Moment als Unterstützung gebraucht hätte, tat nichts weiteres, als ihm Steine in den Weg zu legen!

Entschlossen stampfte er durch die Unordnung am Boden, wobei er darauf achtete, seine Füße auf die wenigen freien Stellen zu setzen.

„Ich werde zu dieser Beerdigung gehen”, zischte er, während er sich die Schuhe anzog, „und du, mein Lieber, wirst hier aufräumen. Und zwar picobello!”

Houwang fiel im wahrsten Sinne des Wortes das Gesicht runter. „Ich? Aufräumen?”

„Du hast das Chaos angerichtet, du wirst es auch wieder in Ordnung bringen.” Er schlüpfte in den zweiten Schuh.

„Alleine?”

„Ja, alleine. Denn ich habe jetzt keine Zeit für dich. Auf Wiedersehen!”

Ohne auf eine weitere Erwiderung von Houwang zu warten, stürmte Friedrich hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Mit einem leisen Klicken fiel sie ins Schloss.
 

Die Tür des Petshops stand offen, was Leons kämpferischen Ansturm noch mehr Wucht verlieh, als er über den Laden hereinbrach. Diesmal hatte er D am Schlafittchen, das konnte er genau spüren. Und der Fall war prominent genug, um Aufmerksamkeit zu ziehen. Endlich landete D dort, wo er hingehörte. Diese Vorstellung verlieh ihm eine ungeahnte Energie, sodass er mit einem sprungähnlichen Satz, der Spiderman alle Ehre gemacht hätte, im Laden landete.

Leider ging sein fulminanter Auftritt völlig unter, da bereits ohnehin ein ziemlicher Tumult herrschte. Außerdem wäre er fast über zwei große Einkaufstüten gefallen, die jemand direkt hinter der Tür liegengelassen hatte.

„D! Was zum -”

Doch der Graf beachtete ihn gar nicht, so beschäftigt war er damit sich mit ... Chris zu streiten? Leon hatte den Graf schon an vielen seltsamen Orten und bei vielen seltsamen Handlungen gesehen, aber noch nie dabei, wie er sich mit Chris oder einem seiner Tiere stritt. Das passte absolut nicht zu dem sonst so ruhigen Mann, den doch eigentlich nur er selber, Leon, auf die Palme bringen konnte. Im ersten Moment war er so verwirrt und der Lärm so groß, dass er nicht richtig mitbekam, worum es ging. Pon-chan, der kleine Waschbär, der immer mit Chris zusammen war, hüpfte aufgeregt herum und sogar das vermaledeite Ziegenvieh hatte zu viel damit zu tun, unartikulierte Geräusche in die Gegend zu blöken, um Leon auf seine übliche, gewalttätige Art zu empfangen.

Leon räusperte sich einmal. Zweimal. Der Graf ereiferte sich über eine Schlange oder so. Er hörte nicht wirklich hin. Es interessierte ihn auch nicht. Denn niemand beachtete ihn.

Ein weiteres Räuspern.

Keine Reaktion.

Dann musste er sich eben anders Gehör verschaffen. Er holte tief Luft und brüllte: „Was in Gottes Namen geht hier vor?”

Augenblicklich hing ihm T-chan am Bein und grub scharfen Zähne in seine Wade. Immerhin eine Form von Aufmerksamkeit. Fluchend versuchte er ihn abzuschütteln, aber das Mistding war verdammt zäh.

Vorwurfsvoll schaute er zu D hinüber und, da sich gerade so etwas wie Schweigen über den Laden gelegt hatte, fragte er noch einmal: “Was ist hier los?”

D schien ernsthaft wütend zu sein, zumindest fast so wütend wie damals, als Leon seinen Lieblingskuchen weggeworfen hatte. Er warf einen Blick zu Chris, der so aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen und schaute dann zurück zu D.

„Mein lieber Detektiv”, säuselte der Graf in seiner gewohnt ruhigen Stimme, doch Leon konnte deutlich heraushören, dass er immer noch wütend war, „was machen Sie hier, mitten am Tag? Sie haben doch rund um die Uhr mit diesem extrem wichtigen Fall zu tun.” Das “extrem wichtig” zog er übertrieben in die Länge, um seine Einstellung gegenüber solch profanen Sachen zum Ausdruck zu bringen.

„Deswegen bin ich ja hier!”, schnaufte Leon, kramte ein Foto von Jason Yorke und eines von Jay Block aus der Tasche und hielt sie D unter die Nase. „Kennen Sie diese Personen?”

Der Graf stutzte, schaute das Foto nicht einmal an, sondern wischte es mit dem Handrücken zur Seite wie eine lästige Fliege. „Natürlich nicht. Und bitte entschuldigen Sie mich, ich habe zur Zeit wahrlich Wichtigeres zu tun.”

„Wichtigeres? Was könnte wichtiger sein als ein, nein als zwei Morde?“, rief Leon. „Wie hieß noch mal der Mann, dem Sie diesen Affen verkauft haben? Dieser Affe hat nämlich einen Mord begangen!”

Chris schaute beunruhigt zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Der plötzliche Themenwechsel verwirrte ihn. Natürlich begrüßte er es, dass der Zorn des Grafen nun nicht mehr ihn allein traf, doch wusste er genau, dass er noch längst nicht aus dem Schneider war. Tatsächlich wandte sich ihm der Graf wieder mit einer schwungvollen Bewegung zu, nachdem er Leon einige Sekunden abschätzend gemustert hatte, und wollte wissen: „Hat sie gesagt, wo sie hingeht?”

Chris schüttelte den Kopf und Leon fühlte sich so übergangen wie selten in seinem Leben.

„Wie hat sie es überhaupt aus der Eingangstür geschafft?”

T-chan löste seinen Klammergriff gerade lange genug von Leons Bein, um ein paar Laute zu bellen, bevor er seine Zähne wieder in sein Fleisch versenkte.

„Du hast ihr die Tür aufgemacht?” Ds Stimmlage kam gefährlich nahe an einen Schrei heran. Seltsamerweise wurde seine Stimme nicht höher, sondern tiefer, wenn er lauter wurde. Leon hätte erwartet, dass er sich wie ein kleines Mädchen anhören würde.

‚Sie hat mich darum gebeten, und ich wusste nicht –'

Sie?

„Die Tür des Ladens ist mit einem Schutz belegt, damit hier nicht einfach jeder rein- und rausspazieren kann”, fauchte der Graf. „Du kannst doch nicht einfach irgendeinem Tier nach draußen lassen.”

Tier?

‚Das war eine Frau! Wenn sie nicht hier leben will, dann können Sie sie doch nicht einfach hier einsperren!’

Frau?

„Moment mal!”, schaltete sich Leon ein und stampfte, um seine Worte zu unterstreichen, einmal heftig auf. Rein zufällig und völlig unbeabsichtigt traf er dabei den Schwanz von T-chan, der daraufhin schlagartig von seinem Bein abließ und sich jaulend zusammenkrümmte. „Um wen geht es hier eigentlich?”

Würdevoll drehte D sich zu ihm um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Chris hat ein Tier aus meinem Laden nach draußen gelassen, und zwar ohne meine Erlaubnis und ohne dass es einen Besitzer gefunden hätte.”

In Leons Kopf tat sich ein Paradies aus entlaufenen Raubtieren, panischen Menschen, einer Rettung durch ihn höchstselbst und D hinter Gittern auf. „Soso, ein Tier. Was für eines denn?”

‚Das war eine Frau!’, protestierte Chris.

Zeitgleich verkündete der Graf: „Eine Schlange.”

Leons Augen funkelten. Eine Schlange! Ausgezeichnet! Schlangenbisse waren verdammt gefährlich und es gab kaum Schlangenarten, die man legal als Haustier halten durfte. Mal ganz davon abgesehen davon, dass man keinerlei Schlangen - legal oder nicht - in LA aussetzen durfte. Das öffentliche Wohl war in Gefahr! Amerikanische Bürger!

„Eine Schlange … nun, das ist natürlich sehr bedauerlich. Was für eine war es denn? Eine Python? Eine Boa? Oder vielleicht eine Kobra?”

„Eine weiße, chinesische Bergschlange.” D sah aus, als hätte er sich an einem großen Bissen Kuchen verschluckt.

Von dieser Rasse hatte Leon zwar noch nie gehört, aber wenn sie in Ds Besitz war, musste sie gefährlich sein. Ein zusätzlicher Vorteil war, dass weiße Schlangen auch in unübersichtlichen Gebieten leicht zu entdecken sein mussten.

„Und bevor Sie fragen, mein lieber Detektiv”, unterbrach D seine Gedanken, „sie ist für Menschen nicht gefährlich.”

‚Als wüsste er, was ich denke’, schoss es Leon durch den Kopf.

„Warum machen Sie dann einen solchen Aufstand?”, erkundigte er sich verschlagen. „Gehört sie vielleicht zu einer beinahe ausgestorbenen Gattung und steht deshalb unter Naturschutz?”

„Sie ist die einzige ihrer Art”, erklärte D, „und sie ist schon mehrere hundert Jahre alt. Sie wurde mir von meinem Großvater überantwortet, weil sie im Prozess ist, sich zu vervollkommnen. Es ist ihr nicht erlaubt, vor Abschluss dieses Prozesses den Laden zu verlassen und das letzte Mal, als ich sie besucht habe, versicherte sie mir, dass dies noch einige hundert Jahre hin sei.”

Noch vor einigen Monaten hätte Leon D kein Wort geglaubt. Das Problem war, dass er damals auch noch keine Drachen gesehen hatte, oder seltsame Schmetterlinge oder Kirins. Die Erinnerung an diese Geschöpfe ließ ihn einen kurzen Moment lang ein winziges Bisschen an seiner Überzeugung zweifeln, dass es derartige Fabelwesen nicht gab, nie gegeben hatte und nie geben würde. Dass es keine Schlangen gab, die sich tausend Jahre „vervollkommneten”, sich dann in Frauen verwandelten und einen Bummel durch LA machten.

„Ich muss gehen und sie suchen”, grummelte D. „Chris, hast du zumindest eine ungefähre Idee, wo sie sein könnte? Hat sie vielleicht irgendetwas gesagt, bevor sie gegangen ist?”

Chris, der reichlich zerknirscht aussah, legte die Stirn in Falten während er angestrengt nachdachte. Dann sagte er langsam: ‚ Sie sagt, dass sie einen Besitzer habe. Und als ich sie das erste Mal gesehen habe, war dieses Mädchen dabei, dem Sie den Hund verkauft haben. Magdalena hieß sie.’

„Hat sie mit ihr gesprochen?”

Eifrig nickte Chris. ‚Ja, und zwar nur mit ihr. Für mich hat sie sich gar nicht interessiert und Pon-chan’ - er schaute zu dem Waschbär hinüber – ‚naja, Pon-chan war nicht da.’

Beleidigt drehte Pon-chan ihnen den Rücken zu.

„Magdalena, Magdalena, hmm, auf dem Vertrag müsste ihre Adresse stehen.” Schnellen Schrittes durchquerte der Graf den Verkaufsraum und verschwand in seiner Küche. Sie konnten ihn in etwas wühlen hören und Papier raschelte. Währenddessen warf Chris Leon unsichere Blicke zu. Vermutlich erwartete er auch noch von seinem großen Bruder eine Standpauke. Doch Leon setzte ein breites Lächeln auf. Wenn Chris dem Grafen Schwierigkeiten machte, trat er wenigstens in seine Fußstapfen.

Nach einigen Minuten stürmte der Graf zurück in den Laden, ein dicht beschriebenes Blatt Papier in der Hand. „Hier ist es. Die Mutter hat unterschrieben: Vanessa Yorke, Walnut Street 314, in …”

„Yorke?”, unterbrach Leon ihn. „In der Walnut Street? Das ist doch … das ist die Frau von unserem ersten Opfer!”

‚Von dem Fall an dem du die ganze Woche ermittelt hast?’, fragte Chris neugierig.

„Genau. Jason Yorke wurde letzten Montag ermordet in einer Seitengasse gefunden. Und zufällig hat D einem Kunden einen ungewöhnlichen Affen am selben Tag verkauft.“ Leon geriet jetzt richtig in Fahrt. „Der Affe, dessen Haare an unserem zweiten Tatort gefunden wurden!“ Er warf einen triumphierenden Blick in die Runde.

Während Chris hin- und hergerissen war zwischen Bewunderung für seinen großen Bruder und Sorge um den Grafen, gab sich D selber gelassen.

„Wenn Sie Ihre Fakten nur ein mal nachprüfen würden, mein lieber Detektiv“, meinte er ruhig, „dann wüssten Sie, dass ich den Affen nicht Montag, sondern Dienstag an Mr Devaney verkauft habe.“

Leon schluckte, unterdrückte den Impuls, die verstrichenen Tage an seinen Fingern abzuzählen, sondern versuchte sich stattdessen angestrengt an den Kunden und den Kauf des Affen zu erinnern. War das tatsächlich Dienstag gewesen?

Nach einigem Nachdenken musste er zugeben, dass D Recht hatte. Tatsächlich war er Dienstag Mittag bereits mit dem Fall um den ermordeten Mathematikprofessor beschäftigt gewesen. Was für ein Reinfall!

„Aber“, startete er einen letzten Rückschlag, „trotzdem kann der zweite Mord von Ihrem Affen begangen worden sein, D!“

„Dann müssen Sie sich aber von dem Gedanken verabschieden, dass beide Morde miteinander in Verbindung stehen“, analysierte D, über einen Stadtplan gebeugt, den er aus irgendeiner Schublade gefischt hatte.

„Das werden wir noch herausfinden“, brummte Leon angriffslustig. Er würde sich jedenfalls nicht so schnell geschlagen geben. Ds Affe war am Tatort gewesen und das bestimmt nicht aus purem Zufall.

‚Magdalena hat mir erzählt, dass ihr Vater tot ist’, meldete sich Chris auf einmal, dem die feindselige Stille zwischen den beiden Männern offenbar unangenehm war. ‚Also ist dieser Jason Yorke wohl ihr Vater.“

„Ich werde ihnen einen Besuch abstatten”, erklärte D, faltete den Stadtplan zusammen und eilte zur Tür.

„Warten Sie!”, rief Leon und hielt ihn an der Schulter zurück. D fuhr herum wie eine Katze, die man am Schwanz packt und Leon zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Einen kurzen Moment herrschte Stille. „Also, ich … Sie werden diese Mädchen gerade nicht zuhause finden. Heute ist nämlich die Beerdigung ihres Vaters und die fängt in” - er schaute auf die Uhr – „einer Dreiviertelstunde an. Dort treffen Sie die Familie sicher an.” Was er nicht sagte war, dass ihm der Name Devaney bekannt vorkam, vielleicht. Er war sich sicher, ihn im Zusammenhang mit der Ermittlung schon einmal gelesen zu haben, vermutlich auf der Liste von Yorkes Kollegen. Als Polizeibeamter war es ihm zwar eigentlich untersagt, auf diese Beerdigung zu gehen (die Privatsphäre der Familie sollte gewahrt werden), aber wer hielt ihn davon ab, in zivil dort aufzuschlagen? Mit Sicherheit konnte er dort wichtige Informationen über den Mord gewinnen. „Ich werde Sie begleiten“, verkündete er entschieden und heftete sich an Ds Fersen.

„Meinetwegen. Ich werde Sie ja sowieso nicht davon abhalten können”, knurrte D mit einem resignierten Gesichtsausdruck. „Aber beeilen Sie sich wenigstens. Und Chris, du wirst keine weiteren Tiere aus dem Laden lassen!”
 

Selbst die Milde der Sommernacht konnte Friedrichs Kopfschmerzen nicht vertreiben. Wieder einmal hatte er so lange gearbeitet, bis die Buchstaben und Zahlen vor seinen Augen verschwammen und er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Immerhin war er jetzt endlich auf dem Weg nach Hause. Er hatte sich entschieden zu laufen, denn er glaubte, dass die Bewegung ihm gut tun würde. Und tatsächlich war das Klima ideal, um Kopfschmerzen zu vertreiben. Eine kühle Brise strich um die Häuser, der Verkehrslärm war jetzt, um ein Uhr nachts, auf ein Minimum geschrumpft und sogar die Straßenlaternen schienen gedimmt. Nur seine Kopfschmerzen schienen sich nicht für diesen beruhigenden Einfluss zu interessieren. Sie hämmerten mit gleicher Intensität weiter auf die Innenwände seines Schädels ein. Es fühlte sich an, als wäre etwas Großes, Gefährliches in seinem Kopf gefangen, das mit Gewalt nach außen drängte.

Er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen, was ihm jedoch keine Linderung verschaffte.

Aber vielleicht würde es ja noch besser werden, schließlich war er ja erst ein paar Meter vom Campus entfernt, also nicht mehr als fünf oder sechs Minuten unterwegs. Die Straßen waren vollkommen leer. Das wirkte einerseits beruhigend auf ihn, andererseits weckte es in ihm die Angst, jemand könnte ihm im Dunkeln auflauern. Er wusste, dass diese Angst völlig irrational war, da es bestimmt niemanden gab, der ihm nachstellte. Dafür war er einfach nicht wichtig genug. Trotzdem war sie ihm real genug vorgekommen, um sich an einem verregneten Tag im Mai eine Pistole zu kaufen. Fast peinlich berührt hatte er sie damals im mittleren Fach seiner Aktentasche verstaut und sie seit damals nie wieder herausgenommen. Auch jetzt spürte er ihre gewohntes Gewicht, das seiner Tasche gerade die richtige Schwere verlieh, um sie beruhigend in seine Handfläche zu drücken.

Er bog in eine schmale Straße ein, die zwischen zwei Fronten von Reihenhäusern hindurchführte. Zu spät bemerkte er, dass im selben Moment jemand von der anderen Seite die Straße betrat. Seine dunkle Silhouette zeichnete sich im Licht der Straßenlaternen deutlich als Kontur ab. Sein Gesicht jedoch war nicht zu erkennen. Es war zu spät umzukehren. Friedrich holte tief Luft, straffte seine Brust so gut er konnte und marschierte in stetigem Tempo durch die Gasse. Unter seinen Füßen knirschten Scherben. Er wusste, dass seine Angst irrational war. Im Dunkeln war es so viel einfacher, der Furcht nachzugeben. Die Person kam ebenfalls näher, aber im Gegensatz zu ihm ließ sie ihren Blick sorglos, beinahe vergnügt hierhin und dorthin schweifen. Beim Näherkommen erkannte Friedrich, was er von Anfang an vermutet hatte. Es handelte sich um einen Mann mit schmaler Statur und einem beinahe zerbrechlichen Aussehen. Auf einmal traf es Friedrich, dass er diesen Mann kannte. Nicht gut und auch nicht persönlich, zumindest nicht wirklich, aber er war ihm schon oft begegnet.

Er dachte an braune Augen und Locken und ein versunkenes Lächeln. In rapider Abfolge pulsierten ihm dann mathematische Graphen und Tabellen durch den Kopf, als säße er in einem vor gespulten Diavortrag. Sein Kopfweh schien zu expandieren, so als wäre eine Bombe in seinem Kopf hochgegangen. Als es den Punkt der größten Ausdehnung erreicht hatte, war es, als ob etwas aus seinem Kopf ausbrach und seinen Platz einnahm. Ein dumpfes Rauschen erfüllte seine Ohren.

Ohne wirklich zu wissen was er tat, gewissermaßen ein Zuschauer seiner selbst, trat er dem dünnen Mann in den Weg. Der hob den Kopf und schaute ihn aus kleinen, intelligenten Augen an.

„Mister Yorke”, sagte er langsam, wobei er jedem Wort nachschmeckte, wie jemand, der eine besonders delikate Speise zu sich nimmt. „Verzeihen Sie, Professor Yorke.” Dass er das „Professor” so betonte, gab der Korrektur einen spöttischen Klang.

„Oh”, erwiderte der Angesprochene und rückte seine Brille zurecht, als müsse er Friedrich nur einmal kurz mustern, um ihn zu erkennen. Die unauffällige Geste überspielte gekonnt seine Überraschung. „Sie arbeiten auch an der Uni, nicht wahr? Ich hab Sie in einigen Gremien gesehen. Ich fürchte, dass mir Ihr Name leider im Moment entfallen ist.”

„Devaney”, sagte Friedrich tonlos. „Aber das macht nichts. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein besonders bedeutender Wissenschaftler.”

„Aber nein, sagen Sie doch so etwas nicht!”, rief Yorke aus. Es klang als spräche er mit einem kleinen Kind bei der Berufsberatung. „Sie sind ja noch sehr jung, und aller Anfang ist schwer.”

„Ja, aller Anfang ist schwer …” Friedrich fühlte, wie seine rechte Hand in seine Aktentasche glitt, beinahe ohne sein Zutun. „Sagen Sie, erinnern Sie sich noch an Sophie Amice?”

Die Stirn des Professors legte sich in Falten, als müsse er ernsthaft über diese Frage nachdenken. Dabei kannte er sie doch, das wusste Friedrich genau.

„Ist das .. vielleicht eine ehemalige Mitarbeiterin? Sie müssen entschuldigen, mein Namensgedächtnis ist wirklich furchtbar schlecht.” Ein entwaffnendes Lächeln.

Prüfend sah Friedrich ihm ins Gesicht. Die Gasse war dunkel und Einzelheiten nur schwer auszumachen. Doch er stand so nah bei Yorke und seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, dass er jede Lachfalte meinte ausmachen zu können. Er prüfte den Gesichtsausdruck, die Augen, den Zug um den Mundwinkel … und stellte mit Schrecken fest, dass Yorke die Wahrheit sagte. Er konnte sich wirklich nicht an sie erinnern, Die Erkenntnis war wie ein Schlag in den Magen.

„Vielleicht”, krächzte er, “kann ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen. “Decoding the chaos butterfly. Geht Ihnen jetzt ein Licht auf?”

Offenbar hatte Yorke endlich die Feindseligkeit in Friedrichs Stimme bemerkt und begann vor dem großen Mann zurückzuweichen.

„Decoding the chaos butterfly?”. Sein Gesicht zierte ein Lächeln, doch seine Augen zuckten nervös von Friedrichs Gesicht zum Ausgang der Gasse. „Ich weiß nicht was Sie meinen. Das ist ein geheimes Projekt der Regierung, worüber ich leider keine Auskunft geben kann. Aber ich kenne alle meine Mitarbeiter und -” Abrupt brach Yorke ab. Erstaunt weiteten sich seine Augen und auf seiner Stirn brach kalter Schweiß aus. Friedrich hatte seine Hand aus der Tasche gezogen und hielt jetzt seine Pistole. Sie war geladen wie immer. Und er hatte sie eben entsichert. Das Blut rauschte in seinen Ohren.

„Denken Sie noch mal scharf nach. Woher kamen denn die Grundlagen für dieses Projekt, hm? Wer hat die ersten Versuche dazu durchgeführt?”

Yorke hatte erschrocken beide Hände gehoben, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Ich bitte Sie, was wollen Sie denn? Geld? Sie können meine -”

„Ich will kein Geld!”, knurrte Friedrich. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, zu schreien. „Ich will, dass Sie sich an sie erinnern! Wissen Sie, was Sie dadurch getan haben, dass Sie ihre Ergebnisse für Ihr Projekt missbraucht haben?”

„Ich weiß wirklich nicht, was Sie –“

„Sophie Amice!“ Jede einzelne Silbe betonte er so kräftig, dass die Laute wie Kugeln aus seinem Mund schossen.

Langsam schien Yorke ein Licht aufzugehen, denn er begann ungläubig den Kopf zu schütteln.

„Sophies Arbeit einfach als Ihre auszugeben? Wissen Sie, was Sie ihr damit angetan haben?”

„Bitte, wir haben nicht … alles lief in strenger Absprache … wir haben niemandes Ergebnisse … “, stotterte Yorke. Schweißtropfen rannen ihm das Gesicht hinab, das verzerrt vor Angst war. Nichts war mehr von der vorigen Gelassenheit zu erkennen. „Bitte, nehmen Sie die Pistole weg. Sie wollen das doch eigentlich gar nicht. Sie …”

Er drückte ab.

Wieder.

Und wieder.

Und wieder.

Und –

Friedrich riss die Augen auf.

Um ihn herum eine Schar von Menschen. Eine riesige Menge. Die Bahn fuhr ruckelnd wieder an und er klammerte sich an dem orangenen Haltegriff, der von der Decke hing, fest. Schweißgeruch. Lärm. Rauschen. Sein Atem ging heftig, sein Kopf fühlte sich an, als müsse er zerbersten. Er schaute auf die Anzeige. Nur noch eine Station. War er so lange weggetreten? Trotz der Schmerzen schüttelte er heftig, fast panisch den Kopf und kniff die Augen fest zusammen, um das Bild von Yorkes ausdruckslosem Gesicht aus seinem Inneren zu verbannen.

Der Mann, auf dessen Beerdigung er gerade ging.

„Hey Mann, alles in Ordnung?”, fragte ihn ein junger Kerl mit Dreadlocks, der neben ihm an der Halterung hing. Erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Leib zitterte.

„Alles … alles in Ordnung”, murmelte Friedrich.

Aus den Lautsprechern ertönte die Ansage. Seine Station.

Die Türen glitten zur Seite und er stieg aus.



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