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Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~

Teil V
von

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~Enricos Ausbildung~

„So, wo das geklärt ist, lasst uns einen trinken!", schlägt Aaron vor und erhebt sich. Er geht zum hölzernen Globus und öffnet die obere Hälfte. In der Minibar darin füllt er drei Gläser mit Scotch und kommt zum Tisch zurück. Ein Drink ist jetzt wirklich eine gute Idee. Bevor ich mir klar darüber werde, was ich gerade getan habe, sollte ich meine Sinne betäuben. Ich leere das gereichte Glas in einem Zug und schüttle mich, als der Alkohol meine Kehle hinunter brennt. Aaron schmunzelt amüsiert.

"Noch einen?", will er wissen.

"Ja, gern!", entgegne ich mit heißer Stimme. Aaron füllt das Glas erneut, dann setzt er sich wieder zu uns. Während ich die braune Flüssigkeit darin betrachte, versinke ich in Gedanken: Wenn Giovanni wirklich nach Italien abreist, bleiben von den großen Vier nur noch Diego und ich übrig. Wir werden neue Clanführer ernennen müssen. Auch die Wölfe werden einen Stellvertreter brauchen. Mit den Locos werde ich alle Hände voll zu tun haben, ich kann mich nicht um alles allein kümmern. Als ich einen flüchtigen Blick zur Seite werfe, ist auch Toni in Gedanken versunken. Ob er sich ebenfalls Sorgen, um unsere Zukunft macht? Vielleicht sollte ich ihm eine führende Rolle zuteilen. Er ist der Einzige, dem ich die Wölfe anvertrauen kann. Ich will meinen Gedanken gerade aussprechen, als Toni mir zuvor kommt. Er sieht von seinem Glas auf und Aaron ernst an.

"Eine Sache macht mir allerdings Sorgen." Der alte Pate schaut fragend.

"Michael wollte das genau das hier passiert!" Jetzt sehe auch ich ihn fragend an. Worauf will er hinaus?

"In Miami hat uns seine Tochter eine Nachricht überbracht. Wir sollen zurück nach New York und Enrico soll Chef der Locos werden. Aber was haben die Drachen davon?" Es wird bedrückend still. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Toni hat recht, wenn Michael will, dass ich die Locos übernehme, verfolgt er doch irgend einen Plan. Vielleicht glaubt er ja, die Locos unter meiner Führung leichter zerschlagen zu können?

"Michael spielt sein Spiel und wir unseres. Das war schon immer so, nur konnte ich vor fünf Jahren meine Spielfiguren nicht rechtzeitig an ihren Platz setzen. Das werden wir jetzt nachholen." Aaron zündet sich eine neue Zigarre an, ich beobachte ihn dabei kritische. Bin ich nur eine Schachfigur im Spiel der beiden mächtigsten Männer in New York? Die Vorstellung gefällt mir nicht. Müsste ich es als Pate nicht sein, der die Fäden in der Hand hält?

"Das hier bleibt vorerst unter uns. Du hast noch viel zu lernen und so lange bleibe ich das Oberhaupt der Locos. Von heute an, will ich dich jeden Tag hier sehen. Ich werde dich in all meine Geschäfte einweihen und dir beibringen, was du wissen musst. Erst dann mache ich es offiziell." Jeden Tag? Ich will gar nicht jeden Tag in dieser staubigen Villa zubringen und schon gar nicht unter ständiger Kontrolle Aarons stehen. Ich habe noch genug eigene Geschäfte, um die ich mich kümmern muss.

"Gibt es damit ein Problem?", will der Pate streng wissen.

"Ich habe keine Zeit, jeden Tag hier aufzuschlagen." Sein Blick verfinstert sich.

"Dann wirst du dir die Zeit nehmen! Noch sage ich dir, was zu tun ist!" Ich rolle mit den Augen und sehe zur Seite weg.

"Enrico!", schimpft er.

"Ja, ja schon gut, ich werde da sein!" Mir bliebt wohl nichts anderes übrig. Wird wirklich Zeit, dass der alte Mann sich zur Ruhe setzt und mich machen lässt.

"Gut", brummt Aaron nachdrücklich und pafft den Rauch seiner Zigarre in meine Richtung, dann sieht er mich eindringlich an.

"Sind deine Rippen inzwischen verheilt?" Ich schaue reflexartig auf meinen Oberkörper und taste ihn ab. Es schmerzt schon seit einigen Tagen nicht mehr, doch wirklich bewusst wird mir das erst jetzt.

"Ja, ich denke schon!", entgegne ich also.

"Sehr gut! Dann wird dein Training ebenfalls nächste Woche beginnen. Ich werde sehen, ob ich Kenshin bis dahin überzeugen kann, dich hier im Anwesen zu unterrichten."

"Kenshin? Kenshin Ueda", wirft Toni überrascht dazwischen. Kennt er den Mann etwa? Aaron nickt und nippt an seinem Whiskyglas. Tonis Aufmerksamkeit richtet sich auf mich, doch sein entsetzter Ausdruck in den Augen bleibt.

"Das ist Michaels Meister gewesen." Ernsthaft? Ich soll von dem Mann trainiert werden, der einst Michael Ausgebildet hat? Fragend schaue ich Aaron an.

"Deswegen habe ich ihn ausgesucht!", meint der Pate gelassen.

"Dann ist der Kerl doch ein Drache!"

"Nein, er gehört keinem Clan an, eigentlich lehnt er die Mafia und all ihre Gruppierungen ab. Wie hast dus hinbekommen, dass er einen von uns trainiert?", erklärt mir Toni und richtet seine Frage an Aaron. Dieser Lächelt verschmitzt und trinkt sein Glas leer.

"Wir sind zusammen zur Schule gegangen und er war mir noch einen Gefallen schuldig!" Zusammen zur Schule gegangen? Dann muss dieser Kenshin ja mindestens so alt sein, wie Aaron und von dem soll ich etwas lernen? Ist sich Aaron sicher, dass ich den alten Mann im Training nicht umbringe?

"Schau nicht so skeptisch! Wenn dus schaffst bei eurem ersten Kampf eine Minute lang stehen zu bleiben, kannst du von mir aus sofort die Locos leiten und ich setze mich zur Ruhe." Das ist doch mal ein Wort. Keine langweiligen Studien bei Aaron und ich hab sofort das Sagen, da bin ich dabei.

"Einverstand!", rufe ich zuversichtlich. Toni bricht in schallendes Gelächter aus, verstört sehe ich ihn an.

"Der wird dich so was von fertig machen!"

"Sei gefälligst auf meiner Seite!", verlange ich und schlage ihn mit der Faust auf den Oberarm. Toni zuckt kaum merklich zusammen und muss noch immer lachen.

"Ich freue mich jetzt schon auf dein erstes Training mit ihm." Ich werde es ja wohl mit einem alten Opa aufnehmen können, doch auch Aarons belustigter Gesichtsausdruck lässt mich zweifeln. Ist der Kerl denn wirklich so gut? Er hat Michael ausgebildet, er muss sein Handwerk also verstehen. Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr gefällt mir die Vorstellung, von diesem Mann unterrichtet zu werden. Vielleicht kann er mir ja dabei helfen, meinen Schwur einzulösen?
 

Aarons Ausbildung beginnt eine Woche später mit jeder Menge Bürokratie. Seit gut zwei Stunden sitze ich nun schon über all den Verträgen und werde doch nicht schlau daraus. Papierkram, ich hasse Papierkram! In meinem Clan hat das immer Romeo für mich erledigt. Besitzurkunden, Baugenehmigungen, Kaufverträge, Geschäftskonten, so unendlich viele davon. Ich kann es hundert mal durchrechnen, ich bekomme keinen Überblick darüber, wie viel Geld Aaron eigentlich besitzt, zu wem sein Vermögen fließt und von wem das ganze Geld kommt. Viele der Namen lese ich zum ersten Mal. Sind das alles neue Geschäftskunden oder war ich bisher einfach nicht tief genug in all seine Machenschaften verwickelt gewesen? Ich weiß es nicht und ich will es auch gar nicht wissen. Wenn ich das alles bewältigen soll, brauch ich dringend eine Sekretärin, oder zwei, oder drei. Wie schafft es Aaron bloß, bei dem ganzen Zeug nicht den Überblick zu verlieren? Seufzend lasse ich den Kopf auf die Rechnungen fallen und schließe die Augen. Das werde ich nie schaffe. Warum habe ich Idiot diese verdammte Urkunde unterschrieben. Ich bin nicht mal fähig, die Summe des Vermögens auszurechnen, dass ich einmal erben werde.

Eine knorrige Hand legt sich auf meine Schulter, ich schaue erschrocken auf. Jester betrachtet mich mit einem Lächeln. Was er wohl von mir will? Hoffentlich nicht noch mehr Papierkram. Die Hände des Butlers sind leer, ich atme durch.

"Hat der Master dich damit allein gelassen?", will er mitleidig von mir wissen. Ich nicke resigniert und raufe mir die Haare. Aaron hat mir einen Berg Papiere und Aktenordner auf den Schreibtisch geworfen und ist dann verschwunden.

"Wie sieht er bei all dem Mist nur durch?", frage ich verzweifelt.

"Du hast doch auch schon mehrere Geschäfte geleitet, hast du dabei keine Verträge schreiben und lesen müssen?" Nein, ich habe meine Männer für diesen Kram. Selbst habe ich nur das getan, was ich wirklich gut kann: Männer für meine Sache gewinnen, trinken, spielen und ab und an mal jemanden umlegen. Das hier ist zu hoch für mich.

"Nein, ich habe sie nur unterschrieben", seufze ich.

"Dann wird es aber wirklich Zeit, dass du dich damit befasst! Wer weiß, wie viele Dollar dir deswegen schon durch die Lappen gegangen sind!" Klugscheißer! Meine Leute hauen mich nicht übers Ohr, oder? Verflucht, er hat ja recht. Am besten ich ordne den ganzen Scheiß erst mal. Imobilien auf einen Haufen, Rechnungen und Verträge auf einen anderen. Ich wusste gar nicht, dass Aaron so viel Häuser besitzt. Neben seiner Villa, der Villa von Robin, die nach ihrem Tod wieder auf ihn läuft, gibt es noch dutzende weitere Häuser. Es ist sogar ein Hotel dabei. Natürlich, das verkommene in dem Toni und ich übernachtet haben. Kein Wunder das mit dem Kram kein Geld rein kommt. Die Häuser stehen leer oder sind baufällig. Die meisten New Yorker sind so arm, das sie sich keine Wohnungen mehr leisten können und werden mit Sack und Pack von ihren Vermietern auf die Straße gesetzt. Aaron scheint da keine Ausnahme gemacht zu haben. Aber leerstehend verursachen sie mehr Kosten als Nutzen. Vielleicht sollte ich die Mieten erschwinglicher machen, wäre immer noch besser, als gar keine Einnahmen.

Ich drehe ein Papier in Jesters Richtung und will von ihm wissen: "Wie viel nimmt Aaron für eine Wohnung in dem Haus?" Jester nimmt das Dokument an sich, liest kurz drüber und meint schließlich: "Das sind keine Wohnungen, sondern Büroräume!" Ernsthaft? Das braucht doch im Moment kein Mensch.

"Warum machen wir keine Wohnungen daraus? Obdachlose gibt es zur Zeit genug."

"Und die willst du dort haben?", meint der Butler skeptisch.

"Wenn sie Miete zahlen, ist mir doch egal, wer dort wohnt."

"Wenn die zahlen könnten, wären sie nicht Obdachlos."

"Vielleicht sind sie ja nur obdachlos, weil die Mieten zu teuer sind", halte ich dagegen.

"Und welchen Preis würdest du für angemessen halten?" Keine Ahnung. Für die meisten wären schon fünf Doller im Monat zu viel.

"Und wie willst du einen Umbau finanzieren?" Gute Frage. Vielleicht wenn wir die zukünftigen Mieter animieren mitzuhelfen?

"Wir stellen die Materialien, den Umbau machen die zukünftigen Bewohner selbst. Dafür dürfen sie günstig dort wohnen." Jester denkt darüber nach und betrachtet das vergilbte Papier in seiner Hand eingehend.

"Denk noch mal darüber nach!", meint er schließlich und legt das Dokument zurück auf den Schreibtisch. Ich seufze wieder, war wohl keine gute Idee. Verflucht. Was soll ich mit Häusern, die kein Mensch braucht oder bezahlen kann?

Als Jester die Tür zum Büro öffnet dringt gedämpfte Klaviermusik zu uns herein. Der alte Butler bleibt stehen und sieht erstaunt den Gang entlang, in die Richtung, aus der die Melodie kommt.

"Aaron spielt wieder", wundert er sich. Ich erinnere mich daran, dass der Flügel verstaubt und völlig verstimmt war, doch die Töne, die Aaron jetzt spielt, klingen harmonisch.

"Wie lange hat er denn nicht mehr gespielt?", will ich wissen und erhebe mich.

"Seit dem Überfall auf euch", erklärt er. Ganze fünf Jahre also? Das ist ungewöhnlich. Aaron liebt Musik und das Spielen am Klavier. Ob er meinetwegen damit aufgehört hat? Die Melodie kenne ich, Aaron hat sie selbst vor Jahren komponiert. Ich habe dieses Lied, als eines der Ersten, von ihm gelernt. Er war ein strenger Lehrer, nie konnte man ihn zufrieden stellen und doch kann ich mich an viele Abende in der Bibliothek erinnern, wo er sich auf dem Sofa zurück lehnte und dem Klang meines Spiels lauschte. So stolz und zufrieden schaut er nicht mal seine Töchter an, wie er es oft bei mir tut. Verrückter alter Mann, adoptiert einen streunenden Windhund, wie mich. Bei diesem Gedanken wird mir erst bewusst, dass es neben all den neuen Pflichten, noch etwas anderes bedeutet, adoptiert zu sein. Ich gehöre jetzt ganz offiziell zu einer Familie, die über mich und meinen Bruder hinaus geht. Aaron ist zwar ein Sklaventreiber und versucht mir ständig Vorschriften zu machen, aber ich kann mir keinen besseren Vater vorstellen. Ob es ihm, mit mir als Sohn, wohl ähnlich geht? Ich fahre ihm so oft über den Mund und vergesse immer wieder, welche Position er im Clan einnimmt und trotzdem schätzt er mich. Die Gründe dafür begreife ich nicht.

"Wo willst du denn hin?", höre ich Jester fragen, als ich das Büro verlassen und der Musik zur Bibliothek folge.

"Ich mache eine Pause", entscheide ich und lächle versöhnlich. Der Butler erwidert das Lächeln und schüttelt mit dem Kopf. Es ist nichts neues, dass ich jede Gelegenheit nutze, um mich vor unangenehmen Pflichten zu drücken, aber ich kann jetzt wirklich einen Moment Abstand gebrauchen, vielleicht kann ich dann auch wieder klarer Denken.
 

Als ich die Tür zur Bibliothek öffne und eintrete, sieht Aaron nicht auf. Er hat die Augen geschlossen, seine Lippen ziert ein zufriedenes Lächeln, während seine Finger über die Tasten tanzen. Die Musik füllt den ganzen Raum und ist so laut, dass man meine Schritte nicht hören kann. Ich schaffe es zu ihm zu gehen, ohne das er mich bemerkt und selbst, als ich mich auf dem Hocker zu ihm setze, ist er noch ganz in sein Spiel vertieft. Ich sehe ihm dabei zu, wie seine faltigen Hände die Tasten in flüssigen Bewegungen spielen. Wie oft habe ich als Kind seine Fingerfertigkeit bestaunt, aber inzwischen kann ich es mindestens genau so gut. Ich lege meine Hände ebenfalls auf die Tastatur, zwei Oktaven tiefer als er und beginne mitzuspielen.

Aaron sieht erschrocken zu mir, sein Spiel verstummt, ich spiele für ihn weiter und sehe ihn auffordernd an, bis er wieder mit einstimmt.

"Bist du schon fertig?", will er wissen.

"Ich mach eine Pause."

"Was mache ich nur mit dir?", seufzt er. Sein Spiel wird schneller und ich muss mich anstrengen mitzuhalten.

"Du bist aus der Übung!", bemerkt er sofort.

"Ich weiß, aber du warst auch schon mal besser." Es ist bereits das dritte Mal, das seine Finger nicht die richtigen Tasten finden.

"Du und deine viel zu große Klappe. Hast du eigentlich nie Angst, ich leg dich mal deswegen um?"

"Mhm, nein! Wenn du das machen wolltest, hättest du es schon vor Jahren getan. Ich denke eher du genießt es, wie ein normaler Mensch behandelt zu werden. Es ist sicher nicht angenehm, wenn alle Angst vor einem haben." Aaron schmunzelt amüsiert, also habe ich recht?

"Ich mag deine offene und ehrlich Art. Du hast mich noch nie belogen oder betrogen."

"Hast du mich deswegen Giovanni und Diego vorgezogen?" Die Finger des Paten halten inne und auch ich höre auf. Sein fester Blick richtet sich auf mich.

"Nein! Ich habe dich gewählt, weil du einen festen und unerschütterlichen Charakter hast. Die Menschen folgen dir nicht aus Angst, sondern weil du sie zu führen verstehst. Du beobachtest gut, erkennst Stärken und Schwächen schnell und verteilst Aufgaben dementsprechend." Ich sehe den alten Mann mit großen Augen an. Ist das sein Ernst? Mir sind all diese Eigenschaften nicht bewusst und um so mehr wundere ich mich, dass sie ihm aufgefallen sind. Ich beginne gerade mich geschmeichelt zu fühlen, als Aaron mich mahnend ansieht.

"Aber du bist auch ein unberechenbarer Heißsporn, der noch viel zu sehr mit dem Kopf in den Wolken hängt. Du denkst zu wenig nach und lässt dich zu oft von deinen Gefühlen lenken." Irgendwo habe ich das doch schon mal gehört. Hat mir Toni nicht genau das Selbe gesagt? Ich sehe unter Aarons festen Blick hinweg und stattdessen auf die schwarz weißen Tasten. Der alte Mann kann auch keine Komplimente verteilen, ohne im selben Moment verbale Ohrfeigen auszuteilen.

"Es braucht noch viel, um aus dir einen anständigen Paten zu machen, aber wenn es mal so weit ist, wirst du sicher mal größer als ich." Fassungslos starre ich ihn an. Größer als er? Das glaube ich nicht, ich werde ihm niemals das Wasser reichen, in hundert Jahren nicht. Aaron wendet sich von mir ab und legt die Finger wieder auf die Tasten. Eine klare Melodie schwebt durch den Raum, das Wiegenlied meiner Tochter. Bei diesen Tönen kann ich nicht anders, als zu lächeln.

"Was macht dich da eigentlich so sicher? Vielleicht bin ich als Pate ja auch ein Versager und Faulpelz", will ich von ihm wissen, als ich das Lied etwas tiefer in einem Kanon mitspiele. Aaron schmunzelt.

"Nein, bist du nicht! Du bist genau wie ich, als ich in deinem Alter war. Ehrgeizig, wissbegierig und viel zu locker mit den Frauen und dem Alkohol." Ehrlich? Ich bin wie er? Stolz betrachte ich den alten Paten. Es fühlt sich gut an, einem Mann ähnlich zu sein, der so viel im Leben erreicht hat, wie er.
 

In Erwartung das Kenshin uns am Nachmittag seine Aufwartung machen wird, verbringen Aaron und ich den Nachmittag im Garten. Um mir die Wartezeit zu vertreiben, habe ich Scotch und Brandy aus ihrem Zwingern gelassen und jage sie schon eine ganze Weile mittels eines Stockes kreuz und quer durch den Garten. Aaron hingegen hat sich auf der Veranda nieder gelassen und liest im Gartenstuhl sitzend, ein Buch. Jester trägt gerade ein Tablett mit Gläsern und einer Karaffe voll Limonade zu uns. Er stellt es auf dem Tisch neben Aaron ab und gießt zwei Gläser ein. Guter alter Mann, das Toben mit den Hunden hat durstig gemacht. Ich laufe zu den Beiden, Scotch und Brandy kleben mir dabei an den Fersen, und nehme mir eines der Gläser. In einem Zug trinke ich es leer und werde dabei aufmerksam von Aaron und Jester gemustert.

"Wenn du dich jetzt mit den Hunden schon so verausgabst, wirst du das Training mit Kenshin niemals durchhalten", mahnt Aaron streng und blättert eine Seite in seinem Buch um. Ist das Training mit diesem Mann denn wirklich so hart? Ich fühle mich kräftig genug es mit Scotch, Brandy und diesem Kenshin aufzunehmen.

"Ich mach mich doch nur warm", entgegne ich und nehme Scotch den Stock ab, den er mit einem Knurren zu verteidigen versucht.

"Wie du meinst. Ich hab dich gewarnt", sagt Aaron und widmet sich wieder seinem Buch. Ich werde schon klar kommen. Den eroberten Stock werfe ich quer durch den Garten, doch dieses Mal läuft ihm weder Scotch noch Brandy nach. Beide spitzen die Ohren und beginnen zu knurren. Ein deutliches Zeichen, dass sich jemand dem Anwesen nähert.

"Sperr die Hunde ein", ruft Aaron hinter seinem Buch. Schade, dabei waren die Beiden gerade so ausgelassen. Es hat sicher schon ewig keiner mehr mit ihnen gespielt. Ich rufe Scotch und Brandy zu mir, die noch immer vor sich hinbrummen und führe sie zum Zwinger. Nur widerwillig lassen sie sich einsperren und sehen hinter den Gittern so kläglich aus. Leise winselnd, die Ohren angelegt, bitten sie mich darum, wieder ins Freie zu dürfen. Ich kraule ihnen noch einmal den Kopf, dann sehe ich Jester im Augenwinkel über den Kiesweg verschwinden. Er wird unserem Gast das Tor öffnen und ihn zu uns geleiten. Daran könnte ich mich gewöhnen. Das angenehmste daran, Pate zu sein, wird er als Butler sein. Vorausgesetzt, er setzt sich nicht mit Aaron zur Ruhe, aber wahrscheinlich wird er auch dann noch hier Wohnen und bedienen. Er kann doch gar nicht, anders.
 

Gespannt betrachte ich den Weg, auf dem der Butler verschwunden ist. Wie mag dieser Kenshin wohl aussehen und was wird unsere erste Trainingseinheit sein? Ob er wirklich so streng und gnadenlos ist, wie alle sagen?

In Begleitung des gebrechlichen Butlers schleicht ein beinah eben so alter Mann den Kiesweg hinauf. Er stützt sich mit der rechten Hand auf einen Stock, die linke hält er auf den Rücken verschränkt. Die Beiden scheinen sehr vertraut miteinander, denn Jester lacht immer wieder herzhaft. So schlimm kann dieser Kenshin gar nicht sein, wenn er das zu Stande bringt.

Scotch und Brandy bellen finster, als sie näher kommen. Aaron sieht von seinem Buch auf und mich auffordernd an, ich soll die Hunde zur Ruhe bringen, also strecke ich die Hand aus und deute nach unten. Obwohl ich weder Scotch noch Brandy ansehen, wird es still im Zwinger. Unser Gast wirft mir nur einen flüchtigen Blick zu, dann gilt seine Aufmerksamkeit Aaron. Der alte Pate erhebt sich, als er den Freund komme sieht und legt sein Buch zur Seite. Beide begrüßen sich mit einer herzlichen Umarmung, wobei der zierliche Asiat in Aarons breitschultrigen Armen verloren geht. Sie tauschen ein paar Höflichkeiten aus, dann kommen sie auf mich zu sprechen.

"Und, wo ist dein Nachfolger?", will Kenshin in akzentfreiem Englisch wissen. Er hat mich nicht für voll genommen, wie ärgerlich.

Aaron deutet in meine Richtung und führt seinen Gast zu mir.

"Dein Ernst? Ich hab ihn für nen Handlanger gehalten. Ich dachte du hast einen besseren Blick für Menschen."

"Er sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber in ihm steckt eine Menge Potential." Wollen mich die Beiden verarschen? Ich stehe direkt vor ihnen und höre zu. Wenn sie über mich lästern, dann gefälligst, wenn ich weg bin.

"Freut mich auch dich kennen zu lernen", sage ich und verzichte absichtlich auf das höfliche Sie, trotzdem reiche ich dem alten Herrn die Hand. Kenshin runzelt die Stirn, er ignoriert meine Geste zur Begrüßung und wendet sich stattdessen an Aaron: "Manieren hat er auch keine. Was willst du mit ihm?" Arroganter Arsch!

"Ich sehe schon, ihr beide werdet euch verstehen", lacht Aaron. So viel zu seiner Menschenkenntnis, wir können uns nicht ausstehen, oder hat er das ironisch gemeint?

"Ich überlasse ihn dir, vielleicht schaffst du es ja, ihm Manieren bei zu bringen. Ich habe es inzwischen aufgegeben." Aaron entfernt sich von uns und lässt mich mit diesem Kenshin allein. Er kehrt zu seinem Gartenstuhl und dem Buch zurück und macht es sich bequem. Den grimmigen Blick, den ich ihm nachwerfe, ignoriert er und tut stattdessen so, als wenn er lesen würde. Doch immer, wenn er sich unbeobachtet fühlt, sieht er zu uns. Gemeiner alter Mann, er hätte mich ja mal vor diesem Kenshin in Schutz nehmen können. Wirke ich denn wirklich so lächerlich?

Der Altmeister mustert mich von oben bis unten und verzieht dabei immer wieder abfällig das Gesicht.

"Was kann er bis jetzt?", ruft er schließlich in Aarons Richtung.

"Karate ausgelegt auf Selbstverteidigung und Straßenkampf", antwortet Aaron.

"Warum fragst du mich das nicht? Ich kann für mich selbst antworten!", knurre ich. Wieder mustert mich Kenshin mit einem abfälligen Blick und schmatzt dabei vor sich hin.

"Na schön Junge. Warum bist du so dürr?" Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Irritiert sehe ich an mir hinab. Ist das denn durch meine lockere Kleidung so offensichtlich zu erkennen?

"Er hat eine harte Zeit hinter sich", antwortet Aaron für mich. Ich sehe mahnend in seine Richtung. Wenn er das noch einmal tut, verliere ich meine Beherrschung. Der Pate schaut belustigt zurück in sein Buch. Das ist doch Absicht von ihm, mich hier so vorzuführen.

"Was hat das Warum mit unserem Training zu tun?", will ich wissen, als von Aaron nichts mehr kommt.

"Wie viel isst du am Tag?" Noch so eine bescheuerte Frage, deren Sinn ich nicht verstehe und die mich einmal mehr überrascht. Ich habe die ganze Zeit gedacht, er würde mir neue Kampftechniken beibringen und mich durch den Garten jagen. Als ich einen Moment mit der Antwort zögere, mischt sich Jester ein: "Meistens nur einmal am Tag und dann so viel, dass ich glaube er würde platzen." Jetzt Antwortet schon der stille Butler für mich, ich fasse es nicht. Irgendwas muss ich verpasst haben. Kenshin runzelt die Stirn, er wendet sich Aaron zu und meint resigniert: "So kann ich nicht mit ihm arbeiten!" Ernsthaft, er gibt mich aufgrund meines Essverhaltens schon auf? Was ist das nur für ein seltsamer Mann? Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe den Kerl herausfordern an, als ich sage: "Du siehst auch nicht gerade topfit aus und glaubst mich trainieren zu können?" Meinen Blick hefte ich auf den Stock, auf den sich Kenshin stützt und schließlich wieder auf das Gesicht des Mannes. Der Altmeister hebt verächtlich eine Augenbrauen und auch Aarons warnenden Blick, kann ich auf mir spüren, doch mich kümmert das nicht. Sie haben mich lange genug für blöd verkauft.

Kenshins gekrümmte Haltung straft sich zusehends, stolz erhebt er den Kopf und wirkt auf einmal nicht mehr so zerbrechlich. Sein fester Blick versucht mich zu ergründen und zum Wegsehen zu zwingen, doch ich schaue eben so eisern zurück. Schließlich kommt er einen Schritt auf mich zu und meint: "Wenn ich dich trainiere, wirst du all deine Kraft brauchen. Die deines Körpers", er nimmt sein Gewicht vom Stock und hebt ihn an. Noch bevor ich die Verschränkung meiner Arme gelöst habe, schlägt er ihn mir einmal rechts und einmal links auf den Oberarm. Erschrocken sehe ich den Stock schließlich mitten im Gesicht. Seine Spitze berührt mich an der Stirn, als er weiter spricht: "Und deines Geistes und beides ist bei dir in schlechter Verfassung. Von deinen Reflexen mal ganz zu schweigen." Verflucht, wie hat er es nur geschafft, sich so schnell zu bewegen? Hinter den Stockschlägen steckte enorme Kraft, meine Oberarme feuern entsetzlich. Ich hätte ihnen weder ausweichen, noch sie abblocken können. Als ich einen verstohlenen Blick auf sie werfe, beginnen sich rote Striemen auszubreiten. Kensin betrachtet mich herausfordernd, er zieht seinen Stock zurück und greift ohne Vorwarnung erneut an. Ich schaffe es gerade noch meinen Arm zwischen Gesicht und Stock zu bringen. Obwohl Kensins Bewegungen flüssig und kraftlos aussehen, brennt seine Stockhiebe entsetzlich, doch mir bleibt nicht die Zeit mich darüber zu beschweren. Seine Schläge und Tritte sind so präzise, dass ich gezwungen bin, vor ihm zurück zu weichen. Obwohl er schon so alt ist, schafft er es mühelos sein Bein bis über den Kopf auszustrecken und damit kraftvoll zu zutreten. Ich habe die Wucht seines Fußes kaum abgefangen, als ich seinen Stock schon zwischen meinen Beinen spüren kann. Noch bevor ich begreife, was vor sich geht, falle ich ins Gras und sehe den Stock erneut auf mich zu kommen. Er drückt ihn mir auf den Oberkörper und fixiert mich so am Boden.

"Dreißig Sekunden! Ich würde mal sagen, ich habe unsere Wette gewonnen", ruft Aaron mit Blick auf die Uhr in unsere Richtung. Ich brumme nur und muss mich vorerst geschlagen geben. Der alte Mann weiß was er tut, aber ich kann ihn trotzdem nicht ausstehen.

"Deine Beinarbeit ist miserabel", stellt er fest. Ich rolle nur mit den Augen, wenn es nach ihm geht, scheint nichts annehmbar an mir zu sein. Sein Stock schiebt sich zwischen die Knöpfe meines Hemdes.

"Zieh das aus!", fordert er mit forschendem Blick.

"Wozu?", will ich skeptisch wissen.

"Tu was ich dir sage!", befiehlt er und nimmt seinen Stock von meinem Brustkorb. Wie ich seinen Befehlston hasse. Ich begreife zwar nicht, was er sich davon verspricht, aber ich tue ihm den Gefallen, stehe auf und knöpfe mir das Hemd auf. Als ich es von den Armen streife, haben sich auf meinen ganzen Oberkörper rote Striemen gebildet. Dieser verdammte alte Mann, ich sehe aus wie misshandelt und das schon nach dreißig Sekunden. Am Ende ist er es, der mich beim Training umbringt.

Der Altmeister beginnt mich zu umrunden und wieder spüre ich seinen forschenden Blick auf mir. Seine knorrige Hand berührt die große Narbe an meinem Rücken und die an meiner Schulter. Ich zucke zusammen und sehe ihn fragend an. Was bezweckt er damit? Schließlich bleibt er vor mir stehen und schaut, als wenn er ein Rätsel gelöst hat.

"Hast du solche Verletzungen auch an den Beinen?", will er in einem ungewohnt freundlich Tonfall wissen. Ich sehe unter seinem Blick hinweg. Dieses Thema ruft unwillkürlich die Erinnerung, an die Flammen in mir wach, die sich durch mein Fleisch gefressen haben.

"Also schlimmer?", schlussfolgert er. Ich muss jetzt aber nicht auch noch meinen Hose ausziehen oder? Kenshin bückt sich und schiebt mein linkes Hosenbein bis zum Knie hinauf, dort wo die vernarbte Haut endet, hält er inne.

"Das andere auch?", will er wissen und richtet sich wieder auf. Ich nicke nur stumm.

"Nun, das erklärt einiges", schnaubt er leise und mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet. Die Stirn legt er in Falten und zwirbelt seinen langen Kinnbart durch. Er überlegt eine Weile, dann will er mit Blick auf meine Beine wissen: „Wie Pflegst du sie?" Pflegen, meint er die Narben? Schlimm genug, dass meine Beine so aussehen, aber muss ich mich auch noch darum kümmern? Mir reicht es, wenn ich das Elend nicht sehen muss. Hose drüber, ab und an mal eine Schmerztablette und gut.

"Gar nicht?", entgegne ich wahrheitsgemäß und ziehe meine Hemd wieder an. Kenshin schnaubt resignierend und sieht mich schließlich ernst und eindringlich an.

"Bei dir muss ich scheinbar wirklich bei Null anfangen", seufzt er.

"Zwei Hausaufgaben für dich Junge: Drei Mahlzeiten am Tag, regelmäßig! Und die Narben zwei mal Täglich eincremen, auch die am Rücken! Du hast doch sicher ne Frau, die dir dabei hilft. Wenn schon Narben, dann so weich und geschmeidig wie möglich. Ich werde Jester erklären, welche am besten hilft, er kann sie dir sicher besorgen. Außerdem sind deine Muskeln verspannt. Ich bring ab Morgen meine Tochter mit, die kennt sich gut mit so was aus, die wird dich massieren und jetzt lauf ein paar Runden ums Haus, ich hab genug von dir!" Ich schaue ihn ungläubig an. Mit solchen Aufgaben habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Regelmäßiges Essen bekomme ich bei meinem turbulentem Alltag nie hin und Zeit für die Pflege meiner Narben habe ich mir nie genommen, außerdem bezweifle ich das Judy mir dabei helfen wird. Sie hasst mich für den Urlaub mit Toni. Und was meint er mit genug von mir? Er ist es doch, der die ganze Zeit unfreundlich ist. Als ich nicht sofort los laufe, sieht er mich finster an.

"Worauf wartest du?" Ich atme schwer durch und setze mich in Bewegung.

Während ich die erste Runde ums Haus beginne, geht Kenshin auf die Veranda und setzt sich zu Aaron und Jester. Der Butler hat Kaffee und Kuchen gebracht und für zwei Personen gedeckt. Ich bin schon mal nicht dafür eingeplant, dabei hätte ich auch Lust auf Kuchen. Gemeine alte Säcke!
 

"Und, was hältst du von ihm?", fragt Aaron, als ich auf meine zweiten Runde, an ihnen vorbei komme. War ja klar, dass sie sich über mich auslassen, während ich mich hier abmühe. Ich laufe absichtlich langsamer, um mitzubekommen, was sie sagen.

"Große Klappe und nicht viel dahinter. Das ist eine wirklich undankbare Aufgabe Aaron", entgegnet Kenshin und führt die Tasse Kaffee zum Mund. Nach einem Schluck daraus, sieht er zu mir und ruft grimmig: "Geht das nicht schneller!" Gemeiner alter Mann, er hat gemerkt dass ich langsamer geworden bin. Ich laufe wieder schneller und bin bald außer Hörweite ihres Gespräches. Erst auf meiner nächsten Runde, ist es mir wieder möglich, ihrem Gespräch zu folgen.

"Warum hast du ausgerechnet so nen Jungspund gewählt?"

"Der erste Eindruck täuscht. Sein Alter ist kein Problem, eher ein Vorteil", Aaron sieht mich stolz an, "Er ist noch unverdorben und formbar."

"Unverdorben? Der Kerl ist ein Mörder, genau wie ihr alle und alles, was ich ihm beibringe, wird er für eben diesen Zweck verwenden und du weißt, wie ich dazu stehe", entgegnet Kenshin abfällig. Aaron belächelt diese Aussage müde: "Sein Kumpel ist ein viel besserer Cleaner, als er. Für Enrico wünsche ich mir nur, dass er sich verteidigen kann. Ohne seinen Bodyguard, wäre er verloren. Ich will das du das änderst, mehr nicht. Ich kann mir nicht leisten den Jungen zu verlieren." Ist das der einzige Grund, er braucht mich? Wieder biege ich um die Villa und ihre Stimmen verlieren sich hinter mir. Wie viele Runden ich wohl noch laufen muss? Das Anwesen ist riesig und so langsam geht mir die Puste aus. Obwohl ich meine letzte Rund, auf dem Teil, wo sie mich nicht sehen können, langsamer laufe, komme ich allmählich an meine Grenzen. Ein starkes Stechen im Magen erinnert mich zusätzlich daran, dass ich heute noch nichts gegessen haben. Ich gestehe es mir nur ungern ein, aber Kenshin wird wohl recht behalten: wenn ich sein Training durchhalten will, muss ich regelmäßiger essen. Als ich die alten Herren wieder erreiche, betrachtet der Altmeister mich mahnend.

"Du bist hinter dem Haus langsamer geworden!", wirft er mir vor. Elender Sklaventreiber! Mit ihm und Aaron haben sich zwei gefunden. Wenn die mich jeden Tag so schinden, dann überlege ich mir das mit den Locos noch mal.

Ich bemühe mich wieder schneller zu laufen und bin froh ihre Blicke hinter mir lassen zu können. Keuchend umrunde ich das Haus, dieses mal gleichbleibend schnell, doch der Blick Kenshins ist noch immer unverändert mahnend.

"Wie viele denn noch?", wage ich dennoch zu fragen.

"So lange, bis ich dir erlaube, stehen zu bleiben!", erklärt er. Super Aussichten, der lässt mich doch laufen, bis ich umfalle.

"Willst du ihm keine Pause gönnen?", fragt Jester mit besorgter Mine. Er weiß, dass ich noch nichts gegessen habe. Eine Pause wäre wirklich toll. Meine Kehle ist rau und ausgetrocknet. Verstohlen sehe ich zur Karaffe mit der Limonade. Nur ein Glas? Kenshins fester Blick verneint meine flehende Bitte.

"Ich will sehen, wie er sich quälen kann und wo seine Grenzen sind." Und ich würde nur zu gern sehen, wie schnell Kenshin rennen kann, wenn ich Scotch und Brandy aus ihrem Zwinger lasse. Bei jeder Runde vorbei an den Hunde, wird dieser Gedanke immer verlockender.

Der Schweiß rinnt mir bereits in großen Strömen von den Schläfen und brennt in meinen Augen. Meine Klamotten kleben mir klamm am Körper und meine Lunge kratzt entsetzlich. Ganze neuen Runden lässt er mich erbarmungslos laufen und schaut noch nicht einmal hin, wenn ich an ihm und Aaron vorbei komme. Gemütlich essen die Herrschaften und plaudern ausgelassen. Doch jedes mal, wenn ich langsamer werde, wirft mir der Altmeister einen finsteren Blick zu.

Meine Lunge brennt höllisch und meine Beine werden mit jedem Schritt schwerer, das Loch in meinen Magen ist nicht mehr auszuhalten und ständig wird mit schwarz vor Augen. Als ich die zehnte Runde beginne, gibt mein Körper einfach auf. Ich schaffe es nicht mal mehr, um das Haus herum, um aus ihrem Blickfeld zu verschwinden, als meine Beine einfach wegknicken und ich ins weiche Gras falle. Nach Luft ringen bleibe ich liegen. Kaum einen Meter vor mir laufen Scotch und Brandy unruhig auf und ab. Sie wuffen und versuchen mit ihrer Schnauzen durch das Gitter zu kommen. Na wenigstens haben die Wachhunde Mitleid mit mir.

"Neun Runden? Mehr schaffst du nicht?", höre ich hinter mir schon Kenshin rufen. Gern möchte ich ihm sagen, wie sehr er mich doch am Arsch lecken kann, doch ich habe keine Luft dafür. Immer wieder muss ich beim Einatmen husten und glaube daran zu ersticken. Jeder Muskel an meinem Körper zittert. Verdammt, der Greis hat recht, ich halte wirklich nichts aus. Ich habe das Gefühl nie wieder aufstehen zu können und hier am Boden meinen letzten Schnaufer zu tun. Neun Runden sind wirklich nicht viel, zumindest nicht genug, um so fertig zu sein. Während ich noch immer nach Atem ringe, höre ich Schritte auf mich zukommen. Kenshins Stock gräbt sich direkt neben meinem Kopf in die weiche Erde, finstere Schlitzaugen mustern mich gehässig.

"So, neun sind also dein Maximum ja? Dann läufst du ab Morgen fünfzehn und jetzt geh nach Hause Junge! Für heute hast du anscheinend genug." Entsetzt sehe ich Kenshin an, doch er wendet sich mit einem amüsierten Lächeln von mir ab. Ganze sechs Runden mehr? Der Kerl spinnt doch. Als ich nach Aaron sehe und mir von ihm Hilfe erwarte, meint er nur: "Morgen zehn Uhr wieder bei mir! Ich habe noch ein paar Geschäftsunterlagen, mit denen ich dich vertraut machen will." Ich bin begeistert. Langweiliger Bürokram und dann Training bis zum Umfallen. Der Pate der Locos zu werden, habe ich mir ganz anders vorgestellt, aber zumindest bin ich für heute entlassen. So ganz langsam beruhigt sich mein Puls wieder, also wage ich den ersten Versuch mich auf meine zitternden Beine zu stemme. Ich brauche ganze drei Anläufe, bis es mir endlich gelingt. Ich kann die amüsierten Blicke von Aaron und Kenshin auf mir spüren. Diese fiesen, alten Säcke!

Als ich wieder normal Luft bekomme, kraule ich Scotch und Brandy beruhigen über die Köpfe und laufe dann ohne Umwege auf die Veranda. Als ich den Tisch erreiche, fülle ich mir mein leeres Glas mit Limonada und trinke es leer, nur um mir noch eines einzuschenken und es eben so gierig auszutrinken. Schon besser! Noch während mich die alten Herrn skeptisch mustern, nehme ich mir ein Stück Kuchen vom großen Teller und als ich es eilig hinunter geschlungen habe, noch ein zweites. Wegzerrung muss sein.

"Bis morgen dann!", sage ich, ohne sie noch einmal einzeln anzusehen und verdrücke im Gehen das zweite Stück Kuchen.

"Und das lässt du ihm einfach so durchgehen?"

"Ich sag doch, Hopfen und Malz ist bei dem verloren." Ich grinse fröhlich vor mich hin und verlasse das Grundstück. Vor dem Anwesen steige ich auf mein geparktes Motorrad. Den letzten Rest Kuchen schiebe ich mir im Ganzen in den Mund, dann starte ich den Motor und lenke die Maschine nach Brooklyn.
 

Als ich die Fabrik endlich erreiche, wird es bereits dunkel. Den ganzen Tag habe ich bei Aaron vergeudet und das soll nun jeden Tag so sein? Meine Begeisterung darüber hält sich in Grenzen. Ob es Toni an seinem ersten Tag, als neuer Chef der Wölfe, ähnlich ergangen ist. Noch bevor ich am Morgen zu Aaron gefahren bin, habe ich ihn offiziell zu meinem Nachfolger erklärt. Aaron hatte mich zwar gebeten, dass alles erst mal unter uns bleibt, aber jemand muss sich um den Clan kümmern, wenn ich meine Tage bei ihm verbringen soll.

Schwerfällig steige ich vom Motorrad und setze die Brille ab. Ich kann jetzt schon kaum noch bewegen, der Muskelkater am Morgen wird mich sicher umbringen. Seufzend laufe ich zum ehemaligen Mitarbeitereingang der Fabrik. Er mündet im Flur, der zu meinem Zimmer führt. Wenn ich diesen Weg nehme, muss ich nicht erst durch den Club. Auf den Trubel, der dort um die Zeit herrscht, kann ich heute verzichten. Als ich eintrete, ist alles ruhig. Auf den Weg zu unserem Badezimmer begegne ich niemandem. Scheinbar sind alle Wölfe im Club vertan oder unterwegs. Um so besser, so kann ich mich in Ruhe waschen und entspannen.
 

Nach einer heißen Dusche, fühle ich mich gleich viel besser. Mit einem Handtuch um die Hüfte und eines um den Kopf, reibe ich mir die Haare trocken und gehe in unseren Aufenthaltsraum. Toni sitzt ganz allein auf dem Sofa und hält einige Unterlagen in der Hand. Er sieht nicht einmal auf, als ich zu ihm gehe. Ist er den so in diesen Papierkram vertieft? Muss er sich etwa auch in den ganzen Bürokram einlesen? Das ist doch Romeos Aufgabe. Doch so, wie ich Toni kenne, macht er das auch noch freiwillig und aus eigenem Antrieb. Verrückter Kerl! Feierabend ist für ihn scheinbar ein Fremdwort. Als ich ihn erreiche, schaut er noch immer nicht auf. Um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, nehme ich ihm die Unterlagen aus der Hand und werfe mich zu ihm auf das Sofa. Den Kopf bette ich in seinem Schoss und sage belustigt: "Wie war dein Tag, Schatz?" Toni sieht mich grimmig an.

"Hör auf mit dem Mist und gib die Unterlagen her!" Als er nach den Papieren greift, halte ich sie weit von ihm weg.

"Mach Feierabend und sag mir lieber, wies gelaufen ist!", schlage ich vor.

"Wie soll es schon gelaufen sein? Ich habe den Club mit dir zusammen aufgebaut, das hier ist nichts neues für mich", meint er. Seine Laune scheint auf einem Tiefpunkt, dabei war er am Morgen noch gut drauf. Ich konnte ihn sogar zu einem Schäferstündchen überreden und jetzt interessiert es ihn nicht mal, dass ich halb nackt bei ihm liege?

"Ist irgendwas passiert?"

"Du hast Besuch!", brummt er. Besuch? Um die Urzeit?

"Wer denn?"

"Deine Frau!", sagt er abfällig. Augenblicklich schwindet auch meine gute Laune.

"Sie wartet in deinem Zimmer", fügt er an und erobert sich die Unterlagen zurück. Ich überlasse sie ihm kampflos und bitte stattdessen: "Kann ich bei dir pennen?" Ich will meine Frau und ihre Vorwürfe nicht hören, schon gar nicht, nach einem Tag wie diesem.

"Du solltest mit ihr reden!", meint Toni streng und ignoriert meine Frage. Seit wann ist er auf ihrer Seite? Als ich noch immer unwillig vor mich hinstarre, schaut er eindringlicher.

"Es ist wirklich wichtig, geh zu ihr!" Ich seufze resigniert und stehe auf. Ich will gar nicht wissen, was es so wichtiges gibt. Sicher keine guten Nachrichten, wenn sich Judy um diese Uhrzeit extra auf den Weg hier her macht. Als ich mich widerwillig in Bewegung setze, ruft Toni mir nach: "Enrico!" Fragend schaue ich zurück.

"Hör auf mit dem Arsch zu wackeln! Wenn sie im Haus ist, leg ich dich ganz bestimmt nicht flach!"

"Was denn, wird dir bei dem Anblick etwa schon ganz heiß?", entgegne ich nur belustigt.

"Du bist nicht so unwiderstehlich, wie du denkst", murrt er, als ich den Aufenthaltsraum verlasse.

"Das habe ich heute Morgen gesehen!", entgegne ich arrogant.

"Klappe!"

Er kann mir nichts vormachen, dass ich halb nackt vor ihm herum springe, lässt ihn nicht kalt. Schade nur, dass der Abend nun trotzdem gelaufen ist. Ich bleibe vor meiner Zimmertür stehen und atme noch einmal tief durch, dann öffne ich sie und trete ein.



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