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Opus Magnum

von

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Fatalitè Déplorable - Opus IV

Das Bett, in dem sie lagen, war zum ersten Mal so durchwühlt worden, wie in der letzten Stunde – oder den letzten zwei, vielleicht drei. War die Zeit nicht auch egal? War es nicht auch gleichgültig, wie deutlich spürbar es war, dass noch nie jemand in diesem Bett gelegen hatte? Der Bettbezug wirkte noch steif, unbenutzt – in diesem schlichten Doppelbett hatte tatsächlich noch nie vorher jemand geschlafen. Auch jetzt schlief niemand in ihm.

 

Youma lag auf dem Rücken; sein Atem hatte sich wieder normalisiert; er blickte Richtung Decke, beobachtete das fern wirkende Lichtspiel, obwohl er spürte, dass Nocturn ihn von der Seite her ansah. Er war eben erst wieder ins Bett gehuscht, nachdem er einen viel zu lang wirkenden Rollkragenpullover aus dem Schrank geholt hatte und ihn sich hastig übergezogen hatte. Es würde wohl noch viel Zeit vergehen, ehe Nocturn seine Haut länger als nötig zeigen würde. Er hatte Youma sogar beschworen, dass er die Augen schließen solle, während er aufstand, um sich das Kleidungsstück zu holen und das obwohl Youma die „Drohung“, er würde jede seiner Narben küssen, während der letzten Stunde – oder Stunden, er wusste es nicht, er hatte nicht auf die Uhr gesehen, wusste nicht, wie spät es war – wahr gemacht hatte.

Aber Youma hatte sich darüber nicht geärgert; er hatte darüber gelächelt, brav seine Augen geschlossen und erst wieder geöffnet, als er merkte, wie Nocturn sich wieder neben ihn legte.

„Ich wollte dich vorhin schon was fragen, aber ich hielt es wegen der Situation nicht für… angebracht.“ Youma grinste über diese Worte, wandte seinen Blick von der Decke ab und sah zu Nocturn:

„Was ist das für eine Frage, die du nicht stellen wolltest, wo du doch so viele andere Fragen trotz der „Situation“ gestellt hast?“ Und noch Utnmengen anderer Dinge gesagt hatte… Youma hatte nicht für möglich gehalten, dass man so viele Fragen und Dinge „währenddessen“ besprechen konnte! Nocturns Gesprächigkeit fand wirklich kei-

„Warum trägst du ein ähnliches Glöckchen wie White?“

 

Diese Frage überraschte Youma; aber eigentlich sollte sie ihn nicht überraschen, denn natürlich war es Nocturn „währenddessen“ aufgefallen und er hatte sich auch darüber gewundert, dass er die Kette nicht abgelegt hatte. Aber ein Gefühl hatte ihm gesagt, dass das tatsächlich eine Frage war, die er für später aufbewahren sollte.

Youma antwortete ihm nicht sofort. Er hatte den Blick von ihm gewandt und überlegte, was er sagen sollte, wie er es jemandem erklären sollte, der so wenig Ahnung von der Welt außerhalb Frankreichs hatte, der sich eigentlich gar keinen Begriff machen konnte vom Krieg, von der Welt der Dämonen und schon gar nicht von der Welt und den Geschicken der Wächter.

„Du weißt, dass ich zur Hälfte ein Wächter bin?“ Nocturn nickte:

„Das hat Raria mir erzählt, aber ich habe es schon vorher gespürt.“ Youma huschte ein Lächeln übers Gesicht. Wenn Raria es ihm erzählt hatte, dann wusste er es schon mehrere Tage und er hatte es kein einziges Mal angesprochen oder angedeutet. Es war unglaublich, wie wenig die Fragen um Rasse für ihn eine Rolle spielten.

„Über dein Element wunderte sie sich allerdings. Raria wollte mir nicht glauben, als ich ihr beteuerte, dass dein Element das der Dunkelheit ist.“ Jetzt wandte Youma seinen Kopf wieder zu ihm und das Gewicht der Glöckchen auf seiner Brust wurde auf einmal leichter, nachdem es ihm plötzlich unnatürlich schwer vorgekommen war.

 

Dieses Lächeln. So kompromisslos. Dieses Lächeln war es, das Youma nicht vergessen wollte.

 

„Ich habe doch recht, oder, Youma?“ Youma erwiderte sein Lächeln und deutete nur ein kleines Nicken an, plötzlich zu gerührt, um antworten zu können.

 

Er hatte schon selbst nicht mehr daran geglaubt, dass einmal der Tag kommen würde, an dem es eine lebende, atmende Person in seiner Welt geben würde, der er sich anvertrauen konnte –  eine Person, der er sagen konnte, dass er nicht nur ein Halbwächter war, sondern auch zu welchem Element er gehörte… der es sogar selbst bemerkte, ohne, dass Youma es ihm erklären musste. War endlich der Moment gekommen… an dem er nicht mehr alleine war?

  

„…wir Yami, so nennt man uns Wächter der Dunkelheit, tragen dieselben Glöckchen wie die Hikari. Es ist eine Art… Artefakt. Ein sehr wichtiges Artefakt. Wir tragen alle eins.“ Aber natürlich konnte Nocturn zählen – und auch er sah, dass das einzige Glöckchen, welches weiße Flügel hatte, zerbrochen war.

Als Youma sich auf diese Frage vorbereitete, musste sich sein Gesichtsausdruck verändert haben, denn Nocturn schloss den Mund wieder, obwohl er die Frage eben stellen wollte. Er schwieg lange, sah auf Youmas Hand, die plötzlich den kleinen Rest von Lights Glöckchen umklammerte und… sagte nichts.

 

Mit einem flüchtigen Lächeln drehte Nocturn sich nun komplett zu ihm herum, wodurch er Youma von seinen finsteren Gedanken weckte.

D’accord…“ Youma wusste mittlerweile, dass das so viel wie „in Ordnung“ bedeutete:

„…du musst es mir nicht jetzt erzählen. Es müssen nicht alle Geheimnisse sofort aufgeklärt werden.“ Keine Spur der Ärgernis oder eines Vorwurfes zeigte sich in Nocturns Gesicht; im Gegenteil. Sein Lächeln schien Youma aufheitern zu wollen.

„Erzähl es mir irgendwann, ja?“

 

Er hätte es ihm in diesem Moment erzählen sollen.

Stattdessen aber hatte er Nocturn, ergriffen von dessen Aufrichtigkeit, fest umarmt und ihm mit erstickter Stimme, da er sein Gesicht in Nocturns Haare vergrub, versprochen, dass er es ihm eines Tages erzählen würde. Dass es eines Tages keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen geben würde. Kein einziges.

 

Aber er hätte es bereits in diesem Moment erzählen sollen.

 

 

Youma besaß drei Glöckchen. Nur eins von ihnen war seins. Alle drei Glöckchen hingen an einer langen, goldenen Kette, die er um den Hals trug und stets unter seiner Kleidung verbarg. Er war sehr vorsichtig mit ihnen; vielleicht auch übervorsichtig, aber das waren wohl alle Glöckchenträger. Denn sie waren mit ihnen verbunden… sie gehörten zu ihnen, waren ihr Herz, ihre Seele.

 

Aber obwohl er sich diesem Band natürlich bewusst war, hatte er erst in der Dämonenwelt erfahren, dass man Hikari – natürlich die einzigen Glöckchenträger, die bekannt waren – mit dem Glöckchen foltern konnte. Das hatte er nicht gewusst und der Schock über diese Nachricht – die er nicht anzweifelte, immerhin machte es ihn schon nervös, wenn andere sein Glöckchen nur ansahen – hatte deutlich in seinem Gesicht geschrieben gestanden, als Kasra ihm vor ein paar Jahren davon erzählt hatte, dass Lycram den ehemaligen Regimeführer Shaginai mit dem Glöckchen gefoltert und zum Tode verdammt hatte.

 

Youma hatte niemandem erzählt, dass er auch ein Glöckchen besaß; er hatte es niemanden sehen lassen, weshalb er sich damals Kasras beobachtende Augen, die ihn während seiner gesamten Erzählung zu durchbohren schienen, nicht hatte erklären können. Damals hatte er geglaubt, dass Kasra ihn einfach nur so eindringlich beobachtet hatte, weil er sehen wollte, ob Youma Mitleid für die Wächter andeutete – aber jetzt, auf dem Boden des Stadiums liegend, nachdem Kasra ihn gehässig lachend von sich gestoßen hatte, wurde ihm plötzlich klar, dass Kasra schon lange wusste, dass Youma das perfekte Folterinstrument um den Hals trug. Woher – das wusste er nicht, es war auch egal.

 

Das viel größere Problem war, dass Nocturn unwissend war. Denn da Youma es ihm nicht erzählt hatte, wusste Nocturn nicht, was Kasra mit dem Ganzen bezweckte – er konnte sich absolut keinen Begriff davon machen, was das für eine Tortur sein sollte.   

 

Als er das Wort „Tortur“ gehört hatte, war er unwillkürlich zusammengezuckt und sofort sträubte sich alles in ihm dagegen. Aber ihm waren sowohl Youmas als auch Rarias Worte in den Sinn gekommen, dass er stets mitspielen sollte, dass er sich nicht davor scheuen durfte, Youma zu verletzen, um keinen Verdacht zu erregen und auch um sein Dasein als Dämon zu untermauern. Raria und Youma waren sich einig gewesen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kasra Youma töten würde, gering war, solange er nichts von ihren Plänen wusste und beide hatten Nocturn versichert, dass Youma Erfahrungen mit Schmerzen gemacht hatte und dass sie schnell verheilen würden. Nocturn hatte schwören müssen, dass er sich daran hielt. Dass ihn nichts von seiner Rolle abbringen würde.

 

Aber als Nocturn jetzt die schiere Angst, nein – die Panik in Youmas Augen sah, als Youma sich, nachdem Kasra ihn zu Boden geworfen hatte, sofort herumdrehte, wieder aufstehen wollte – offensichtlich, um die Glöckchen zurück zu bekommen – da geriet er ins Stocken. Kasra allerdings nicht.

 

„Ich werde dir den Spaß überlassen, mein Sohn!“ Youmas Proteste schien er gar nicht zu beachten; eher beiläufig, Nocturn ohne zu blinzeln anstarrend, riss er sein rechtes Bein weit empor und schmetterte es auf Youmas Brustkorb. Ein lautes Knacken einer oder mehrerer Rippen erschallte, Blut spritzte zusammen mit einem schmerzverzerrten Schrei aus Youmas Mund empor, während Kasras Stiefel auf dessen Oberkörper verweilte, ihn genüsslich zu Boden drückend.

    

Nocturn wusste genau, warum Kasra ihn so unablässig anstarrte – er wartete darauf, dass der Schrecken über das, was er Youma antat, sich in seinem Gesicht wiederspiegelte. Aber das tat es nicht. Es zerriss sein Innerstes, aber Nocturn war gut vorbereitet. Seit dem Moment, als er versucht hatte, in Kasras Gedankenwelt einzudringen… seit er diese abgrundtiefe und schiere Boshaftigkeit gesehen hatte… seit diesem Moment war er auf alles vorbereitet gewesen.

 

„Deine Art zu kämpfen hat mir wirklich sehr gefallen. Du hast viel dazu gelernt – sehr erfreulich! Aber kämpfen können ist nicht alles. Um ein Dämon zu sein, der sich in meiner Horde einen Platz verdient hat, gehört mehr als das – und erst recht, um mein Sohn zu sein. Also! Zeig mir, dass du beide Positionen wert bist!“ Nocturn senkte ergeben den Kopf, um eine Verbeugung auszuführen, die Kasra zufrieden belächelte; Nocturn aber blieb kurz in dieser Position, da er es nicht mehr ausgehalten hatte – nicht wegen Kasra, sondern wegen Youma. Ihn so am Boden zu sehen, mit schmerzverzerrtem, blutigen Gesicht, sämtlichen Stolz und sämtliche Würde verloren; die flehenden Augen auf das Glöckchen gerichtet – das hatte Nocturn für einen kurzen Moment nicht ausgehalten.

 

„Majestät.“

 

Kasra sah auf, als er Nocturn, der sich nun wieder aufgerichtet hatte, das sagen hörte; widerwillig, wie ihm schien, denn natürlich wollte er sich darin laben, dass Youmas Körper zu sehr von seiner Angst um das Glöckchen gelähmt war, was die Schwäche seiner Hände begründete, die absolut hoffnungslos versuchten, Kasras felsenfesten Fuß von seinem Brustkorb zu schieben. Endlich hatte er Youma dort, wo er ihn von Anfang an hatte haben wollen – unter ihm. Unter ihm, weil er der König war, er! Und Youma sein Spielzeug, mit dem er alles machen konnte, was er wollte; alles---

„Majestät“, sprach Nocturn ein weiteres Mal, als wäre es eine Beschwörung:

„Ich möchte Euch natürlich beweisen, dass ich Euren Erwartungen würdig bin. Nur leider verstehe ich nicht, was das Glöckchen mit einer Tortur zu tun hat. Es gibt doch weitaus effektivere Methoden, jemanden zu foltern, als seine Wertgegenstände zu zerstören, ganz gleich von welchem sentimentalen Wert sie sind.“ Eigentlich ein guter Punkt, denn zwar hatte Nocturn verstanden, dass Youma unbedingt sein Glöckchen wiederbekommen musste und dass er auf jeden Fall dafür sorgen musste, dass dem nichts geschah, aber er konnte sich kein Bild davon machen, dass eben das Glöckchen die effektivste Art war, einen Glöckchenträger zu foltern und dass das nichts mit persönlichem Besitztum zu tun hatte. Youmas Wissen nach war es noch nie an einem Yami probiert worden, aber die Angst in ihm löschte jeden Zweifel aus, dass es bei ihm nicht genauso funktionierte wie bei den Hikari.

 

Die größten Schmerzen, die ein Körper aushalten konnte. Schmerzen, die ihn an das Äußerste bringen würden. Die ihn für immer brandmarken würden. Ein Mahl, das die Verbindung, die Nocturn so deutlich gespürt hatte, zu seinem Element stören oder gar… zerstören würde.

 

Kasra wusste all das. Er selbst hatte bereits Hikari auf diese Weise gefoltert, ihnen dabei zugesehen, wie sie sich selbst in ihrer Verzweiflung vergaßen, wie ihr Selbst in Auflösung ging. Diese Art der Folterung war fast schon zu einfach, aber es gab ja zum Glück viele mögliche Variationen… Seitdem er von Youmas Glöckchen wusste, hatte er sich auf diesen Tag gefreut.

 

Ihn herbei gesehnt.

 

Sich ausgemalt, wie er es bei ihm tun würde – denn er war sich sicher gewesen, dass es bei seinem geliebten Youma genauso einbahnfrei funktionieren würde wie bei den Hikari. Das wusste er, seitdem er gesehen hatte, wie Youma das eine Glöckchen der drei an seine Brust gedrückt hatte – auf dieselbe Art, wie es die Hikari getan hatten, als er ihnen kurz ihr Glöckchen wiedergegeben hatte, um es ihnen dann wieder zu entreißen, gerade als sich die ersten Freudentränen gezeigt hatten. Diese letzte, sterbende Hoffnung in ihren hässlichen, weißen Augen zu sehen, war das Beste an der ganzen Sache!

 

Er freute sich bereits darauf, wie Youmas Gesicht, seine Augen, aussehen würden, wenn er anfangen würde… Er würde seinen König nicht enttäuschen. Er würde ihm gute Dienste leisten.

 

„Ah, natürlich, ich vergaß.“ Kasra lächelte Nocturn mitfühlend, ja, väterlich an – wie ein Vater, der seinem Sohn beibrachte, zu laufen. Nur dass Nocturn nicht glaubte, dass er in diesem Fall lernen wollte, zu laufen.

„Du weißt das natürlich nicht, aber – wie könntest du auch! So ein abgeschottetes Leben, wie du geführt hast… du hast viel verpasst, mein Sohn.“ Weiterhin Youmas hoffnungslose Proteste genießend, aber auch ignorierend, widmete Kasra sich nun ganz seinem vermeintlichen Sohn, welcher sich eigentlich dazu zwingen wollte, sein Lächeln nachzumachen; aber dann würde ihm von ihm selbst schlecht werden.

„Aber ich habe eine Idee…“ Einladend streckte er die Hand aus, die nicht das Glöckchen hielt:

„Was hältst du davon, wenn wir ihn zusammen foltern? Ich werde es dir zeigen – und dann kannst du übernehmen! Ich denke, das wird eine lehrreiche Lektion für dich sein; lehrreich und amüsant! Denn dieses kleine Teil hier…“ Das goldene Glöckchen mit den schwarzen Flügeln glänzte im Licht der tanzenden Flammen auf, während die anderen beiden herunter baumelten, an denen er hoffentlich kein Interesse zeigen würde, wie es Youma plötzlich durch den bereits vor Panik vernebelten Kopf schoss. Was würde passieren, wenn er auch das Glöckchen von Silence zerstören würde?! Er musste es zurückbekommen… zurückbekommen… es musste aufgehalten werden… aufhören… aufhören… nicht auch noch Silence!

„… ist das Wunderbarste, was die Hikari besitzen. Für dich ist das wahrscheinlich schwer vorstellbar, aber in diesem Ding steckt die Seele des Besitzers! Oder die Kraft der Seele, oder was auch immer, das ist auch nebensächlich! Denn – wichtig ist, dass dieses Teil einfach das perfekte Folterinstrument ist. Ein paar Risse reichen aus und ein wahres Höllenfeuer wird in ihnen entfacht. Glaub mir, mein Sohn, die Höllenfeuer-Techniken sind gar nichts dagegen! Langweilig sind sie im Vergleich! Ich meine, guck dir Youma mal an!“ Voller sadistischer Freude zeigte er auf Youma und als müsste er Youmas Leid noch deutlicher zeigen, legte er noch mehr Gewicht auf das Bein, welches den Halbdämon auf den Boden drückte. Er presste die Zähne zusammen, doch konnte nicht verhindern, dass dennoch Blut heraus floss.

 

Nocturn spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte – er musste ruhig bleiben, ruhig bleiben…

 

„Siehst du, wie sehr es ihm zusetzt, wo ich doch noch gar nicht begonnen habe?! Ich halte es nur in meiner Hand und schon ist er, der doch ach so stolz ist, kurz davor mich anzuflehen! Nichts kann er gegen mich tun, absolut wehrlos ist unser geliebter, jetzt unheimlich kleiner Youma!“

 

Er wird mich erniedrigen – hörte Nocturn Youma einige Stunden früher sagen. Er liebt es. Das ist sein krankes Spiel. Du darfst dich nicht provozieren lassen, Nocturn!

 

„Weißt du, du solltest dich geehrt fühlen, dass ich das hier überhaupt mit dir teile, mein Sohn! Schon lange bin ich gespannt auf diesen Augenblick; sieh es als eine Bestätigung, als ein Zeichen meiner Anerkennung…“  

 

„… nicht…“

 

„Oh! Hör mal, mein Sohn, jetzt spricht er schon in der Sprache der Wächter! Zu schade, dass wir ihn nicht verstehen können…“ Nocturn war zusammengezuckt; nicht wegen diesem absolut kläglichen Tonfall Youmas, sondern weil er es verstanden hatte.

„Youma! Wenn du uns anflehen willst, dann musst du das aber in unserer Sprache machen, das weißt du doch! Und wenn du flehen willst, ist jetzt der letzte Augenblick gekommen, denn gleich wird man dich nicht mehr verstehen können, ganz egal in welcher Sprache du schreien wirst!“ Kasras Kopf wirbelte wieder zu Nocturn herum, er streckte ihm das Glöckchen entgegen, seine vor Erwartung brennenden Augen schienen das Glöckchen und Nocturn gleichzeitig zu fixieren.

„Schau gut hin, Junge! Und vor allen Dingen: hör gut hin! Du magst doch Musik, oder?! Ich werde dir jetzt die schönste Musik zeigen, die du je gehört hast!“

 

Ein letztes Mal sah Kasra Youma an. Youmas weit aufgerissene Augen, der Tränenschleier, der ihm die Sicht erschwerte, die Finger, die sich verzweifelt in den unnachgiebigen Stiefel krallten.

„Wie lange habe ich darauf gewartet…“, hörte Youma Kasras verliebtes Flüstern; das einzige, was er dann hörte und das einzige, was er sah und spürte, waren seine Finger, die das Glöckchen zu umklammern begannen---

 

--- dann atmete Youma mit einem Stoß auf. Sämtlicher Druck verschwand; er spürte, dass sein Glöckchen zusammen mit den anderen heruntergefallen war und er interessierte sich nicht dafür, wieso das so war. Instinktiv drehte er sich zur Seite und sein Körper beruhigte sich augenblicklich, als seine zitternde Hand das blanke Material seines Glöckchens berührte.

Er wusste nicht mehr, was danach geschah, denn er verlor fast auf Knopfdruck das Bewusstsein.

 

Nocturn hatte Kasra mit einer gezielten Faust mitten ins Gesicht geschlagen.

Doch der König der Dämonen fing sich wieder und landete einige Meter von Nocturn entfernt – das Glöckchen hatte er aber losgelassen, wie Nocturn erleichtert festgestellt hatte.

 

„Schreie…“, begann Nocturn mit vor Zorn zitternder Stimme:

„… sind keine Musik!“

 

Ein boshaftes Lachen erfüllte den Raum, prallte von den Wänden ab, drang in die Ohren Karous, der alles mit äußerster Spannung beobachtet hatte, und Nocturns, die beide selten ein so boshaftes Lachen gehört hatten. Nein, Nocturn war sich sogar sicher, dass er noch nie eine so deutliche Manifestation der Boshaftigkeit gehört hatte wie in diesem Moment.

 

Und dann formte sich die Boshaftigkeit zu Worten:

„Du bist so dumm, Junge!“ Er konnte das Lachen kaum zurückhalten, was ihm das Wortebilden erschwerte:

„So dumm! Du hättest einfach nur warten müssen, bis ich dir das Glöckchen gebe! Ich habe dir sogar gesagt, dass ich es dir geben würde! Aber nein, das hättest du wahrscheinlich nicht ausgehalten, was?! Wären ein paar Schreie etwa zu viel für dein armes Herz gewesen?! Hättest du es nicht ertragen können?!“ Hohn und Spott vermischten sich mit seinem heiteren Lachen der Boshaftigkeit:

„Aber wieso!? Es sind nicht deine Schmerzen, also warum hättest du nicht einfach nur warten können?! Ah, ich weiß, was du antworten willst – weil er dir nicht egal ist, ja, weil du ihn „liebst“, eine Bindung mit ihm eingegangen bist! Ihr seid alle so dumm, so bemitleidenswert! Seid ihr denn keine Dämonen?!“ Nun sah er nicht nur Nocturn an, sondern einen kurzen Augenblick auch Karou:

„Sogar Karou, der ja angeblich gefühllos ist, geht innerlich förmlich an die Decke, wenn ich seine Nutte beleidige! Wieso frage ich mich! Ich habe doch nicht euch beleidigt, ich füge doch euch keine Schmerzen zu, also warum die Aufregung!? Ihr alle, die „andere“ in eurem Leben habt, die Bindungen mit diesen „anderen“ eingegangen seid! Ihr habt alle nicht verstanden, was das eigentlich bedeutet – es bedeutet nichts anderes, als sich selbst schwach zu machen, sich Schwächen aufzubürden! Und weil ihr das alle nicht verstanden habt, niemals verstehen werdet, bin ich der einzige, der sich ein Dämon nennen kann! Ich bin der wahre, der einzige Dämon und damit der Einzige, der euch Schwächlinge regieren kann!“

 

„Wage es nie wieder, ein Wort in den Mund zu nehmen, das du nicht verstehst.“

 

Nocturn und Karou hörten diese eiskalte Stimme nicht. Sie sahen nur die Reaktion auf diese; aber beide verstanden nicht, warum das geschah. Kasras Lachen verstummte auf einmal; es verstummte nicht nur, es verschwand, als wäre es von einem schwarzen Loch aufgesogen worden, zusammen mit dem Grinsen, zusammen mit aller Überheblichkeit. Blanker Horror war plötzlich auf seinem Gesicht zu sehen – was sah er? Er sah zu Nocturn, aber Nocturn tat nichts, sah ihn nur überrascht über die plötzliche Wendung an, blieb ansonsten stumm.

 

Weder Karou mit all seinem technischen Know-How noch Nocturn konnten es sich erklären, denn sie sahen nicht das, was Kasra in diesem Moment sah, was der Gott der Dämonen ihn sehen ließ und was Kasra dazu brachte, mit Angstschweiß zurückzuweichen.

 

„… nein, nicht du… du bist doch tot, geh weg, du verdammte Schlampe, dein Blick kann mich nicht mehr…“

 

Nocturn entschied sich dazu, dass Kasra alleine Schwachsinn stammeln konnte. Er sprang vor, packte Youmas Handgelenk und teleportierte sie nach Paris.

 

Kasra bemerkte deren Verschwinden erst nach verstrichenen Minuten; immer noch starrte er auf den Punkt, wo er sich absolut sicher war, dass er diese verhassten Augen gesehen hatte. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich – er selbst hatte gesehen, wie sie sich in Funken aufgelöst hatte. Ja… er hatte es gesehen, wie oft hatte er diesen Moment nicht gesehen!

„Karou!“, bellte Kasra aufgebracht, mit vor Wut bebenden Schultern und Karou machte nicht den Fehler, nicht sofort neben ihm aufzutauchen.

„J-Ja, meine Hoheit?“ Dass Kasra zum ersten Mal ein leichtes Zittern in Karous Stimme hören konnte, beruhigte ihn und seine Schultern senkten sich langsam wieder.

„Sag den Fürsten sofort Bescheid!“  

„Aber der Zeitplan…“ Kasras Blick sagte ihm deutlich, dass im Moment nichts so egal war wie irgendein Zeitplan und sofort verneigte der Forscher sich.

„Wie… Ihr wünscht, meine Hoheit.“ Wie um sich noch weiter zu beruhigen, raffte Kasra seinen dunkelblauen Umhang und leckte sich beiläufig das Blut von den Lippen, das durch Nocturns Faustschlag hervorgetreten war. Dann wandte er sich von Karou ab und verließ mit großen Schritten sein privates Stadium. Aber wegen einem anderen Thema, als dem, mit dem Karou sich nun beschäftigen musste. Nein, erst einmal würde er sich anderen Späßen widmen.

 

Und was war spaßiger, als alte „Freunde“ zu besuchen?

 

 

Die kühle Abendluft Paris‘ ließ Youma aus seiner Ohnmacht erwachen, doch sein Sein arbeitete immer noch langsam, als würde ein Nebel es umhüllen und einnehmen. Immer noch klammerte er sein Glöckchen an seine Brust, langsam einen pochenden Schmerz in dieser realisierend. Er saß auf einer Parkbank… jemand hielt seine Schultern fest… jemand sprach mit ihm… und als Youma zögerlich den Kopf hob, um zu sehen, dass dieser Jemand Nocturn war, der lächelnd auf ihn einsprach, ohne sich darum zu kümmern, dass Youma ihm nicht antworten konnte… spürte Youma, dass der Schmerz erträglicher wurde.

 

Noch verstand er nicht, was geschehen war; er wusste nur, dass sein Glöckchen und er in Sicherheit waren und dass er das Nocturn zu verdanken hatte.

„…danke…“ Zwei kleine Tränenspuren fanden ihren Weg seine Wangen entlang; eigentlich wollte er Nocturn umarmen, sich an ihn klammern, aber seine Finger waren nicht in der Lage, das Glöckchen gehen zu lassen, weshalb nur Youmas Stirn gegen Nocturns Brust sank, der ihn stattdessen zögerlich umarmte – jetzt ohne etwas zu sagen.

Diese Nähe, die Wärme Nocturns, beruhigte Youma langsam; trotzdem blieben sie mehr als fünfzehn Minuten in dieser Pose. Nocturn gab ihm all die Zeit, die er brauchte, um wieder zu sich selbst zu finden, um sein Selbst wieder zu stabilisieren – erst als er spürte, dass dies langsam einzutreten schien, begann er wieder zu sprechen:

„Du musst aufpassen, Youma. Dieser Bastard hat dir mindestens eine Rippe gebrochen – du darfst deinen Brustkorb daher nicht verbiegen, ansonsten könnte sie sich in deine Lunge bohren.“ Youma nickte, er hätte in diesem Moment allem ohne Bedenken zugestimmt; er wunderte sich nicht einmal darüber, woher Nocturn ein solches Wissen hatte. Er konzentrierte sich immer noch ganz auf sein Glöckchen; nun allerdings, um es langsam loszulassen, einen Finger nach dem anderen.

 

Dies nahm sehr viel Zeit in Anspruch, aber Nocturn drängte ihn nicht. Er sah, ohne dass sein Blick ungeduldig wirkte, nur stillschweigend dabei zu, wie Youma die drei Glöckchen wieder über seinen Hals gleiten ließ, sie wieder auf seinem Oberkörper bettete und sorgfältig, mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen, seinen Kragen schloss. Aber obwohl die Glöckchen nun wieder an ihrem Platz hingen, hatte Youma nicht länger das Gefühl, dass sie sicher waren. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie jedem förmlich entgegenstrahlten, durch seine Kleidung hindurch und dass sie somit jeden einluden, sie zu nehmen.

Ein alberner Gedanke, aber es fiel ihm trotzdem schwer, seine Hände gänzlich von seiner Brust zu entfernen – mit solch albernen Gedanken sollte er sich nicht beschäftigen, es gab doch wichtigere Dinge…

„Soll ich dir vielleicht etwas zu trinken holen?“

 

Und in diesem Moment kehrte sein Sein vollends zurück:

„Raria!“ Er hatte Nocturn angesehen, während er ihren Namen ausgerufen hatte – aber nicht lange, denn der Angesprochene wandte sich ab, worauf Youma kurzzeitig nicht achtete:

„Wir müssen zu ihr, Nocturn, schnell…“ Youma versuchte sich aufzurichten, aber er war noch zu schwach, weshalb Nocturns Hände sofort hervorschnellten, um ihn zu stützen.

„… wenn Kasra von unseren Gefühlen weiß, dann weiß er auch, wo Raria ist und… sie ist in Gefahr! In Lebensgefahr! Wir müssen uns beeilen! Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren wegen mir---wie lange war ich ohnmächtig?!“ Youma realisierte kaum, wie sich Nocturns Hände bedächtig von ihm lösten; er dachte nur an Raria und die Gefahr, in der sie schwebte.

„Youma, du musst mir versprechen, dass du wirklich auf deinen Oberkörper achtgibst.“ Youma verstand nicht, wovon er redete – er verstand das traurige Lächeln auf seinem Gesicht nicht, als er plötzlich einen Abstand zwischen ihnen aufbaute. Verstand er denn nicht, was wahrscheinlich schon im Begriff war zu…

 

„Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.“ 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Letztes Update vor Weihnachten ♥ weiter geht es dann vielleicht noch kurz vor Neujahr... auch wenn der Cliffhänger gerade echt fies ist haha xDD ♥ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: MiyaToriaka
2016-01-05T16:02:43+00:00 05.01.2016 17:02
Also ich denke, ich muss DIR nicht sagen, wie sehr ich solche Szenen liebe, in der eine geliebte Person vor einer anderen gequält wird. Immerhin hast du mich auf diesen Genuss gebracht. XD (OMG ich rede wie Kasra...)
Jedenfalls war die Art, wie du es mal wieder geschrieben hast, bombastisch. Man fühlt regelrecht mit und allein der Gedanke, dass so ein starker, selbstbewusster Dämon wie Youma weinen muss, löst in mir besondere Gefühle aus. Man merkt regelrecht, wie er das erste Mal in seinem Leben befürchtet, nicht nur zu sterben, sondern auch dasselbe Leid am eigenen Leib zu erfahren, was er seine Ziehvater einst antat. Dass er endlich vor Augen geführt bekommt, real wie nie, was er damals getan hat. Natürlich sind das nur ganz dunkle Gedanken, denn immerhin steht die eigene Angst deutlich im Vordergrund. Dieses Flehen an seinen Partner, er möge ihm doch bitte irgendwie helfen und gleichzeitig ja nicht in Kasras Falle tappen. - Das ist so unglaublich und das ist es auch, was ich so gerne in meinen eigenen Geschichten einbaue. So gesehen der ultimative Liebesbeweis; zu zeigen, zu wem man gehört, auch in den aussichtslosesten Momenten.
Aber auch Kasra selbst lässt einen total mitfiebern. Ich hätte weiß Gott was erwartet, als Nocturn ihn schlug, aber dass ausgerechnet Fragi Nocturn hilft, Youma zu retten, war eine extreme Überraschung. Das hat mich mega gefreut, weil es so unerwartet kam. Hat mir wirklich gut gefallen.
Der Schluss hat mir jedenfalls sehr gut gefallen. Wie Youma in Nocturns Armen erwacht und er ihm erst mal sagen muss, dass er aufpassen muss, sich zu bewegen (so wie dein Schreibtisch XD). Und der erste Gedanke ist Raria! Das fand ich wirklich, wirklich toll!.

LOS!!! LASS UNS RARIA RETTEN!!! ASAP!!!


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