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New Reign

Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]
von

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Resonanzkatastrophe


 

Tag 152

 

Die Arkadenstadt verpuffte in einem einzigen Schlag. Die Digimon versuchten zu fliehen, als sie das riesige Digimon auf sich zukommen sahen, doch nur wenige schafften es weit genug. In dem Moment, als Arkadimon die Stadt erblickte, befand sie sich in seiner Angriffsreichweite. Ein Blitz, eine helle Kuppel – und das Nichts fraß die Arkadenstadt. Ein Loch im Boden blieb zurück, noch viel größer als jenes in der Wüste. Träge wandte sich Arkadimon nach Süden. Die winzigen Lebensfunken, die es hier noch gab, interessierten es nicht. Dort, hinter der grasbewachsenen Ebene, fühlte es weiteres Leben, massig davon. Leben, wie es in seiner Brust nicht pochte. Leben, das es nicht verstand, ein Zustand, der ihm fremd war, den es nicht in seiner Nähe wollte, der zerstört werden musste.

Es hinterließ eine Spur aus Weltenfetzen, die in der DigiWelt auftauchten, zertrümmert und versehrt, mit Schattenklumpen, die dazwischen umherkrochen. Auch ein dunkles Meer blitzte dann und wann in dem düstergrauen Fluss auf, der unter ihm erschien, als tropfte Finsternis von seinen Tentakeln. Die Fluten spülten über die DigiWelt, ehe sie wieder verschwanden, doch was sie mit sich rissen, blieb verschwunden, und was sie berührten, wurde grau und trostlos.

 

 

In einem gekaperten Mekanorimon flog Datamon nach Süden. Offenbar hatte es die Zeichen richtig gedeutet und die Festung rechtzeitig verlassen, denn plötzlich war nichts als ein rauchendes Loch und Datenmüll davon übriggeblieben. Verdammt sollte der DigimonKaiser sein! Datamons Geräte und all seine Klone waren noch dort drin gewesen! Dass es so ernst wurde, hätte es nie gedacht.

Aber so war es eben. Datamon konnte alles neu bauen. Sobald es die Verhältnisse, die jetzt in der DigiWelt herrschten, wieder durchschaut hatte. Auf eigene Faust etwas zu unternehmen, war bei all den Heeren und Schwarzturmdigimon, die durch das Land krauchten, gefährlich. Sich in diesen Zeiten mit den Falschen einzulassen, war sogar noch gefährlicher.

Datamon würde sich seine nächsten Schritte genau überlegen. Und wenn es möglich war, diesem arroganten DigimonKaiser alles heimzahlen!

 

 

T.K. war eingenickt. Selbst das Feiern raubeiniger Digimon konnte einschläfernd wirken, wenn man müde und geschwächt genug war. Lärm, der anders war als das ewige Grölen und Johlen, ließ ihn wieder hochschrecken.

Draußen war etwas im Gange. Die Marodeure schienen hektisch, er hörte sie in der Küche herumtrampeln und ihre Habseligkeiten einsammeln. Mühevoll schleppte er sich zur Schranktür. Er war so entkräftet, dass ihm sogar das schwerfiel. Schwach trommelte er dagegen. „Hey! Was ist los?“

Warum sollten sie überhaupt antworten? Er war doch nichts als ein Gefangener, halb schon ein Sklave. Doch die Tür öffnete sich tatsächlich. Nach so langer Zeit im Dunkeln tat das grelle Licht in den Augen weh, obwohl die Deckenlampe in der Küche nicht allzu stark und es vor den Fenstern schwarz war.

„Kommt raus da“, blaffte eines der Sagittarimon, packte ihn und zerrte ihn aus dem Schrank, danach verfuhr es ebenso grob mit Patamon.

„Was ist denn los?“

„Frag nicht so dumm. Komm her.“ Es hob ihn auf den Rücken eines Centarumons. Die Marodeure schienen abmarschbereit. RiseGreymon saß beim Fenster und sah nach draußen. Von hier unten wirkte es gegen die Maße des Giga-Hauses klein wie Spielzeug.

Mit Brettern, Töpfen und Tellern hatten die Marodeure eine behelfsmäßige Rampe gebaut, mit der sie die Anrichte und das Fensterbrett erreichen konnten. Centarumon brachte T.K. und Patamon an RiseGreymons Seite. Draußen wimmelten Schatten am Himmel, schwärzer als die Nacht. Eine Gewitterwolke? Nein, sowohl die Wolke als auch die Blitze hatten die falsche Farbe … War das am Ende gar ein Digimon?

„Wir haben dich vom Rücken eines Airdramons gepflückt“, ließ RiseGreymon knurrend vernehmen, ohne ihn anzusehen. „Das heißt, du warst beim DigimonKaiser. Kennst du seine Pläne?“

T.K. hätte sowohl mit Ja als auch mit Nein antworten können, wenn er ehrlich war. „Plötzlich interessiert ihr euch für mich?“, fragte er herausfordernd.

„Beantworte die Frage“, grollte RiseGreymon und sah ihn an, als wollte es ihn gleich fressen. „Weißt du, was das da für eine Abscheulichkeit ist? Warum wird mir kalt, wenn ich es nur ansehe?“

Es hatte recht. T.K. fröstelte auch, und er spürte die Auszehrung mehr denn je. „Habt ihr deshalb gepackt? Wollt ihr davor fliehen?“

„Es zieht nach Süden“, knurrte RiseGreymon. „Ich habe trotzdem keine Lust, auch nur in Sichtweite davon zu sein. Wir werden so weit wie möglich davon wegziehen, wenn es etwas Lästiges ist. Ich frage dich nochmal: Was ist das?“

T.K. ließ sich eine Lüge einfallen. „Der DigimonKaiser ist mein Freund. Er wird gemerkt haben, dass ich entführt wurde. Das da hat er wohl geschickt, um mich zu suchen.“

„Der DigimonKaiser hat keine Freunde“, lachte Centarumon.

„Ruhe“, knurrte RiseGreymon.

„Ihr kennt ihn nur nicht. Wir haben uns lange unterhalten. Ich bin sein wichtigster Botschafter. Diese … Wolke ist sein …“ Beinahe hätte er Digimon auf dem Mega-Level gesagt, doch er wusste nicht, wo dort draußen überall Schwarze Türme standen. Nicht, dass er offensichtlichen Unsinn redete. „Seine Geheimwaffe. So etwas wie ein Digimon für besondere Fälle.“

RiseGreymon durchbohrte ihn mit seinem Blick. Zum Glück waren Digimon selten gut darin, Menschenmienen zu durchschauen. „Es sucht dich also?“

„Wenn es in diese Richtung weiterfliegt, kommt es zu der Stelle, an der ich abgestürzt bin. Dort wird es meine Fährte aufnehmen, die es direkt hierher bringt.“

Das klang wohl logisch für RiseGreymons Ohren. „Dann sollten wir dich wohl lieber um die Ecke bringen.“

T.K. bemühte sich, seine Maske zu wahren, obwohl ihn die Ankündigung erschreckte. „Das würde ich an eurer Stelle nicht tun. Sonst wird es weitersuchen und meinen Geruch an euch erkennen. Und dann seid ihr es, die um die Ecke gebracht werden. Am besten lasst ihr es mich finden. Dann hat es keinen Grund mehr, weiter herumzufliegen, und wird in die Festung zurückkehren. Ich bin nicht nachtragend, ich will nur meinen Auftrag ausführen.“

RiseGreymon überlegte. „Schön“, grollte es dann. „Wir ziehen ab und lassen den Knilch und sein Digimon hier! Ich hoffe, wir sehen dich nie wieder“, brummte es. Ganz geheuer war ihm die Sache wohl nicht. Vielleicht fürchtete es, T.K. könnte die Wolke trotzdem hierherschicken.

Durch die Vordertür hörte T.K. sie noch trampeln. Er hoffte ebenfalls nicht auf ein Wiedersehen.

Die Marodeure hatten nicht alles Essbare mitgenommen. Da sie hier eine dauerhafte Bleibe eingerichtet hatten, war es mehr gewesen, als sie tragen konnten. Als T.K. Früchte und Fleisch hinunterschlang, als gäbe es kein Morgen, wurde ihm sofort übel, doch er behielt es bei sich. Auch Patamon stärkte sich. Hätte er doch nur sein DigiVice, dann könnte er auf Pegasusmon fliegen … Er stopfte sich die Taschen mit Essen voll, dann machten sie sich auf den beschwerlichen Weg über die Ebene nach Little Edo. Dorthin war wohl auch diese Wolke unterwegs … T.K. ahnte Schlimmes, und er hatte tatsächlich höllische Angst vor diesem … was immer es war. Aber er musste zu Kari, komme, was da wolle!

 

 

Mimi stand mit Michael auf dem höchsten Balkon der Pagode und klammerte sich an seine Hand. Sie warteten schweigend auf den Tag, der nicht kommen würde. Stattdessen zog eine Gewitterwolke, schwärzer als der ohnehin bedeckte Himmel, über die Berge.

Izzys Nachricht hatte Michael erreicht. Sie hatten keine Fragen gestellt. Der Drachenkönig und der Auserwählte, der Eherne Wolf und der Zwillingsritter hatten versagt. Was immer der DigimonKaiser nun getan hatte, es würde sie vernichten. Mimi hatte ihr Volk angefleht, die Stadt zu verlassen. Viele waren überstürzt aufgebrochen, obwohl das nur eine Notlösung war. Aus der einen Richtung kam das Digimon, in der anderen lauerte das Heer des Kaisers. Eine große Anzahl Gekomon, Otamamon, Floramon und Mushroomon hatte beschlossen, in ihrer Heimat zu bleiben.

Unten in den Straßen war viel los. Zivilisten bemühten sich, zu ihren Lieben zu kommen, Soldaten bemühten sich, sie fortzuschaffen. Das Nordheer war vor kurzem eingetroffen, und es hatte etliches an Stärke eingebüßt. Dennoch wollten sich Agunimon und KaiserLeomon dem fremden Digimon entgegenstellen, und viele ihrer Soldaten folgten ihrem Beispiel und nahmen vor der Stadt Aufstellung. Auf Izzy hörten sie nicht, und eine neue Nachricht mit einem Befehl von Tai traf nicht ein.

Yolei war zu Tode erschöpft. Sie war erleichtert gewesen, als sie Mimi heil angetroffen hatte, und wollte dann unbedingt mit ihr fliehen. Mimi hatte es ihr ausgeredet. Sie hatte genug vom ständigen Weglaufen, genug davon, ständig in Angst leben zu müssen. Wenn sie schon keine Zukunft hatte, würde sie dem Schicksal mutig ins Auge blicken.

Die herannahende Gefahr hatte Yoleis Nervenkostüm den Rest gegeben. Sie hatte gewütet und Mimi sogar geschlagen, ehe Hawkmon sie beruhigt hatte. Dann war sie an Agunimons Seite getreten. Mimi tat es leid, dass sie sich ihretwegen nun zum Kampf entschieden hatte.

Auch Kari hatte sich verändert. Sie war entschlossener denn je, den Krieg zu gewinnen. Sie sprach davon, den DigimonKaiser zu kennen, und dass sie das Digimon schon irgendwie besiegen könnten. „Ihr wisst nur nicht, was wir schon alles geschafft haben. So oft war es aussichtslos, aber kein Digimon hat uns je besiegt“, hatte sie gesagt und dann den Kopf geschüttelt, als Mimi von ihr verlangte, dass sie ihr diese Worte erklärte.

Sora wollte ebenfalls weiterkämpfen. Sie wusste, was es hieß, in Dunkelheit zu leben. Für sie gab es nichts Schlimmeres. Dieser Kampf würde sie befreien, so oder so, aber sie hatte noch Hoffnung, dass sie gewinnen und das Licht zurückbringen konnten.

Joe war unermüdlich dabei, Verletzte zu versorgen. Mimi hatten versucht, wenigstens ihn zur Flucht zu drängen, doch als er erfuhr, dass alle anderen in der Stadt blieben, hatte er gelächelt und gemeint: „Von einem Zuverlässigen wird erwartet, dass er immer dort ist, wo seine helfende Hand gebraucht werden könnte.“

Mit Michael hatte sie nicht darüber gesprochen. Überhaupt hatten sie seit der Nachricht wenig miteinander geredet, aber es schien selbstverständlich, dass er bei ihr blieb und das Ende abwartete. Denn Mimi wusste, dass er genau wie sie nicht an ein Wunder glaubte. Zu oft waren Wunder geschehen. Wenn das Digimon den gesamten Himmel derart verdunkeln konnte, wie Willis geschildert hatte, und ihre stärksten Digimon es nicht hatten bezwingen können, war jeder Widerstand sinnlos.

Als nun die Wolken über den Bergspitzen im Nordosten auftauchten, fühlte Mimi unendliche Trauer in sich aufsteigen. Es war eine brodelnde Masse, durchzuckt von dunklen Blitzen und an den Rändern ausgefranst. Bunte Farben weckselten sich dort ab, aber Mimi meinte, nur feuriges Rot und tiefes Violett zu erkennen. Es war kaum zu glauben, dass ein Digimon diese Erscheinung auslöste. Eine Eiseskälte wehte ihr voraus und ließ Mimi in ihrem weißen Prinzessinnenkleid zittern. Sie blickte nach oben. Bis hierher reichten die ersten Blitze. Die Wolken waren nicht dunkelgrau und schwer, wie sie sein sollten, sondern von einem so tiefen Schwarz, wie Mimi es noch nie gesehen hatte. Der Wind frischte auf, ließ die Kerzen flackern, die hinter ihnen auf dem Balkon brannten. Selbst das Licht der Flammen schien schwächer, düsterer zu werden.

Das Gewitter kam immer näher, quälend langsam, die Blitze wurden immer aggressiver. So musste der Weltuntergang aussehen. Eine Träne löste sich aus Mimis Augenwinkel und lief ihr über die Wange.

Michael schloss Mimi fest in die Arme. Immer noch sprachen sie kein Wort, immer noch starrten sie der Finsternis entgegen. Sie standen auf dem höchsten Balkon der Pagode und warteten auf das Ende.

 

 

Die Digimon wurden unruhig, und viele flohen nun doch. Niemand machte ihnen einen Vorwurf. Selbst Agunimon betrachtete nur stumm das finstere Schauspiel in den Bergen. Sora stand inmitten des Heeres in den verwaisten Reisfeldern, die Arme eng um den Körper geschlungen. Ihr war eiskalt. Das überlebende Gigadramon der Wissens-Armee sah auf dem Boden nicht halb so furchteinflößend aus. Sein Artgenosse musste irgendwann bei der Schlacht um Fort Netwave gefallen sein. Selbst Garudamon hinter Sora machte sich klein. Und dabei hatten sie sich für kampfbereit gehalten.

Als die dunkle Wolke die vorderen Bergspitzen erreichte, geschah etwas Seltsames. Zuerst hielt Sora das Grollen für Donner, dann erst fielen ihr die Geröllbrocken auf, die von den Berghängen kollerten. Die steinernen Giganten schienen zersetzt zu werden. Es wirkte, als reichte die bloße Nähe des noch nicht einmal sichtbaren Digimons aus, um Berge einstürzen zu lassen … Sora bekam es mit einer Angst zu tun, wie sie sie noch nie zuvor gespürt hatte.

Die Digimon schwiegen ehrfürchtig, bis Agunimon die Stille brach. „Wer noch gehen möchte, sollte das jetzt tun. Sich diesem Untier zu stellen, hat nichts mehr mit Mut zu tun. Wer bleibt, ist wahnsinnig.“ Es selbst blieb an Ort und Stelle stehen, was anderen Digimon ein paar nervöse Lacher entlockte. Die Reihen dünnten aus, und Sora war über jeden Soldaten froh, der sie verließ. Sie dachte auch selbst darüber nach, was sie tun sollte. Sollte sie Vertrauen in sich und ihre Digimon haben? Oder auf ihren Instinkt hören, der ihr riet, so schnell wie möglich davonzulaufen, wohin auch immer?

In dem Moment entstand rechts von ihr eine Unruhe. „Der König!“, rief jemand. „Der König ist zurück!“

Sie kamen auf Unimon angeflogen, vermutlich waren sie durch das Schneisental gekommen. Sora verspürte eine Welle der Erleichterung. Es mochte wenig Bedeutung haben angesichts der Bedrohung, die auf sie zukam, aber die Gruppe war vollzählig, auch wenn sie zu Tode erschöpft und verschreckt wirkte und ihre Digimon auf einem sehr niedrigen Level waren. Dann fiel ihr ein, dass eigentlich die Drachenstaffel bei ihnen sein sollte.

Tai blieb unweit vor Sora und Agunimon stehen und starrte das Heer entsetzt an. „Was tut ihr hier? Seid ihr verrückt? Ihr solltet euch in Sicherheit bringen!“

MegaKabuterimon kam durch das Heer heran gestapft. Auf seinem Rücken saß Izzy, der beschlossen hatte, die notwendigen Befehle von dort aus zu geben. Nur seinen Laptop hatte er bei sich. „Tai! Willis!“, rief er ihnen zu. Offenbar hatte auch er nicht gewusst, dass sie auf dem Weg hierher waren. Er hatte gemeint, es gäbe Probleme mit der Technik, sowohl mit seiner als auch mit der des DigimonKaisers.

„Es gibt keine Sicherheit mehr in der DigiWelt, Majestät“, sagte Sir Agunimon mit fester Stimme. „Die Schwarzturmdigimon haben sich nur zurückgezogen. Wohin wir auch fliehen, der DigimonKaiser wird uns jagen. Wir hier sind diejenigen, die sich dem Ende lieber kämpfend stellen.“

Tai schluckte. „Dieses Wesen ist viel zu stark. WarGreymon und MetallGarurumon sind miteinander verschmolzen und hatten dennoch keine Chance.“

„Das hier sind Krieger, Tai“, meinte Sora mit einem Lächeln. „Du kannst sie nicht zur Flucht zwingen.“

Er runzelte die Stirn, und im nächsten Moment war eine gläserne Kugel neben Sora aufgetaucht, mitten in ihrem Heer.

Zunächst wusste sie nicht, wie ihr geschah. Sie sah etwas aus den Augenwinkeln, und als sie den Kopf wandte, sah sie nur wenige Meter von sich entfernt eine helle Kuppel aufragen, die sich dort urplötzlich ausdehnte. Digimon stießen erschrockene Schreie aus, schubsten sich gegenseitig, als sie auseinander drängten. Das Gebilde wurde größer und größer, verschluckte fast das halbe Heer … Dann löste es sich in Luft auf und ließ nichts zurück außer einem Schneesturm aus Datensplittern und einem klaffenden Loch, wo zuvor Hunderte Digimon gestanden waren.

Sora war wie zur Salzsäule erstarrt, dann ruckte ihr Kopf herum. Das feindliche Digimon war immer noch in den Bergen. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob der verwaschene Fleck dort unter den Gewitterwolken wirklich jenes Digimon sein sollte. Es hatte von dort oben ein Drittel ihres gesamten Heeres vernichtet? Innerhalb eines einzigen Augenblicks? Plötzlich wurden ihre Knie weich.

„Genau das meine ich!“, schrie Tai mit sich überschlagender Stimme, als schieres Chaos ausbrach. Digimon stoben auseinander, Agunimon versuchte vergeblich, sie geordnet zurückweichen zu lassen. Überall wurde gestoßen und gedrängelt. Eine Kompanie Monochromon verlor die Nerven und trampelte ihre Kameraden nieder. Die beiden KaiserLeomon waren verschwunden, vergangen in der hellen Kuppel.

Irgendwo hinter Sora stieß Yolei einen verzweifelten Schrei aus. „Was sollen wir nur tun? Sollen wir fliehen?“

„Eine gute Idee“, meinte Willis.

Tai starrte nur in die Berge und sagte nichts. Die Gewitterwolken hatten die letzten steinernen Spitzen hinter sich gelassen und befanden sich nun über freiem Feld. Ohne Zweifel hielt das Digimon auf Little Edo zu.

„Und wohin sollen wir jetzt fliehen?“, fragte Davis, seltsam nüchtern. „In den Norden? Ich glaube nicht, dass es nach Little Edo aufhört, die DigiWelt zu zerstören.“ Er ballte die Fäuste. „Wir müssen es aufhalten, sonst legt es alles in Schutt und Asche!“

„Und wie?“, fragte Matt, mit einem schwächlichen Digimon im Arm. „Wie sollen wir dieses Biest besiegen?“

„Ihr könnt es nicht besiegen“, erklang plötzlich eine Stimme, so unerwartet und ruhig, dass die Digimon für einen Moment in ihrer der Flucht innehielten.

„Der DigimonKaiser!“, stieß Davis aus, der die Stimme erkannt hatte.

 

 

Er war lautlos wie ein Schatten aufgetaucht. Izzys Instrumente hatten ihn nicht angezeigt, aber seit das fremde Digimon erschienen war, schienen sie verrückt zu spielen. Die Finsternis, die die DigiWelt nun fest im Griff hatte, war ein guter Deckmantel für ihn und seine Digimon gewesen. Sie mussten sogar über die Häuser von Little Edo hinweg geflogen sein, denn aus dieser Richtung waren sie aufgetaucht: Der DigimonKaiser mit Wormmon auf einem Airdramon, seine Anhänger – ein großer Mann, Arukenimon und Mummymon – auf einem anderen, und hinter ihnen eine ganze Horde von kleinen, fliegenden Digimon: Thunderboltmon und MetallMamemon.

„Was willst du?“, rief Tai. „Bist du hier, um zu kämpfen?“

„Mach dich nicht lächerlich“, gab der Kaiser zurück. Seine Brille trug er nicht mehr, in seinen Augen schien etwas zu funkeln, das Izzy selbst in der Dunkelheit erkannte. Vorfreude? Machtgier? „Ich bin hier wegen Arkadimon. Dem unbesiegbaren Digimon, das ich geschaffen habe.“

„Ken!“, schrie Kari plötzlich. „Was hast du getan? Dein Digimon wird die DigiWelt zerstören!“

„Ich weiß“, sagte er unbeeindruckt. „Es ist das kleinere Übel.“ Sein Blick fand Izzy. „Ich vermute, deine Instrumente haben versagt. Die Digimon aus dem Norden haben sich in ihre Städte und Dörfer zurückgezogen, als meine Schwarzturmdigimon kamen.“

„Was sagst du da?“ Tai sprang von Unimons Rücken, doch der Kaiser war unerreichbar. Keiner der Soldaten griff ihn an. Wer nicht Hals über Kopf floh, starrte auf diese viel größere Bedrohung, die über die Steppe schwebte. Sie warteten ab. Sie wussten, dass nichts, was sie taten, ihren Untergang verhindern konnte.

„Meine verbliebenen Digimon aus der Wüste sind nach Norden in die Ebene gezogen. Während ihr hier auf euren Tod wartet, habe ich Schwarzturm-Thunderboltmon in euer Königreich geschickt.“

„Damit wirst du uns nicht besiegen!“, rief Tai impulsiv. Izzy hatte das Gefühl, dass es gar keinen Unterschied machte. „Meramon ist dort oben, und Wizardmon heuert neue Soldaten an! So einfach fällt unser Königreich nicht!“

„Das muss es gar nicht“, sagte der DigimonKaiser und blickte weiter nach Norden. „Es muss bald so weit sein“, murmelte er. Täuschte sich Izzy, oder zitterte sein Kinn? Der Kaiser stand etwas gekrümmt da, als hätten sich all seine Muskeln verkrampft – und sein Blick hatte etwas Gehetztes, trotz seiner ruhigen Worte, glitt zwischen der finsteren Wolke und einem kleinen Bildschirm, den er in Händen hielt, hin und her. Von nun an antwortete er auf keine ihrer Fragen mehr, als hätte er sie alle ausgeblendet.

Eine weitere, weiße Kuppel blitzte einige hundert Meter links von ihnen auf und erwischte mehrere Dutzend fliehende Digimon. Yolei stieß einen schrillen Schrei aus und raufte sich die Haare. „Ich halte das nicht mehr aus!“

„Macht euch bereit“, sagte Tai zu seinen Soldaten. „Sobald es in Reichweite ist, greifen wir alle gleichzeitig an! Es wird funktionieren!“

„Und wenn nicht, gehen wir mit Pauken und Trompeten unter“, murmelte Matt.

„Jetzt“, sagte der DigimonKaiser plötzlich und sah von seinem Bildschirm auf. Izzy zuckte zusammen, als seine Digimon wie Kanonenkugeln davonschossen. Die Hälfte von ihnen, vornehmlich die stärkeren MetallMamemon, flogen auf die Ebene hinaus auf Arkadimon zu, die anderen schwärmten sternförmig aus. Einige Thunderboltmon flogen gar die Pagode in der Stadt an.

„Was hast du vor?“, fragte Izzy.

„Ist dir aufgefallen, dass Arkadimon die Phasen aufreißt?“

„Was?“ Izzy blickte auf seinen Laptop. „Es stört erheblich etwas im Gleichgewicht der DigiWelt, aber …“

„In einem anderen Leben hättest du mein Vorhaben längst erkannt. Vermutlich muss man wissen, dass es weitere Welten neben der DigiWelt gibt.“

Izzy sah ihn fragend an, doch der DigimonKaiser blickte wieder auf den Bildschirm in seiner Hand. Seine Anhänger hüllten sich in gespanntes Schweigen, und selbst die DigiRitter und Norddigimon warteten darauf, dass etwas geschah.

Und tatsächlich passierte etwas, als Arkadimon schon gut sichtbar vor ihnen schwebte. Es war seltsam: Zuvor hatte seine bloße Nähe Berge zerspringen lassen. Izzy hatte festgestellt, dass Teile davon einfach verschwunden und durch etwas anderes ersetzt worden waren – durch etwas, das aus fremden Welten kam? Diese Störungen waren überall in Arkadimons Kielwasser aufgetaucht, und man müsste sie eigentlich mit freiem Auge erkennen können. Das war nun nicht mehr so: Die Graslandschaft unter ihm lag fast unberührt da. Keine Spur von finsteren Wellen, Rissen in der Wirklichkeit oder anderen Phänomenen, von denen Willis und die anderen berichtet hatten. Selbst sein Laptop zeigte keine Störung mehr an. Ein weiterer technischer Fehler?

Die Veränderungen tauchten ganz plötzlich wieder auf – aber am Himmel, und sie waren anders, als sie sein sollten. Keine zackigen Blitze, die konkrete Bilder oder Schemen zeigten, sondern ein blasses Abbild einer auf dem Kopf stehenden Landschaft, kaum erkennbar. Wolkenkratzer waren zu sehen, aber sie wurden fast sofort von einem trüben, nebligen Himmel überblendet. Izzy sah so viele verschiedene Szenen, die sich überlagerten, dass er sich ganz wirr im Kopf fühlte. Was war das?

„Nur noch ein bisschen.“ Die Kieferknochen des DigimonKaisers traten hervor, seine Hände zitterten. Starr fixierte er das Display.

Dann verschwanden auch die gespenstischen Bilder wieder, gerade als ein Teil von Little Edo hinter ihnen in einer weißen Kuppel verschwand. Und im nächsten Moment klaffte ein rötlich glühender Spalt im Himmel auf, direkt über Arkadimon, scharf und schmal, als hätte jemand mit einem Messer hindurch geschnitten. Das Glühen war noch unterhalb der Gewitterwolken und ließ sie rot leuchten, viel intensiver als es jeder Sonnenuntergang geschafft hätte.

Izzy stockte der Atem, genau wie allen anderen. Der DigimonKaiser verlor plötzlich sämtliche Anspannung. Er tiefer Seufzer entwich seiner Kehle. Er sackte rücklings auf Airdramons Kopf zusammen, hockte eine Weile nur dort, auf die Arme gestützt, den Kopf tief durchatmend nach oben gereckt. „Geschafft“, hauchte er.

„Was … was ist das?“, fragte Tai. Arkadimon verharrte und hob den Kopf, um zu dem Spalt empor zu sehen.

„Das …“, sagte der DigimonKaiser, kurzatmig wie nach einem Sprint, „ist unser wahrer Feind.“

 

 

Wann war die ganze Sache so ernst geworden? Wann war sämtliche Freude aus seiner Brust getilgt worden, Freude über gelungene Züge, über den Fortschritt, über einen herannahenden Sieg?

Als der Himmel aufriss, hatte das nichts Verheißungsvolles, nichts Triumphales mehr. Nur das lang erwartete Ende von etwas, das am besten nie begonnen hätte. Wann hatte Ken begonnen, dies alles derart zu hassen?

Seine Freunde riefen noch aufgeregt durcheinander, Digimon rannten kreuz und quer, er wurde mit Fragen bestürmt. Schweigend ließ er Airdramon aufsteigen, auf die feurige Öffnung zu. Der Himmel sah immer noch so widernatürlich aus, dunkel und rot … Wann hatte die Sonne ihre Kraft verloren? Es musste schon vor Arkadimons Geburt gewesen sein.

Anfangs war noch alles weniger verzweifelt gewesen, weniger kalt, höchstens von einer Frische durchzogen, die durchaus angenehm hatte sein können. Als Deemon ihm das Spiel erklärt hatte, hatte er gewusst, dass das Schicksal von mehreren Welten auf seinen Schultern ruhte, und er hatte das Gewicht durchaus gespürt. Dennoch war die Sonne am Himmel gestanden, Tag und Nacht hatten sich abgewechselt, und er hatte Erfolge verbuchen und sich sogar darüber freuen können. Er hatte noch mit reinem Herzen gekämpft, ein Ziel verfolgend, und jeder Schritt darauf zu war ihm richtig vorgekommen.

Er erinnerte sich, wie Leomon und die anderen ihm entsagt hatten. Wie er stattdessen Ogremon in seine Dienste nahm. Schon das war ein kleiner Erfolg gewesen. Er hatte regiert und sich um Gerechtigkeit bemüht. Lange war es auch gut gegangen. Er war endlich der Herrscher gewesen, der er damals nicht hatte werden können … Selbst nach der verlorenen Schlacht um die Maya-Pyramide hatte er sich besser gefühlt als jetzt, bei seinem endgültigen Triumph.

Es hatte sogar im Leben unter der Last der Welt schöne Augenblicke gegeben. Nun kamen ihm die Momente, als er morgens aufgewacht war und sich bei einer Tasse Kaffee unkritische Berichte aus seinem wachsenden Reich angehört hatte, die Bittgesuche und sogar die Gespräche mit seinen Freunden, die ihn nicht wiedererkannt hatten, wie ein angenehmer Traum vor. Er hatte versucht, freundlich zu wirken, allen klarzumachen, dass er nicht der Tyrann war, für den man ihn hielt. Seine Trauer, wenn es ihm nicht gelungen war, sah er jetzt als einen Beweis für seine Aufrichtigkeit. Selbst Nadine hatte ihm befreite Momente beschert, auch wenn es sich nur um Lügen gehandelt hatte. Er hatte mit ihr gelacht, Pläne geschmiedet und sein Reich verbessert. Seinen Digimon war es nicht schlecht ergangen. Und jeder Schlag, der ihm gegen Deemon gelungen war, hatte ihn aufgebaut, nach einer Niederlage wiederaufgerichtet. Wann waren all diese kleinen Glücksmomente, die ihn selbst inmitten dieses monatelangen Quälens mit der Verantwortung gefunden hatten, einfach verschwunden?

Es musste schleichend passiert sein. Vermutlich war Wormmons Tod der Auslöser gewesen. Damals war er zum ersten Mal wirklich verzweifelt gewesen. Immer noch hatte er um seine Freunde gekämpft. Sie besiegt, um sie zu retten. Cody hatte er überzeugen können – und er war als Befreier nach Masla gekommen. Hatte er sich nicht wie ein Held gefühlt? Den süßen Geschmack des Erfolgs ausgekostet? Hatte ihm da das Spiel nicht sogar ein wenig Spaß gemacht?

Als Tai sein Auge verloren hatte, war ihm der Ernst der Lage bewusst geworden – aber hatte er nicht schon vorher begriffen, was auf dem Spiel stand? War es nicht in Ordnung, ab und zu abzuschalten, selbst wenn seine und die DigiWelt auf dem Spiel standen?

Dann kam Nadines Verrat. Die Flügel, die Ken mit der Zeit gewachsen waren, wurden mit einem Mal abgeschnitten. Er fing das Spiel neu an, misstraute jedem, selbst Oikawa … War es dann geschehen, dass er verbitterte? Er erinnerte sich an seinen Flug in die Wüste, nachdem er Takashi besiegt hatte. Ein Hoch nach einem Tief? War seine Herrschaft damals noch eine Hügellandschaft gewesen? Seit wann gab es nur noch dieses Tal?

Wormmon klammerte sich fest an seine Schulter. Es zitterte, je näher sie dem Feuer am Himmel kamen. Ken packte sein DigiVice fester. Alle Geräusche schienen gestorben. Als hielte die Welt den Atem an, während sie zusah, wie er sie von ihrer Geißel befreite.

Seit Sammys neuerlichem Tod gab es kein Richtig und kein Falsch mehr. Nur noch Kens Pflicht. Er merkte, dass er müde war. Es war gut, dass es jetzt vorbei war. Es war lediglich beklemmend, dass es im Leben immer ein Danach gab. Was würden die anderen von ihm halten? Er war seiner Linie nicht gefolgt. Am Ende hatte er ein Untier geschaffen, grässlicher noch als Kimeramon. Wie konnte ihm je verziehen werden?

Er atmete tief durch. Arkadimon war direkt vor ihm, doch es wirkte wie erstarrt. Als spürte es Deemon in der fremden Welt. Der Raum hinter der Feuerwand schien genauso zu brennen wie die Wand selbst. Oder es war etwas anderes, Materie, die nur wie Feuer aussah oder auch nur dessen Form annahm, wenn ein Mensch darauf blickte. Die fremde Welt musste völlig anders sein als alles, was er je gesehen hatte.

„Es ist vorbei, Wormmon“, sagte er.

„Ken, ich verstehe es immer noch nicht“, murmelte sein Digimon. „Wie hast du das gemacht? Das ist Deemon? Warum hast du ein Tor öffnen können? Du hast doch gar nicht überall Türme gebaut?“

Ken hatte die Sache schon auf dem Weg zum Stiefel erklärt, doch er würde es Wormmon wahrscheinlich genauer ausführen müssen, damit es ihn verstand. Irgendwann. „Es ist reine Physik, Wormmon“, sagte er nur. „Wenn es die Zeit erlaubt, werde ich es dir nochmal erklären. Jetzt sollten wir uns beeilen, bevor sich das Tor schließt.“ Er hob sein DigiVice, richtete es auf die feurige Öffnung. Er wusste nicht, ob das notwendig war, aber es erschien ihm passend. Damals hatten sie sein DigiVice benutzt, um Deemons zum Meer der Dunkelheit zu schicken. Damit hatte alles begonnen. Nun würde er es damit aus seinem Versteck hinter der Feuerwand reißen, zurück in die DigiWelt, wo es hingehörte. Wo es sterben sollte.

Er hatte den Plan gefasst, als er gezwungen gewesen war, Arkadimon zu bauen. Die Schwarzen Türme störten die Phasen. Sie bewegten die Grenzen der Welt wellenförmig. Diese Theorie hatte er schon früher aufgestellt, und Deemon hatte sie zu Spielbeginn bestätigt: Kens Rolle war es gewesen, in jedem Gebiet der DigiWelt mindestens einen Turm zu errichten. Das war die Bedingung für seinen Sieg gewesen. Wenn die DigiWelt aus dem Gleichgewicht geriet, taten es ihr nahe Welten wie die Reale Welt oder das Meer der Dunkelheit gleich. Die Grenzen zwischen den Welten waren wie eine Wasseroberfläche, die Wellen schlagen konnte. Ein Turm allein erzeugte kaum merkliche Schwingungen. Viele Türme in der ganzen Welt, die alle im selben Rhythmus auf die Phasen eintrommelten, vereinten ihre Schwingungen zu einer riesigen Welle. Und diese Welle war schließlich groß genug, um die Grenzen zu einer weit, weit entfernten Welt aufzureißen. Ein Tsunami, der weit über das Ufer des Meeres schwappte.

Auch Schwarzturmdigimon brachten die Weltengrenzen zum Schwingen. BlackWarGreymon war das beste Beispiel dafür gewesen. Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob Ken die DigiWelt mit Türmen bebaut oder an deren Stelle ein Champion-Schwarzturmdigimon gesetzt hätte. Nur hatten die Türme wesentlich mehr Vorteile, und seine Digimon hätten in Feindesland auch nicht überlebt. Er konnte also nicht einfach in jeden Winkel der DigiWelt ein Schwarzturmdigimon schicken, ohne diese Gebiete richtig zu erobern – für seinen Notfallplan war das jedoch auch nicht nötig gewesen.

BlackWarGreymons bloße Präsenz hatte damals die DigiWelt, die Reale Welt und das Meer der Dunkelheit durcheinander gebracht. Die Schwingungen, die es bei den Phasen auslöste, glichen denen von hundert Schwarzen Türmen, konzentriert auf einem einzigen Fleck. Es war keine einfache Welle, sondern ein gewaltiger Brecher entstanden, auf offener See. So stellte sich Ken das Aufreißen der Weltengrenzen vor, als sprühende Schaumkrone, wenn eine meterhohe Welle sich selbst nicht mehr halten konnte und in sich zusammenfiel.

Und Arkadimons Wirkung war noch heftiger: Wenn die Grenzen zwischen den Welten wie eine Wasseroberfläche waren, war Arkadimon ein Meteor, der in das Meer raste. Die Wellen, die er erzeugte, waren gewaltig, und Durchgänge zu einem Dutzend anderer Welten mussten sich auf einen Schlag geöffnet haben. Diese urgewaltige Kraft hatte sich Ken zunutze gemacht. Er hatte das Wasser, das in alle Richtungen spritzte, zu kontrollieren versucht.

Er hatte auf dem Stiefel neue, flinke Schwarzturmdigimon mit dem Granulat von der File-Insel gebaut gebaut und den Rest seiner Heere in der DigiWelt verteilt. Dutzende Ultra-Digimon in Arkadimons Nähe fingen dessen gigantische Schwingung auf, machte aus den oszillierenden Grenzen wieder Wellen, die geregelt waren und weit reichten. Champion-Digimon weiter entfernt pflanzten diese noch weiter fort und dämpften die Schwingungen dabei. Aus einem unkontrollierten Geruckel der Grenzen wurde wieder ein riesige, geregelte Welle, doch allein die Kraft ihres Ursprungs ließ sie über die Ufer treten, sodass am Ende ein ähnlicher Effekt erreicht wurde, als wenn die gesamte DigiWelt mitschwingen würde – obwohl nur im Herzen der DigiWelt Schwarzturmdigimon postiert waren.

Arkadimons Auftauchen hatte einen Großteil von Kens Messinstrumenten nutzlos werden lassen. Auf dem Weg zum Stiefel hatten er und Oikawa es aber geschafft, ein einfaches Programm zu entwickeln, das Phasenverschiebungen messen konnte. Allein damit und mit den übrigen Türmen in seinem Reich die Schwarzturmdigimon zu koordinieren, bis jedes auf seinem Platz war, war ein Albtraum gewesen. Wäre Ken nicht bereits dermaßen abgestumpft, hätte er garantiert die Nerven verloren.

Aber es war vollbracht. Nicht die gesamte Wasseroberfläche hatte sich in eine Welle verwandelt, doch mithilfe eines Meteoriten hatte Ken einen Tsunami weitergeleitet, der dieselbe Wirkung erzielte. Deemon war direkt vor ihm.

Er streckte sein DigiVice weit von sich, und tatsächlich geschah etwas. Vielleicht erinnerte sich das Gerät auch einfach nur an Deemons Präsenz, aber es begann sanft zu glühen. Und eine dunkle, unstete Gestalt sank aus dem Weltenspalt in die DigiWelt.

„Du hast es also geschafft, Ken.“ Die Stimme wahrhaftig zu hören, anstatt sie nur in Gedanken wahrzunehmen, ließ ihm einen Schauer über den Rücken gleiten.

„Das Spiel ist aus, Deemon!“, rief er der Gestalt zu. „Ich habe gewonnen!“

„Das hast du“, bestätigte Deemon. „Und du hast sogar einen Weg gefunden, an mich heranzukommen, den ich nicht vorhergesehen habe. Auch wenn du ein wenig unfair gespielt hast, als du die Türme, die du auf meine Antworten hin errichtet hast, so einfach zu einem Digimon gemacht hast.“

„Das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr“, meinte Ken. „Ich habe innerhalb der Frist gewonnen! Selbst von hier kann ich erkennen, dass du noch kaum deine alten Kräfte zurückerlangt hast! Du bist erledigt!“

Deemon sah fast so aus wie bei ihren gedanklichen Debatten, schattenhaft, fast zweidimensional, und sein Körper wirkte durchlöchert und ausgefranst. Es hob seine dünnen Arme. Arkadimon stieß ein leises Zischeln aus. Seine Tentakel gerieten in Wallung.

„Bin ich das?“, fragte Deemon und stieß ein heiseres Lachen aus.

In Kens Magengrube breitete sich eine schreckliche Hitze aus, wie eine dunkle Vorahnung. Sie kroch seinen Hals hinauf bis zu seinen Wangen und seiner Stirn. „Wie meinst du das?“

„Du hast es selbst gesagt, Ken. Das Spiel ist vorbei. Alle Regeln sind jetzt nichtig. In dieser Welt kann ich nun so unfair sein, wie ich will.“

„Erklär mir das!“, spie Ken ihm entgegen. Er hatte doch gewonnen – oder nicht? Es müsste vorbei sein, Deemon war nur ein Happen, ein Ultradigimon könnte es vermutlich zerstören!

„Ken, Ken, Ken“, tadelte es ihn. „Ich dachte, du wüsstest mittlerweile genug über die Macht der Dunkelheit. Hast du es etwa vergessen? Die Macht der Dunkelheit kann viele Formen annehmen. Digimon, die sich ihr verschrieben haben, können sich an bestimmten Formen laben. Hast du vergessen, warum ich dich damals in deiner Welt jagte? Ich wollte die Saat der Finsternis, eine Manifestation der Macht der Dunkelheit, die mir Kraft gibt. Jemand hat sie mir weggeschnappt, doch das ist nicht weiter schlimm. Von meinem Versteck aus konnte ich mit jenen sprechen, die sie einst in sich trugen. Und ich habe eine neue Macht der Dunkelheit in die DigiWelt gebracht, die mich stärken sollte. Die Schwarzen Türme, Ken.

Ich sagte doch, dass sie ein zweischneidiges Schwert sind. Einerseits kannst du dadurch ein Tor hinter die Feuerwand öffnen. Andererseits gewinne ich durch sie meine Macht zurück, Stück für Stück. Es hätte noch lange gedauert, bis die Dunkelheit, die sie verströmen, meine Kraft wiederhergestellt hätte, da hast du recht. Aber nun servierst du mir als Willkommensgeschenk ein Digimon, das aus tausend Schwarzen Türmen besteht, auf dem Silbertablett!“

Die Hitze verschwand. Ken wurde eiskalt, als er begriff, welch fatalen Fehler er begangen hatte.

Arkadimons Tentakel züngelten zu Deemon hoch, umschlossen es fest, bis es in einem Wald aus glänzend schwarzen Haaren verschwunden war. Dann schien das riesige Digimon zu versteinern, seine Panzerplatten überzogen sich mit einer schwarzen Kruste, schlugen schließlich Wellen und wurden wieder so, wie es kurz vor seiner Vollendung ausgesehen hatte: Ein wirres, abstraktes Kunstwerk mit zu vielen Kanten und Ecken, pechschwarz und eisig kalt. Langsam kehrten sich die Zacken nach innen, als schlürfe Deemon das Herzstück des Digimons.

Airdramon schoss instinktiv einen violetten Feuerball ab, doch der zerplatzte wirkungslos an der dunklen Oberfläche. Der Riss im Himmel schloss sich, aber stattdessen fuhren fauchend Feuersäulen aus dem schwarzen Vieleck, wie Dampf, der an undichten Stellen entwich. Schließlich sickerte Deemons Gestalt durch das Gebilde, flackernd, aber riesengroß. Aus den Stichflammen tauchten Arme auf, kämpften sich durch die schwarze Masse wie durch zähen Schleim. Geschmolzenes Turmgranulat bedeckte Deemons Körper von den Flügel- bis zu den Fingerspitzen. Selbst sein Kapuzenkopf schien schlammverschmiert, und der Schlamm bewegte sich, zappelte. Ken meinte die Reste von Arkadimons Tentakeln zu erkennen, die sich weigerten, mit Deemon zu verschmelzen, aber unweigerlich von ihm verschlungen wurden.

„Wessen Ende ist es nun, Ken?“, fragte das monströse Digimon. Flammen zuckten um seine Finger, sprühten wild in alle Richtungen. Dann tauchte die mächtigste Feuersäule bisher auf, hüllte Deemon ganz ein, und Ken glaubte den letzten und einzigen, unmenschlichen Schrei Arkadimons zu hören. Der Feuerstoß war so gewaltig, dass er die Wolkendecke über ihnen zerfetzte und wieder Leben in den Himmel brachte. Deemon hatte Arkadimons dunklen Fluch gebrochen.

Ken schrie auf, als ein wahrer Feuersturm ihn traf. Die Flammen wirbelten um Deemon herum, wurden zu einer Wand aus schierer Hitze, die fauchend über Airdramon hinweg rollte. Die Druckwelle wehte es fort, Ken war gefangen in einem rot glühenden Orkan, Glut schien über seine Haut zu wandern, seine Lunge atmete geschmolzene Luft, die Steppe stand in Flammen, Wormmon presste sich an ihn. Dann verlor er das Bewusstsein.
 

The beat of black wings under red skies

The place where demons and angels will die

Out of torment, there’s no tomorrow

(Primal Fear – Demons and Angels)
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
So ... damit wäre das Spiel also vorbei. Ich hoffe, ich konnte halbwegs verständlich erklären, wie Ken an Deemon rangekommen ist?^^ Ich habe versucht, es nachvollziehbar und metaphorisch zu beschrieben. Zur Not fasse ich noch einen wissenschaftlichen Artikel dazu ab :D
Übrigens, erinnert ihr euch noch daran, dass die DigiRitter ihre Erinnerungen zurückbekommen, sobald das Spiel zu Ende ist? ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Juju
2018-07-06T08:58:33+00:00 06.07.2018 10:58
Endlich komme ich mal wieder zum Kommentieren.
Also T.K. ist endlich frei, na toll. Zu spät, Arkadimon ist schon unterwegs. <.< Und er kann ohne DigiVice ja sowieso nichts ausrichten. Er muss ja jetzt zu Fuß zu den anderen kommen oder aber hoffen, dass er ein nettes Flugdigimon findet, das ihn mitnimmt. xD Witzig, wie er RiseGreymon verarscht.
Die Szene zwischen Michael und Mimi mochte ich mal wieder sehr gern. Die sind schon süß zusammen. :) Mal sehen, wie sie reagieren, wenn sie ihre Erinnerungen zurückbekommen. Hab schon gesehen, dass das ja im nächsten Kapitel passieren wird. xD
Und Arkadimon wütet weiter und vernichtet alles, was sich ihm in den Weg stellt. Und dann taucht Ken auch noch plötzlich bei den anderen auf und die interessiert das kaum. Naja, kaum verwunderlich. Wobei sie ihn jetzt ganz einfach hätten töten können oder? Aber irgendwie würde das ja auch nichts mehr bringen. Für die anderen ist ja jetzt Arkadimon das größte Problem.
Und Ken macht sich auf zu Deemon. Er hat es tatsächlich geschafft. Ich glaube, ich habe einigermaßen verstanden, wie er es geschafft hat, an Deemons Welt zu kommen. Mit Physik hab ich's ja nicht so... xD Aber Respekt an deine Gedanken dazu. Ich kann nur immer wieder sagen, wie erstaunlich ich deine Ideen finde und ich merke mal wieder, dass man schon einen gewissen Grad an Intelligenz benötigt, um wirklich gute Geschichten zu schreiben. :D Du schaffst es, dass ich mich doof fühle. xD
Deemon hält sich also nicht an seine Spielregeln, wer hätte es gedacht. <_< Ich wäre überrascht gewesen, wenn es gesagt hätte: "Jo Ken, hast gewonnen. Ich bleibe in meiner Welt, hier hast du deine Freunde wieder, alles supi. Arkadimon zerstöre ich noch und stelle die DigiWelt wieder her. Meld' dich mal wieder, alter Kumpel. Dann trinken wir nen Kaffee, okay?" War ja klar, dass es da jetzt rauskommt. Aber dass es auch noch mit Arkadimon verschmilzt... O_O Ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, wie das jetzt werden soll. Wer um Himmels Willen soll dieses Vieh besiegen oder in eine andere Welt verbannen?
Von:  Yavannaa
2017-11-27T12:20:04+00:00 27.11.2017 13:20
Hey,

ich hab mich sträflich lange nicht gemeldet, sry :-/
Jetzt ist es also bald vorbei, das Spiel ist gewonnen - wenn es fair zugehen würde, aber hey, wir reden wir von Deemon.
Das mit den Erinnerungen ist irgendwo in meinem Hinterkopf verschollen :D Aber gut, dass du es extra nochmal ins Nachrwort geschrieben hast.
Oh man, Sora wird sich noch mehr Vorwürfe wegen Tais Auge machen :( (Ich habe ja bis zum Schluss gehofft, dass er das wie durch ein Wunder wieder zurückbekommt, wenn das alles vorbei ist. Ich finds immer noch schrecklich -.-)

Bin auf die nächsten Kapitel gespannt und was du dir da noch hast einfallen lassen.

Viele Grüße
Yavannaa

PS: Mir gefällt das Cover auch besser als das vorige. Wobei ich das erste immer noch am meisten mag :)
Antwort von:  UrrSharrador
05.12.2017 15:38
Hi,
freue mich umso mehr, wieder von dir zu hören :) Danke für den Kommi!
Haha, ich musste selbst nochmal nachprüfen, ob Deemon das überhaupt irgendwann mal gesagt hatte xD
Oh ja, da werden sich wohl noch einige Vorwürfe machen müssen ... Ich hoffe, ich bring das alles gut rüber.
Ich mag das Cover auch. Auf den anderen war irgendwie immer alles so klein^^
Von:  EL-CK
2017-11-25T20:42:18+00:00 25.11.2017 21:42
So das Spiel ist also vorbei...das mit den Erinnerungen wusste ich zwar nicht mehr, aber ich hatte es gehofft...
Das mit Deemon war schon iwie logisch...
Antwort von:  EL-CK
25.11.2017 21:43
Btw... Ist das ein neues Cover... Sieht gut aus....
Antwort von:  UrrSharrador
05.12.2017 15:35
Danke für deinen Kommi! Ja, ohne einen ordentlichen Endkampf wollte ich das Ganze nicht enden lassen xD
Ja, es ist sowas wie eine alternative Version vom ersten.
lg


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