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Nighttown

Die Nacht ist noch nicht vorbei
von

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Das Zeichen der Schatten

Es war eine eiskalte Nacht. Frischer Raureif hatte sich auf den Zweigen der Bäume abgesetzt und selbst die aufgeblühten Krokusse waren weiß und starrgefroren. Der milchige Atem vor meinen Augen verschwand nur langsam.

Fröstelnd schlug ich den Kragen meines Mantels hoch und steckte meine Hände in die Taschen.

Ich hatte die Polizeilichter schon von weitem gesehen. Das kalte Blau spielgelte sich an den weißen Wänden wieder. Meine Schritte beschleunigten sich. Ein paar Schaulustige hatten sich bereits versammelt. Ein unruhiges Gemurmel ging durch die Reihen.

Ich schaute an den Menschen vorbei, auf den Mittelpunkt aller Aufregung.

Und war erstaunt.

Ich wusste nicht was ich erwartet hatte, vielleicht eine kleine Prügelei oder etwas ähnliches… aber dies hier war anders.

Drei breitschultrige, große, punkermäßig aussehende Jungs saßen auf dem Boden, gefesselt und ziemlich zerschunden. Ein blaues Auge, heftige Schürfwunden an den Armen im Gesicht und große Beulen prägten ihr Äußeres. Einer von ihnen schien bewusstlos zu sein, die anderen beiden waren wach, blicken allerdings drein, als würden sie jedem, der es wagen sollte sie anzusprechen, sofort an die Gurgel springen.

Ich kannte die Jungs. Sie machten hier in der Gegend schon länger Ärger. Pöbelten, sprühten Wände mit Graffiti voll, prügelten sich mit scheinbar wahllos Bestimmten, meist Schwächeren, bedrängten Mädchen…

Doch wen auch immer diese Jungs sich heute vornehmen wollten, es war definitiv die falsche Person gewesen. Ich lächelte schadenfroh vor mich hin, als mir klar wurde, wie raffiniert diese Person vorgegangen war. Sie verprügelt, bewusstlos und gefesselt der Polizei auszuliefern, mit dem Beweis für ihre Graffitikünste im Hintergrund, musste eine ungeheure Demütigung für sie sein.

Allerdings hatte derjenige ebenfalls ein Zeichen hinterlassen. Er hatte es mit Graffiti über die Zeichnungen der Jungs gesprüht. Riesengroß und pechschwarz. Es war etwas wie eine eingerollte Katze mit comichaften Augen, die einen böse anzustarren schienen und einen halbaufgerissenen Mund. In ihrem Bauch war in Weiß ein einziges Wort eingeritzt.

     Shadows

Wie gebannt starrte ich auf das Gebilde und spürte wie kleine Schauer durch meinen Körper fuhren. Ich hatte so etwas noch nie im Leben gesehen. Ich wusste, dass hier etwas Außergewöhnliches passiert war.

Ich holte mein Handy heraus und schoss heimlich ein Foto von dem Gebilde.

„Würden Sie bitte weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen“, vertrieb ein Beamter alle Schaulustigen. Erschrocken steckte ich mein Handy wieder ein und lief weiter, drehte mich im Gehen jedoch immer wieder um.

„Hey, Vorsicht!“, schrie mich ein weiterer Polizist an, gegen den ich beinahe gelaufen wäre. „Entschuldigen Sie… Könnten Sie mir vielleicht sagen, was hier passiert ist?“, fragte ich hastig. Der Mann sah mich genervt an. „Keine Ahnung! Woher soll ich das wissen? Wir haben sie so gefunden! Mit diesem scheiß Zeichen!!“ Er ignorierte mich und drehte sich zu seinem Kollegen herum.

„Verdammt und ich dachte, bei uns gäbe es keinen Banden…“, sagte er leise zu ihm.

Ich drehte mich noch einmal nach der Katze herum. Ich hatte das Gefühl, sie würde mir hinterherstarren.

Ich rannte schnurstracks nach Hause. Mit genau zwei Wörter im Kopf.

   Shadows und Banden.

Zu Hause schmiss ich alle Türen hinter mir zu, ignorierte alle meine Bedürfnisse, fuhr meinen Laptop hoch und gab diese zwei Wörter ein. Ich bekam eine Reihe von Links, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich finden wollte, aber nach einigem Suchen stieß ich auf den Vermerk „Schatten (Bande)“. Mit zitternder Hand klickte ich weiter. Das war das Aufregendste, was ich seit dem Beginn meines Studiums erlebt hatte. Ich hatte nie etwas mit Gangs oder Banden am Hut, ich kam aus einer kleinen Stadt am anderen Ende der Welt!

Ich überflog alle folgenden Seiten, suchte nach einem Anhaltspunkt.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Da war wieder dieses Zeichen von der Katze.

Ein Forum. Ich suchte hastig nach einen Forumsbeitrag, der mir sagen könnte, wer die Schatten waren, was sie taten, warum sie hier waren… Ich konnte spüren, dass ich meinem Ziel so nahe war wie nie zuvor. Ich fand einen Beitrag, der mir meine Fragen von der Zunge nahm.

   „Die Schatten (Shadows)

Die Schatten, offizieller Name Shadows, sind eine der bekanntesten Gangs aus Solana. Sie agierten hauptsächlich im Mondviertel, dem bekanntesten Stadtteil für Banden, wo sie sich bis zum höchsten Rang vorkämpften. Man sagt ihnen Kontakte zum Hofstaat, insbesondere zum Straßengott nach, was jedoch nicht nachgewiesen werden konnte.

Ihr Kampfstil ist sehr präzise und auf hohem Niveau, mit Ansätzen aus der asiatischen Kampfkunst, Boxen und Kickboxen. Zudem nutzen sie für den Fernangriff Steinschleudern. Die Schatten zeichnen sich in den Battles durch besonders taktisches Vorgehen; kleine, aber extrem starke Gruppen aus. Sie verloren nie ein ‚Hid and Seek‘-Battle.

Die Gang besteht aus ca. 30-40 Mitgliedern, die Hauptgruppe setzt sich aus festen zehn Mitgliedern zusammen. Zudem haben die Schatten bis zu 10 verbündete Gangs aus dem Mondviertel oder anderen Stadtteilen.

Für die Öffentlichkeit wurden sie durch ihre Aufräumaktion im Mondviertel bekannt...“

Ich las mir den Artikel ein zweites Mal durch. Mit demselben Erfolg:

Das meiste aus diesem Text musste ich mir selbst zusammenreimen. Ich öffnete mir einen neuen Tab und suchte nach „Banden Solana“.

Ein völlig neues Universum eröffnete sich mir in den nächsten Stunden. Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass es einen solch organisierten, kleinen eigenen Staat innerhalb einer Stadt gab. Und der bestand zum größten Teil aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mehrfach wurden sie mit der Mafia oder ähnlich organisierten Gruppen verglichen, obgleich sie für weniger kriminell und brutal gehalten wurden.

Solana war eine riesige Stadt mit mehr als zwanzig Stadtteilen und zig Außenbezirken. In einigen Stadtteilen, meistens jene, in denen es früher viel Industrie gab sowie jene, die zum größten Teil unbebaut oder veraltet waren, gibt es viele Gangs. Jedoch soll das berühmteste das Mondviertel sein, das im Osten der Stadt lag. Hier trieben sich die meisten Gangs herum und der Rang als stärkste Gang soll vor allem hier besonders erstrebenswert sein. Warum verstand ich selber nicht so ganz.

Zumindest schienen diese Gangs bestimmten Gesetzen und Regeln zu unterliegen. Ein Kampf am Tag war nicht erlaubt, alles schien nachts abzulaufen. Auch der Übergriff auf Nicht-Gang-Mitgliedern, also außenstehenden Personen war streng verboten. Es war von eigenen Polizisten die Rede und einem sogenannten Hofstaat, der über Gesetze und Gesetzesmissbrauch beriet.

Ansonsten war die Regel unter den Gangs relativ einfach. Gangs bekämpften sich untereinander in sogenannten Battles, deren Regeln sie zuvor festlegten. Dabei gab es auch Spiele, wie Verstecken - ‚Hide and Seek‘ genannt, Parcours-Kämpfe, Flaggen erobern oder Kämpfe unter besonderen Bedingungen, wie zum Beispiel in dicht bewachsenen Parks oder in alten Häusern, mit Waffen, in Zehn-gegen-Zehn-Kämpfen und so weiter. In den normaler Gang-gegen-Gang-Kampf kam es auf viele Sachen an. Allein die Größe der Gang  hatte keinen Einfluss auf den Gewinn. Es kam auch auf Taktik, Zusammenhalt und die Stärke einzelner Mitglieder an. Es faszinierte mich, dass gerade die Schatten in vergleichsweise kleinen Gruppen agierten, deren einzelne Mitglieder jedoch extrem stark sein sollen.

Die Gangs wurden mit Sternen bewertet. Man kämpfte gegen eine ranggleiche oder ranghöhere Gang und erwarb sich somit einen Stern, oder je nach dem auch halbe oder sogar mehrere.

Banden entwickelten mit der Zeit ihren eigenen Stil. Es zum Beispiel Gangs, die mit Giften kämpfen, oder Gangs, die ausschließlich mit Waffen kämpften, allerdings schienen die wirklich gefährlichen Sachen verboten zu sein. Das interessante war, dass die Gangs all dies so geheim wie möglich hielten. Auch wenn vieles im Internet stand, so schien es, als ob ein normaler Bürger kaum etwas von all dem mitbekommen würde. Es war Solanas größtes Geheimnis.

 

Ich hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Die Sache mit den Gangs ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte noch so viele Fragen, die mir das Internet nicht beantworten konnte.

Wo kämpften die Gangs gegeneinander? Wie sah das aus? Wer kontrollierte ob die Gangs nicht schummelten? Warum gab es Gesetze und wer hatte sie aufgestellt? Wie sah es im Mondviertel aus? Wie konnte man so eine riesige Sache geheim halten? Wie sahen die Schatten aus? Was für Leute waren das? Wie benahmen sie sich? Und wie mochte es wohl aussehen, wenn sie kämpften?

Mein ganzer Körper kribbelte vor Anspannung. Ich wusste, dass es nur einen Weg gab, dies alles herauszufinden.

Ich musste nach Solana!

„Hey mein liebster Papili?“, rief ich fröhlich in den Telefonhörer. Mein Vater lachte. „Liebling! Unsere Tochter ist komisch. Sie nennt mich Papili.“, rief er zu ihrer Mutter. Sie hörte ihre Mutter kichern. „Dann will sie wohl was von uns.“, konnte ich sie leise im Hintergrund sagen hören.

„Was ist es diesmal?“, fragte mein Vater amüsiert.

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten!“, sagte ich. „Ich möchte uuuuuunbedingt nach Solana!“ Mein Vater schwieg einen Augenblick.

„Nach Solana??“, wiederholte er verwirrt. „Unsere Tochter möchte nach Solana…“, wiederholte er für seine Frau. Er stellte mich auf Lautsprecher. „Hallo Mama“, rief ich ihr zu. Meine Mutter lachte. „Hallo, meine Süße!“, rief sie zurück. „Warum willst du plötzlich nach Solana?“

„Ich möchte nur für ein paar Tage dorthin, mir die Stadt mal ansehen, mal was Neues kennenlernen.“

„Und wie kommst du so plötzlich darauf?“, erwiderte meine Mutter verwirrt.

„Ich hab viel gelesen von der Stadt und… bitte, bitte, bitte Mama!! Nur für ein paar Tage!!“

„Was sagst du dazu?“, fragte sie meinen Vater. „Von mir aus.“, murmelte er.

„Na gut, mein Schatz, aber du übernimmst ein Teil der Kosten“, hörte ich sie sagen. Ich jubelte laut. „Ja, ja! Danke! Danke, danke!“

„Schon gut“, sagte meine Mutter lachend. „Wann soll’s denn losgehen?“

„So früh wie möglich, übers Wochenende, ich hab donnerstags nur eine Vorlesung und freitags hab ich eh nichts.“

„Okay, wir kümmern uns drum, ich ruf dich heute Abend wieder an. Ich hab dich lieb, mein Schatz!“

„Ich euch auch!“, rief ich zurück. Ich legte auf und jubelte laut los, vollführte Freudentänze in meiner Wohnung, legte gute Musik auf und machte mir endlich Frühstück.

Wie gut, wenn man Eltern hatte, die in einem Reisebüro arbeiteten.

 

Eigentlich wurde mir beim Fliegen immer etwas schlecht. Aber ich war innerlich so aufgeregt, dass ich vom einstündigen Flug kaum etwas mitbekam.

Es waren zwei Wochen vergangen, seit ich das Zeichen gesehen hatte und ich in eine völlig andere Welt eingetaucht war. Ich war froh, dass meine Mutter den Flug organisieren konnte. Sie hatte mir eine günstige Jugendherberge in der Innenstadt herausgesucht. Aber ich wusste, dass ich eh nicht viel Schlaf finden würde. Zumindest nicht nachts, denn da begann gerade erst das, was ich so sehnsüchtig sehen wollte.

Ich sah aus dem Fenster. Wir befanden uns im Landeflug und ich hatte einen herrlichen Ausblick auf die Stadt.

Das Glitzern und Leuchten eines Sternes.

Das war mein erster Gedanke, als ich auf Solana herunterblickte. Die Stadt hatte etwas von einem Stern, der seine Zacken weit in die Landschaft herausstreckte und deren Lichtschein sich dabei langsam verlor. Im Inneren jedoch strahlte die Lebendigkeit einer Großstadt.

Ich war gespannt, wie es dort unten aussah.

Das Flugzeug landete gegen acht. Ich holte meinen kleinen Reisekoffer und suchte den schnellsten Weg nach draußen.

Die große Eingangshalle war voller Menschen. Ich grinste über die Lebendigkeit, die mir hier entgegenschlug. Ich kaufte mir ein teures, belegtes Brötchen als Abendbrot und verließ die Eingangshalle durch eine gläserne Tür, die sich surrend vor mir öffnete.

Ich war wieder aufgeregt.

Warme Luft schlug mir entgegen. Es war ungewöhnlich warm für Februar. Genüsslich atmete ich die Abendluft ein. Erst mal sollte ich zu meiner Jugendherberge.

Ich holte die Beschreibung meiner Herberge aus meiner Tasche und machte mich auf die Suche nach einem Taxi.

Die Taxifahrerin, die ich nach einer Weile fand, war sehr zuvorkommend, half mir, meinen Koffer zu verstauen und gab mir auf der Fahrt in die Stadt ein paar Tipps.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe!“, sagte ich, als sie mir meinen Koffer aus dem Wagen holte.

„Immer gerne! Viel Spaß und viel Glück!“, sagte sie mit einem Zwinkern. Ich gab ihr ihr Geld und drehte mich zur weniger einladend wirkenden Jugendherberge um.

Nun ja, zum Schlafen und Duschen dürfte es gerade noch reichen.

Mit schnellen Schritten ging ich zum Eingang. Ein paar Jungs standen an der Tür und rauchten. Ich senkte den Blick und versuchte schnell an ihnen vorbeizukommen. Sie schenkten mir zum Glück keine Beachtung.

„Ja?“, fragte die Frau an der Theke unfreundlich. „Ich hab ein Zimmer gebucht“, antwortete ich hastig und mied ihren genervten Blick. Sie trommelte mit ihren Wurstfingern auf dem Tisch herum und ich verstand, dass ich ihr die Buchungsbestätigung geben sollte.

Gott! Hatte sie das sprechen verlernt oder erstickte sie vielleicht an ein paar Worten.

„Zimmer 309, dritter Stock. Du teilst dir das Zimmer mit einem anderen Mädchen…“ Sie gab mir den Zettel mit dem Schlüssel zurück.

Ich konnte einen Blick auf den Speisesaal erhaschen. Einladend war dann aber doch etwas anderes. Langweilige graue Wände, grauer PVC-Boden und lange, wer hätte es gedacht, graue Tische. Ein Traum in grau.

Es gab keinen Fahrstuhl, ich war gezwungen die Treppe zu nehmen. Meine Tasche bis in den dritten Stock hochzubekommen, war schwerer als erwartet. Ich war eindeutig zu verwöhnt. Völlig außer Atem suchte ich im dritten Stock nach dem Zimmer 309. Davon ab, das die Ausschilderung praktisch nicht vorhanden war, und der Ausblick auf die Toiletten nicht gerade erfreulich, war ich doch ganz froh, als ich mein Zimmer betrat.

Es war niemand da. Ich schob meinen Koffer neben das unbenutzte Bett. Es gab ein kleines Waschbecken, das mit den Schminkutensilien meiner Mitbewohnerin vollgestellt war.

Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte und mich umgezogen hatte, wollte ich mich endlich auf den Weg machen. Es war halb Zehn. Spät genug!

Ich schloss das Zimmer wieder ab und steckte ihn in meine Umhängetasche.

Die Frau an der Theke sah mich seltsam unbeteiligt an. Die rauchenden Jungs standen immer noch da. Diesmal schenkten sie mir Beachtung.

„Hey Süße, du hast das was verloren!“, rief mir einer hinterher. Ich drehte mich nicht um. Ich konnte aus seiner Stimme hören, dass es nicht ernst gemeint war. „Bück dich doch mal“, schrie ein anderer. Ich beschleunigte nun doch meine Schritte.

Als ich weit genug von ihnen entfernt war, holte ich einen Zettel aus meiner Tasche. Auf ihm standen die Verbindungen innerhalb der Stadt. Am besten kam ich mit der U-Bahn zum Mondviertel. Ich fühlte mich beobachtet auf diesen fremden Straßen. Ich rieb mir nervös die Oberarme. Ich fand eine U-Bahn-Station und stieg erleichtert die Treppen hinab. Ein mir unbekannter Geruch kam mir entgegen. Auf dem Gleis standen ein paar Leute. Ich kaufte mir ein Ticket und sah mich um. Ich hätte vielleicht nicht allein herkommen sollen. Oder war ich einfach nur paranoid?

Ich würde die drei Tage ja wohl auch ohne Aufpasser überstehen.

Ein Luftzug strömte durch die Tunnel an mir vorbei und man konnte ein leises Rauschen hören, das die herannahende Bahn ankündigte.

„Gleis A: Bitte zurücktreten!“, ertönte eine klare Stimme aus den Lautsprechern. Ich ging vorsichtshalber einen Schritt zurück. Ein noch stärkerer Windstoß fegte vorbei, dann rollte die U-Bahn ein. Ein paar Leute stiegen aus und ich hüpfte an ihnen vorbei in die Bahn. Zumindest hier drin war es nicht ganz leer. Ich setzte mich auf einen freien Platz und beobachtete die Leute. Ein Mann las Zeitung, zwei ausländische Frauen mit Kopftüchern unterhielten sich leise, doch die meisten saßen einfach nur unbeteiligt da.

Ich schaute auf meinen Zettel, wann ich aussteigen musste. Dann konnte ich nur noch warten.

Und ich wartete. Während sich die Bahn immer mehr leerte, beschlich mich so langsam das Gefühl, dass es dort, wo ich hinwollte, nicht gerade viele Menschen gab. Die Bahn war fast leer, als meine Haltestelle angesagt wurde. Ich stand mit zitternden Beinen auf und wartete darauf, dass die Bahn anhielt. Die Bahn stoppte mit einem Ruck und gleichzeitig durchfuhr mich ein Kribbeln der Nervosität. Vorsichtig trat ich auf die leeren Gleise und sah mich in alle Richtungen um. Es sah verwahrlost aus. Als hätte sich schon seit einiger Zeit niemand mehr um diese Haltestelle gekümmert. Alte Werbung hin in Fetzen an den Wänden, die Läden, die es hier einmal gegeben haben muss, waren zugeriegelt und mit Graffiti besprüht. Ich ging die Treppen hinauf zur Straße und fand mich an einer wenig befahrenden Straße wieder. Die Laternen zuckten.

Hier lebten eindeutig nicht viele Menschen. Ich rieb mir die kalten Arme und schaute mich nervös um.

Ich hatte irgendwie etwas anderes erwartet. Ein Stadtteil voller schwarz gekleideter, seltsamer Leute und exotischer Stände und Läden, Gangmitglieder an jeder Ecke und schaulustige Menschen, die hinter vorgehaltener Hand mit ehrfürchtiger Stimme über die besten Gangs der Stadt redeten.

Aber eigentlich hätte ich mir das denken können. Diese Leute agierten im Dunkeln, heimlich und versteckt, denn alles was sie taten, war geheim. Ein bunter Rummel hätte sie nur in Gefahr gebracht. Trotzdem konnte ich nicht umhin, ein wenig enttäuscht zu sein.

Das Mondviertel war einfach gesagt, ein altes, verlassenes, dunkles Industriegebiet. Die Hoffnung verließ mich.

Wie sollte ich hier überhaupt jemanden finden?

Ich drehte mich nach allen Richtungen noch einmal um und entschied mich dann, an der hellen Straße entlang zu gehen. Ich fühlte mich unwohl.

Nach einer viertel Stunde war ich mir sicher: Ich hatte keine Ahnung wo ich war.

Die Gegend war nicht ansehnlicher geworden, im Gegenteil. Zu den verfallenen Gebäuden und demolierten Straßen hatten sich dunkle Ecken mit zwielichtigen Personen gesellt. Ich hatte nun doch so etwas wie Angst. Ich wollte am liebsten zur nächsten U-Bahn-Station und wieder zurückfahren. Aber die Straßen wurden einfach nur enger, die funktionierenden Laternen immer seltener und der Geruch von verrottenden Gebäuden und der herumliegende Müll immer unerträglicher.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Ich rieb mir fröstelnd die Oberarme. Ich wurde das Gefühl nicht los, das mich jemand verfolgte. Ich drehte mich herum und sah drei Gestalten, die auf mich zukamen. Ich ging etwas schneller, bekam Panik, als auch die Schritte hinter mir lauter wurden. Ich schrie als sie mich packten und über die Straße zerrten. Sie hielten mir den Mund zu und brachten mich in eine kleine, dunkle Gasse.

„Sei schön ruhig, Püppchen!“, säuselte einer der Männer. „Das wird dir Spaß machen.“ Ich starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ich konnte nicht atmen und eine Angst hatte mich gepackt, die nicht zu beschreiben war.

Nein, nein, nein, nein… bitte nicht!

Die Männer lachten gehässig und drückten mich gegen eine Wand. Ich versuchte mich aus ihrem Griff zu befreien, trat um mich, versuchte die Hand zu beißen, die meinen Mund zuhielt. Doch der Griff, mit denen er mich festhielt wurde nur noch kräftiger. Ich schrie, vor Schmerz und Angst.

Warum war ich nur hierhergekommen?

Plötzlich schlug etwas neben mir auf und einer der Männer stöhnte. Es wurde laut. Einer von ihnen schien mit jemanden zu kämpfen. Ich blinzelte. Der Mann, der mich festgehalten hatte, ließ mich plötzlich los, ich sank zu Boden. Der Kämpfer war größer, als die drei Männer, schlank und völlig in Schwarz. Es war schwer ihn in der Dunkelheit überhaupt richtig zu erkennen. Die zwei Männer fluchten, dann schlug der Kämpfer ohne Vorwarnung zu. Es geschah viel zu schnell um es wirklich zu beschreiben. Der Kämpfer wusste genau was er tat, er bewegte sich schnell und präzise und schaltete dabei alle drei Männer nach und nach aus. Dabei schlug er sie in empfindliche Körperstellen, wie Magenhöhle, Nacken, Rücken, verdrehte ihnen Arme, warf sie in schnellen Handgriffen auf den Boden, bis sie alle bewusstlos auf den Boden lagen. Der Kämpfer holte etwas wie eine Schnur aus seiner Tasche und verband ihre Hände und Füße.

Ich zitterte immer noch. Dort wo sie mich am Arm gepackt hatten, breitete sich langsam ein stechender Schmerz aus. Der Kämpfer drehte sich zu mir herum.

„Alles okay?“, sagte er und trat näher. Seine Stimme klang jung, und ich konnte in der Dunkelheit einen Mann ausmachen, der vielleicht mein Alter hatte.

„Ja… ja, ich denk schon…“, brachte ich benommen heraus und fühlte die schmerzende Stelle an meinem Arm. Der Junge verschränkte die Arme und betrachtete mich eingehend. „Kannst du aufstehen?“ Ich nickte benommen und stemmte mich hoch. Sein Blick ging an mir herunter, wurde abschätzend.

Ich fühlte mich schlecht, weil ich genau wusste, was er dachte.

Du hast es doch nicht anders gewollt, sagte sein Blick. Ich schämte mich für den kurzen Rock und den engen Pullover, den ich angezogen hatte um einen guten Eindruck zu hinterlassen. In dieser Gegend zählte das Aussehen nicht.

Mir wurde schwer ums Herz. Der Gedanke, dass ich diese schreckliche Situation selbst herbeigeführt hatte, lag mir schwer im Magen.

Mein Retter räusperte sich merkbar und ich sah zu ihm herauf.

„Gib mir dein Handy!“, forderte er und blickte mich ernst an. Ich war verwirrt. Er drehte sich herum und sah sich nervös um. Wozu brauchte er mein Handy? Wollte er mich ausrauben? Er seufzte genervt, als ich zögerte und holte sein eigenes Handy hervor. Was wollte er mit meinem Handy, wenn er selber eins hatte?

„Hallo? Polizei?“, sagte er mit einer rauen, hohen Stimmte. Ich schauderte. Es klang wie die Stimme einer alten Frau. „Ich habe gerade gesehen, wie drei Jugendliche ein Mädchen in eine Gasse verschleppt haben, Heiliger-Anton Straße, ja im Mondviertel… ich glaube, da kommen gerade ein paar Leute, sehen aus wie diese Banden… bitte kommen sie schnell!“ Damit legte er auf, schaltete das Handy aus, steckte es wieder ein und betrachtete mich noch einmal. Ohne ein Wort drehte er sich herum und ging weiter in die Gasse hinein. Ich stutzte.

Ließ er mich etwa hier allein?

Ich rannte hinter ihm her. „Willst du die… die da einfach so liegen lassen?“, fragte ich und blickt nach hinten.

„Wenn du auf die Polizei warten willst, tu dir keinen Zwang an.“ Er würdigte mich keines Blickes. Ich wusste, dass er Recht hatte. Wenn die Polizei hier war, würden sie mich stundenlang befragen. Und ich wusste nicht, wie ich ihnen erklären sollte, dass mich ein Junge vor drei äußerst brutalen, stämmigen Männern gerettet hatte. Vor allem, da ihr Retter selbst vor der Polizei davon lief. Wir liefen schweigend nebeneinander her. Er führte mich durch ein Labyrinth aus engen Gassen, Hinterhöfen, verwilderten Plätzen.

„Danke für deine Rettung!“, sagte ich in die Stille hinein. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen und die Angst saß noch immer tief in meinen Knochen. Doch ich wollte auch von hier weg. Er antwortete nicht. Ich fühlte mich irgendwie hilflos. Ich wusste nicht einmal, warum ich ihm folgte. Ich hoffte einfach, dass er ein Herz hatte und mich aus diesem Alptraum herausführte.

Ich betrachtete meinen Retter aus den Augenwinkeln. Er hatte einen ernsten, unbeweglichen Gesichtsausdruck. Seine Kleidung war komplett schwarz und sportlich, wie ein Trainingsanzug. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass seine Schritte beinahe nicht zu hören waren, während ich mit meinen Absatzschuhen mehr als deutlich zu vernehmen war.

Er bewegte sich lautlos und beinahe unsichtbar durch die Nacht, ging es mir durch den Kopf.

Plötzlich erschien Licht am Ende der Gasse. Er führte mich auf eine kleine, aber hell beleuchtete und vor allem belebte Straße. Mein Herz schlug schneller und ein kleiner Jubelschrei kam über meine Lippen. Ich war unglaublich erleichtert!!

„Dort ist die nächste U-Bahn-Haltestelle“, sagte er und zeigte ein Schild, das unweit von uns entfernt lag. Dann drehte er sich herum und ging. Ich sah ihn einen Augenblick lang nach und wusste nicht ob ich ihn unhöflich oder einfach nur seltsam finden sollte. Er steckte die Hände in die Taschen und versuchte unauffällig zu bleiben.

Er war einer von ihnen, schoss es mir durch den Kopf.

Ich rannte wieder hinter ihm her. „Du gehörst zu einer Bande, stimmst?“, fragte ich, als ich ihn erreicht hatte. Er hielt mir mit einer hastigen Bewegung den Mund zu. „So was schreit man nicht auf offener Straße herum!“ Ich nahm seine Hand weg und senkte die Stimme. „Ich suche eine Bande. Kannst du mir helfen?“ Er musterte mich und schüttelte dann genervt den Kopf. Wir gingen an einem Zaun vorbei, den er genau betrachtete. „Bitte. Ich weiß nicht, wie ich an solche Leute herankommen soll. Du bist der erste, den ich getroffen habe, der etwas damit zu tun hat.“ Er drehte sich herum und sah sich nach allen Seiten um. Dann sprang er auf eine Mülltonne über den Zaun. Ich wusste, dass ich hartnäckig bleiben musste und versuchte ich es ihm nachzumachen. Doch ich rutschte von der Mülltonne ab und fiel um. Er war stehen geblieben und sah nach mir.

Man konnte zumindest nicht behaupten, dass er kein Herz hatte.

Warum tat ich das überhaupt? Noch vor kurzen hatte ich mich verlaufen und war beinahe überfallen worden und nun rannte ich einem fremden Mann hinterher, der mich eigentlich schnellstens loswerden wollte.

Und das alles nur, weil ich die Schatten finden wollte.

Ich richtete mich wieder auf und entdeckte dabei ein Loch im Zaun. Mein Retter stand immer noch da und betrachtete mich. Ich lief auf das Loch zu und kroch hindurch. Er seufzte und lief weiter, noch bevor ich ganz hindurchgekommen war. Ich kratzte mir die Wollstrumpfhose etwas auf, doch es war nicht wichtig im Moment.

„Warte doch!“, schrie ich im hinterher. Er wartete nicht, doch zumindest lief er auch nicht vor mir davon. Ich holte ihn ein.

„Bitte, du musst mir helfen!“, flehte ich, während wir durch dicht bewachsenes Gestrüpp liefen. Er reagierte nicht darauf. Ich kam mir wie ein Stalker vor.

„Ich komme aus einer anderen Stadt. Dort habe dieses Zeichen an meiner Uni gesehen. Dieses ganze System der Banden hat mich beeindruckt. Ich will unbedingt alles darüber lernen und vor allem diese eine Gang treffen“, versuchte ich ihn zu überzeugten. Er schien immer noch nicht beeindruckt.

„Du könntest mir auch einfach verraten, an wen ich mich wenden kann, dann bist du mich los!“ Na super. Jetzt feilschte ich auch noch mit meinem Verschwinden.

Als er immer noch stumm durch das Gestrüpp lief, wurde ich wütend.

„Redest du immer so viel?“, schnauzte ich ihn an.

Er blieb unvermittelt stehen, worauf ich in ihn hineinlief. Er drehte sich herum.

„Okay, du kommst nicht von hier, oder?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf, erstaunt, dass er überhaupt mit mir sprach. „Dann gebe ich dir einen guten Rat: Geh nach Hause! Das hier ist nichts für kleine Mädchen. Das hier ist nicht beeindruckend oder faszinierend, das ist auch kein Spaß. Vor allem nicht für so jemanden wie dich!“ Damit drehte er sich herum und ging weiter. Ich wusste, dass er mich nicht sonderlich mochte.

„Was meinst du mit ‚so jemand wie ich‘?“ Er seufzte und drehte sich wieder herum. „Diese Gegend ist gefährlich. Du kannst dich ja nicht einmal verteidigen. Du musst doch gelernt haben, das man sich nachts nicht auf dunkle Straßen begibt.“ Ich nickte, fühlte mich noch schlechter.

„Aber… aber ich muss doch die Schatten finden…“, murmelte ich. Er lachte kurz. Es klang traurig.

„Die Schatten gibt es nicht mehr…“

Ich sah betreten zu Boden. Der Grund aus dem ich hier war…

Die Gefahr in die ich mich begeben hatte, die Dummheiten die ich begangen hatte… Alles umsonst?

Mir war zu Heulen, doch ich riss mich zusammen. Er war immer noch nicht gegangen.

„Geh nach Hause, wo auch immer du herkommst“, sagte er, diesmal war seine Stimme sanft und freundlich. „Ja…“ Ich seufzte und wollte mich herumdrehen, als mir noch etwas einfiel.

„Aber das Zeichen! Es war das Zeichen der Schatten“, sagte ich plötzlich. Er schüttelte den Kopf. „Da hat sich jemand einen Streich erlaubt. Gangs malen ihre Zeichen nicht einfach so an Wände und schon gar nicht außerhalb dieser Stadt.“ Ich wusste nicht, was ich sagen solle. Das konnte es doch nicht gewesen sein?

Er drehte sich wieder herum und ging weiter. Ich sah ihm betreten hinterher. War es wirklich alles umsonst gewesen?

Ich konnte nicht glauben, dass ich hier war, für… dass ich mich in Gefahr begeben hatte für… für einen Schein… für etwas, das nicht mehr existierte…

„Sag mal. Wo kommst du noch mal her?“, fragte er plötzlich. Er war unweit von mir stehen geblieben.

„Aus Tessella…“, erwiderte ich matt. Er drehte sich zu mir herum und sah mich ernst an. Er ging wieder ein paar Schritte auf mich zu. Ein Funken Hoffnung regte sich in mir. Sein sonst so regloses Gesicht schien ihm zu entgleiten. Er schien irgendwie aufgeregt.

„Hast du ein Bild davon?“, fragte er hastig. Ich nickte und holte mein Handy hervor. Er war ziemlich aufgewühlt, das konnte man ihm ansehen. Ich zeigte ihm das Bild. „Ich weiß, keine gute Qualität…“ Doch er starrte nur auf das Bild. Er lächelte.

„Das ist… nicht möglich…“, stammelte er und das Lächeln wurde etwas breiter.

Er gab mir das Handy zurück. „Okay, heute ist dein Glückstag. Folg mir!“, sagte er nun wieder ernst und sein alter Gesichtsausdruck kehrte zurück.



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