Zum Inhalt der Seite

Nighttown

Die Nacht ist noch nicht vorbei
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine geheimnisvolle Truppe

Er hatte nun einen etwas zügigeren Schritt, sodass ich mich beeilen musste um mit ihm Schritt zu halten. Wir verließen das Gebüsch und gingen durch halb beleuchtete Gassen, über leere Straßen, kletterten über Mauern. Wir kamen in eine Gegend, die etwas belebter war. Es war etwas, wie ein großer Hof, an dem sich viele kleine Geschäfte befanden. Er steuerte auf eine Bar zu, durch die man durch die kleinen tiefgelegten Fenster gerade so dunkel gekleidete Menschen erkennen konnte. Ob dies hier so etwas wie eine Bar für Gangs war?

Er hielt mir dir Tür auf und führte mich durch die volle Bar. Es war beeindruckend, es wirkte wie ein altes Pub, wie im Film, mit den vertäfelten Wänden und Decken, den schweren Holztischen und der Bar, hinter der unzählige von Flaschen standen. Es war laut und trotzdem konnte ich hören, wie sie sich über Kämpfe unterhielten, über Gangs und berühmte Leute. Sie sahen nicht gefährlich aus, die Leute waren teilweise sogar jünger als ich und beinahe ausnahmslos in dunklen Kleidern. Meistens etwas bequem Aussehendes wie dünne Stoffhosen und -jacken. Mein Retter führte mich an einen großen Tisch, an der bereits ein paar Leute saßen.

„Heeeey!“, begrüßte ein Mädchen ihn freundlich. „Wie hat es dich denn hierher verschlagen?“ Sie war hübsch, hatte lange blonde Haare und obwohl sie nur in dunklen Farben gekleidet war, sah sie gut in ihrer Kleidung aus. Das andere Mädchen begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln. Sie hatte braune, lockige Haare und ein liebes, niedliches Gesicht. „Schön, dass du da bist!“, sagte sie mit sanfter Stimme. Er umarmte die zwei Mädchen kurz und machte irgendein Handzeichen mit dem anderen Jungen, der noch an ihrem Tisch saß, einen Rothaarigen mit Sommersprossen, der irgendwie fertig aussah. Er hatte ein großes leeres Glas vor sich, das vorher wahrscheinlich mit Alkohol gefüllt gewesen sein musste.

Mein Retter setzte sich neben den Jungen und bedeutete mir, mich auch zu setzen.

Jetzt sahen mich alle an.

„Hallo…“, sagte ich leise und fühlte mich etwas unwohl in meiner Haut.

„Ungewöhnlich, dass du weibliche Begleitung mitbringst.“, sagte die Hübsche und lächelte mich an. Die mit den braunen Locken lachte und beugte sich etwas zu mir herüber. „Wie hast du ihn rumgekriegt?“ Ich lächelte verwirrt.

„Hört auf.“ Er drehte sich zu mir herum. „Wie heißt du?“ Ich war verwirrt. Sollte ich jetzt meinen richtigen Namen sagen? In Banden schien es üblich zu sein, sich Decknamen zu geben.

„Marie“, sagte ich spontan. Den Namen hatte ich schon immer gemocht.

„Marie!“, wiederholte er. „Das sind Yuni“ Er zeigte auf die Hübsche. „Cat,“ Die mit den Locken. „und Keks.“ Er sah wieder zu mir. „Ich bin Falke.“ Ich nickte. Ich verstand nicht zu ganz, was das Ganze zu bedeuten hatte.

„Wo ist Socke?“, fragte Falke plötzlich. Diesen Namen hatte ich schon einmal gehört.

„An der Bar“, sagte Cat und sah zu ihm. Wie auf ein Stichwort drehte sich einer der Männer am Tresen in diesem Moment herum und lief auf uns zu. Er war sehr attraktiv, groß, leicht muskulös, mit dunklen Haare und schönen, blauen Augen. „Falke, alter Freund!“, rief er und setzte sich mir gegenüber. Er blickte mich mit diesen beeindruckenden blauen Augen an. Ich bekam etwas Herzklopfen. „Hast du heute ein Date?“, fragte er an Falke gewandt und trank aus seinem Glas mit Bier.

„Nein, das ist Marie, Marie, das ist Socke!“ Ich nickte ihm zu. Er grinste frech, was ihn irgendwie noch attraktiver machte. „Freut mich Marie“, sagte er und reichte mir die Faust. Ich schlug ein.

Wahnsinn. Socke hatte eine seltsame Aura an sich. Man musste ihn einfach mögen.

Falke schien einen Moment mit sich zu hadern. Alle blickten ihn erwartungsvoll an.

„Ich habe Neuigkeiten“, fing er an. Zögerte wieder einen Moment, sah zu Socke, der ihm mit verwirrten Blicken antwortete.

„Zeig ihnen das Bild!“, sagte er nun wieder zu mir. Ich holte abermals mein Handy hervor und öffnete das Bild. Er zeigte es zuerst den beiden Mädchen. Sie sahen sich das Bild an, schienen aber nichts damit anfangen zu können. „Marie kommt aus Tessella und hat dieses Bild vor einer Weile gemacht.“ Beide Mädchen sahen geschockt aus, starrten wieder auf das Bild. Als Falke den Namen der Stadt nannte, erregte das Sockes Aufmerksamkeit. Er trank hastig aus seinem Glas und beugte sich zu den Mädchen herüber um auch auf mein Handy zu sehen.

„Das ist doch nicht möglich. Meinst du… sie war das?“, fragte Cat hoffnungsvoll.

„Sie hat uns nicht vergessen!“, sagte Yuni plötzlich erfreut.

„Das muss sie gewesen sein! Wer sonst würde das tun?“, sagte nun auch Keks, an den das Handy weitergereicht wurde. „Cool!“

„Entschuldigt mich kurz“, sagte Socke und stand auf. Er lächelte und zwinkerte mir noch einmal zu. „Ich muss nur mal eben aufs Töpfchen!“ Er ging, amüsiert über seinen eigenen Spruch, weg. Ein kurzes Schweigen kehrte am Tisch ein. Ich hatte das komische Gefühl, dass er vor etwas davongelaufen war.

„Oh je. Das war vielleicht doch noch etwas viel“, sagte Yuni nachdenklich.

„Der soll sich mal nicht so haben.“, schimpfte Cat. Ich war verwirrt.

„Habe ich was falsch gemacht?“

Die beiden Mädchen sahen sich an. „Schon gut, das hat nichts mit dir zu tun!“ Cat lächelte mich freundlich an. „Erzähl uns, wie du das Zeichen entdeckt hast.“

„Naja, da waren immer so ein paar Kerle an meiner Uni, die haben nur Ärger gemacht. Haben Wände mit Graffiti beschmierten, rumgepöbelt und Mädchen belästigt. Zu bestimmten Zeiten haben wir uns gar nicht mehr getraut, aus der Uni zu gehen. Und einen Abend, als ich nach Hause gehen wollte, war die Polizei an der Ecke zum Uniplatz. Sie haben diese Kerle eingeladen.“ Ich lächelte beim Gedanken, an ihren bemitleidenswerten Zustand. „Das sah wirklich komisch aus, sie waren ziemlich zugerichtet und gefesselt.“ Die anderen grinsten sich freudig zu.

„Das sieht ihr ähnlich!“, sagte Yuni. Cat lachte. „Ja, das ist unsere Choffi!“ Ich spitzte die Ohren. Auch diesen Namen hatte ich schon mal gelesen.

„Und über dem hässlichen Graffiti der Jungs war dann eben dieses Zeichen“, redete ich schnell zu Ende. „Cool“, sagte Keks. „Also sie hat’s auf jeden Fall noch drauf.“

„Ich glaub’s nicht!! Sie hat uns wirklich nicht vergessen!“ Die Freude am Tisch war fast greifbar.

Sie fingen an über alte Zeiten zu sprechen. Es klang spannend, aber ich fühlte mich doch etwas fehl am Platz.

„Jetzt ist erst Mal wieder gut, darüber könnt ihr euch auch noch später unterhalten“, hielt Falke sie nach einer Weile an. Die Gespräche verstummten. Ich sah zu Falke hoch und hatte ein bisschen das Gefühl, dass er es für mich getan hatte. Aber er blickte nicht zurück.

„Ach ja, wie kommst du eigentlich darauf, hierher zu kommen?“, fragte Yuni nun wieder. „Ich habe im Internet ein bisschen geforscht und war überrascht wie umfangreich und beeindruckend diese ganze Sache mit den Gangs war. Ich wollte einfach mal sehen, wie das so ist.“ Ich wurde ein bisschen rot. Falke hatte mir ja eigentlich schon bewusst gemacht, dass es kein Märchenland war. Trotzdem konnte ich nicht anders.

„Und da hast du dich einfach in den Flieger gesetzt und dachtest, ach such ich mal ‘ne Gang?“ Ich druckste. „Ich wollte die Schatten finden…“, gab ich zu. Yuni lachte. „Na dann, herzlichen Glückwunsch! Du hast sie gefunden.“

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen!

Natürlich!

Ich war so dumm! Wenn diese Choffi ein Mitglied der Schatten war und diese Leute augenscheinlich ihre Freunde, dann konnten sie ja nur noch… der Name Socke… er war der Anführer der Schatten… Choffi… Falke… Plötzlich konnte ich die Namen zuordnen!

Ich sah zu Falke hinauf. „Aber du sagtest doch, es gäbe sie nicht mehr!“ Das Herz schlug mir bis zum Hals. Das konnte doch gar nicht sein.

„Ja, da hat er Recht“, sagte Yuni und sah mich tröstend an. „Genaugenommen haben sich die Schatten von circa einem Jahr aufgelöst. Wir sind nur der klägliche Rest!“ Sie lachte, wirkte aber etwas traurig. Ich freute mich trotzdem.

„Das ist ja cool! Jetzt lern ich euch doch kennen!“ Ich konnte nicht anders als von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Ich konnte sie nun endlich all die Dinge fragen, die ich von dem Augenblick wissen wollte, als ich von ihnen las.

„Wie ist es so? Ich meine, wie ist es in einem Gang zu sein? Diese ganzen Kämpfe und so?“ Sie lachten. Sogar über Falkes Gesicht huschte kurz ein Lächeln. „Da ist jemand ganz neu“, witzelte Yuni. „Dann ist das immer noch beeindruckend“, seufzte Keks.

„Es ist unbeschreiblich!“, antwortete mir Cat. „Ich bin schon seit klein auf dabei und es gehört sehr viel Mut und Wahnsinn dazu das alles zu tun. Die Kämpfe sind hart und schwer. Man muss mit unzähligen Schmerzen leben. Aber der Erfolg und der Zusammenhalt der Gruppe sind das alles wert. Und!!! Es ist einfach… wie soll ich sagen… einfach verdammt geil!“

„Aber es ist schwer. Allein das Training, man muss ja ständig üben und immer auf dem neusten Stand sein“, fügte Keks hinzu.

„Und die Niederlagen tun weh“, sagte Yuni.

„Eigentlich tut dir immer irgendwas weh.“ Sie lachten. „Das war schon ‘ne geile Zeit, oder Falke?“ Er zuckte mit den Schultern.

„Nicht zu vergessen, das man ständig vor der Polizei davon läuft.“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen, als Socke plötzlich wieder auftauchte. Er stellte ein Glas vor mir ab. „Für mich?“, fragte ich überrascht. Er lachte. „Bacardi Cola? Magst du sowas?“ Ich nickte. „Danke.“

Er setzt sich wieder. „Warum lauft ihr vor der Polizei weg?“, fragte ich nachdem ich einen Schluck getrunken hatte. „Erst weil wir Minderjährig waren und später weil sie die Bildung von Gangs verboten hatten.“ „Das ist ja gemein.“

„Eigentlich hat‘s den Reiz ausgemacht.“ Er lachte. „Alles war reizvoll, das heimlich Rausschleichen, die gefährlichen Klettereien, die verbotenen Kämpfe, König des Mondviertels werden…“ Seine Augen blitzten. Ich war voller Euphorie. Ich hätte mich ihm sofort angeschlossen. „König des Mondviertels?“, fragte ich vorsichtig.

„Die stärkste Gang im Mondviertel, die mit den meisten Sternen, die sich gegen alle anderen durchgesetzt hat, wird Königsgang und ihr Anführer König des Mondviertels. Es ist ein Rang, ein Titel, eine Ehrung… was auch immer aber es ist einfach geil sich so nennen zu dürfen.“

„Du?“

„Ja, ich und meine Gang, die immer bedingungslos hinter mir stand… naja in jeder Gruppe gibt es Schwierigkeiten und viele sind ausgestiegen, neue dazugekommen… das gehört dazu!“ Er zuckte mit den Achseln. Ich atmete tief aus.

„Schade, ich wäre gern dabei gewesen…“ Er lachte. Sein Lachen war einnehmend. Sein ganzes Wesen war einnehmend. „Nein, es ist wirklich schwer und man muss ziemlich hart im Nehmen sein. Ständig blaue Flecken, Prellungen, Stauchungen, Brüche… und seelisch ist es auch ganz schon hart.“ Ich verzog nachdenklich den Mund. „Aber es klingt trotzdem beeindruckend. Hat man euch mal erwischt?“ Socke beugte sich ein Stück weit zu ihr.

„Das ist eine Geschichte, die ich dir erzählen muss!“

 

Der Abend war das Unglaublichste und Schönste, was mir je passiert konnte. So unglücklich es am Anfang auch verlaufen war, es hatte mir doch diese wunderbare, beinahe unwirkliche Situation eingebracht. Sie waren alle so nett und redselig, beantworteten mir geduldig alle Fragen.

Ich hätte ihnen stundenlang zuhören können. Sie erzählten mir alles über die Kämpfe, über andere Gangs, über den Straßengott, über ihr Training, ihre Mitglieder. Es waren lustige Geschichten, und witzigen Namen aber auch schlimme Erlebnisse, mit tragischem Ende. Scheinbar war der Tod etwas, dem man bei einer so gefährlichen Sache nicht aus dem Weg gehen konnte.

Komischerweise sprach niemand so wirklich über diese Choffi. Sie war immer dabei und es war unvermeidlich sie zu erwähnen, aber sie alle hielten sich so kurz wie möglich, erwähnten lediglich ihren Namen, gingen nie genauer auf sie ein. Ich wagte es nicht, sie darauf anzusprechen. Ich wusste nicht, was zwischen ihnen allen vorgefallen war und eigentlich ging es mich auch nichts an.

Gegen vier Uhr morgens wurden wir beschwipst von den Erzählungen und dem Alkohol aus der Bar geschmissen. Einer wunderschönen, aber etwas stämmigeren Frau mit schwarzem, krausem Haar gehörte die Bar. Ich bewunderte sie sehr dafür.

„So Marie, wo musst du jetzt hin?“, fragte Yuni und legte den Arm um meine Schulter. Wir kicherten. „Keine Ahnung… Falke hat mich hierhin geführt, ich habe überhaupt keine Ahnung, wo ich hier bin…“ Ich lachte. Vielleicht wäre er ja so gütig und würde mich zu einer Bahnhaltestelle bringen.

„Neeeeeeeee…“, machte Yuni langgezogen und ließ mich wieder los. „Ich meine, wo pennst du denn?“

„In einer Jugendherberge in der Stadt.“

„Ist die zufällig am Polarring?“ Ihre Stimme klang plötzlich etwas besorgt. Ich war verwirrt. Cat und Yuni tauschten kurze Blicke.

„Ja, ich glaub schon…“ Wieder sahen sich beide an. „Da kannst du nicht bleiben. Das ist kein guter Ort“, sagte Cat und sah mich mit sorgenvollem Blick an. Sie war so lieb und niedlich. Ich mochte sie sehr. „Ach das geht, ist ja nur für ein paar Nächte.“

„Nein, du kannst da wirklich nicht übernachten, du kannst froh sein, wenn deine Sachen noch da sind.“ Ich erschrak. „Außerdem gibt’s in dieser Gegend nur Atzen und Spinner! Da wird übelst mit Drogen gehandelt und wenn du deine Tür nicht richtig abschließt, dann…“ Sie sprach nicht weiter und ich konnte mir lebhaft vorstellen was dann passierte. „Naja du könntest bestimmt bei einem von uns pennen.“, schlug Cat vorsichtig vor. Plötzlich sahen sich alle gegenseitig an.

„Nein, nein! Bloß keine Umstände, das wäre mir unangenehm.“

„Also bei mir geht’s nicht. Mein Freund ist da und ich glaube nicht, dass sie sich das mitanhören will“, sagte Yuni gleich und kicherte. Sie ignorierten mich einfach. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen sollte, dass sie mich so bedingungslos in ihre Gruppe aufnahmen.

„Ich wohne noch bei meinem Papa… der würde mich in Stücke reißen, wenn ich jemanden mitbringen würde…“, sagte Cat und sah dabei ziemlich griesgrämig drein. Sie sah mich entschuldigend an. „Tut mir leid!“ Ich schüttelte den Kopf. Sie sahen zu Socke.

„Ne, ich nehme keine Mädchen mit zu mir, aus Prinzip. Sorry!“ Er zwinkerte mir zu. „Ist nichts gegen dich! Außerdem wohn ich echt weit draußen, du würdest ewig wieder in die Stadt brauchen und ich nehme an.“ Ich nickte. Es tat etwas weh von ihm abgewiesen zu werden, aber ich verstand es.

„Also bei mir würde es zwar gehen, aber ich muss morgen und übermorgen arbeiten“, sagte Keks kleinlaut.

„Aber ich kenne jemanden, der mitten in der Stadt lebt und dessen Wohnung groß genug für Gäste ist“, sagte Yuni plötzlich und ihre Stimme nahm etwas Heimtückisches an. Sie hackte sich bei Falke unter und blickte ihn verführerisch an. Er seufzte.

„Von mir aus…“, sagte er und befreite sich aus ihrem Griff.

„Echt?“, platze es aus mir heraus. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Er zuckte mit den Schultern, als wäre es im egal. Ich freute mich trotzdem. Vielleicht konnte er mich ja doch ein bisschen leiden.

„Na gut, dann lasst uns mal verschwinden!“, gähnte Socke und trabte langsam los. Wir folgten ihm.

„Sehen wir uns eigentlich noch mal wieder?“, fragte ich in die Runde. „Bestimmt, wir könnten ja Nummern tauschen, dann schreib ich dich an“, sagte Yuni vergnügt. „Ja, das wär schön.“ Ich konnte immer noch nicht glauben, dass sie alle so offen und herzlich waren und mich einfach so aufnahmen. Ich war einfach nur unglaublich glücklich!

An der Bahnhaltestelle verabschiedeten wir uns von Cat und Keks, die in die andere Richtung mussten. Wir mussten 20 Minuten auf eine Bahn warten, unterhielten uns in dieser Zeit über die Gegenwart. Wie ich studierten Socke und Falke, Yuni war jedoch schon lange aus der Ausbildung heraus und arbeitete als Kindergärtnerin, jobbte nebenbei jedoch auch als Model. Ich war nicht erstaunt darüber.

Die Müdigkeit hatte uns alle schon fest im Griff, als die Bahn kam. Abgesehen von uns, war die Bahn leer.

„Wenn ich in dieser Stadt leben könnte…“, murmelte ich nachdenklich. Socke lächelte mich an. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dich aufgenommen hätte.“ Ich zog einen Schmollmund. „Wieso nicht?“ Er überlegte. „Weiß nicht, ich glaub du wärst besser als Maskottchen aufgehoben, als in einem Kampf.“

„Maskottchen?“

„Niedlich genug bist du ja!“, sagte er und lächelte breit. Ich wurde rot. Dieser Typ war einnehmend. Und anziehend. Da musste man ja aufpassen!

„Jetzt ärger sie doch nicht!“, lachte Yuni und legte wieder den Arm um meine Schulter. „Obwohl ich mir dich mit Häschen- oder Katzenohren durchaus vorstellen könnte.“

„Dann müssen wir Oktavia holen, die hätte ihr bestimmt ein süßes Kostüm genäht!“ Sie lachten herzhaft.

„Ist es denn so schwer?“, schmollte ich. Socke wurde wieder ernst. „Ja. Ich habe angefangen, da konnte ich kaum laufen. Aber das ist vielleicht auch etwas übertrieben. Falke war mit sieben dabei und Choffi und Cat als sie neun oder zehn waren. Man muss nicht unbedingt so früh anfangen, aber um wirklich gut zu sein, ist es beinahe unabdingbar. Und wenn du nicht gerade ein Naturtalent gewesen wärst… hätte ich mich nicht getraut dich auf die Großen loszulassen.“

„Die Großen?“

Socke lächelte gedankenverloren. „Die, die viel mehr Sterne als wir hatten, waren oft älter. Und damit leider auch größer, körperlich stärker…“

„Da zählte dann die Taktik!“, sagte ich selbstbewusst.

„Die und körperliches Geschick.“

„Wir wussten alle genau, wie wir uns zu bewegen hatten.“, warf Yuni ein. Jetzt sahen sie beide nachdenklich aus. Sie schwelgten in alten Erinnerungen.

„Ich hätte euch gerne mal kämpfen sehen“, sagte ich leise. Socke lächelte mir süß zu.

Als die Haltestelle angesagt wurde, verabschiedete sich auch Yuni. Sie umarmte mich fest und versprach mir zu schreiben. Ich winkte ihr. Jetzt war ich allein mit den zwei Jungs. Schweigen breitete sich aus. Falke wirke unbeteiligt und Socke starrte nachdenklich aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Ich fragte mich, ob sie die alte Zeit vermissten. Doch nach den heutigen Erzählungen konnte ich mir die Frage eigentlich auch selbst beantworten.

Nach drei weiteren Bahnhaltestellen mussten wir raus. Wir verabschiedeten uns auf dem Gleis von Socke, der mit einer anderen Bahn noch weiterfahren musste. Es tat fast ein bisschen weh, gehen zu müssen. Socke war unglaublich. Auf eine bestimmte Art und Weise anziehend, ohne dass ich etwas von ihm wollte. Wenn, dann wollte ich sein Freund sein, wollte seine Aufmerksamkeit, den Kontakt, wollte dass er mich nett fand… Naja, das war alles etwas verrückt! Aber es war ja auch schon spät!

Socke umarmte mich kurz, was mich glücklich machte.

Dann waren Falke und ich allein. Ich atmete tief aus.

„Ist es wirklich okay?“, fragte ich ruhig, konnte die Sorge jedoch nicht aus meiner Stimme vertreiben. Es lag mir schon die ganze Zeit auf der Seele. Ich wollte ihn nicht nerven. Er nickte. Ich sah ihn eine Weile lang an, studierte sein ausdrucksloses Gesicht, hoffte auf irgendeine Regung, die verrieten, was er wirklich dachte. Ich wurde aus diesem Kerl nicht schlau.

Er blickte mich an. „Sonst hätte ich gar nicht erst zugestimmt“, antwortet er mir.

„Also machst du es nicht aus Mitleid, oder weil du überredet wurdest?“

„Mach dir keinen Kopf.“

Ich wusste immer noch nicht so recht, was ich von ihm denken sollte. Aber er schien im Grund seines Herzens sehr nett zu sein.

„Danke!“, sagte ich nach einer Weile und stieß ihn mit der Schulter an. Und ich war unfassbar glücklich, dass er mich aufnahm. „Ich versuch auch, dir nicht auf die Nerven zu gehen.“ Tatsächlich huschte ein amüsiertes Lächeln über seine Lippen, als ich das sagte. Ich freute mich darüber.

Wir fuhren mit dem Bus bis zur Herberge. Wir redeten nicht, zum einen weil ich zu müde für ernsthafte Gespräche war und zum anderen wusste ich nicht genau, ob er sich überhaupt unterhalten wollte.

Als wir gemeinsam auf den Eingang der Herberge zuliefen, standen wieder ein paar Jungen dort. Falke rückte näher an mich, als würde er mich vor ihnen beschützen wollen und beäugte sie skeptisch. Aber sie ließen uns in Ruhe. Ich führte ihn zu meinem Zimmer.

„Soll ich dir helfen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich gebe dir die Sachen raus, es ist nicht so viel.“ Ich schloss die Tür leise auf und machte das Licht an. Meine Mitbewohnerin stöhnte. „Licht aus…“ Ich nahm meinen Rucksack und meinen Koffer und gab ihn Falke. Zum Glück hatte ich nicht viel ausgepackt.

„Ich muss den Schlüssel morgen wieder zurückgeben“, sagte ich, als ich die leere Rezeption sah. Wir gingen wieder hinaus und fuhren mit dem Bus weiter.

„Ist es weit?“, fragte ich vorsichtig. „Fünf Haltestellen.“ Das war gut, denn ich war todmüde und kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten.

Der Bus war abgesehen von uns und einer alten Frau, die mit ihren vielen Tüten und ihrem Pelzmantel ein seltsames Bild abgab, völlig allein. Ich betrachtete Falke vorsichtig, der mir gegenüber saß und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Er hatte ein ausgesprochen schönes Gesicht, stellte ich fest, auch wenn der Ausdruck darauf distanziert und kühl wirkte. Seine Haut war hell und ohne jede Unreinheit mit einem kaum sichtbaren Bartansatz. Seine Augen waren beinahe leuchten grün. Ich wandte den Blick schnell ab und spürte wie sich die Röte über meine Wangen verteilte. Er stand auf und nickte mir zu. Wir waren wohl da.

Er führte mich durch Reihen von Wohnblöcken, die von erstaunlich viel Grün umgeben waren. Es wirkte fast so, als hätte die Natur ein wenig Überhand über diesen Ort gewonnen, ihn einfach überwuchert mit seiner Pracht. Ich war am Stadtrand aufgewachsen und ich liebte nichts so sehr, wie das Grün von Pflanzen.

Der Hauseingang zu dem er mich führte lag etwas abseits hinter den Wohnblöcken. Die plötzlich aufleuchtende Lampe am Hauseingang blendete uns, als wir uns näherten. Er holte einen Schlüssel hervor, schloss auf und hielt mir die Tür auf, sodass ich in einen hell gestrichenen, einladend wirkenden Flur treten konnte. Ich guckte verstohlen auf die Briefkästen, versuchte herauszufinden, welcher seiner war. Doch er führte mich in schnellen Schritten zum Fahrstuhl und wir fuhren in den fünften Stock.

Das Schweigen, das zwischen uns herrschte, war angenehm. Ich wollte ihn so vieles fragen und ihm danken, aber das hatte Zeit. Wir stiegen aus dem Fahrstuhl und er schloss die Tür auf, die dem Fahrstuhl gleich gegenüber war.

Es roch seltsam ungewohnt in seiner Wohnung, aber nicht schlecht. Er stellte meine Taschen in den Flur und zog sich die Schuhe aus. Ich tat es ihm nach.

„Ich hole das Bettzeug“, sagte Falke und ging in ein Zimmer am Ende des Flures. Ich schaute mich verstohlen um. Rechts von mir lag das Wohnzimmer, mit großen Fenstern, recht modern eingerichtet. In der Ecke stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Computer drauf. Auf der linken Seite war die Küche, sie war recht klein und schmal, aber durchaus ausreichend, eine kleine Küchenzeile auf der einen, ein großes Regal auf der anderen.

Er kam mit Kissen, Decke und Bezügen wieder und nickte mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. Ich ging in den Raum, der Teppich unter meinen Füßen fühlte sich weich und gemütlich an.

Falke legte das Bettzeug auf einem Sessel ab und kratze sich am Kopf. Er wirkte verlegen. „Ich hoffe das Sofa ist in Ordnung für dich. Ich habe kein Gästebett“, erklärte er. Ich lächelte ihn an. „Das ist mehr als in Ordnung! Vielen Dank!“

Ich half ihm das Bett zu beziehen. Alles was er tat wirkte irgendwie elegant. Er riss nicht am Sofa um es auszuziehen, er zog es scheinbar ohne große Mühe raus. Er legte das Lacken übers Sofa und strich es mit schnellen und geschickten Bewegungen glatt.

Auch ohne es zu wissen, hätte man ihr als ein Bandenmitglied erkennen können.

„Brauchst du noch was?“, fragte er nachdem er mit allem fertig war.

„Ich müsste nur noch mal ins Bad.“ Er bedeutete mir zu folgen und führte mich in den Flur zurück. „Das Bad ist hier!“, sagte er und zeigte in ein kleines, fast quadratisches Bad. „Alles klar. Ich hol nur schnell ein paar Sachen. Oder willst du zuerst ins Bad?“ Er schüttelte den Kopf.

Ich holte schnell meine Zahnbürste und ein Handtuch und verschwand dann im Bad.

Ein typisches Männerbad. Keine Deko, keine kleinen Fläschchen oder Kerzen auf der Anrichte, nicht mal eine Haarbüste im Spiegelschrank, dafür jedoch jede Menge Verbandszeug, Pflaster und Schmerzmittel. Ein Rasierapparat lag zusammen mit einer elektrischen Zahnbürste auf einem kleinen Schrank. Die Handtücher waren alle weiß und unbedruckt. Er hatte wohl keine Freundin, schoss es mir durch den Kopf.

Ich wusch mir das Gesicht und putze die Zähne. Ich wollte nur schnell ins Bett. Bis morgen könnte ich wohl noch ohne Dusche aushalten. Als ich wieder aus dem Bad kam, stand Falke bereits vor der Tür, mit nichts weiter als Boxershorts am Leib. Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot anlief. Ohne mich zu beachten, ging er an mir vorbei und schloss die Tür hinter sich zu.

Der hatte nicht gerade viel Schamgefühl, schoss es mir durch den Kopf. Aber dafür hatte er einen verdammt gut gebauten Körper. Ich versuchte das Bild aus meinem Kopf zu verscheuchen und ging ins Wohnzimmer. Nachdem ich mir meinen Pyjama übergezogen hatte, suchte ich in meinen Taschen noch nach meinem Handy, um meinen Eltern noch eine Nachricht zu schicken. Als ich die Nachricht verschickt hatte, bemerkte ich, dass Falke im Flur stand und mich beobachtete.

„Was ist los?“, fragte ich verwirrt. Er wirkte nachdenklich.

„Wenn du willst, kannst du auch bei mir im Bett schlafen!“, sagte er plötzlich.

Ich glaubte aus allen Wolken zu fallen. Sekundenlang starrte ich ihn nur an, wusste nicht, ob ich mich verhört habe und meine Fantasie Streiche mit mir spielte oder ob er das ernst meinte.

Als ich nichts sagte, zuckte er mit den Schultern, murmelte etwas wie „…dann eben nicht…“ und drehte sich um. „Warte!“, rief ich hastig und rannte in den Flur. Er stand vor seinem Schlafzimmer und blickte mich an. „Tut mir leid, das war nur etwas… verwirrend… wenn ein Junge so was normalerweise ein Mädchen fragt, dann… dann hat er normalerweise was anderes… im Sinn“, stotterte ich hilflos vor mich hin. Ich lachte um meine Nervosität zu überspielen, spürte aber, dass mein Kopf hochrot war.

„So meinte ich das nicht!“, sagte er schlicht. Ich lachte verlegen. „Ja ich weiß, ich war nur verwirrt.“ Er blickte mich an, schien darauf zu warten, dass ich noch etwas sagte. „Ähm… naja… ich… das ist wirklich nett, aber ich mach dir schon genug Mühe und das wäre mir irgendwie unangenehm. Das Sofa ist schon okay.“

„Gut“, sagte er und nickte mir zu.

„Gute Nacht!“, wünschte ich ihm.

„Nacht“, ertönte es noch aus seinem Zimmer.

Ich hatte immer noch schreckliches Herzrasen. Hatte ich mich peinlich benommen? Aber das war schon eine seltsame Frage. Er hatte es sicher nur gut gemeint, aber ich konnte doch nicht einfach bei einem fremden Jungen im selben Bett schlafen. Vielleicht hatte er ja noch nie Frauenbesuch oder zumindest keinen Frauenbesuch, der nicht mit ihm ins Bett ging.

Ich schüttelte den Kopf. Solche Gedanken hatten hier nichts zu suchen!! Sein Liebesleben ging mich nichts an! Ich kannte ja noch nicht mal seinen realen Namen.

Ich schaltete das Licht aus und ließ mich aufs Bett fallen. Mein Herz hatte sich noch immer nicht beruhigt und dazu kam, dass er vor meinem inneren Auge ständig halb nackt erschien.

Dieser Typ war wirklich verwirrend. Einerseits wirkte er total distanziert und kühl, andererseits war er zuvorkommend und führsorglich.

Noch nie hatte ich so Jemanden getroffen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück