Zum Inhalt der Seite

Spröde Lippen

Eine kleine Weihnachtsgeschichte
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, eine kleine Weihnachtsgeschichte von mir. Ich bin wie immer nicht ganz zufrieden mit ihr und da ich die Idee vor zwei Tagen erst hatte, ist sie ein wenig unter Zeitdruck entstanden (vorher habe ich an etwas ganz anderem geschrieben)...
Naja, wie auch immer, ich hoffe sehr, sie gefällt euch trotzdem. ^^

Wir sehen uns!
LG AtriaClara Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Es ist das erste weiße Weihnachten seit Jahren.

Weiße Flocken trudeln aus dem nachtschwarzen Himmel und schweben lautlos über das Chaos auf den überfüllten Straßen hinweg. Ein geschäftiges Durcheinander von Stimmen dringt in jeden Winkel der Stadt: Menschen hasten auf der Suche nach Last-Minute-Geschenken von Geschäft zu Geschäft und unterhalten sich schreiend, Maronen-Verkäufer preisen stimmgewaltig ihre Ware an, irgendwo läuten Kirchenglocken, halb von "Last Christmas" übertönt. Selbst hier draußen kann man, wenn man ganz still ist, immer noch das zornige Hupkonzert aus der Innenstadt hören.

Am Ufer der anderen Seite des Flusses haben sie einen riesigen Weihnachtsbaum aufgestellt, dessen aufdringlich blinkende Beleuchtung sich auf der Wasseroberfläche spiegelt.

Alles wie immer also. Nur noch ein bisschen kälter.

"Hör auf damit!"

Sehr unsanft werde ich aus meinen zynischen Gedanken gerissen. Um ehrlich zu sein, habe ich meine Freundin neben mir völlig vergessen. Aber noch bevor ich überhaupt die Chance dazu habe, ihr eine Antwort zu geben, gibt es ein klatschendes Geräusch und Feuer schießt durch meine Wange. Erschrocken zucke ich zusammen, reflexartig schießt meine Hand hoch zu der brennenden Stelle.

"Aua! Verdammt, Julie! Wofür war das denn bitte?!" Empört sehe ich sie an.

"Du tust es schon wieder! Du knabberst an deinen Lippen!"

"Ich kann nichts dafür!", rechtfertige ich mich.

Sie übergeht mich einfach. "Muss ich dich etwa fesseln und knebeln, damit du endlich damit aufhörst?"

Vorsichtig betaste ich meine Wange und verziehe gequält das Gesicht, als ich eine besonders schmerzhafte Stelle erwische. "Aua! Mann, ich dachte, meine Lippen sind dir egal!"

Julie bedenkt mich mit einem vernichtenden Blick. "Sind sie auch. Aber dir ja leider nicht. Und nachher darf ich mir dann wieder dein Geheule darüber anhören, wie schrecklich du doch aussiehst."

Ich lasse verärgert meine Hand sinken. Wenn sie glaubt, sie hätte die schlechtere Laune von uns beiden, dann hat sie sich aber geschnitten. "Sehr liebevoll, danke. Da kommt ja richtige Weihnachtsstimmung auf." Meine Stimme trieft vor Sarkasmus. "Wie wäre es jetzt noch mit einem Kuss, hm?"

Ich bekomme keine Antwort, nur eisiges Schweigen.

Ja, genau. Halt bloß die Klappe.

Das letzte Wort gehört mir, aber so richtig freuen kann ich mich darüber nicht.

Eine Weile lang sitzen wir so nebeneinander. Niemand sagt ein Wort, und zusammen mit meiner Körpertemperatur kühlt sich auch mein erhitztes Gemüt mit der Zeit wieder ab.

Im Grunde hat sie ja Recht. Und ihre schlechte Laune ist nur allzu verständlich.

Wie jedes Weihnachten sitzen wir an der Uferpromenade, die Rücken gegen die Mauer gelehnt. Die Kälte der Steine kriecht langsam durch den Pullover in meinen Körper und scheint all meine Glieder zu lähmen wie eine schleichende Krankheit. Meine Finger und Zehen sind bereits taub vor Kälte, ich kann sie kaum noch bewegen, aber mein ganzer Körper zittert wie Espenlaub in einem verzweifelten Versuch, der eisigen Kälte trotz viel zu dünner Kleidung irgendetwas entgegenzusetzen. Ihr geht es wahrscheinlich genauso, nach dem leisen Zähneklappern zu urteilen, das ich aus ihrer Richtung höre.

Ein frostiger Wind bläst uns winzige Eiskristalle um die geröteten Wangen, die feine Stiche auf der Haut hinterlassen. Auf unserer verdreckten Kleidung liegt bereits eine dünne Schneeschicht, wenn wir nicht aufpassen und die schweren Augenlider offenhalten, werden wir bald völlig eingeschneit sein. Jeden Winter erfrieren Dutzende Obdachlose in dieser Stadt, nur weil sie für einen Moment die Konzentration verlieren und sich der süßen Versuchung des Schlafes hingeben.

Weder Julie noch ich werden jemals dazugehören, wir werden immer aufeinander aufpassen, das haben wir uns damals geschworen...

Gerade will ich anfangen, in rosaroten Erinnerungen zu schwelgen, da lenkt ein schmerzhaftes Ziepen nahe meines Mundwinkels meine Aufmerksamkeit sofort wieder auf die kleinen Dramen des Lebens.

Verdammt.

Wie jeden Winter sind meine Lippen spröde und eingerissen, für drei Monate verwandeln sie sich in eine schroffe, unebene Kraterlandschaft. Immer wieder verfangen sich Hautfetzen in meinem Wollschal und ich muss sie mühsam wieder daraus entfernen, am besten, ohne den Rest der Haut dabei mitzunehmen.

Julie hat mir schon so oft versichert, dass es ihr nichts ausmacht, dass sie keinen Unterschied spürt, wenn sie mich küsst. Aber ich hasse meine Lippen wegen nervigen Kleinigkeiten wie dieser- und natürlich meinem ständigen Knabbern.

Mir ist völlig bewusst, dass ich die Situation dadurch nur noch schlimmer mache, aber wenn ich angespannt oder in Gedanken bin, passiert es wie von selbst. Es ist eine lästige Angewohnheit und jeden Winter verfluche ich sie aufs Neue, genau so wie meine überempfindlichen Lippen.

Wenn ich teuren Lippenbalsam hätte, so wie all die reichen Mädchen, die vollbepackt mit Einkaufstüten an uns vorbeistolzieren und deren Lippen glatt und seidig in der Weihnachtsbeleuchtung glänzen... aber das ist nur Wunschdenken, ein weit entfernter Traum, und ein Blick in unser traditionelles selbstbemaltes Spendenkästchen reicht, um mich wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurückzuholen. Wir haben es wie immer vor uns aufgestellt, aber wie jedes Weihnachten bleibt es hartnäckig leer.

Schade. Ich hatte wirklich gehofft, aus der rührseligen Festtagsstimmung mehr Profit schlagen zu können.

Die meisten Passanten bemerken uns am Rande des Gedränges gar nicht und die, die es tun, übersehen uns geflissentlich. Heute ist nicht der Tag, sich um das Elend in der Welt zu kümmern, sie sind mit den Gedanken ganz woanders. Zu Hause bei ihren Lieben, bei köstlichem Weihnachtsessen, duftenden Tannenbäumen, flackernden Kerzen und heiß ersehnten Geschenken.

Julie und ich haben nichts von alledem. Wir haben nur uns, das können wir nicht auch noch verlieren. Wir dürfen uns nicht streiten, besonders nicht heute.

"Es tut mir leid", murmele ich schuldbewusst.

Sie seufzt resigniert. "Mir auch. Komm schon, lass uns nach Hause gehen."
 

"Nach Hause" ist ein gewagter Begriff. Selbst nach all den Jahren, in denen uns die Freedom Bridge schon ein verlässlichen Dach über dem Kopf geboten hat, zögere ich immer noch, sie mein Zuhause zu nennen. Es ist kalt und zugig, aber wenigstens trocken und anders als in den Bahnhofsunterführungen stinkt es hier wenigstens nicht. Naja, nicht ganz so sehr.

Zwei gute Nachrichten gibt es: Einer unserer Mitbewohner, Gabriel, hat es geschafft, ein paar weggeworfene Tannenzweige aus einem Hinterhof aufzulesen und Mike bringt eine nagelneu aussehende rote Kerze mit. Ich frage lieber nicht, woher er sie hat.

Nachdem fast eine Prügelei ausbricht um die Frage, wer die Kerze nun anzünden darf und Gabriel das entscheidende Schnick-Schnack-Schnuck-Duell für sich entscheidet, sitzen wir alle in einem großen Kreis um die mit den Tannenzweigen dekorierte Kerze herum und vertilgen geräuschvoll unser Weihnachtsessen: Reste aus den verschiedensten Mülltonnen der Stadt. Alles wird geteilt- abgelaufene Joghurtbecher, Obst mit braunen Stellen, irgendjemand lässt sogar eine Flasche Bier herumgehen. Eigentlich ist mir nicht nach Alkohol zumute, aber ich nehme trotzdem ein paar Schlucke, um mich und meinen starren Körper ein wenig aufzuwärmen.

Nach und nach werden wir fertig, unsere Gespräche verstummen und es wird still unter der Brücke. Einige stehen bereits schweigend auf und gehen, um sich schlafen zu legen. Einige starren weiterhin mit leeren Augen in die tanzende Flamme, die langsam herunterbrennt und einige -darunter auch Julie- schließen die Augen und fangen stumm an, zu beten.

Ich tue nichts von alledem. Stattdessen sehe ich hinüber auf die andere Seite des Flusses, wo sich Tausende hell erleuchtete Fenster von den dunklen Silhouetten der Wolkenkratzer abheben. Ich frage mich, wie viele Familien dort wohl gerade glücklich beisammensitzen und ihre Weihnachtsgans verspeisen. Wie viele schiefe Weihnachtslieder auf Blockflöten gespielt werden. Wie viele Kinder mit leuchtenden Augen ihre Geschenke auspacken und wie wenig sie alle das zu schätzen wissen, was sie haben.

Dass ich wieder an meinen Lippen knabbere, merke ich erst, als ich Blut in meinem Mund schmecke. Alarmiert werfe ich Julie einen Blick zu. Zum Glück ist sie völlig in ihr Gebet vertieft und hat nichts bemerkt.

Ächzend erhebe ich mich und strecke meine kalten, schmerzenden Glieder. Meine Wirbelsäule knackt unheilvoll, als ich die Schultern kreisen lasse.

"Gute Nacht, Leute. Ich leg mich dann mal hin."

Gerade will ich mich zum Gehen wenden, da höre ich Julies Stimme.

"Warte, Romy! Warte einen Moment."

Ich drehe mich zu ihr um. Sie zieht sich die löchrigen Wollhandschuhe von den zitternden Fingern und beginnt, ihre Taschen nach etwas abzusuchen. Geduldig warte ich, während sie vor sich hinfluchend in ihrer ausgebeulten Jacke herumkramt. Endlich fördert sie ein Päckchen zutage, klein und rund, ungeschickt mit zerknittertem Zeitungspapier eingewickelt.

"Für dich", lächelt sie und hält es mir entgegen, aber ich zögere. Unwillig verziehe ich das Gesicht.

"Ein Geschenk? Ernsthaft? Seit wann schenken wir uns etwas? Du weißt doch, dass ich nichts für dich habe. Und du weißt auch, dass ich es hasse, jemandem etwas schuldig zu sein."

"Oh, das wird kein Problem sein", bemerkt sie trocken. "Du bist mir nichts schuldig. Glaub mir, ich freue mich über das Geschenk genau so sehr wie du."

Verwirrt runzele ich die Stirn. "Was soll das denn heißen?"

"Nimm es einfach! Das ist ein Befehl!"

"Okay, ist ja gut."

Ich kapituliere, nehme das Geschenk entgegen und beginne, es auszuwickeln, aber etwas an ihrer Wortwahl hat mich stutzig gemacht. Sofort halte ich inne, als mir ein sehr beunruhigender Gedanke durch den Kopf schießt. "Du... hast aber nichts geklaut oder so, oder?", frage ich vorsichtig. "Das ist strafbar, weißt du?"

Genervt verdreht sie die Augen. "Klar, und hinterher habe ich noch einen Polizisten abgestochen und ein Krankenhaus angezündet."

Mit hochgezogenen Augenbrauen starre ich sie an.

"War ein Scherz! Ich habe es vor ein paar Tagen zufällig im Abfall gefunden. Scheint so, als hätte es jemand weggeworfen, dabei ist es gestern erst abgelaufen und nur halb aufgebraucht."

Klingt ja allerliebst.

"Und jetzt hör auf, abzulenken! Mach dein Geschenk auf!"

Wenig enthusiastisch reiße ich den Rest des Geschenkpapieres ab- und erstarre.

Das Papier rutscht mir aus den Fingern und trudelt zu Boden, ich bemerke es nicht einmal. Fassungslos starre ich auf das Döschen Lippenbalsam in meiner Hand.

"Frohe Weihnachten, Schatz. Freu dich bloß nicht zu sehr", haucht Julie mir ins Ohr.

Und ich spüre, wie meine Lippen endgültig einreißen, als sie sich ganz ohne mein Zutun zu einem breiten, glücklichen Grinsen verziehen.

"Oh, danke! Dankedankedanke!", quietsche ich, zu eloquenteren Gedankengängen bin ich gerade nicht fähig. Ich springe ein paar Mal begleitet von schrillen Jubelschreien im Kreis, die Dose fest an meine Brust gedrückt, dann stürze ich mich auf Julie, die gespielt erschrocken vor mir und meinem blutverschmierten Mund zurückweicht. Aber bevor sie anfangen kann zu fliehen, bin ich bei ihr und drücke sie ganz fest an mich.

Erst wehrt sie sich noch halbherzig, aber dann gibt sie sich geschlagen und lässt die Kuschelattacke kampflos über sich ergehen.

"Wehe, du blutest meine Klamotten voll!", droht sie mir, klingt dabei aber nicht besonders furchteinflößend, besonders, weil ihre Stimme halb von meinem Wollschal erstickt wird.

Ich vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren, atme tief ihren unverwechselbaren Duft ein und kichere dann ausgelassen und albern wie ein kleines Kind.

"Dir auch frohe Weihnachten!"



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Sam45230
2016-12-04T14:57:31+00:00 04.12.2016 15:57
Hi,
ich mag deine lebendige Sprache. Man ahnt zwar sehr früh, worauf es hinauslaufen wird, aber das schadet der Stimmung nicht. Ein bisschen mehr Hintergrund zu den Figuren und dem Grund, warum sie auf der Strasse leben, wäre schön, aber für eine Momentaufnahme ist es sehr gut.
Alles Gute.
Sam
Antwort von:  AtriaClara
04.12.2016 18:02
Hallo erstmal und vielen Dank auch für deinen Kommentar! Freut mich, dass dir meine Sprache gefällt!
Stimmt, die Geschichte ist wirklich ziemlich vorhersehbar. Aber cool, dass sie dir trotzdem gefallen hat!
(Und die Figuren werden vielleicht in einer anderen Geschichte nochmal auftauchen, ich mag sie mittlerweile sehr. Für einen OneShot waren mir ihre Hintergrundgeschichten dann doch zuviel. ^^)

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Antwort von:  Sam45230
04.12.2016 18:29
Was heißt schon vorhersehbar? Sie war gut und das hat ihr nicht geschadet. Ich weiß nur leider zu wenig über die Vorgeschichten, um das beurteilen zu können. Wenn mehr kommt, kann ich das vielleicht nachholen.
;)
LG
Sam
Antwort von:  AtriaClara
05.12.2016 15:56
Ich werde dir Bescheid sagen, sobald noch einmal etwas über die beiden kommt. Das kann aber leider noch etwas dauern, da ich gerade noch an zwei anderen OneShots sitze... ^^'

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von:  _Delacroix_
2016-12-04T12:24:49+00:00 04.12.2016 13:24
Hi,
eigentlich habe ich es gar nicht so mit Originalen, aber ich hab vorhin mal neugierig reingeschaut und ich muss sagen, dass ich es sehr spannend finde, wie du das Schlagwort "Spröde Lippen" umgesetzt hast. Ich finde, die Geschichte bietet einen interessanten Kontrast zu dem Weihnachtsfest an das wohl viele von uns denken. Die unschöne Angewohnheit an den Lippen zu knabbern hast du gut eingeflochten und das Geschenk am Ende sorgt dafür, dass in der ganzen, eher hoffnungslosen Lage ein kleiner Lichtblick zu entdecken ist.
 
Es ist wirklich eine sehr schöne Geschichte.^^
Antwort von:  AtriaClara
04.12.2016 13:32
Hallo erstmal und vielen Dank für deinen Kommentar!
Freut mich sehr, dass dir meine Geschichte gefallen hat, besonders, wenn so etwas eigentlich gar nicht dein Ding ist. Ich war mir unsicher, ob ich der kurzen Zeit, die ich für die Idee noch hatte, etwas Vernünftiges hinkriegen würde, aber das scheint ja funktioniert zu haben. ^^
Danke nochmals!

Wir sehen uns!
LG AtriaClara


Zurück