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Der Winter der Verdammten

von

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Monat des Hüters 1186

„Wir sind verdammt.“
 

Felix‘ Worte waren ein Echo der letzten Jahre. Der Kämpfe, der Stagnation, der Hoffnungslosigkeit im Angesicht des Kaiserreichs, das unerbittlich ganz Fódlan unter sich begraben wollte.

Sie waren ein Echo der Verzweiflung, in der Ingrid die letzten Jahre wie unter einem Zauberbann verbracht hatte. Kämpfen. Rebellieren. Den kaiserlichen Armeen die Stirn bieten. Kein Platz für nichts anderes als den Krieg. (Kein Platz für Verlobungen – darüber war sie zugegeben sogar froh.)

Sie waren ein Echo der Müdigkeit, die mit der zermürbend langen Kriegsdauer kam und die gewiss nicht nur sie erfasst hatte.

Sie waren eine Erinnerung daran, wie düster ihre logistische Lage aussah. Garreg Mach war nicht gut gelegen, was Versorgungsstrecken anbelangte. Die Zeit, seit das Kloster verlassen worden war, hatte ihm massiv zugesetzt. So viel war zerstört und beschädigt worden. Die Gärten und Gewächshäuser waren nur noch eine traurige Erinnerung an das blühende Leben damals. So vieles musste erst wieder neu aufgebaut werden. Die Ställe waren leer bis auf die Tiere, die ihre Truppen selbst mitgebracht hatten.

Es war tiefster Winter. Es war nicht einmal einfach, die fehlenden Vorräte aufzufüllen. Das Wild in der Umgebung hatte sich zum Winterschlaf verborgen; zu jagen war kaum eine hilfreiche Option, um die Nahrungsmittelknappheit zu beheben, die hier herrschte.
 

Und über allem hing die Sorge vor dem unweigerlich bevorstehenden Angriff der kaiserlichen Armee auf das Kloster, der sie mit Sicherheit früher oder später treffen würde.

Möge es später sein.
 

Ingrid seufzte müde, rieb die kalten Hände an ihrem Mantel in der Hoffnung, sie wieder ein wenig aufzuwärmen, während Sylvain–

Lachte.

Er lachte über Felix‘ Worte, und es erstaunte sie überhaupt nicht. Es war wie immer. Sylvain hatte einfach ein Händchen dafür, genau die falschen Reaktionen zu finden. Sie verzog die Mundwinkel, als sie zu ihm hinübersah. Alles an seinem Blick, seinem Gebaren überzeugte sie, dass sie gar nicht wissen wollte, was gerade in seinem Kopf vor sich ging.
 

„Ah, Felix. Immer noch der gleiche alte Launemacher. Wie schön, dass das auch die Schlachten der letzten Monate nicht verändert haben.“
 

Sie hatte es wirklich nicht gewollt. Verärgert fasste sie ihn ins Auge.

„Sylvain! Das ist kaum der richtige Zeitpunkt für deine schlechten Sprüche.“

Sie konnte sich nicht erinnern, wann jemals die richtige Zeit dafür gewesen wäre. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann denn das letzte Mal gewesen war, dass sie irgendetwas nicht unzufrieden gestimmt hatte, das Sylvain von sich gab.

Warum musste er Felix auch noch provozieren?!

Auch, wenn er gerade nicht der Einzige war, dessen Worte unangemessen waren. Ihr missgelaunter Blick wanderte weiter zu besagtem Felix.

„Und Felix, das gilt für dich genauso. Was ist das für eine Haltung! Mit solchen Worten trittst du jede Truppenmoral mit Füßen.“

Sie schüttelte tadelnd den Kopf.
 

Sie verstand ihn.

Der Krieg war kräftezehrend gewesen. Hoffnungszehrend. Ermüdend und verzweifelnd – aber sie hatten durchgehalten! Bis jetzt. Hatten an ihren Idealen und an ihrem Glauben festgehalten, trotz aller Widrigkeiten.

Und sie würden weiterkämpfen.

Jetzt doch sogar mehr denn je.

„Wir sind nicht verdammt. Jetzt, wo die Magistra und Seine Hoheit endlich wieder zurückgekehrt sind, können wir zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder wirklich Hoffnung schöpfen.“
 

Jetzt, wo der zukünftige König zu seinem Volk zurückgekehrt war, wo die Magistra wieder an ihrer Seite war, die sie durch so viele grausame Schlachten geführt hatte mit ihrer taktischen Brillanz, jetzt gab es einen Weg. Ein Ende für den ewigen Krieg gegen das Kaiserreich.

Eine Möglichkeit auf den Sieg.
 

Doch Felix sah das nicht. Er schüttelte den Kopf, das Gesicht verzogen in unbeherrschter Abscheu.
 

„Sieh richtig hin, Ingrid“, begann er. Er klang frustriert und müde mehr noch als angriffslustig. „Das ist kein Adelsmann, kein Prinz mehr – nur ein Keiler in Menschenhaut, der blind seiner Mordgier nachgibt und wütet, bis das Land unter ihm rot getränkt von Blut ist und er alles Leben in seinem Blickfeld ausgerottet hat. Das ist keine Hoffnung.“

Wie eine Beleidigung klang das Wort aus seinem Mund. Ausgespuckt wie eine besonders klebrige Süßigkeit. Er schüttelte abermals den Kopf.

„Das ist Verdammnis. Wir sind verdammt, wenn dieser Keiler so weiter macht.“

„Du irrst dich“, widersprach sie nachdrücklich, sah Felix und Sylvain beide mit einem Blick an, der keine Widerworte duldete.

Nicht, dass Sylvain aussah, als hätte er viele Widerworte. Und Felix– war Felix. Von ihm erwartete Ingrid nichts anderes als den stummen Protest in seinem Blick.

Es verärgerte sie trotzdem.
 

Dimitri würde wieder zu sich zurückfinden.
 

Sie verstand den Schmerz, den ihr Prinz durchlitt.

Sie verstand seine Verzweiflung. Er hatte so viel verloren.

Und sie glaubte an ihn – musste an ihn glauben, denn Glenn hatte an ihn geglaubt, und niemals wollte sie das Andenken ihres Verlobten leichtfertig übergehen, wenn es nicht den triftigsten Grund dafür gab.

Sie verstand.

Dimitri konnte nicht von jetzt auf gleich wieder ganz der Alte sein. Nicht nach allem, was er durchgemacht hatte.

Aber er würde zu sich zurückfinden, sich auf seine Pflichten besinnen, wie der Ehrenmann, der er immer gewesen war.

Es konnte gar nicht anders sein.
 

Dimitri war ihr Prinz.

Der Mann, der den Thron besteigen würde. Ihr König sein würde.

Der Mann, in dessen Dienste Ingrid ihre Lanze stellte.
 

„Träumerin“, spie Felix aus – als könne er ihre Gedanken lesen. Sie öffnete den Mund, um ihn zurechtzuweisen für seine Unverschämtheit, doch er hatte sich längst abgewandt. Hievte den großen Korb hoch, den er mit Trümmern gefüllt hatte, um sie hinauszuschaffen.

Als er die Tore der Eingangshalle grob mit der Schulter aufdrängte, stoben Schneegestöber und kalter Wind hinein und tanzten durch die Luft: Eine ungebetene Erinnerung daran, dass das kalte Wetter sie noch für eine ganze Weile begleiten würde wie ein böser Fluch.
 

Mit einem schweren Seufzen wandte sie sich wieder von der Tür ab.

„Er ist so ein Sonnenschein“, kommentierte Sylvain mit einem Seufzen, kaum, dass sie wieder halbwegs in seine Richtung sah.

„Und du provozierst ihn doch immer“, gab sie trocken zurück, ohne jedes Mitleid für den Rotschopf, dem Felix‘ Vortrag offenbar auch nicht gefallen hatte.

„Hey, ich hab das nicht mit Absicht gemacht! Ich wollte doch nur die Stimmung auflockern. Er hat mit der Verdammnis angefangen.“

Ingrid schüttelte nur den Kopf. Sie wusste, dass alles, was sie jetzt sagen konnte, ohnehin an Sylvain abperlen würde wie Öl an Wasser.

„Mach lieber deine Arbeit. Aufräumen und Putzen war deine Idee, also streng dich wenigstens an. Es lockert die Stimmung eher auf, wenn wir zügig fertig werden, als wenn du noch mehr flapsige Sprüche zum Besten gibst.“
 

Sylvain widersprach nicht. Sehr zu ihrem Erstaunen – normalerweise war er nicht der Beste darin, Einsicht zu zeigen, bis ihm seine Verfehlungen nicht schon ein metaphorisches Schwert an die Kehle hielten – hob er abwehrend die Hände und grinste schief.

„Jawohl, liebste Ingrid. Alles, damit dein hübsches Gesicht nicht weiter von Zornesfalten gefurcht wird.“

Vielleicht gab es nur schlicht schlimmeres als Widerspruch.
 

Ohne Sylvain noch einer Antwort zu würdigen, die über einen bösen Blick hinausging, der ganz klar sagte spar dir deine Mätzchen, kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück. Konsequent schichtete sie Trümmer in einen Korb, überprüfte die Gegenstände, die im Dreck verborgen lagen.

So vieles war kaputt gegangen, musste ersetzt werden. Einiges ließ sich zum Glück aber tatsächlich noch reparieren, auch wenn es handwerkliches Geschick erfordern mochte. Einiges war unversehrt genug, um nur gesäubert werden zu müssen.

Das Schlimmste, fand Ingrid, war all die Zerstörung, die sie nicht mit einer zügigen Putzaktion verschwinden lassen konnten. Die immer Erinnerung bleiben würde an all die Gräueltaten, die diesem wunderbaren Ort zugefügt worden waren.
 

Die Arbeit war monoton und simpel, forderte kaum viel Aufmerksamkeit von ihr. Zwar war sie froh darum, in dieser Aufgabe nicht die nächste Belastung zu finden, doch gleichzeitig war es schwer – so viel Zeit zum Denken zu haben.
 

Kaum, dass sie beschlossen hatte, sich Seiner Hoheit anzuschließen, hatte sie einen Boten zu ihrem Vater gesandt. Bislang hatte sie keine Antwort bekommen. Natürlich nicht. Eine Botschaft zu überbringen dauerte seine Zeit. Doch es machte sie unruhig, nicht zu wissen, wie ihr Vater zu ihrer Entscheidung stand. Wie er die Kunde vom zurückgekehrten Prinzen aufnahm. Noch nicht direkt gehört zu haben, dass sie wirklich entbehrlich genug an der heimatlichen Front war, so dass sie sich voll und ganz und ohne Sorgen ihren Pflichten an der Seite ihres Prinzen stellen konnte.

Nicht, dass sie zurückkehren würde, wenn ihr Vater darum bat.

Es war wichtig, die Grenzen des letzten Rests Königreich zu verteidigen, dessen war sie sich völlig bewusst. Doch es war auch zermürbend. Erschöpfend. In den letzten Jahren hatte sie nichts anderes mehr getan als zu kämpfen und zu bangen und Verhandlungen mit allen möglichen Persönlichkeiten zu führen, von denen ihre Familie sich Unterstützung erhoffte.

Sie war nicht die einzige. Ihr Vater hatte genauso hart gearbeitet. Ihre Kameraden und Freunde. Sie trugen alle eine schwere Last.

Doch jetzt – jetzt hatte sie einen besseren Weg, dem Königreich zu dienen. Sie würde dem zukünftigen König den Weg zum Thron ebnen, wie es sich für eine Ritterin ihres Reiches gehörte.

Sie würde endlich wirklich etwas tun können, um ihrem Vater all die Sorgen zu nehmen, die zunehmend seinen Gang beugten, statt nur die nächste Schlacht der Stagnation zu führen.
 

Während sie sinnierte, kündete ein neuerlicher kalter Windstoß von Felix‘ Rückkehr. Er sah immer noch so grimmig aus wie bei seinem Abgang, und ohne ein Wort oder einen Blick kehrte er dazu zurück, seinen Korb mit Trümmern zu füllen.

In seinem Haar hatte sich Schnee verfangen, der in der unbeheizten Halle kaum schmelzen wollte.
 

Als er doch den Blick hob und zum Sprechen ansetzte, wünschte Ingrid sich, er hätte es nicht getan:

„Und, inzwischen aufgewacht?“

Sie stieß die Luft aus, traktierte ihn mit einem verärgerten Blick.

„Felix–“

„Schluss jetzt! Weg mit dem Thema. Das vermiest doch nur der ganzen Belegschaft die Laune.“

Und dann mischte sich Sylvain ein. Ingrid warf auch ihm einen Blick zu, doch sie schaffte es gar nicht, im Übermaß wütend auf ihn zu sein. Sie war dankbar um die Unterbrechung, ehe ein ausgewachsener Streit aus dem Thema wurde.

„Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen heiteren Gedanken zuwenden?“

Er hob die Augenbrauen, grinste sie auffordernd an. Ingrids Blick wanderte wie von selbst zu Felix weiter, der im ersten Moment aussah, als wolle er Sylvain für seine dummen Ideen erschlagen. Er fing ihren Blick auf, und zwischen ihnen knisterte jahrzehntealtes Verständnis.

„Niemand will von deinen Eroberungen hören, Schürzenjäger“, schnaubte er dann abweisend, sprach damit auch Ingrids Gedanken aus.

Sylvain lachte nur, winkte ab.

„Heute nicht. Ich will dich doch nicht eifersüchtig machen, Felix. Nein, nein! Ich dachte einfach… wie wir hier so im Dreck hocken und wühlen – das erinnert mich glatt an unsere Kindheit. Wo wir schon so eine nostalgische Arbeit haben, wieso schwelgen wir nicht ein bisschen in Erinnerungen?“
 

Ingrid schwieg.

Felix schwieg.

Sie fing den Blick ihres Freundes auf. Einen Herzschlag lang war sie wieder zehn Jahre alt und Sylvain hatte gerade völlig todernst gemeint einen Mann in Frauenkleidern bezirzt.
 

„Nein“, sagte Felix dann, entschieden. In seiner Stimme schwang etwas mit, das über pure Verärgerung hinausging – eine dunkle Vorahnung, die Ingrid teilte.

Sie erinnerte sich noch zur Genüge an die Peinlichkeiten, die sie als Kinder angestellt hatten. Sie erinnerte sich an dumme Streiche, dumme Spiele, dumme Ideen und dumme Kleinkindschwärmereien.

Felix, offensichtlich, erinnerte sich auch.

Felix, offensichtlich, hatte genauso wenig das Bedürfnis, ihre alte Schmach erneut zu durchleben, wie sie selbst.
 

Sylvain hörte es auch.
 

Es wunderte Ingrid gar nicht mehr, dass er es als Einladung nahm:
 

„Ach, Felix, sei nicht so. Es sind gute Geschichten! So wie damals, als wir die Schminkschatulle deiner Mutter–“

„Noch ein Wort, und du siehst diese Trümmer von unten.“

„Oder damals, als Ingrid mit ihrer Lanze den Kronleuchter–“

„Sylvain! Ich war fünf!“

Sylvain lachte vergnügt.

„Ah, und was für ein entzückendes kleines Ding du damals warst, liebste Ingrid. Das erinnert mich daran… Diese Phase, als du die Haare wie dein damaliges großes Vorbild König Lambert getragen hast – einfach hinreißend!“
 

Es war nicht hinreißend gewesen.

Rückblickend wusste Ingrid, es hatte furchtbar ausgesehen – und zusätzlich war es ein viel zu großer Arbeitsaufwand gewesen, sich das Haar so glatt nach hinten zu bürsten und so zu fixieren.

Sie schnaubte beleidigt, widerstand gerade so dem Impuls, den Fetzen eines Wandteppichs nach Sylvain zu werfen, den sie gerade in den Händen hielt.

„Zügle deine Zunge“, mahnte sie nur dunkel.

Sie hätte genauso gut dem Wandteppich erklären können, wie man Gedichte schrieb.

Vielleicht hätte sie damit sogar noch mehr Erfolg gehabt.
 

„Aber ich hab doch gerade erst angefangen! Kommt schon. Und ihr wart so niedliche kleine Kinder.“

„Ganz anders als du“, schoss Felix zurück. Ingrid stimmte ihm gedanklich zu. „Du warst damals schon genauso unerträglich wie heute. Nichts als Mädchen und dumme Sprüche im Kopf, und zum Training musste man dich an den Haaren schleifen. Du hast dich wirklich kein bisschen verändert.“

Es war eine Beleidigung. Sylvain grinste, als hätte Felix ihm ein großes Kompliment gemacht.

„Und ich werde mich auch nie ändern“, fügte er stolz hinzu.

Ingrid seufzte.

Sie hatte genug von Sylvains peinlichen Erzählungen. Wirklich. Und sie hatte genug von seinem aufgeplusterten Ego.

Mit einem falschen, liebenswürdigen Lächeln wandte sie sich an ihn:

„Dann macht es dir also nichts aus, wenn Felix und ich ein paar alte Geschichten über dich auspacken, oder? Wenn du dich ohnehin nie ändern willst, dann ist dir gewiss auch keine vergangene Verfehlung peinlich. Ich meine, ich erinnere mich noch so unfassbar gut daran, wie du damals diese Dienstmagd beeindrucken wolltest, als du bei uns zu Besuch warst. Weißt du noch? Die Sache mit dem Spargel…“
 

Es war so befriedigend, zu sehen, wie Sylvains Gesicht engleiste, während neben der Geschichte, die Ingrid gerade anriss, zweifelsohne auch noch tausend andere Peinlichkeiten seiner Vergangenheit in seinem Kopf darum kämpften, welche von ihnen denn am peinlichsten war.

Er lachte nervös, rieb sich über den Nacken.
 

„Also, wenn ich so drüber nachdenke… vielleicht wechseln wir doch das Thema. Haha…“
 

Sie wechselten das Thema nicht – sie schwiegen.

Doch es war ein angenehmes Schweigen. Felix schimpfte nicht mehr über ihren Prinzen. Sylvain erzählte keinen Unfug. Und Ingrids Gedanken begannen ganz von selbst wieder zu wandern, verloren sich bald auf den Pfaden der Erinnerung.

Es war seltsam.

Sie hatte ewig nicht mehr zurückgedacht an ihre Kindheit und all die Dinge, die sie damals erlebt hatte. Aber wozu auch? Es hatte einfach keinen Platz mehr gehabt in ihrem Leben, nicht in den letzten Jahren.

Jetzt ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie alte Erinnerungen aus den letzten Winkeln ihres Gedächtnisses grub, so wie sie Hausrat aus den Trümmern grub.

Nicht die peinlichen Erinnerungen. Keine Geschichten, wie Sylvain sie erzählen würde.

Aber es waren trotzdem so viele.
 

So viele Erinnerungen an ihre Kindheit. An Glenn. An ihre Freunde. An ihren Prinzen. So viele Erinnerungen, an die sie viel zu lange nicht mehr gedacht hatte.
 

Glenn, der sie nachts durchs halbe Fraldarius-Anwesen begleitet hatte, weil sie der festen Überzeugung gewesen war, dass dort ein Geist sein musste, und ihr nebenbei Rittermärchen erzählte, um die gespenstische Stille zu füllen.

Glenn, der ihr die Spiele beigebracht hatte, die Soldaten in ihren Lagern zum Zeitvertreib spielten.

Dimitri, mit dem sie so oft die Lanzen gekreuzt hatte, um gerade in jüngeren Jahren danach gemeinsam die Vorratskammer zu plündern und ein völlig unvernünftiges Chaos in der Küche zu hinterlassen, weil doch nach dem ersten Hunger direkt das Training wieder rief.

Felix, der ihr immer mal wieder seinen Nachtisch zugeschoben hatte, weil er Süßigkeiten hasste, und sie, wie er sagte, doch sowieso so ein nimmersatter Vielfraß war, dass das gewiss auch noch reinpasste. (Es hatte immer reingepasst.)

Sylvain, der ihr immer wieder alberne Geschenke gemacht hatte – weil sie ein Mädchen war. Weil er ja ausprobieren musste, ob das einem Mädchen gefallen würde, ehe er bei einer Angebeteten auf die Nase damit fiel. (Erst heute wurde ihr bewusst, dass er ihr solche Dinge wie Waffenöl wohl eher um ihrer selbst Willen geschenkt hatte.)
 

Sie bemerkte kaum, wie ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte.
 

„Vielleicht würde es Seiner Hoheit helfen“, kommentierte sie irgendwann gedankenverloren. „Sich nicht nur auf die grausamen und leidvollen Facetten seiner Vergangenheit zu besinnen.“

Felix schnaubte.

„Ich glaube nicht, dass der Keiler noch genug Menschlichkeit für schöne Erinnerungen hat“, gab er kalt zurück. Sylvain hingegen zuckte recht unbekümmert mit den Schultern.

„Wir werden es nicht herausfinden, wenn wir es nicht versuchen. Also?“
 

Ingrid sagte es nicht laut – aber zum ersten Mal seit sehr langer Zeit gab sie Sylvain wirklich recht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SuperCraig
2019-12-15T00:46:56+00:00 15.12.2019 01:46
Der Prinz, er hört sich ganz nach mir an. :D

Auch wenn ich Fire Emblem nie gespielt habe (jaja, ich weiß schon, Asche auf mein Haupt), so hört sich der Kerl zumindest so an, als wüsste er, wie man seine Untertanen ordentlich knechtet. Wenn er jetzt noch, nachdem er zurückgekehrt ist, und das Land erobert hat, beginnt, sich eine uneingeschränkte Machtposition zu schaffen, dann hat er meine Stimme jedenfalls. (Monty Python - Ich habe Euch nicht zum König gewählt!)

Also, ich als blinder Neuling, musste schon zwei- dreimal lesen, was da steht, aber das lag nicht an deinem Stil, sondern einfach daran, dass ich keine Ahnung habe. Der Stil war mal wieder brillant, und ich beneide dich noch immer, wie gut du sowas Zwischenmenschliches, wie ein Gespräch, darstellen kannst. Dazu noch die gut gewählten Wortwiederholungen, die kurzen Sprünge - insgesamt flüssig und angenehm zu lesen (vor allem, wenn man denn das Fandom kennt, glaube ich).

Ich persönlich habe mich bisher ein wenig an die Oper von Alexander Borodin, Fürst Igor, erinnert gefühlt. Es wirkt genauso hoffnungslos, wie im ersten Akt, wo die Prinzessin erfährt, dass ihr Mann und Sohn von den Steppenreitern gefangen genommen wurde. Sie klammert sich noch ein wenig an die Hoffnung, dass beide noch heimkommen mögen, aber die schwindet mit jedem Tag.

Umgemünzt auf die Story, hofft Ingrid wohl auch, dass der Prinz heimkehrt, im Sinne von, dass er wieder zu sich selbst findet. (Was ich persönlich schlecht fände :P) Ich kann mir aber irgendwie nicht vorstellen, dass der Blondschopf wirklich ein Monster sein soll.

Das mit dem Keiler war auch gut gewählt, der Vergleich (oder war der dem Spiel entnommen? :D) Ich musste gleich an Ares denken, wie er Adonis als riesiger Eber zertrampelt hat, und er über das Schlachtfeld rennt, weder vor Mensch noch Halbgott Halt machend.

Liest sich ziemlich verdammt, jap. :D

Lanze - alles keine Edelleute. Barbaren! Wo ist das Schwert, der König der Waffen? :D
Antwort von:  Puppenspieler
15.12.2019 03:18
Awww, aber Dimitri kann auch anders! :D Er ist halt genauso vielschichtig wie mein Brötchen. :>

Und, bist du schon so weit, dass du es spielen willst?XDD Jokes aside - ich glaube, dann würde dir Edelgard besser gefallen als Dimitri, sie ist die, die am meisten durchgreift. ;)
(Ich mag Ekelchen aber nicht!)

Ach du, das ist Balsam für meine Seele. ._. Es tut supergut, zu hören, dass die Fic sich schön lesen lässt, auch wenn man als Fandomfremdling vielleicht einmal öfter hinlesen muss. Vielen, vielen Dank!!!

Huh. Die Oper muss ich mir mal anschauen. Klingt deprimierend genug, um gut zu sein. //D
Aber ja, so umgemünzt passt es wirklich. xD Coole Sache. Ich würd dir ja gern mehr von Prinzchen erzählen, aber ne? Spoiler doof.

Der Keiler ist aus dem Spiel! :D Felix gibt gerne Tiernamen... wobei er es leider nicht oft tut. :(
... XD Also Ares klingt ja sexy.

Freut mich sehr, dass die Verdammnis gut rüberkommt!! XD Hoffe mal, das bleibt so.

Tja, also, die Leutchen im Königreich mögen ihre Lanzen. Aber vielleicht tröstet es dich, dass Felix eher Schwertkämpferchen ist? :> Und der Protagonist auch! ôwô Der hat auch kaum Persönlichkeit, da kannst du dir wunderbar deinen eigenen Headcanon reindenken - mit Schwert! ôwô


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