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Der Winter der Verdammten

von

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Monat der Harfe 1186

Neun Jahre.

Neun Jahre, die er nur einen Lebenssinn gekannt hatte. Neun Jahre, in denen die Stimmen der Verstorbenen ihm Rache ins Ohr geflüstert hatten, ihn in Ketten gelegt mit seiner eigenen Verzweiflung, der einzige Überlebende einer Tragödie von viel zu großem Ausmaß zu sein.

Neun Jahre, in denen er seine ganze Familie verloren hatte. Seine engsten Freunde. Seinen engsten Hofstaat. Lehrer, Kameraden, Vorbilder. Einen zweiten Vater, schlussendlich.

 

Neun Jahre, in denen seine Kameraden ihn trotzdem nicht aufgegeben hatten.

 

Sie waren immer noch da.

Gustave, der ihn in jungen Jahren angeleitet hatte und ihm immer noch ewigste Treue schwor.

Dedue, der seinetwegen fast sein Leben gegeben hätte. Der Dimitris Wohl immer noch über alles andere stellte, ihn respektierte, bewunderte, liebte – trotz all seiner Fehler. Trotz der blinden Rachsucht, die ihn so lange geleitet hatte.

Die Magistra, die seit ihrem Wiedersehen nie den Glauben in Dimitri verloren hatte. Die ihm hatte beistehen wollen, obwohl er es ihr wirklich nicht einfach gemacht hatte.

Seine Klassenkameraden, die natürlich auch und vor allem der Magistra folgten, aber trotzdem nie versucht hatten, sich von ihm zu distanzieren. Annette, Mercedes, Ashe.

Ingrid, die seinetwegen ihren Verlobten verloren hatte. Die trotzdem seine Gesellschaft suchte, die ihm keinen Vorwurf machte.

Sylvain, der ihn immer noch mit den gleichen flapsigen Sprüchen wie vor Jahren vom Ernst des Lebens ablenkte.

Felix, dessen Vater nur seinetwegen gestorben war, und der trotzdem bereit war, ihm zu verzeihen, solange Dimitri dieses Opfer würdigte.

 

Er verstand sie nicht.

Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.

Doch. Er wusste es: Er würde endlich den Weg gehen, den er gehen wollte. Den er gehen musste, um sich selbst treu zu sein.

Es hatte nie einen anderen Weg gegeben – er war nur zu blind gewesen, ihn zu sehen, zu verwirrt von all den Stimmen in seinem Kopf, die Mord und Totschlag schrien.

 

Doch damit war es nun vorbei. Nicht für Rodrigue. Nicht für seinen Vater. Nicht für seine Stiefmutter. Nicht für Glenn.

Doch.

Auch für sie.

Aber vor allem für ihn selbst – und für die Kameraden an seiner Seite. Er würde lernen, nicht in der Vergangenheit zu leben, sondern für die Zukunft. Die Toten zu ehren und zu respektieren, ohne sich von ihnen in Ketten legen zu lassen.

Felix‘ Worte waren harsch gewesen, aber nicht völlig falsch. Die Toten blieben tot, ganz gleich, was er tat und nicht tat.

 

Es war nicht einfach.

 

Nach allem, was passiert war, wieder auf seine Kameraden und Freunde zuzugehen, war härter, als Dimitri jemals geglaubt hätte.

Er konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen.

Er konnte aber auch nicht die Schwere seiner bisherigen Verfehlungen jedes weitere Gespräch, jede Interaktion diktieren lassen.

Er konnte sich nicht unzählige Male entschuldigen – es würde nichts ändern, außer, dass die Dinge, die geschehen waren, niemals ruhen könnten.

Fast war es, als müsste er neu lernen, wie simple menschliche Interaktion funktionierte.

 

Also lernte er.

Lernte, indem er nicht mehr versuchte, sich von den anderen abzukapseln. Indem er sich wieder darauf besann, wie es früher gewesen war, als sie gemeinsam unter der Führung der Magistra geträumt und gelacht hatten, in den Momenten, in denen die Stimmen in seinem Kopf leiser und der Rachedurst schwächer gewesen waren.

 

Als er auf dem Trainingsplatz zwischen den letzten, schmelzenden Schneeklumpen und jungen Frühlingsboten Felix, Ingrid und Sylvain erblickte, zögerte er trotzdem.

Er war nie über den Tod seiner Eltern hinweggekommen.

Rodrigues Tod lag kaum eine Woche zurück.

Trotzdem war in Felix‘ Blick keine übermäßige Ablehnung, als Dimitri sich der kleinen Gruppe näherte. Trotzdem lächelten Ingrid und Sylvain zur Begrüßung.

„Hoheit! Wollt Ihr mit uns trainieren?“

Dimitri lächelte kurz.

„Ich bin tatsächlich zum Training herkommen, Ingrid. Wenn ich euch Gesellschaft leisten darf, dann gerne.“

„Natürlich. Es ist fast wie früher, nicht wahr?“

Ingrids Worte brachten Felix zu einem genervten Stöhnen, Sylvain dafür zum Lachen. Ein bisschen war es wie ein alter Witz, den Dimitri einfach nur nicht verstand, und den ihm auch niemand erklären wollte, wie es aussah.

 

Er hatte so viel verpasst.

 

All die Zeit, die er sich nur in seiner Rache verlaufen hatte, war das Leben an ihm vorbeigezogen – und gerade in solchen banalen Kleinigkeiten merkte er es viel zu schmerzhaft.

Aber er wollte wieder ein Teil davon sein. Er wollte sich davon nicht abschrecken lassen, er wollte wieder Zugang finden.

Also lächelte er, warf einen amüsierten Blick zu Ingrid.

„Um ganz wie früher zu sein, müsste Sylvain sich schon längst verdrückt haben, stimmt.“

Der Kommentar entlockte sogar Felix‘ ein fast erheitertes Schnauben – Dimitri hörte es nur, weil er darauf lauschte. Sonst wäre es in Sylvains Protestgeheul untergegangen.

„Ihr seid herzlos zu mir, Hoheit.“

„Er sagt die Wahrheit, Faulpelz.“

 

Felix und Sylvain verloren sich in einem Streitgespräch über Trainingsmoral, das wohl schon fast so alt war wie sie selbst – und seltsam tröstlich in seiner Vertrautheit.

 

„Wie früher“, kommentierte Dimitri gedankenverloren. Neben ihm lachte Ingrid leise. Sie wandte den Blick von den beiden Streithähnen, statt sie wie sonst so oft auseinanderzuzerren, und sah zu Dimitri auf.

„Wir sollten froh sein, dass sie nicht in allem wie früher sind“, gab sie schalkhaft zurück. „Ich vermisse es nicht unbedingt, dass Felix nachts auf Geisterjagd gehen will. Oder dass Sylvain an uns übt, wie er am besten seine Mädchen umgarnen kann.“

 

Dimitri lachte unwillkürlich auf. Zugegeben, die Geisterjagden hatte er gemocht! Welcher junge Bursche hatte denn auch etwas gegen große Abenteuer?

Aber schon als Sechsjähriger hatte er es nicht gebraucht, von Sylvain bezirzt zu werden, nur, damit er nach jedem albernen Spruch erst einmal „Wie war ich?“ fragte.

 

Felix seufzte. Sylvain seufzte und lachte gleichzeitig. Ingrid strahlte, als hätte er gerade die Nacht zum Tag gemacht, und alle drei tauschten einen Blick, den Dimitri nicht verstand, bevor Sylvain geschlagen die Hände hob.

 

„Trainieren wir.“

 

Sie setzten sich in Bewegung, um ihren Kaffeekranz zu beenden und Trainingswaffen zu holen, während Dimitri immer noch halb neugierig und halb verständnislos hinter ihnen hersah. Ein paar Schritte, und Felix drehte sich um, die Augenbrauen auffordernd erhoben.

 

„Beweg dich, Dimitri.“



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