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Der Winter der Verdammten

von

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Monat der Einsamkeit 1186

Der Himmel schien sich nicht zwischen Schnee und Regen entscheiden zu können. Vom Frühling, der schon längst auf dem Weg sein sollte, war auch noch nicht viel zu spüren.

Grauer Himmel, kalte Temperaturen, tristes Wetter.

Sylvain fand es trotzdem gar nicht so übel. Allein, dass immer und zu jeder Tageszeit frisch gekochter Tee von Mercedes bereitstand, um ihre Gemüter aufzuwärmen, war eine ziemlich angenehme Ablenkung vom Sauwetter und der tristen Aussicht.

 

Zumindest Sylvains Gemüt wärmte es sehr, eine Tasse heißen Tee holen zu können, kaum, dass er mit der Stallarbeit fertig war.

Feierabend – für den Moment zumindest. Für den Rest des Tages, wenn nicht irgendeine Arbeit auftauchte, die absolut keinen Aufschub duldete.

Inzwischen hatten sie eine gute Routine hier im Kloster gefunden. Sylvain war sehr froh darum! Das ganze Chaos zwischen Klosterputzen und Kriegsführung, mit dem ihr Einzug in die neue Basis begonnen hatte, hatte definitiv der allgemeinen Truppenmoral nicht unbedingt geholfen, und inzwischen wieder einen geregelten Tagesrhythmus zu haben, bot eine geradezu tröstliche Illusion von Normalität.

Solange Sylvain nicht zu lange über sein aktuelles Schicksal nachdachte, war es fast wieder wie früher.

 

Wenn er ignorierte, dass dieser Krieg die Zukunft ihres ganzen Reiches, ihres ganzen Landes prägen würde.

Wenn er ignorierte, dass die vorangegangene Schlacht auf der Großen Brücke Myrddin sie gezwungen hatte, die Waffen gegen einst geliebte Schulkameraden zu erheben und damit einen Vorgeschmack darauf gab, was ihnen in Zukunft nur noch öfter blühen würde.

Wenn er ignorierte, dass Felix‘ Laune nur schlechter statt besser wurde, je länger sein Vater in der Nähe war.

Wenn er ignorierte, dass Seine Hoheit immer noch das Gegenteil von einem vielversprechenden Thronfolger war.

 

Er hatte ein recht großes Talent im Ignorieren, immerhin – und ein noch größeres Talent darin, sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren.

Sofern es sie denn gab.

Ausgeschlossen, dass er in Zukunft nur mit seinem guten Aussehen und seinem Charme die alten Schulkameradinnen auf dem Schlachtfeld dazu bewegen könnte, zu desertieren.

In der Anwesenheit von Graf Fraldarius sah er allerdings wirklich einen Gewinn. Es war eine Sache, Truppen zur Verfügung zu stellen, aber eine ganz andere, auch selbst für eine Sache einzustehen. Dass ihr Herr ebenfalls hier war, motivierte die Soldaten der Fraldarius-Familie spürbar zusätzlich. Sylvain war sich auch recht sicher, dass die allgemein positive Haltung Dimitri gegenüber, die von dieser Front kam, ebenfalls an der positiven Haltung des Grafen dem Prinzen gegenüber lag.

Und was eben diesen Prinzen anging…

 

Sylvain wusste nicht mehr, was er von Dimitri halten sollte.

 

Einerseits: Dimitri war sein Freund. Immer gewesen. Würde es immer sein.

Und er hatte viel Mitgefühl für den Jungen, der seine Familie, seine engsten Freunde, eigentlich sein gesamtes direktes Sozialumfeld verloren hatte. Natürlich hatte das Dimitri nachhaltig geschadet – alles andere wäre wohl nur noch bedenklicher gewesen.

Er verstand, dass es Seiner Hoheit nicht gut ging. Ehrlich. Er verstand, dass der Kerl Ballast mit sich herumschleppte, und das in einem Ausmaß, das sie sich alle nicht vorstellen konnten. Sie mochten alle irgendwann geliebte Menschen verloren haben – aber nie auf einen Schlag alles.

Andererseits: Es war nicht einfach ignorierbar, dass Dimitri gerade Fehler über Fehler machte. Dass er in seiner blinden Fixierung auf die Kaiserin und ihren Niedergang alles andere und seine Pflichten aus den Augen verlor, seine Kameraden, seine Untertanen, sein Reich.

Er war ein grausamer Mörder geworden. Inzwischen sah Sylvain den Keiler in ihm, den Felix seit schon bald zehn Jahren beschrie.

Das war nicht mehr der Dimitri, den er einmal gekannt hatte. Der dumme Junge, der Dolche an Mädchen verschenkte statt Blumen. Oder Pralinen. Oder irgendetwas anderes normales.

 

Er wollte den alten Freund aber nicht aufgeben. Genauso wenig, wie er Felix in Frieden lassen wollte, egal, wie oft der Kerl versuchte, ihn loszuwerden. (Da ging er lieber trainieren.) Genauso wenig, wie er Ingrid loswerden wollte, egal, wie oft sie ihm Gardinenpredigten hielt. (Völlig zu recht, meistens. Das sah Sylvain ja ein. Es nervte trotzdem!)

 

Mit Dimitri zu reden, das funktionierte nicht. Hatte er versucht. Hatte Ingrid versucht. Hatte Felix auf seine überaus charmante Art auch versucht.

Sie alle bissen bei Seiner Hoheit auf Granit.

Und es waren ja nicht nur seine alten Freunde. Gilbert. Rodrigue. Sogar die Magistra hatte es mehr als einmal versucht – hoffnungsloserweise. Dimitri hielt stur an seinen verrannten Ideen fest, und sie konnten weiterhin nichts anderes tun als zu folgen, zu kämpfen, und zu hoffen, dass alle Schwarzmalerei Schwarzmalerei bleiben würde, und der Prinz sie nicht in den Untergang führte, sondern doch in eine strahlende Zukunft.

Verstand einprügeln klappte auch nicht – vor allem allein deshalb, weil Dimitri sich außerhalb aller Schlachten sowieso konsequent von allen abkapselte und gar nicht erst versuchte, Interaktion zuzulassen. Trainingskämpfe lehnte er rigoros ab. („Du wirst sterben, wenn du dich je meiner Klinge gegenübersiehst.“)

Vielleicht könnte Felix sonst auf die Art zu ihm durchdringen.

Tee kochen und umtütteln half auch nicht, wenn man Mercedes‘ kummervollen Berichten glauben durfte – und warum sollte sie lügen? Ganz davon ab, dass es offensichtlich war.

 

Das einzige Mal, das Sylvain sich wieder an seinen alten Freund erinnert gefühlt hatte, seit sie sich zum denkbar schlechtesten Klassentreffen der Geschichte wieder in Garreg Mach eingefunden hatten, war in einem Gespräch mit Dedue gewesen, kurz, nachdem der auf der Brücke von Myrrdin von den Toten wiederauferstanden war.

 

Und das war der Grund, weshalb er, nachdem er seinen Tee ausgetrunken und sich von allem Arbeitsschmutz gesäubert hatte, Ingrid und Felix zusammengetrommelt hatte.

 

Sie saßen im warmen Lampenschein in der Küche, jeder eine Tasse Tee vor der Nase. Ingrid hatte ein karges Abendmahl zusammengezimmert.

„Wir sollten das wirklich versuchen“, begann Sylvain, sparte sich alle großen Vorreden. Mit der Tür ins Haus zu fallen war beizeiten eben doch die beste Taktik, und große Vorreden machten ein Thema auch nicht leichter.

„Was?“, hakte Felix nach, doch sein Tonfall klang eher nach erspar uns deine dumme Idee doch einfach.

„Na. Mit Seiner Hoheit in Erinnerungen schwelgen.“

 

Er rechnete nicht mit Begeisterung. Zustimmung, von Ingrid vielleicht. Von Felix eher das Gegenteil davon, und entsprechend wunderte es ihn wenig, dass sein Freund die Augenbrauen missgelaunt zusammenzog, die Mundwinkel verärgert verzog.

„Dem Schwachsinn hängst du immer noch nach? Das ist doch albern. Selbst du solltest so langsam begriffen haben, dass der Keiler seine Menschlichkeit längst verloren hat.“

Sylvain schüttelte den Kopf.

„Ich habe letztens gesehen, wie er mit Dedue gesprochen hat. Für einen Moment war er fast wieder der alte Dimitri.“

 

Während Ingrid weiterhin schwieg, verzog Felix angeekelt das Gesicht.

„Dass der Keiler sich freut, seinen hörigen Schoßhund wiederzuhaben, wundert mich wenig. Die sind doch beide aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und es ändert nichts. Dieses Tier hat oft genug in den letzten Monaten bewiesen, dass es keinen Bedarf an Veränderung hat.“

Es war nicht, dass Felix damit falsch lag. Sylvain wollte das trotzdem nicht einfach so stehen lassen und schüttelte nur wieder stur den Kopf.

„Ach komm schon. Was verlieren wir denn? Höchstens ein paar Nerven. Außerdem – ganz ab davon, ob das nun einen positiven Effekt hat oder nicht, zumindest wir können uns an den alten Erinnerungen erfreuen.“

„Niemand außer dir freut sich über peinliche Geschichten, Sylvain.“

Tat er nicht, übrigens. Er fand nur viele der Geschichten, die in Ingrids und Felix‘ Augen peinlich waren, so überhaupt nicht peinlich.

„Wenn es peinliche Geschichten über Seine Hoheit sind, habt ihr bestimmt auch Spaß dran“, hielt er unbekümmert dagegen.

Felix sah gar nicht überzeugt aus. Ingrid entkam ein unterdrücktes Kichern, das ihn sofort dazu brachte, sich ihr knurrend zuzuwenden.

 

„Entschuldigung. Mir ist gerade nur eine alte Geschichte wieder eingefallen.“

 

Sylvain grinste, fast triumphierend.

„Ingrid, liebste Freundin! Erzähl sie uns doch. Vielleicht hilft das, das Herz von diesem Griesgram hier ein bisschen zu erweichen und ihn zu überzeugen.“

„Eher das Gegenteil“, mahnte Felix.

Ingrid störte das offensichtlich wenig, denn ohne sich um seine Warnung zu kümmern, begann sie zu erzählen:

„Das eine Mal, dass wir alle bei Felix‘ Familie übernachtet haben. Als wir… uff. Vier oder fünf Jahre alt waren. Es muss ganz jung gewesen sein. Bevor wir lesen konnten.“

„Die Märchenbücher“, ergänzte Sylvain lachend. Felix stöhnte genervt, dann ertränkte er seine bissigen Kommentare in einem Schluck Tee, um sie schließlich zweifelnd anzusehen.

„Müsst ihr das unbedingt wieder aufwärmen?“

„Es waren gute Märchen.“

Inzwischen fand Sylvain das auch. Früher hätte er Ingrid und Felix und Dimitri gern ein paar Köpfe kleiner gemacht, als sie ohnehin schon waren – erst zu erwarten, dass er ihnen Geschichten vorlas, weil er als einziger von ihnen lesen konnte, und dann die ganze Zeit meckern, dass die Geschichten doch bestimmt gar nicht so im Buch standen, dass Sylvain sie veralberte, dass er am Ende nur geschwindelt hatte, dass er lesen konnte.

Sie wussten natürlich viel besser, wovon die Märchen handelten, die sie noch nie gehört hatten.

 

„Es war wirklich süß“, seufzte er zufrieden, lehnte sich schwerer auf die Lehne seines Stuhls, auf dem er rittlings saß.

„Kaum zu glauben, was für ein süßes, weichherziges Ding du damals noch warst, Felix.“

„Kein Wort mehr, Sylvain.“

Sylvain grinste breit – aber er hielt den Mund. Es war nicht, als würde es noch Worte brauchen. Die Märchen, die Felix damals in aller kindlichen Unschuld gedichtet hatte, standen jetzt ohnehin schon unausgesprochen im Raum und er war sich sehr sicher, dass jeder von ihnen sie gerade im Kopf hatte.

„Dimitris Geschichte mit der sprechenden Zauberlanze war aber auch unheimlich niedlich.“

Es klang ein bisschen, als wollte Ingrid mit dem Themenwechsel Felix‘ Gemüt besänftigen. Wenn dem so war, dann scheiterte sie allerdings ganz heftig, denn sie erntete nur ein abfälliges Schnauben zur Antwort.

 

„Einmal Keiler, immer Keiler. Das war genauso eine Lüge wie jedes nette Lächeln als Kind.“

 

„Felix–“

„Lass gut sein, Ingrid. Da stößt man nur auf taube Ohren – wie beim Keiler selbst.“

„Bitte was?“

Sylvain sah Felix ohne größere Regung an.

„Du bist doch genauso verrannt. Warum genau fällt es dir so schwer, einzusehen, dass dein Keiler nur ein Teil des Ganzen ist? Hast du Angst davor?“

Er hob die Augenbrauen, sah, wie sich Felix‘ Kiefer verärgert anspannten. Bevor der Kerl die Gelegenheit bekam, zurückzuschießen, fuhr er fort:

„Der Dimitri, der von Zauberlanzen erzählt und Dolche an Mädchen verschenkt und dich vor Ewigkeiten seinen Bruder genannt hat – der ist genauso ein Teil davon.“

„Wenn er je ein Teil davon war, dann ist er vor fast zehn Jahren gestorben.“

Wie Glenn.

Wie seine Familie.

Wie am Ende doch ein Teil von jedem, der an jenem Tag persönlich betroffen gewesen war.

„Dann bist du also auch tot?“

Felix setzte zum Protest an, besann sich dann aber eines Besseren und beließ es bei einem weiteren Schnauben.

 

Es war kein fairer Vergleich. Es war nicht einmal ein wirklich passender Vergleich, das war Sylvain durchaus bewusst. Aber vielleicht half er.

Dimitri hatte sich verändert. Ja. Aber das hieß doch nicht, dass der Dimitri, der er irgendwann einmal gewesen war, einfach verschwunden war. Dass davon nichts übrig war.

Felix‘ Weichherzigkeit war auch noch irgendwo da, versteckt in schroffen Worten und bösen Blicken. Und Ingrid… na. Ingrid war einfach immer Ingrid. Die furchtbare kleine Meckerziege, um deren Gemecker Sylvain den Großteil der Zeit dann ja doch dankbar war.

(Und sie war immer wirklich eine große Hilfe in allem Frauendrama gewesen, letztendlich.)

Und er… war eindeutig auch immer noch er selbst.

Nicht nur im Positiven, zugegeben.

 

Felix‘ mürrisches Seufzen riss ihn aus seinen Gedanken.

„Versucht es doch. Aber kommt dann bloß nicht zu mir, um zu weinen, dass es nicht funktioniert. Da ist nichts mehr als der Keiler, selbst dann, wenn er sich wieder daran erinnern sollte, wie man Mensch schauspielert. Da hilft keine nette Erinnerung, über die man lachen könnte. Er wird nicht lachen.“

„Und wenn doch?“

In Ingrids Augen lag ein leiser Nachhall jugendlichen Übermuts, als sie Felix ansah – der dagegen sah einfach nur genervt und frustriert aus.

Und resigniert.

„Es gibt kein Doch.“

Sylvain war versucht, Ingrids Frage einfach noch einmal zu wiederholen. Kurz, bevor er es wirklich tat, kam ihm aber noch eine bessere Idee, und er grinste breit in die Runde.

„Und wenn doch, dann werden wir neue gemeinsame Erinnerungen machen. Für den Fall, dass mal wieder jemand eine Erinnerung an seinen guten Charakter braucht. So ein Felix zum Beispiel.“

Vielleicht brauchte er die jetzt schon. Es sah aus, als hätte er das dringende Bedürfnis, Sylvain seine Tasse an den Kopf zu werfen.

 

„Versucht es. Es wird ohnehin nicht klappen. Und wenn doch, dann fangen wir mit den neuen Erinnerungen direkt auf dem Trainingsplatz an.“

 

Sylvain hätte eher an ein beschauliches Lokal in einem beschaulichen Dörfchen gedacht. Gutes Essen, hübsche Mädchen…

Aber wenn ihr Prinz wirklich irgendwann wieder zu sich selbst zurückfinden würde – dann war ihm wohl auch das Training recht.



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