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Bis dass der Tod uns findet

von

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Furcht und Mitleid

Der Mann ihm gegenüber war groß, schlank und wie er selbst ausschließlich in schwarz gekleidet. Den Kopf leicht erhoben, den Blick geradeaus gerichtet stand er da und sah ihn an. Ein Lächeln hing an seinen Mundwinkeln. Darüber eine Maske aus purem Silber.

 

„Hallo Nathan.“

 

Nathan erstarrte. Sein Herz machte einen entsetzten Satz.

 

Woher …?
 

Eine nachlässige Geste verhinderte, dass er auch nur den Mund öffnete.
 

„Oh bitte. Erspare uns beiden einen weiteren Akt dieser unseligen Scharade. Wir wissen doch beide, dass der tumbe Tropf an Ezras Seite nicht der ist, der er vorgibt zu sein. Es zu leugnen, zöge das hier nur unnötig in die Länge.“

 

Spitze Zähne blitzten auf.
 

„Es sei denn natürlich, du genießt meine Gesellschaft so sehr, dass du zu bleiben wünschst. In dem Fall ließe sich da sicherlich etwas arrangieren.“

 

Nathans Mund wurde trocken. Er ahnte, wen er da vor sich hatte. Die üppige Garderobe, das Gebaren, ja selbst die Fähigkeit, einen vorkommen leeren Raum allein mit seiner Anwesenheit zu füllen, waren so charakteristisch, dass es keinen Zweifel gab.

 

„Ich … ich habe dem hier nicht zugestimmt.“

 

Ein kläglicher Versuch, den Vampir an die Regeln zu erinnern, denen auch er unterworfen war. Es war verboten, unwilligen Opfern Blut abzuzapfen oder sie mittels seiner Fähigkeiten dazu zu bringen. Es musste freiwillig geschehen und Nathan war mit Sicherheit nicht freiwillig hier.

 

Wieder lächelte der Vampir.
 

„Ach? Und du denkst, dass mich das aufhalten wird? Mein Bruder hat dir doch sicherlich jede Menge schreckliche Geschichten über mich erzählt.“

 

Nathan unterdrückte mit Mühe ein Nicken. Ezras Worte hallten in seinem Kopf wieder.
 

Er ist gefährlich. Lass dich nicht auf ihn ein, geh ihm aus dem Weg und falls du ihm begegnest, sieh ihm nicht in die Augen. Niemals! Hast du mich verstanden?

 

Und doch stand er hier. Ganz allein. Mit Darnelle.
 

Ein Lachen schreckte ihn aus seinen Gedanken. Es war ein angenehmes Geräusch. Wie Champagner.
 

„Also hatte ich recht. Er hat dir von mir erzählt. Das ist gut. Familie ist wichtig, weißt du.“

 

Ein abschätzender Blick.
 

„Hast du Geschwister, Nathan?“

 

Nathan schluckte. Seine Kehle war inzwischen wie ausgedörrt und er wünschte sich sehnlichst, irgendwo anders zu sein. In dieser Diamantenmine in Namibia vielleicht, die er gestern in einer Dokumentation gesehen hatte. Dort konnte jeder Fehltritt, jede falsche Bewegung, jeder verdächtige Schatten auf dem Röntgengerät dazu führen, dass man sich plötzlich mit Handschellen gefesselt auf dem Weg in eine Gefängniszelle befand. Dieses Gefängnis hier hatte keine Gitterstäbe. Es hatte nur Darnelle.

 

Etwas verspätet schüttelte Nathan den Kopf. Der Vampir nahm es zur Kenntnis.

 

„Eltern?“

 

Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals. Was sollten die Fragen?

 

Wieder schüttelte er den Kopf. Darnelles linker Mundwinkel zuckte.
 

„Tot?“
 

Fast hätte Nathan noch einmal den Kopf geschüttelt. Er wusste, dass es lächerlich war, aber seine Zunge fühlte sich an wie gelähmt. Er brachte kein Wort heraus.

 

Darnelle seufzte leise.
 

„Weißt du, Nathan, ich versuche hier, dich ein wenig besser kennenzulernen. Das wird mir aber nicht gelingen, wenn du dich weigerst, mit mir zu sprechen.“

 

Er machte eine kleine Pause, bevor er erneut fragte:
 

„Sind deine Eltern verstorben?“

 

Das Blut rauschte in Nathans Ohren, seine Brust war wie zugeschnürt. Aber er musste antworten. Er musste.

 

„Sie … leben noch. Denke ich.“

 

Er hörte förmlich, wie Darnelle fragend die Augenbrauen hob.
 

„Du denkst?“

 

Vor Nathans Augen begann es zu flimmern.
 

„Ich habe sie eine Weile nicht gesehen“, brachte er hervor. „Mein Vater war schon immer viel auf Reisen und meine Mutter … hat uns kurz nach meiner Geburt verlassen. Ich habe sie nie getroffen.“
 

Es auszusprechen war schwerer, als er gedacht hatte. Diese Wunden waren doch schon lange verheilt.

 

Darnelle wirkte zufrieden. Er wandte den Blick ab und betrachtete, wie es schien, die Wände des runden Raums.
 

„Das erklärt dann wohl, warum du bei deinen Großeltern aufgewachsen bist. Nette, ältere Leute. Ein wenig engstirnig vielleicht, mit festen, moralischen Prinzipien. Kein Platz für Abweichungen.“

 

Nathan brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was Darnelle gerade gesagt hatte. Sein Kopf ruckte herum.
 

„Was hast du mit meinen Großeltern zu schaffen? Lass sie zufrieden. Sie haben nichts hiermit zu tun.“
 

Darnelle schenkte ihm einen Blick aus den Augenwinkeln.

 

„Nun, wenn du das sagst. Dabei sind sie doch der Grund, warum du hier bist, nicht wahr? Der Grund, warum es dich aus deinem kleinen Südstaatennest in die große Stadt gezogen hat. Ein Freund hat dich begleitet, wie ich hörte. Sei Name ist mir gerade entfallen, aber ich bin mir sicher, wenn ich scharf nachdenke, fällt er mir wieder ein.“

 

Der Vampir wandte sich ihm jetzt wieder zu, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.
 

„Gibt es sonst noch jemand, von dem ich wissen sollte? Jemand, der in deinem Leben eine Rolle spielt. Freunde, Bekannte, Nachbarn? Ein Haustier vielleicht? Jeder, der dich vermissen oder nach dir suchen würde, ist interessant.“

 

Ein Schaudern lief über Nathans Rücken. Er dachte an Marvin und dass er ihn hier rausbringen musste. Aber wie sollte er das schaffen? Er war hier gefangen. Selbst wenn die Tür nicht abgeschlossen war, würde Darnelle ihn keine drei Schritte weit kommen lassen. Und damit nicht genug. Er würde sich nicht damit zufriedengeben, nur ihn auszulöschen. Der Vampir würde nicht eher Ruhe geben, bevor er auch noch die letzte Erinnerung an ihn, den letzten Menschen, der ihn gekannt hatte, restlos ausradiert hatte.

 

Unbewusst ballte Nathan die Hand zur Faust.

 

„Schluss mit den Spielchen.“

 

Er wusste nicht, woher er den Mut nahm, das zu sagen.

 

„Wenn du mich töten willst, dann tu es doch endlich. Du musst mir vorher keine Angst machen. Oder genießt du es so sehr, mich leiden zu sehen?“
 

Darnelle legte den Kopf schief.
 

„Angst machen? Dich töten? Ach Nathan, du missverstehst mich vollkommen. Nichts läge mir ferner als das. Aber du wirst sicherlich nachvollziehen können, dass es mich nicht besonders freut, wenn man hinter meinem Rücken meine Gäste in Unruhe versetzt. Immerhin erinnere ich mich, diesbezüglich Ezra gegenüber recht deutlich geworden zu sein. Und doch bringt er dich in diese Lage, während er selbst sich mit deinem Ersatz auf der Tanzfläche vergnügt? Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich und bereitet mir Sorgen.“

 

Nathan presste die Kiefer zusammen. Er glaubte Darnelle kein Wort.

 

„Es war meine Idee“, platzte er heraus. „Ich habe Ezra vorgeschlagen, diesen Tausch zu vollziehen.“
 

Die Eröffnung schien den Vampir zu überraschen. Einen Augenblick lang herrschte Stille und Nathan fragte sich bereits, ob er wohl besser geschwiegen hätte, als Darnelle wieder zu sprechen begann.
 

„Du hattest diese Idee?“, fragte er langsam.

 

Nathans Herz klopfte gegen seine Rippen.
 

„Ja. Ich … ich wollte …“

 

Ein Blick aus eisblauen Augen schnitt ihm das Wort ab.
 

„Du wolltest was?“
 

Die Schlinge, die bereits um seinen Hals lag, zog sich noch ein Stück weiter zusammen. Das Atmen wurde schwerer. Nathan begann zu schwitzen.
 

„Ich weiß nicht“, plapperte er ziellos. „Da war Ezra und M- … mein Freund und sie waren beide so verzweifelt, dass ich einfach etwas tun musste.“

 

Immer noch zappelte er aufgespießt am Blick des Vampirs wie ein Schmetterling an einer Nadel. Aber er hatte ihm nichts Besseres anzubieten. Da waren keine versteckten Motive, kein Wunsch nach Rache oder Gerechtigkeit. Er war kein Held.
 

„Es ist die Wahrheit“, beteuerte er noch einmal. „Ich wollte nur helfen.“
 

Darnelle atmete. Nathan sah, wie sich seine Brust hob und senkte. Dann plötzlich hob er die Hand. Mit einer ausholenden Bewegung griff er nach seiner Maske und zog sie sich vom Kopf. Das Gesicht, das dahinter zum Vorschein kam, war weniger furchterregend, als Nathan es sich ausgemalt hatte. Schmale Lippen, tief liegende Augen von einem betörenden Blau und eine prominente Nase bildeten eine aparte Mischung, die mit Sicherheit Aufmerksamkeit erregte. Mehr Aufmerksamkeit, als Nathan sich momentan wünschte.
 

„Erstaunlich“, sagte Darnelle. Die Maske immer noch in der Hand betrachtete er Nathan, als sähe er ihn zum ersten Mal.

 

„Was ist erstaunlich?“

 

Nathan wagte kaum, selbst Luft zu holen, und trotzdem musste er fragen. Darnelle musterte ihn schweigend.
 

„Es ist erstaunlich“, sagte er schließlich, „dass jemand, der doch dazu ausersehen ist, am unteren Ende der Nahrungskette zu stehen, sich in solche Lebensgefahr begibt, rein aus dem Impuls heraus, anderen zu helfen. Man sollte doch meinen, dass irgendwelche niederen Instinkte dies verhindern.“

 

Gegen seinen Willen musste Nathan lachen.
 

„Tja, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich damit mal zum Arzt gehen. Gesund ist das sicher nicht.“

 

Er zögerte, bevor er hinzusetzte: „Ebenso wenig, wie sich überhaupt auf einen Vampir einzulassen. Aber es ist nun einmal passiert und ich … ich würde mich wieder so entscheiden, wenn ich könnte.“

 

Vermutlich nicht. Wenn er wirklich die Gelegenheit gehabt hätte, darüber nachzudenken, würde er beim nächsten Mal wahrscheinlich darauf achten, am richtigen Bahnhof auszusteigen, um bloß nicht in irgendwelchen verlassenen Gassen auf leichenfressende Ghule zu stoßen. Aber andererseits hatte ihm dieses Erlebnis auch Ezra eingebracht. Ezra, der sich erst, nachdem er Nathan fast verloren hatte, dazu entschlossen hatte, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Ezra, dessen Familie Nathan auf die eine oder andere Weise nach dem Leben trachtete, und mit dem es sicherlich niemals hübsche Fotos vom gemeinsamen Urlaub am Strand geben würde. Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde schreiend das Weite suchen, wenn man ihn vor diese Wahl stellte. Aber er hatte es nicht getan. Er war geblieben.

 

Vielleicht bin ich wirklich verrückt.
 

Darnelle, der immer noch dastand und ihn ansah, begann mit einem Mal zu lächeln.

 

„Ich glaube, ich beginne zu verstehen, was Ezra in dir sieht“, sagte er leise. „Welche Sehnsucht du befriedigst, was dich für ihn so anziehend macht. Er braucht dich, ebenso wie er mich braucht. Wir sind zwei Seiten derselben Medaille.“

 

Die Wortwahl überraschte Nathan, doch noch bevor er dazu kam, eine entsprechende Frage zu stellen, war Darnelle plötzlich ganz nahe. So nahe, dass es Nathan die Luft zum Atmen nahm. Sanft strichen Darnelles Finger über seine Wange. Die Berührung ließ Nathan erschaudern. Darnelle lächelte immer noch.
 

„Weißt du Nathan, ich glaube, wenn wir uns erst einmal näher kennengelernt haben, wirst du feststellen, dass ich gar kein so übler Kerl bin. Ich beschütze die meinen und alle, die ihnen wichtig sind. Sich gut mit mir zu stellen, hat allerlei Vorteile. Ich könnte dir jede Menge Vergünstigungen verschaffen.“

 

„Vergünstigungen?“

 

Darnelles Nähe war irritierend. Nathan bemerkte, wie sein Körper darauf zu reagieren begann. Schnell wollte er von ihm abrücken und drückte sich im Gegenteil nur noch näher an ihn.

 

Das Lächeln wurde breiter. Fangzähne wurden sichtbar.
 

„Oh ja. Obwohl mich interessieren würde, wie weit du zu gehen bereit bist. Immerhin ist Ezra ein Vampir und du nur ein Mensch. Früher oder später würden sich eure Wege trennen. Es ist der Lauf der Dinge.“

 

Kundige Finger glitten von Nathans Wange über sein Kinn hinunter zu seinem Hals bis zu der Stelle, an der sich seine Schlagader befand. Fast meinte er, das unruhige Puckern selbst fühlen zu können. Der Puls des Lebens.

 

„Allerdings gäbe es da eine Möglichkeit“, raunte Darnelle ihm ins Ohr. „Etwas, das dir erlauben würde, für immer bei Ezra zu bleiben.“

 

Nathans Nackenhaare richteten sich auf. Er spürte die Gefahr. Die Wahrheit, die hinter den Worten lauerte. Er wollte sie nicht hören, aber Darnelle war wie ein Abgrund.

 

„Welche Möglichkeit?“, fragte er atemlos, während warme Lippen seinen Hals liebkosten.

 

Ein Lächeln auf seiner Haut.

 

„Du weißt, wovon ich spreche.“

 

Eine Hand legte sich auf seine Hüfte und zog ihn näher heran. Eine zweite bog seinen Kopf zurück.

 

„Schließ die Augen, kleiner Nathan. Lass mich dir zeigen, wie es ist, einer von uns zu sein.“

 

 

 

Die letzten Akkorde des Liedes waren kaum verklungen, als Marvin sich schon aus seinem Arm lösen wollte. Entschieden hielt Ezra ihn fest und zog ihn näher heran.
 

„Nicht so schnell“, zischelte er leise. „Man sieht uns zu.“

 

Marvins Gegenwehr erlahmte augenblicklich.

 

„Tut mir leid. Kuss?“
 

Ezra atmete ein-, zweimal tief durch, bevor er sich vorbeugte und Marvins Lippen mit den seinen berührte. Es war leicht, unschuldig. Sie wussten es beide. All die Leidenschaft, die man sehen konnte, war nur gespielt.

 

Ob es ihn genauso viel Überwindung kostet wie mich?

 

Nach einer angemessenen Zeit trennten sie sich wieder voneinander. Ezra sah Marvin in die Augen. Sein Blick war leicht glasig. Er war müde und hatte zu viel getrunken. Eine gefährliche Kombination. Zumal auch die anderen es merken und vermutlich ausnutzen würden. Er musste ihn hier wegbringen. Bald.

 

„Wir sollten nicht mehr allzu lange bleiben“, murmelte er daher, während er Marvin seinen Arm anbot, um ihn zurück zur Bar zu geleiten. „Kannst du irgendwie herausfinden, wie weit Nathan mit seinen Nachforschungen ist?“
 

Es war ein Risiko, Marvin allein loszuschicken. Wenn ihn jemand abfing und in ein Gespräch verwickelte, konnte das unangenehme Folgen haben. Ezra hatte schon ein paar Mal verhindern müssen, dass er zu viele persönliche Informationen preisgab. Der Alkohol, der Glamour, die freundlichen Mienen und das gespielte Interesse. Marvin war anfällig dafür. Mehr als Ezra gedacht hatte. Der ganze Abend glich dem Tanz auf einem Minenfeld. Einer der Gründe, warum Ezra seinen Begleiter zu einem richtigen Tanz aufgefordert hatte. Er hatte eine Pause von dieser ständigen Wachsamkeit gebraucht. Dort, im Takt der Musik, hatten sie für einen Moment Ruhe finden können, auch wenn Ezras Gedanken dabei immer öfter zu Nathan gewandert waren.

 

Wo er wohl ist? Wir hatten vereinbart, dass er den Club verlässt, sobald er etwas herausgefunden hat. Aber er ist noch hier? Warum ist er noch hier?
 

„Klar“, gab Marvin auf seine Frage hin zurück. „Soll ich ihm was ausrichten?“
 

Ezras Augen scannten den Raum. Irgendetwas stimmte nicht. Was war es?

 

„Ja“, gab er abwesend zurück. „Sag ihm …“

 

Darnelle! Er ist nicht da!
 

Ezras Herzschlag beschleunigte sich für einen Moment. Wohin war sein Bruder verschwunden? Warum hatte er ihn allein gelassen?

 

Es ist nichts, versuchte er sich zu beruhigen. Bestimmt nur etwas Geschäftliches. Er wird gleich wiederkommen.

 

Trotz dieser Versicherung wuchs Ezras Unruhe von Augenblick zu Augenblick. Er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Wie bei einem herannahenden Erdbeben konnte er die Schwingungen fühlen. Sie breiteten sich aus. Wurden stärker.
 

Ezra drehte sich im Kreis. Versuchte herauszufinden, woher diese Empfindungen kam. Der Raum um ihn herum wurde zu einem Kaleidoskop aus Farben, Formen und Klängen. Gelächter, Gesang und Gläserklingen. Augen, die ihn beobachteten, Hände, die sich nach ihm ausstreckten, Stimmen, die ihn riefen. Eine davon kam ihm bekannt vor. Sie klang verzweifelt.
 

„Ezra. Ezra, was ist los?“

 

Er blinzelte. Marvin stand vor ihm, die Augen weit aufgerissen. Er roch nach Angst und Alkohol.

 

„Er ist in Gefahr.“

 

Mehr brauchte Ezra nicht sagen. Sofort war Marvins Müdigkeit wie weggeblasen.
 

„Wo?“, wollte er wissen. Entschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ezras Gedanken sprangen von Raum zu Raum.
 

„Die Hinterzimmer.“
 

Es gab keinen anderen Ort, wo Nathan sein konnte. Ezra hätte es gewusst. Aber dort hinten herrschten andere Gesetze, andere Verhältnismäßigkeiten. Dort war man ungestört. Unentdeckt. Darnelle hatte dafür gesorgt.

 

Darnelle.
 

Der Name durchzuckte Ezra wie ein Stromschlag. War es möglich, dass …?

 

Nein. Nein nein nein nein nein. Alles nur das nicht.
 

Seine Schritte beschleunigten sich. Er rannte fast. Ignorierte die Blicke um sich herum. Die aufgeschreckten Gäste. Die entsetzten Schreie. Falls das hier ein Fehlalarm war, würde Darnelle ihn rösten. Ganz langsam auf kleiner Flamme. Aber falls nicht … Ezra wagte nicht, sich das auszumalen. Er wusste, was passieren würde, wenn Darnelle Nathan in die Finger bekam. Er wusste es einfach. Er hatte es selbst erlebt.

 

Du willst es doch auch“, flüsterte die Stimme. „Hab keine Angst. Ich werde dir nicht wehtun. Nur ein kleiner Schluck. Es ist vollkommen ungefährlich.“

 

Aber es war nicht ungefährlich gewesen. Es hatte ihn fast umgebracht.

 

„Schneller, schneller.“
 

Er achtete längst nicht mehr darauf, ob Marvin ihm folgte. Seine Sinne waren nach vorn gestreckt. Sie suchten und fanden.
 

„Wo sind wir hier?“

 

Die Frage schwebte den Gang entlang, ohne auf jemanden zu treffen, der sie beantwortete.
 

Eine der Türen öffnete sich. Camille. Die Lippen rot wie ihr Kleid, auf dem Bett hinter ihr ein junger Mann. Er schlief, aber er würde sich erholen.

 

„Ezra? Was zum …?“

 

Auch sie wurde von ihm zurückgelassen. Er wusste, wo er hinmusste. Der letzte Raum. Das viktorianische Zimmer. Darnelle hatte es extra für ihn entworfen. Ezra liebte diese Kulisse. Opulenz und Schönheit. Wärme und Tranquilität. Manchmal brauchte er etwas anderes, aber oft, sehr oft, kam er hierher um zu speisen. Um Sex zu haben. Mehr als einmal in einer Nacht. Doch jetzt, in diesem Moment, lag ihm nichts ferner als das. Jetzt fühlte er einfach nur Angst. Und Wut. Er musste ihn finden.

 

Die Tür flog auf, aber der Raum war leer. All die Möbel, das Bett, die Schränke, Tische und Kommoden waren verschwunden. Nur ein einzelner Stuhl war verblieben und auf ihm …

 

„Nein!“

 

Ezra stürzte nach vorn. Die zusammengesunkene Gestalt, dieser menschliche Überrest, dessen Puls er kaum noch wahrnehmen konnte. Was hatte Darnelle getan?
 

„Nathan! Nathan, hörst du mich?“
 

Er war auf die Knie gesunken. Seine Finger tasteten kalte, schweißbedeckte Haut. Er war leicht. So leicht, als er in Ezras Arme sank. Fiel. Kraftlos. Leblos. Was war geschehen?

 

„Nathan, wach auf!“

 

Marvin erschien an der Tür. Er schnaufte. Schwitzte. Sein Herzschlag dröhnte in Ezras Ohren.
 

„Ist er tot?“

 

Ezra sah auf das blasse Gesicht hinab. Nathans Augen waren geschlossen. Seine Maske fehlte.

 

Was hat er dir angetan?

 

„Nein, er lebt. Wir müssen ihn hier rausbringen.“

 

Mehr sagte er nicht. Er konnte nicht. Die schwarzen Tentakel, die seine Stimmbänder lähmten, krochen höher und höher. Sie mussten hier weg. Er musste hier weg. Sonst würde etwas Furchtbares geschehen.
 

„Komm. Nach oben.“

 

Der Körper in seinen Armen wog fast nichts und doch so schwer, dass er fast zusammenbrach. Das Gewicht der Schuld. Nathan war seinetwegen hier. Alles nur seinetwegen. Aber er musste stark sein. Er musste ihn beschützen. Um jeden Preis.
 

„Warte.“

 

Er hörte Marvin hinter sich her keuchen.

 

„Hier. Die lag am Boden. Wir sollten sie ihm aufsetzen.“

 

Ezra blieb stehen. Marvin stand da und hielt Nathans Maske in der Hand. Sie musste neben ihm gelegen haben. Er hatte sie nicht bemerkt.
 

„Ja. Ja, das sollten wir.“

 

Marvins ruhige Besorgtheit, die routinierten Bewegungen, mit denen er Nathan die Maske wieder anlegte, beruhigten ihn. Er spürte, wie sehr Marvins Herz raste. Sah, wie seine Finger zitterten. Trotzdem bewahrte er die Fassung. Bemühte sich. Für seinen Freund.

 

Er war auch einst so. Ein Beschützer. Ein Fels. Was ist geschehen, das ihn so verändert hat?
 

„So, fertig.“

 

Marvin zog seine Hände zurück. Die Maske saß nicht perfekt, aber sie würde Nathans Identität hinreichend verdecken, bis sie den Club verlassen hatten.

 

Halte durch.
 

Gemeinsam erreichten sie den Gastraum. Hier herrschte immer noch das Chaos, das sie hinterlassen hatten. Aufgebrachte Gäste, Securitykräfte, die ziellos herumliefen, Vampire, deren Sinne nach ihm peitschten. Er ließ alles an sich abgleiten. Den Blick stur auf den Fahrstuhl gerichtet, durchquerte er den Club. In seinem Windschatten Marvin der, als sie sich der Tür näherten, daraus hervortrat.
 

„Wir wollen gehen“, herrschte er den Türsteher an. Der warf einen Blick auf Nathan und zögerte.
 

„Jetzt“, grollte Ezra. Vermutlich hatte der Mann ebenso wie die anderen Anweisung bekommen, niemanden hinauszulassen, bevor die Situation geklärt war. Aber Ezra würde nicht warten. Er würde gehen, auf die eine oder andere Weise.

 

Die Hand des Mannes, die sich schon in Richtung Headset bewegt hatte, sank wieder herab.
 

„Wie Sie wünschen, Herr van Draken.“
 

Er hielt die Chipkarte vor das Lesegerät und die Tür des Aufzugs öffnete sich. Ezra stieg ein. Ein auffordernder Blick an Marvin und der drückte den Knopf. Die Türen schlossen sich. Das Letzte, was Ezra sehen konnte, waren die zerborstenen Überreste einer perfekten Illusion.

 

 

Kühle Nachtluft empfing sie. Sie hatten nicht gesprochen. Es schien, als hätten sie beide den Atem angehalten, bis sie das Gebäude verlassen hatten. Der Flur an der Oberfläche war leer gewesen, ebenso wie die Dächer, auf denen sich bei ihrer Ankunft noch Wachposten befunden hatten. Ezra hatte sie gespürt, aber nichts gesagt, um die beiden Menschen nicht zu beunruhigen. Jetzt war einer von ihnen vollkommen verängstigt und der andere …

 

„Sollen wir ihn in ein Krankenhaus bringen?“

 

Ezra zögerte. Von Ferne hörte er, wie sich ein Wagen näherte.
 

„Nein“, sagte er mit fester Stimme. „Das hier ist nichts, bei dem menschliche Ärzte etwas ausrichten können. Wir bringen ihn zu dir.“

 

Ein Zucken verriet ihm, dass Marvin nicht begeistert war. Aber er gehorchte. Als der Wagen vorgefahren wurde, öffnete er die Hintertür. Ezra legte Nathan auf den Rücksitz. Sein Körper zeigte überhaupt keinen Widerstand. Sein Herz schlug langsam. Viel zu langsam.

 

Ezras Blick richtete sich auf Marvin.
 

„Würdest du fahren?“

 

Marvin schnappte nach Luft.
 

„Ich?“, kiekste er. „Ich … ich bin seit Jahren nicht …“

 

„Du schaffst das. Ich vertraue dir.“
 

Ein tiefer Atemzug, ein resignierendes Seufzen.
 

„Na schön. Ich hoffe nur, du hast eine gute Versicherung.“
 

Diese kleine menschliche Sorge rang Ezra beinahe ein Lächeln ab. Sie hatten so viel größere Probleme als Geld. Unendlich viel größere.
 

„Fahr einfach. Ich bleibe bei Nathan.“
 

Sie stiegen ein. Ezra schob sich neben Nathan auf den hinteren Sitz und bettete seinen Kopf auf seinem Schoß. Noch immer zeigte er keinerlei Reaktion. Dafür gab es zwei mögliche Erklärungen. Er konnte nur hoffen, dass es die bessere von beiden war.

 

Und wenn nicht?
 

Die Frage drängte sich unwillkürlich auf, aber Ezra schob sie beiseite. Er wollte über diese Möglichkeit jetzt nicht nachdenken. Nicht, bevor er Nathan in Sicherheit wusste. Einen Schritt nach dem anderen.

 

 

Ezra trug Nathan die Stufen zu Marvins Apartment empor. Noch nie war ihm ein Weg so lang vorgekommen. Marvin fummelte mit den Schlüsseln herum.
 

„Ich hab's gleich. Moment.“

 

Endlich öffnete sich die Tür. Ezra trat ein und ging gleich weiter in Richtung Schlafzimmer. Marvin eilte ihm hinterher. Er öffnete auch diese Tür, warf einen Berg Kleidungsstücke achtlos vom Bett und schlug die Decke zurück. Ezra legte Nathan darauf. Er entfernte die Maske, öffnete seine Hemdknöpfe. Die Haut unter seinen Fingern fühlte sich immer noch kalt an. Marvin schloss derweil die Vorhänge. Danach trat er neben Ezra. Sein Blick war starr auf Nathan gerichtet.
 

„Ist er verletzt?“

Ezra suchte den leblose Körper ab. Es gab keine Verletzungen, keine Wunden die er spüren oder anders hätte wahrnehmen können. Aber das musste nichts heißen. Wenn Darnelle ihn gebissen hatte, hatte er die Wunde mit Sicherheit wieder mittels seines Speichels verschlossen. Zudem klammerte sich Ezra immer noch an die Hoffnung, dass er es nicht getan hatte. Es musste so sein.

 

„Ich kann nichts entdecken.“

 

Marvin runzelte die Stirn.
 

„Könnte er gebissen worden sein?“
 

„Ich weiß es nicht“, herrschte Ezra ihn an. Er wusste, dass Marvin nur nervös war und deswegen plapperte. Dass er dabei ausgerechnet Ezra größte Befürchtung ausgesprochen hatte, war nur ein Zufall.

 

Nein, das ist nicht das Schlimmste, was er hätte tun können. Aber wenn er ihn von seinem Blut hat trinken lassen. Wenn er ihn gewandelt hat … dann ist Nathan so gut wie tot. Wenn er die Prozedur überhaupt überlebt. Das darf einfach nicht sein.

 

Marvin, der offenbar gemerkt hatte, in was für einem Zustand Ezra war, machte einen Schritt rückwärts.

 

„Okay, gut, ich verstehe. Aber … bist du dir sicher, dass wir ins nicht doch lieber in ein Krankenhaus bringen sollten.“

 

Marvin hatte Ezra die Hand auf die Schulter gelegt. Die ruhige Wärme floss durch den Stoff. Pulsierendes Leben, so wie es sein sollte. Nicht dieses schwache Flackern, das er unter seinen Fingern fühlte.
 

„Ich weiß es nicht“, wiederholte Ezra leise.

 

Eine Weile lang saßen und standen sie einfach nur da. Irgendwann räusperte Marvin sich.

 

„Also du kannst … hierbleiben. Heute Nacht meine ich. Ich werd auf dem Sofa schlafen.“

 

Ezra merkte, wie sein Stresspegel stieg. Sein Herz schlug schneller, sein Geruch veränderte sich. Fast meinte Ezra die Elektrizität in seinen Nervenzellen riechen zu können. Fragend wendete er den Blick nach oben. Marvin verzog das Gesicht.
 

„Na ja, ich … also normalerweise würde ich dir jetzt einen Tee oder so anbieten. Zur Beruhigung. Aber du trinkst ja keinen Tee.“

 

Ezra antwortete nicht. Natürlich hatte Marvin recht. Er war immer noch ein Vampir. Ein Blutsauger. Ein natürlicher Feind des Menschen.

 

Sein Blick glitt zu Nathan, der immer noch blass und wie tot auf Marvins Bett lag. Die farbenfrohe Tagesdecke ließ ihn noch bleicher erscheinen. Sie roch nach Marvin. Ein Geruch, an den Ezra sich in den letzten Tagen mehr als gewöhnt hatte. Auch wenn sie noch dabei waren, sich zu sortieren und auch wenn er bisher nur etwas mehr als geduldet war. Es war fast schon so etwas wie … Heimat.

 

Was hast du ihnen nur angetan?

 

Er wusste, dass es nur einen Ort gab, an dem er Antworten erhalten würde. Antworten auf Fragen, die er nie hatte stellen wollen. Aber er musste es tun. Nathan zuliebe. Und vielleicht auch sich selbst. Er hatte schon viel zu lange gezögert.

 

Es endet heute Nacht.

 

Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck erhob er sich und strich seinen Anzug glatt.

 

„Ich kann nicht bleiben.“

 

Er erklärte Marvin nicht, was er damit meinte. Es hätte ihn nur noch weiter beunruhigt. Den Weg, der vor ihm lag, würde er allein beschreiten müssen.

 

Bereits auf dem Weg zur Tür spürte er eine Hand an seinem Arm. Es war Marvin. Seine dunklen Augen blickten besorgt.
 

„Du kommst doch wieder, oder?“

 

In seiner Stimme schwang leichte Panik mit. Er sah zurück zum Bett.
 

„Ich meine, du lässt mich doch jetzt mit der ganzen Scheiße nicht alleine, oder?“

 

Ezra schluckte. Wie von selbst glitten seine Finger zu Marvins warmer Hand.

 

„Ich komme wieder“, versprach er. „Aber wenn nicht … pass auf ihn auf, ja?“

 

Marvin grinste schief.

 

„Was meinst du denn, was ich mein ganzes Leben lang schon mache. Aber er ist manchmal so stur.“

 

„Wie ein kleiner Ziegenbock“, bestätigte Ezra. Noch einmal drückte er Marvins Hand. „Mach dir keine Sorgen. Er wird durchkommen.“

 

Einer plötzlichen Eingebung folgend griff er in seine Jacketttasche und zog eine Visitenkarte heraus. Sofort hob Marvin abwehrend die Hände.

 

„Oh nein. Mit dem Trick kannst du mir nicht kommen.“

 

Ezra lächelte schmal. Er zückte einen Stift und schrieb einige Ziffern auf die Karte. Danach reichte er sie Marvin.
 

„Hier. Das ist meine Telefonnummer. Wenn etwas ist … ruf mich an.“

 

Marvin nahm die Karte entgegen. Fast schon ehrfürchtig blickte er auf das edle Stück Papier herab.

 

„O-okay. Ich werd anrufen.“

 

Ezra antwortete nicht. Er drehte sich nur um und verließ die Wohnung, so wie er es in letzter Zeit häufiger getan hatte. Heute vielleicht zum letzten Mal.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryosae
2022-09-02T07:13:09+00:00 02.09.2022 09:13
Mag is baaaaaack! :D
Toll, dass du wieder da bist. Hab dich sehnsüchtig zurück erwartet. ;)

Darnelle hat das jetzt nicht wirklich getan, oder?
Wird Nathan jetzt zum Vampir? Wie lange wird deine FF eigentlich noch gehen? Hast du da schon eine Richtung?
Dieser Cliffhanger ist fast genauso schlimm wieder letzte! :o
Bitte schreib schnell weiter :)

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
02.09.2022 11:49
Hey Ryosae!

Ich hab auch sehnsüchtig gewartet oder sagen wir mal "fleißig dran gearbeitet", dass Nathan und Darnelle mal miteinander verkommen. Die Szene war mal wieder zum Haareraufen, bis sie fertig war. :D

Ob und was Darnelle getan hat ... tja, das ist jetzt die Frage, nicht wahr? Aber die andere Frage wäre dann: Warum sollte er nicht? Wer oder was sollte ihn aufgehalten haben? Und dass es schon wieder ein Cliffhanger war, ist dieses Mal nicht beabsichtigt aber dann doch erwünscht gewesen. Wir nähern uns nämlich dem Ende der Story. Geplant sind jetzt noch zwei Kapitel plus Epilog. Du siehts, wir müssen uns ranhalten. Ich hoffe mal, dass das auch mit meiner Zeit zum Tippen klapp. Momentan häufen sich schon wieder die Termine ...

Also halte durch!

Zauberhafte Grüße
Mag


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