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Love against all Reason

Liebe gegen jede Vernunft
von
Koautoren:  Linchen-86  Khaleesi26

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo, wer ist Ukiyo? Hinter dem Namen Ukiyo stehen die Autoren: Khalessi26 und Linchen-86.

Wir haben eine Idee für eine gemeinsame Michi gehabt, die sich schnell zu unserem absolutem Herzensprojekt entwickelt hat. Wir haben unser ganzes Herz in diese Geschichte gesteckt und hoffen, dass ihr unsere Geschichte genauso liebt wie wir :)

Wir wünschen euch viel Spaß beim lesen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben, wir hoffen euch gefällt die Geschichte bis hierher :)
Heute geht es weiter und wir wünschen euch viel Spaß beim lesen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter gehts, viel Spaß beim Lesen! ❤️ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi ihr Lieben :)
Wie versprochen, ab jetzt 2 Kapitel pro Woche.
Viel Spaß beim Lesen! <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute kommt schon Kapitel 10.

Wir wünschen euch ein schönes Wochenende :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Leute Leute Leute! Wir trauen uns ja gar nicht, das Kapitel hochzuladen :‘D
Aber was muss, das muss. Sorry vorab, wir hoffen, ihr leidet nicht zu sehr. Wir schon ^^* Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute Lest ihr die Nachwirkungen des letzten Kapitels.

Und es wird auch ziemlich heftig weitergehen.

Eine kleine Randnotiz kommende Woche, haben beide Autorinnin Geburtstag 🎉

Wenn das also kein Grund zum Feiern ist :D
In diesem Sinne: Viel Spaß beim lesen Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter gehts… viel Spaß beim Lesen :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute geht es weiter mit dem Krankenhaus-Fest.

Wir wünschen euch wie immer viel Spaß beim lesen :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein kleines, aber feines Füllkapitel und ich lieb‘s sehr :>
Viel Spaß damit Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,

vielen Dank fürs lesen und kommentieren unserer Geschichte bisher :)

Unter den Charakterbeschreibungen haben wir noch Haruiko Kido ergänzt, weil er auch in den kommenden Kapiteln eine immer größere Rolle spielen wird.

Wir wünschen euch einen schönen zweiten Advent und wie immer, viel Spaß beim lesen.

Willkommen in New York :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi Lieben, wir wünsche euch einen schönen dritten Advent

Und auch Sally wurde nun bei den Charakterbeschreibungen hinzugefügt. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Spannung nimmt zu ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute geht es weiter.

Wir wünsche euch einen schönen vierten Advent und ein frohes Weihnachtsfest. Habt alle ein paar schöne Tage und genießt die Zeit mit euren Liebsten.

Liebe Grüße... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Danke, an alle, die bis hierher mitgelesen haben :) dies wird das letzte Kapitel dieser Geschichte sein. Ob es ein Happy End für Mimi und Tai geben wird? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, heute geht es weiter mit der Wendung.

Wie wird es jetzt weitergehen?

Gibt es noch eine Chance oder ist alles verloren? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,

wir hoffen euch gefällt die Geschichte weiterhin.

Heute wird es wieder sehr spannend weitergehen und eine sehr wichtige Person taucht heute erstmals auf.

Lasst uns gerne eure Meinung da :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mit ein wenig Verzögerung, hier das neue Kapitel ;) viel Spaß beim Lesen & einen schönen Sonntag für euch alle! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,


heute wird ein großes Geheimnis enthüllt. Wir hatten bereits ein paar sehr aufmerksame Leser/Innin, die mit ihrer Theorie ins Schwarze getroffen haben ;)

Danke hier für den Austausch.


Wir freuen uns immer sehr, wenn ihr eure Theorien habt und diese mit uns teilt.

Gerne auch per Privatnachricht :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute erfahrt ihr, ob Tai den Anschlag überlebt hat und in welchem Zustand er sich befindet.

Die Ereignisse überschlagen sich weiterhin und wirklich Zeit zum verschnaufen lassen wir euch aktuell nicht, aber es muss sein.

In diesem Sinne, viel Spaß beim lesen und mitfiebern :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr fleißigen Lesemäuse :)
An dieser Stelle erst mal ein Danke an alle, die aktiv mitlesen und an die, die immer mal ein Kommentar hinterlassen, das freut uns wirklich sehr! <3
Heute gibt es eine Premiere: ein Kapitel aus der Sicht von unserem Joe ;)
Wie seht ihr das? Ist er das Opfer in der Geschichte? Oder hat er in gewisser Weise mit Schuld an der ganzen Situation? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Auch heute dürft ihr noch einmal aus Joes Sicht lesen :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute gibt es ein Wiedersehen mit Yolei :)

Wie immer eine wichtige Schlüsselfigur in unserer Geschichte :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Leute, Kapitel 50. Wahnsinn, so viel haben wir schon geschafft.

Wir befinden uns beim schreiben auch so langsam in den letzten Zügen und können euch sagen, es bleibt bis zum Schluss spannend *-* Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben, danke für eure ganzen Kommentare und dass ihr so fleißig mitlest. Wir kommen momentan noch nicht dazu, alle zu beantworten, holen das aber bald nach :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
In diesem Kapitel tauchen wir noch mal in die Vergangenheit ein und erfahren, was damals genau passiert ist …
Viel Spaß beim Lesen <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wir konnten es nicht lassen… einen letzten Showdown… :o Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben, langsam nähern wir uns dem Ende. :(

Es ist nicht zu fassen. Nächste Woche um diese Zeit Lest ihr schon das Finale. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, jetzt ist es also tatsächlich soweit, wir laden das letzte Kapitel hoch.

Wir wissen gar nicht so Recht, was wir sagen sollen, denn wir lieben diese Geschichte und es macht uns ein wenig traurig, dass es nun vorbei ist.

Wir haben so lange daran geschrieben und lieben alle Charaktere einfach sehr.

Anfangs war es als kleines Projekt geplant und am Ende ist es einfach nur eine spannende und emotionale Geschichte geworden.

Wir danken euch alle fürs mitfiebern, mitlesen und kommentieren.

Viel Spaß nun beim letzten Kapitel :) Komplett anzeigen

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Prolog

Mimi
 

Ich freue mich so sehr, endlich meine Eltern wiederzusehen. Ich habe sie jetzt bestimmt schon seit elf Monaten nicht mehr gesehen. Es war einfach viel los bei mir. Nachdem ich versucht habe mir als Visagistin und Stylistin in Hollywood einen Namen zu machen und kläglich gescheitert bin, treibt es mich wieder zurück nach New York. Gut, Hollywood ist kein leichtes Pflaster und das hab ich schnell am eigenen Leib zu spüren bekommen, aber irgendwann muss ich ja lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Nur blöd, dass ich als Versagerin zurückkehre und meinen Spruch vor elf Monaten: „Ich werde euch beweisen, dass ich die ganz große Karriere machen werde", nicht so ganz in die Tat umsetzen konnte. Nun denn, aufgeben ist trotz allem keine Option, aber erst einmal muss ich mich sortieren, ehe ich den nächsten Schritt plane. Vielleicht ja doch vorerst als Angestellte und Geld sparen, denn meine Reserven sind leider fast alle aufgebraucht, Wie gut, dass ich in dieser Hinsicht bisher immer auf meine Eltern zählen konnte ...
 

Ich nutze wie immer die Schlüssel und betrete das Haus, ich ziehe die Sandalen aus und sehe das meine Eltern bereits meine Hausschluppen bereitgestellt haben oder sie haben sie nie weggestellt? Ich schlüpfe in meine Hausschluppen hinein, schnappe mir meinen Koffer und gehe durch den Flur in Richtung Wohn- und Esszimmer. Zwei etwas überraschte Köpfe und angestrengte Gesichter schauen in meine Richtung.

„Oh Mimi, liebes, du bist ja schon da!“

Schon? Ich bin zwei Stunden zu spät und irgendwie habe ich das Gefühl, als würde ich stören oder wäre irgendwie nicht erwünscht. Sind sie enttäuscht von mir, weil ich aufgegeben habe? So unerschrocken ging ich fort und ehe ich mich versehe, bin ich auch schon wieder hier. Ja, ich wäre auch enttäuscht von mir.

„Hmm“, antworte ich daher nur.

Gleich springt meine Mutter von ihrem weißen Lederstuhl auf und umarmt mich herzlich. Ich erwidere die Umarmung, während mein Vater jedoch – recht blass, wie ich finde –, am Tisch sitzen bleibt und auf seine Kaffeetasse starrt. So kenne ich ihn gar nicht, so distanziert mir gegenüber. Hab ich ihn so enttäuscht?

„Hi Dad“, spreche ich ihn direkt an, doch mehr als ein Nicken in meine Richtung und ein aufgesetztes Lächeln bekomme ich nicht. „Ich bin müde von der langen Fahrt und glaube ich ruhe mich erst einmal ein wenig aus“, lüge ich, aber habe das Gefühl, dass es gerade besser so ist und sie alleine lassen sollte.

„Ist gut Schatz, wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid. Frische Handtücher hab ich dir aufs Bett gelegt.“

„Danke“.
 

Ich nehme meinen Koffer und gehe in die obere Etage in mein altes Kinderzimmer. So viel rosa, um Gottes Willen, wie konnte ich hier nur drin wohnen? Ich setze mich auf mein altes Himmelbett und lass mein Leben kurz Revue passieren. Ich bin 26 Jahre alt, bin nicht verheiratet oder habe gar einen Freund, was ich auch überhaupt nicht will, weil Männer sowieso alle einen am Helm haben, habe aktuell keine Arbeit und noch nicht mal viel Geld. Ich würde sagen, es läuft, zwar Bergab, aber es läuft. Es muss sich ganz dringend etwas bei mir ändern, so kann es wirklich nicht weitergehen. Ich werde meine Eltern wieder stolz auf mich machen.

Fest entschlossen stehe ich auf und eile Richtung Zimmertüre. Ich bin gerade dabei die oberste Treppenstufe zu betreten, als ich auf einmal höre, wie einer der Beiden scheinbar auf den Tisch geschlagen hat. Sofort erstarre ich in meiner Bewegung und halte die Luft an.

„Ich verstehe einfach nicht, wie es so weit kommen konnte ...“, höre ich meine Mutter frustriert sagen.

„Was willst du von mir hören? Ich hatte Panik!“

Häh? Ich verstehe gar nichts mehr. Um was geht es hier eigentlich und hat es überhaupt mit mir zu tun?

„und deshalb veruntreut man einfach das Geld der eigenen Firma!“, knurrt meine Mutter.

Was zum?!

„Ich hätte nie gedacht, dass ich auffliege.“

„Das ist deine Verteidigung?“, fragt meine Mutter entsetzt, während mein Vater nichts mehr sagt. Was ist hier nur während meiner Abwesenheit passiert?

„Wie viel Zeit hast du noch?“, fragt meine Mutter diesmal mit sanfter Stimme nach. „Ungefähr vier Monate“, nuschelt mein Vater.

„Nur vier? Wie sollen wir in vier Monaten so viel Geld auftreiben?“

„Ich weiß es nicht. Alle Rücklagen sind aufgebraucht oder eingefroren."

Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Alle Reserven meiner Eltern sind aufgebraucht? Wie ist so etwas möglich? Mein Vater arbeitet in einer sehr hohen Position in einer Japanisch-/Amerikanischen Bank. Es hatte uns nie an etwas gefehlt.

„und was passiert, wenn du das Geld in dieser Frist nicht auftreiben kannst?“, hakt meine Mutter behutsam nach, aber ich fühle, dass sie Angst hat, diese Frage zu stellen.

„Dann werde ich die nächsten zehn Jahre ins Gefängnis gehen. Mindestens.“

Ungläubig halte ich meinen Mund mit meinen Händen zu, während ich immer noch versuche das gerade Erfahrene zu verarbeiten. Mein Vater darf auf keinen Fall im Gefängnis landen. Was kann ich nur tun, um meinen Eltern zu helfen? Um meinen Vater zu helfen? Ich schleiche langsam zurück in mein Zimmer, während meine Eltern sich noch immer angeregt unterhalten und zusammenrechnen, was hier im Haus welchen Wert hat.
 

Sofort nehme ich mein Smartphone in die Hand und google wie verrückt: Schulden, Geld dazuverdienen, Gewinnspiel, Heiratsvermittlung. Häh? Wie passt das denn zusammen? Ich klicke ein paar Seiten zurück und lande in einem Forum, wo verschiedene Menschen davon berichten, wie sie durch eine arrangierte Hochzeit reich geworden sind. Arrangierte Hochzeiten sind in Japan gar nicht so selten. Gerade bei den höheren Schichten ist es sogar oft üblich, das hat mir mein Vater früher immer erzählt. So bleiben sie unter ihresgleichen, sozusagen. Das werde ich machen. Ich werde einen Mann heiraten, den ich zwar nicht kenne, aber vermögen ist und somit kann ich meinem Vater helfen und ihn vom Gefängnis bewahren. Verdammt, meine Eltern würde ihre Seele verkaufen, um mir so etwas zu ersparen, dann kann ich ja wohl einen reichen Mann heiraten, was ist schon dabei?
 

Ohne lange darüber nachzudenken, laufe ich die Treppen runter und bleibe völlig außer Atem vor ihnen stehen.

„Mimi, ist etwas passiert?“, fragt meine Mutter gleich besorgt nach. Ich schüttle jedoch nur meinen Kopf.

„Nein, das ist es nicht. Ich habe euer Gespräch belauscht. Es war keine Absicht, wirklich, aber ich bin froh, dass ich es weiß und ich habe eine Idee wie ich euch helfen kann.“

Meine Eltern sahen sich argwöhnisch an und schließlich ist es mein Vater, der mich neugierig anblickt.

"Und wie sieht dein Vorschlag aus?“

„Ich werde heiraten!“, strahle ich und bin begeistert von meinem eigenen Vorschlag. Meine Eltern können dem Ganzen jedoch nicht viel abgewinnen und beglückwünschen mich daher weniger euphorisch.

„Nein, ich habe keinen Freund“, erkläre ich weiter.

„Und wen heiratest du dann?“, versucht meine Mutter mich zu verstehen.

„Ich habe keine Ahnung“. Ich wedel wild mit meinen Händen, weil meine Eltern aufgehört haben mir zuzuhören. „Ich dachte an eine arrangierte Hochzeit. In Japan, mit einer Familie, die viel Geld hat.“

Meine Mutter beginnt sofort zu lachen und winkt es als Scherz ab.

„Oh Mimi, dass du es noch schaffst, uns in so einer Situation zum Lachen zu bringen, ist wirklich goldig.“

„Das ist kein Scherz, ich meine das vollkommen ernst.“

„Mimi!“

„Mama“

„Du bist doch verrückt!“

„Ja ich weiß, aber warum nicht? Ich glaube sowieso nicht an die Liebe. Zumindest nicht an Monogamie oder diesen Together Forever Quatsch, aber ich glaube das dass funktionieren kann. Ich meine, ich habe doch nichts zu verlieren.“

„Ich halte das für keine gute Idee. Wer weiß in was für eine Familie du nachher reinkommst und überhaupt, was heißt du glaubst nicht an die Liebe? Du bist viel zu jung, um so etwas zu sagen. Du hast den richtigen Mann nur noch nicht gefunden. Warst du doch immer so verliebt in deine Partner und dann so förmlich? Das passt nicht zu dir.“

„Ja und was hat mir das gebracht? Ein kaputtes Herz nach dem anderen. Mein Herz auf einem Silbertablett serviert, damit man dann so richtig mit einem scharfen Messer dahin herumstechen kann.“

„Das tut mir leid, Mimi. Trotzdem wirst du das nicht machen.“ Meine Mutter sieht meinen Vater an, der die ganze Zeit über geschwiegen hat. „Jetzt sag doch auch mal was dazu“, drängt meine Mutter.

„Na ja, ich kenne da eine Familie ...“

„Stopp! Keisuke, das kann nicht dein Ernst sein!“

„Warte, ich will hören, was Vater zu sagen hat.“

Fassungslos schüttelt meine Mutter ihren Kopf, geht Richtung Kühlschrank und holt eine Flasche Wein heraus. Also da bin ich dabei.

„Davon kannst du mir auch direkt was einschenken. Papa, ich höre.“ Ich setze mich ebenfalls auf einen der weißen Lederstühle neben meine Mutter und sehe meinen Vater direkt an.

„Ich kenne tatsächlich eine Familie, die wirklich sehr wohlhabend ist und deren jüngster Sohn noch nicht verheiratet oder liiert ist und ich weiß, dass die Eltern damit ein Problem haben.“

„Erzähl mir mehr“, fordere ich meinen Vater auf, während ich an dem Wein nippe, den meine Mutter mir eingeschenkt hat.

„Familie Kido.“

„Ach, du spinnst doch, Keisuke.“

„Aber die Familie Kido ist wirklich sehr reizend und die Söhne waren immer nett und hilfsbereit.“

„Schon aber ...“

„Also für mich klingt das gut“, versuche ich mich wieder in das Gespräch meiner Eltern einzuklinken. "Und was ist das für eine Familie?“

„Eine Arztfamilie“, antwortet mein Vater und ich grinse übers ganze Gesicht.

„Ein Arzt?“

„Das ist nicht irgendeine Arztfamilie, das ist DIE Arztfamilie schlechthin. Sie besitzen mehrere Krankenhäuser in Japan und wahrscheinlich gehört jedem der Söhne schon eins“, führt meine Mutter den Satz meines Vaters zu Ende.

„Also so reich? Aber Mama, es könnte mich wirklich schlechter treffen.“ Das war mein Ernst. Meine Ex-Freunde waren Musiker, Sportler, Soldaten und sie hatten eins gemeinsam: Sie waren alle Lügner.

„Mimi, die Familie ist wirklich sehr Traditionsbewusst, das ist Familie Kido das Wichtigste.“

„Ja und?“

„Mimi, du beherrschst noch nicht mal mehr die japanische Schrift.“

„Das kann man doch alles lernen.“ Ich verstehe das Problem nicht. Ich bin schließlich Japanerin, also steckt das ja auch irgendwo in mir drin. Vielleicht ganz tief und man musste ein wenig länger auf die Suche gehen.

„Mimi, du bist so westlich, wie es überhaupt nur geht. Du bist Amerikanerin im Körper einer Japanerin“, schießt es ehrlich aus meiner Mutter.

„Aua.“ Auf dieses Geständnis muss ich erst mal mein Weinglas leeren. Wie kann sie nur so etwas sagen? Ja gut, wir wohnen schon seit fünfzehn Jahren in Amerika und ich war damals zehn Jahre alt als ich Japan verlassen habe, aber was heißt das schon? „Ich mache es trotzdem. Ich kann das. Ich bin Japanerin und ich werde es euch beweisen. Ich werde einen Japaner heiraten und eine ganz traditionelle japanische Frau sein.“ Ich bin fest entschlossen. Keine Ahnung, ob der Wein aus mir spricht oder wirklich ich, aber es ist tatsächlich die beste Option, die ich habe. Irgendwie traurig.
 

„So entschlossen, wie du warst, als du nach L.A gegangen bist?“, bohrt meine Mutter nach und trifft einen wirklich wunden Punkt.

„Das war jetzt nicht nötig. Ich weiß selbst, dass ich nicht das erreicht habe, was ich mir in L.A vorgenommen habe. Ich hatte große Träume und bin gescheitert. So etwas passiert, ich bin jung, aber ihr seid meine Familie, ihr seid meine Eltern. Ihr habt mir beigebracht, dass Familie immer das Wichtigste ist und nachdem ihr mein ganzes Leben lang für mich da wart, finde ich, kann ich euch jetzt mal was zurückgeben.“ Wow, das ist nicht der Wein, der aus mir spricht. Ich will das wirklich machen. Ein netter, reicher Japaner? Ein Arzt? Oh man, vielleicht ist das voll der Mc Dreamy, nur in schüchtern. Mega.

„Und trotzdem ...“, zögert meine Mutter.

„Aber wenn es wirklich ihr Wunsch ist?“, hakt mein Vater eindringlich nach. „Wir haben uns doch eigentlich immer für unsere Tochter gewünscht, dass sie mehr über ihre Wurzeln lernt.“

„Ja schon ...“

„Ach komm schon, Mom.“

„Ich will nicht, dass du verletzt wirst.“

„Ach, Mama, ich bitte dich. Der Zug ist schon längst abgefahren. Lasst mich das für euch, nein für uns machen. Es war meine Idee und wenn ihr die Familie sogar kennt, hab ich auch kein schlechtes Gefühl dabei.“ Das habe ich wirklich nicht. Ich habe sogar das brennende Gefühl in mir, dass genau das mein Weg sein soll.

„Lasst mich zurück“, lächle ich meine Mutter an und halte ihr mein Glas entgegen. „Gern nachfüllen.“

Dieser Bitte kommt meine Mutter zwar nach, aber beim Rest zögert sie noch.

„Wir wissen ja gar nicht, ob die Familie einwilligt.“

„Willst du mich beleidigen? Der Typ kann sich glücklich schätzen, eine so hübsche Frau wie mich an seiner Seite zu wissen.“ Selbstbewusst bin ich schon immer. Ich bin Stylistin, gut auszusehen war und ist mir wichtig.

„Ich habe noch immer die Telefonnummer vom Prof. Kido und könnte ja mal vorsichtig nachfragen“, schlägt mein Vater neutral vor.

„Ja.“

Mein Vater und ich sehen beide bettelnd meine Mutter an und schließlich willigt sie ein.

„Na rufe schon an ...“

Ich klatsche begeistert in die Hände und sehe gespannt zu meinem Vater.

Er erwidert meinen Blick, ehe er die Nummer wählt.

„Dass du das machst, Mimi“, murmelt er und sieht so stolz aus, wie ich es noch nie gesehen habe.
 

Tatsächlich geht an der anderen Leitung jemand ans Telefon, doch ich höre nicht, was die andere Person spricht. Ein paar Mal verändert sich der Gesichtsausdruck meines Vaters, mal ernst und sehr konzentriert, mal entspannt und optimistisch, schließlich legt er wieder auf und sieht mich eindringlich an.

„Und? Was ist denn jetzt? Spann mich nicht so auf die Folter.“

„Du brauchst deine Koffer nicht groß auszupacken.“

„Soll das heißen?“

„Sie wollen dich zumindest kennenlernen. Sie hätten gerne noch ein Foto von dir und wenn sie glauben, du würdest zu ihrem Sohn passen, dann laden sie dich ein.“

Ich bin platt, ich hätte nicht wirklich gedacht, dass das so einfach und reibungslos funktioniert. Zumal es sicher auch zig Agenturen gibt, aber scheinbar vertraut dieser Dr. Kido meinem Vater, wodurch ich ihn noch weniger verärgern will. „Ich habe bestimmt ein Foto, welches sie umhaut.“ Ich will gerade lossprinten, als meine Eltern mich zurückhalten.

„Du kannst nicht irgendein Foto dahin schicken!“, ermahnt mich mein Vater sogleich.

„Dein Vater hat recht. Du brauchst ein Foto, auf welchem du am besten eine Bluse trägst, hochgeschlossen, mit Kragen und deine Haare am besten zu einem Dutt!“

Ich reiße die Augen weit auf. Das klingt nach dem langweiligsten Outfit der Welt. Ich besitze noch nicht mal annähernd solche Klamotten.

„Euch ist schon klar, dass ich so etwas nicht besitze? Welche Frau Mitte Zwanzig trägt auch so etwas?“ Ernsthaft? Wer?

„Dann gehen wir wohl morgen erst einmal shoppen, denn mit deinem aktuellen Dress kannst du da unmöglich aufkreuzen.“

Ich sehe an mir herunter, ich trage doch ein ganz normales Minikleid mit Ausschnitt. Ich meine, in L.A. waren es heute Morgen bereits 26 Grad, was soll ich da bitte sonst anziehen? Eine Skihose?

„Na gut, was Frau nicht alles machen muss“, nuschle ich.

„Wie gesagt, du musst das nicht machen. Du bist ohnehin nicht so gut, wenn es darum geht, dich zu verstellen.“

Doch! Ich werde das schaffen. Ich schüttle den Kopf.

„Nein, ich werde es machen. Es geht ja erst einmal nur um den ersten Eindruck. Ich bekomme das hin und vielleicht mögen sie mich nachher auch einfach so, wie ich bin.“

„Ich wünsche es dir von ganzem Herzen“, lächelt meine Mutter mir aufmunternd zu und drückt meine Hand.

„In welcher Stadt lebt denn mein Zukünftiger?“ Oh Gott, wie das klingt. Total befremdlich.

„In Tokyo“, antwortet mein Vater.

Ich bin direkt begeistert, dort bin ich geboren und habe die ersten Jahre gelebt. Ich war lange nicht mehr dort gewesen und freue mich, meine alte Heimat wiederzusehen, ob ich mich noch an irgendetwas erinnern kann? Ich werde die Familie Kido so etwas von umhauen und meinen Zukünftigen erst recht.

„Ähm und wie heißt er eigentlich?“

„Joe, Joe Kido.“

Joe also? Das klingt doch solide und es ist auf jeden Fall ein Name, den ich mir direkt merken kann. Bin ich jetzt eigentlich schon verlobt? Total bekloppt. Wer kann auch damit rechnen, dass ich mich am Ende des heutigen Tages noch verloben würde? Morgen würde ich shoppen gehen und sie würden ganz sicher einwilligen. Schließlich kann ich mich als Visagistin und Stylistin in einfach jede Frau verwandeln. Ich bin optimistisch und spüre, dass dieses Abenteuer nur auf mich gewartet hat.

Tai
 

„Warum sitzen wir noch mal in einer Limousine?“

Ich habe diesen Luxus noch nie verstanden. Dieses pompöse Getue. Aber Joes Eltern waren schon immer etwas … na ja, extravagant was das angeht.

„Ein Taxi hätte es auch getan. Oder die U-Bahn.“

Ich höre wie Joe neben mir belustigt schnauft. „Lieber würde mein Vater sich die rechte Hand abschneiden, als dass sein jüngster Sohn in eine U-Bahn steigen müsste.“

Ich verdrehe genervt die Augen.

„Tu das besser nicht, wenn wir gleich bei meinem Vater sind, Tai“, sagt Joe und streicht sich mit den Händen die Falten aus dem Sakkostoff.

Ich grinse. „Als würde ich es mir jemals erlauben, gegenüber deinem Alten mit den Augen zu rollen.“

„Und nenn ihn nicht Alten“, grinst Joe zwar zurück, aber ich spüre seine Anspannung. Deshalb nicke ich nur. Genug der dummen Witze. Wenn Joes Vater seinen Sohn so kurzfristig und in einer Limousine zu sich zitiert, geht es um etwas Ernstes. Um was, wissen wir nicht, nicht mal Joe. Und ich, als sein Assistent, habe auch nicht mehr aus der Assistentin seines alten Herrn rausbekommen. So läuft das übrigens heutzutage unter den Reichen – sie reden nicht mehr persönlich miteinander, sondern lassen sich alles über ihre Assistenten ausrichten. Jetzt will er Joe persönlich sehen und ich kann absolut nicht einschätzen, ob das gut oder schlecht ist.

„Meinst du, er geht in Rente und will, dass du alle seine Krankenhäuser übernimmst?“, überlege ich laut, aber Joe schüttelt sofort den Kopf.

„Auf keinen Fall. Ich bin noch nicht so lange Arzt. Diese riesige Verantwortung würde er mir jetzt noch nicht übertragen. Außerdem ist da noch mein großer Bruder, der vor mir ein Anrecht auf den Posten hätte.“

Stimmt. Da war ja noch was – oder besser gesagt – jemand. Joes älterer Bruder Jim, ebenfalls Arzt und unterm Pantoffel des alten Kido, der ganze 5 Krankenhäuser in Tokyo sein eigen nennen kann. Um es anders auszudrücken, die halbe Stadt gehört ihm. Wer so viel Macht und Einfluss hat, würde seinen Chefsessel niemals seinem jüngsten Sohn übergeben, der erst seit zwei Jahren mit seinem Medizin Studium fertig ist. Da gehört schon eine ganze Ecke mehr dazu. Außerdem … ich lege den Kopf schief … so alt ist Kido auch noch gar nicht.

„Wie auch immer“, sage ich geschäftig und blättere nebenbei in meinem Notizbuch. „Ich habe für heute alle deine Termine abgesagt und auf nächste Woche verschoben, wie er es wollte.“ Als hätte mich das nicht nur läppische zehntausend Anrufe gekostet. Aber hey, kein Ding. Mach ich doch gerne.

Inzwischen bin ich seit über einem Jahr Joes persönlicher Assistent und dieser Job kostet mich teilweise mehr Kraft, als mein Hauptjob. Eigentlich bin ich Stuntman, was mega aufregend ist und Spaß macht. Es ist mein absoluter Traumjob! Dagegen ist so ein schnöder Assistenten Job echt langweilig und eintönig. Aber Joe ist ein alter Freund und wir kennen uns schon lange. Als er einen Assistenten gesucht hat und mich fragte, war ich erst skeptisch, ob ich der Richtige dafür bin. Aber die Bezahlung ist einfach überdurchschnittlich gut und so kann ich mir endlich die Weltreise leisten, auf die ich schon so lange spare und die ich mir fürs kommende Jahr vorgenommen habe.

Schließlich, nach nur einer Stunde Autofahrt, kommen wir auf dem Anwesen der Kido‘s an. Eine prunkvolle Villa am Rande der Stadt, mit so einem großen Grundstück samt Zaun, dass es das lästige Fußvolk erfolgreich vom Haupthaus fernhält. Man könnte denken, hier lebt irgendein Star. Allerdings war es mir nie unangenehm hier zu sein, auch als Kind nicht, obwohl ich aus deutlich bescheideneren Verhältnissen komme. Ich habe mich bei den Kido‘s immer wohl gefühlt. Was nicht zuletzt an Joes Mutter liegt, die eine Seele von Frau ist. Und die geradewegs auf uns zukommt, um uns persönlich zu empfangen, als der Fahrer uns die Tür öffnet.

„Joe, mein Liebling“, ruft sie und breitet die Arme aus, um ihren Jüngsten in eine innige Umarmung zu ziehen. Danach bin ich dran. „Tai, wie schön, dass du mitgekommen bist.“ Sie umarmt mich so herzlich, als wäre ich ebenfalls einer ihrer Söhne.

„Würde ich mir niemals entgehen lassen, Frau Kido“, entgegne ich lächelnd. Sie sieht irgendwie aufgeregt aus und ihr breites Lächeln reicht bis zu ihren Ohren.

Okaaay. Hier ist definitiv was im Busch.

„Ist Jim auch da?“, fragt Joe, der leider immer noch etwas angespannt wirkt. Wäre ich allerdings auch an seiner Stelle. „Ich habe sein Auto in der Einfahrt gesehen.“

Frau Kido nickt und wir folgen ihr die große steinerne Treppe zum Haupteingang hinauf.

„Natürlich ist er gekommen. So ein Ereignis würde er sich niemals entgehen lassen. Außerdem hat dein Vater darauf bestanden.“

„Entschuldige Mutter, aber worum geht es bei unserem Besuch eigentlich? Die Einladung kam ziemlich plötzlich.“

Im Gehen wirft sie einen irritierten Blick über die Schulter. „Er hat es dir noch nicht gesagt?“

„Was gesagt?“

Sie grinst verheißungsvoll. „Gut, dann soll es wohl eine Überraschung werden. Meine Lippen sind versiegelt.“

Ein Bediensteter hält uns die Tür auf und wir treten ein. Im Vorbeigehen klopfe ich ihm hart auf die Schulter. Ihm wäre fast der Stock aus dem Arsch gefallen.

„Danke James.“

„Ich heiße Ansgar, Mr. Yagami“, räuspert er sich.

„Kann ich mir nicht merken. Bis bald James.“ Gott, diese ganzen steifen Pinguine hier. Das Haus ist voll davon.

„Hör auf das Personal zu ärgern, Tai“, ermahnt mich Joes Mutter und verkneift sich ein Grinsen.

„Entschuldigen Sie“, antworte ich höflich, doch sie winkt nur ab.

„Ach, schon gut. Ich finde es schön, dass du auch da bist. Endlich kommt mal etwas Stimmung ins Haus.“

Ich grinse.

„Tai ist doch schon seit einem Jahr mein Assistent, Mutter. Hast du das etwa vergessen?“, fragt Joe, während wir ihr brav durch die große Halle in den Salon folgen, wo anscheinend bereits alle auf uns warten.

„Stimmt, das hatte ich tatsächlich“, gibt sie zu. „Ihr seid jetzt schon so lang befreundet, dass es einfach ganz normal für mich ist, Tai hier zu sehen. So, da wären wir.“

Wir betreten den Salon und sofort schnürt sich meine Kehle zu.

Joes Vater, Herr Kido, sitzt in einem viel zu großen, pompösen Sessel, der mich schon als Kind damals immer an einen Thron erinnert hat. Sein großer Bruder Jim und seine Frau Kaori stehen zu seiner rechten. Jim sieht Joe sehr ähnlich und Kaori ist eine japanische Schönheit, aber heute wirken all ihre Gesichter irgendwie wie eingefroren.

Joe bewahrt Fassung. Ganz der wohlerzogene Sohn begrüßt er zuerst seinen Vater gefolgt von einer tiefen Verbeugung, dann seine Schwägerin und seinen Bruder, ehe er sich mit seiner Mutter auf einen der Sofas niederlässt.

Ich hingegen stehe noch etwas verkrampft im Türrahmen und traue mich nicht so recht rein.

Was gucken die denn alle so streng? Ist jemand gestorben?

Ich versuche die Stimmung durch Witz und Charme aufzulockern. Erst verbeuge ich mich jedoch höflich, weil sich das so gehört, dann sage ich: „Hallo Herr Kido, was geht?“

Jim reißt die Augen auf, während Joe sich räupert – keine Ahnung, ob das eine Mahnung an mich war oder ob er sich das Lachen verkneifen muss.

Herr Kido verzieht keine Miene. „Wer hat diesen Bengel eingeladen?“, fragt er stattdessen.

„Ich habe mich selbst eingeladen, als ich mit Ihrer Assistentin telefoniert habe“, sage ich und setze mich neben Joe. Dessen Vater verdreht die Augen, während ich grinse.

„Ach ja, du bist ja nun der Assistent meines Sohnes“, stellt er nüchtern fest.

„Seit einem Jahr“, ergänze ich.

„Joe“, sagt er und richtet seinen Blick nun auf seinen jüngsten Sohn. „Hättest du dir nicht jemand qualifizierteren für den Job aussuchen können?“

„Ich versichere dir, Tai ist durchaus qualifiziert und macht seine Arbeit gut“, antwortet Joe selbstbewusst und ich bin ein wenig stolz.

Herr Kido rollt mit den Augen – offensichtlich darf nur er das – gibt sich dann jedoch geschlagen. Das war schon immer so zwischen uns. Ist so was wie `ne Hassliebe. Im Grunde seines Herzens mag er mich. Denke ich jedenfalls.

Eine Bedienstete bringt frischen, duftenden Tee herein und stellt ihn vor uns auf dem Tisch ab. Ich beuge mich nach vorne und nehme die winzige Tasse mit dem noch winzigeren Henkel in die Hand und spreize beim Trinken den kleinen Finger ab. Das Ding kommt mir vor wie aus einem Puppenhaus.

„Warum hast du mich herbestellt, Vater?“, verliert Joe jedoch keine Zeit und kommt direkt zur Sache. Seit wir in diese Limousine gestiegen sind, ist er super angespannt. Auch ich möchte endlich wissen, was hier gespielt wird, vor allem, weil das Ganze hier irgendwie einen offiziellen Charakter hat.

Herr Kido räuspert sich und weiß offensichtlich nicht so richtig, wie er anfangen soll. Ungewöhnlich für den Alten.

„Jetzt spann ihn doch nicht noch länger auf die Folter“, wirft Frau Kido ein und wirkt so aufgeregt wie ein kleines Kind, dass gleich von seinem Platz aufspringt, weil es nicht mehr stillsitzen kann.

„Gut, du hast recht“, nickt Herr Kido und sieht Joe nun direkt an.

„Ich habe eine Ehefrau für dich gefunden.“

Ich spucke meinen Tee zurück in die Tasse und huste heftig. Alle sehen mich an.

„Sorry. Nur verschluckt“, stammle ich plötzlich ganz kleinlaut, während ich mich zurücklehne und am liebsten in diesen bequemen Kissen versinken würde.

„Moment, Vater“, sagt Joe kurz darauf und sieht seinen Vater irritiert an. „Eine Ehefrau? Habe ich das richtig verstanden?“

„Das hast du.“

„Ist das nicht wundervoll?“ Seine Mutter strahlt übers ganze Gesicht. Joe kann diese Freude offensichtlich nicht so ganz teilen.

„Joe“, ergreift nun Jim das Wort. „Das ist eine große Ehre. Dein Vater hat eine Frau für dich auserwählt. Freust du dich denn gar nicht?“ Vorwurf schwingt in seiner Stimme mit. Ich sehe zu ihm und Kaori und natürlich war auch ihre Ehe eine arrangierte Vereinbarung zwischen zwei einflussreichen Familien. Hierbei geht es nicht um Liebe. Das tut es nie. In der Familie Kido, die sehr stark an alten japanischen Traditionen festhält, etwas völlig Normales.

Ich schlucke schwer und sehe zu meinem Freund rüber, der gefasst neben mir sitzt. Ich will gerade wirklich nicht in seiner Haut stecken.

„Wer ist es?“

„Die Tochter eines alten Freundes. Sie wohnt momentan noch in New York, aber schon nächste Woche kommt sie mit dem Flieger hierher nach Japan, um dich kennenzulernen.“

Um ihn kennenzulernen? Das klingt ja fast, als hätte Joe eine Option. Aber wir wissen beide, dass er das nicht hat. Gott, der Arme.

„Du wirst dich freuen, Joe“, sagt seine Mutter äußerst begeistert und legt ihrem Sohn beruhigend eine Hand aufs Bein. „Ich habe gehört, sie soll sehr hübsch sein. Und sie ist ungefähr in deinem Alter. Ist das nicht wundervoll?“

Was erwartet sie? Luftsprünge? Ich glaube, darauf kann sie lange warten.

Schweigen legt sich über uns alle und wir starren einander an. Bis Joe schließlich das Wort an seinen Vater richtet.

„Vater, habt Ihr euch das gut überlegt? Mich mit einer wildfremden Frau zu vermählen, obwohl wir gar nicht wissen, ob sie in unsere Familie passt?“

„Wenn sie nicht passt, wird sie eben passend gemacht“, ordnet Herr Kido an und wirkt nun langsam etwas ungeduldig. „Mir scheint es, als würdest du dich gar nicht freuen, Joe. Wie lange willst du noch unverheiratet bleiben? Du bist 28, Herr Gott noch mal. In deinem Alter war ich schon lange verheiratet. Mein Vater hat meine Braut ausgesucht, so wie ich für Jim eine Frau auserwählt habe.“

„Und sieh dir Kaori an“, sagt Frau Kido und spricht über Kaori, als wäre sie gar nicht anwesend. „Sie ist perfekt! Oder sieh dir mich und deinen Vater an. Wir haben nie bereut, dass es so gekommen ist.“

Niederschmetternde Argumente.

„Aber … was, wenn ich sie gar nicht will? Oder sie mich nicht will?“ Joe klingt beinahe ein wenig verzweifelt und ich kann ihn sehr gut verstehen.

„Schluss jetzt!“, ruft sein Vater und schlägt mit der Faust auf seine Armlehne. „Du hast sie zu wollen. Und ihr Vater hat bereits in die Heirat eingewilligt. Ich hörte sogar, dass es ihre Idee war. So lob ich mir das. Eine Tochter, die selbst die Initiative ergreift und tut, was sie für ihre Familie tun muss. Genauso jemanden brauchst du an deiner Seite, Joe.“ Er erhebt sich, ohne seinen heißen Tee auch nur angerührt zu haben und ich meine seine Halsschlagader unter dem Hemdkragen pulsieren zu sehen. „Du heiratest Mimi Tachikawa und das ist mein letztes Wort.“

Nun erhebt sich Joe ebenfalls von seinem Platz und vollführt eine tiefe Verbeugung.

„Natürlich, ganz wie ihr wünscht, Vater.“

Herr Kido verlässt den Raum und seine Mutter folgt ihm, während ich ebenfalls mit etwas wackeligen Beinen aufstehe. „Eure Hoheit, hast du noch vergessen“, flüstere ich, doch Joe zeigt keine Regung. Stattdessen nickt er seinem Bruder und dessen Frau nur kurz zu und verlässt dann ebenfalls den Salon. Ich gehe ihm hinterher.

„Hey Joe, jetzt warte doch mal“, fordere ich ihn auf, aber er bleibt erst stehen, als Kaori seinen Namen ruft. Wir drehen uns beide um und sie kommt schnellen Schrittes auf uns zu gelaufen.

Ohne Umschweife bleibt sie vor uns stehen und nimmt Joes Hände in ihre, um sie fest zu drücken.

„Ich weiß, wie du dich fühlst“, sagt sie mitfühlend.

Und ob sie das weiß. Das wissen wir beide, Kaori und ich.

Ihr langes, schwarzes Haar fällt ihr über die Schulter und umrahmt dabei ihr makelloses Gesicht. „Aber so schlimm ist es nicht, wirklich. Du kannst das, du musst es nur wollen.“

Fast hätte ich gelacht.

„So wie du es damals unbedingt wolltest?“, rutscht es mir raus und Kaori sieht mich vorwurfsvoll an, als hätte ich eben ihr … nein, unser Geheimnis ausgeplaudert.

Ich sehe, wie Joe die Zähne zusammenpresst.

„Sag Kaori, liebst du meinen Bruder?“

„Was?“ Völlig perplex sieht sie zu ihm auf.

„Und hast du ihn geliebt, als ihr geheiratet habt?“

„Nun, ich … du weißt, das ist kompliziert. Es geht nicht immer um Liebe, das weißt du selbst am besten. Jim ist ein guter Mann. Und das kannst du auch sein, für deine zukünftige Frau. Ihr müsst es nur beide wollen. Mehr gehört am Anfang nicht dazu. Der Rest ergibt sich von selbst.“

Wirklich? So einfach ist es dir damals gefallen, Kaori?

Joe sieht sie an, hört ihre Worte und wirkt wie … versteinert.

Schließlich schenkt er ihr ein schwaches Lächeln. „Ja, du hast recht. Danke für deine Worte.“

Kaori nickt zuversichtlich und lässt seine Hände los.

Als wir in die Limousine steigen und die Türen sich schließen, platzt es aus mir heraus.

„Joe! Das kann unmöglich dein Ernst sein! Du willst eine Frau heiraten, die du nicht kennst?“

Doch Joe starrt nur aus dem Fenster, während uns der Fahrer vom Anwesen fährt.

„Du hast ihn gehört. Ab jetzt bin ich offiziell verlobt.“

„Mit einer Frau, die du noch nie in deinem Leben gesehen hast.“ Wie kann er das mit sich machen lassen? „Hör mal, ich weiß deine Familie ist sehr traditionell. Aber das geht etwas zu weit, findest du nicht? Wir leben nicht im Mittelalter. Und was soll das überhaupt heißen, das war ihre Idee? Ist sie verrückt?“

„Tai“, sagt Joe nun mit etwas mehr Nachdruck und sieht mich durchdringend an. „Du verstehst das nicht. In unseren Kreisen widerspricht man seinem Vater nicht. Egal, was er sagt. Ich habe mich bereits zu weit aus dem Fenster gelehnt. Er ist nicht umzustimmen. Er ist das Familienoberhaupt und was er sagt, ist Gesetz.“

Ich schlucke schwer und gebe es auf, als Joe den Blick wieder gedankenverloren aus dem Fenster richtet.

Er trägt es mit Fassung. Weil ihm nichts anderes übrigbleibt. Aber wie soll er eine Frau lieben, die er vermutlich niemals für sich selbst auserwählt hätte?

Aber wie ich schon sagte … hierbei geht es nicht um Liebe.

Mimi
 

Rücken! Oh Gott, ich habe Rücken!

Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich Langstreckenflüge hasse? Vor allem, wenn man stundenlang zwischen zwei schnarchenden, dicken, alten Männern eingequetscht ist, die einem während des Fluges ständig ihre Tageszeitung um die Ohren hauen. Oder in den Ausschnitt glotzen.

Ich bin so froh, dass das vorbei ist. In der Business Class wäre mir das nicht passiert. Aber da alle Konten meines Vaters eingefroren sind und somit auch meine Kreditkarte, musste ich mein letztes Geld zusammenkratzen und Economy-Class buchen. Ein Erlebnis, was ich nicht so schnell wiederholen möchte.

Ächzend drücke ich mich aus meinem Sitz hoch und höre meine Wirbel gefährlich knacken. Ich fühle mich wie eine alte Frau.

Aber wenigstens sehe ich heiß aus!

Spätestens nachdem meine Mutter mit mir shoppen war und meine Garderobe für den Besuch bei den Kidos zusammengestellt hat, war mir klar, dass ich meine alten Kleider vermutlich alle verbrennen kann. So etwas wie heute werde ich nie wieder tragen. Ab heute tausche ich Minirock gegen Rollkragenpullover. Aber zumindest ein letztes Mal wollte ich in meiner Haut stecken und habe mir mein Lieblingsoutfit aus L.A. angezogen: ein bauchfreies Top, das meinen Busen mega gut zur Geltung bringt und einen Jeans Minirock. Das Bauchnabelpiercing, was ich mir dort habe stechen lassen, rundet das ganze ab. Natürlich wird das nie jemand von den Kidos zu Gesicht bekommen und ich bin froh, dass ich nicht irgendwelche Tattoos habe.

Ich trotte der Menschenmenge hinterher, die nach und nach das Flugzeug verlässt und spüre bereits wie sich Aufregung in mir breit macht. Heute Nachmittag treffe ich meinen Verlobten.

Wie verrückt ist das denn? Ein Blind Date mit einem Mann, den ich heiraten werde – das hoffe ich zumindest.

Für den Übergang habe ich mir ein Hotelzimmer gebucht, ebenfalls von meinem letzten Geld. Längerfristig gesehen hoffe ich natürlich, dass ich woanders unterkommen kann. Da wird mir schon noch was einfallen. Erst einmal muss ich einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Selbstverständlich werden später auch seine Eltern anwesend sein, da muss ich alles geben, was ich habe. Meine Mutter hat mir vorher noch ein wenig berichtet, wie es in Japan traditionell gesehen in solchen Familien so zugeht. Aber um ehrlich zu sein, mache ich mir da wenig Gedanken. Wie schwer kann das schon sein? Ich setze auf Charme und gutes Aussehen – das hat schließlich noch jeden überzeugt.
 

Es dauert noch gut eine Ewigkeit, bis ich meine Koffer habe. Darüber, wie ich zum Hotel komme, habe ich mir auch noch keine Gedanken gemacht, aber das muss ich auch nicht mehr, wie ich soeben feststelle. Denn als ich den Ausgang des Flughafens durchquere, sehe ich bereits meinen Namen, dick und fett auf einem Schild stehen. Meine Augen wandern sofort zu dem Typen, der es festhält und man … vor mir steht niemand geringerer als MC Dreamy – der Arzt meiner Träume – mein Verlobter. Ja, er muss es einfach sein! Und er sieht umwerfend aus!

Ich hatte noch kein Bild von Joe gesehen, aber er übertrifft alle meine Erwartungen. Und er sieht gar nicht wie ein spießiger, langweiliger Arzt aus. Wer hätte das gedacht? Er ist groß und muskulös und hat breite Schultern und braune, wilde Haare, in die ich sofort meine Finger vergraben möchte. Und oh mein Gott, diese Augen … ich hätte es wirklich schlechter treffen können, Mutter, ich hab’s dir doch gesagt.

Als er mich erblickt, nimmt er das Schild runter und kommt direkt auf mich zu. Natürlich kennt er mein Gesicht bereits von dem Foto, was ihm mein Vater zugeschickt hat. Nur das Outfit ist ein wenig anders.

Fuck!

Das Outfit!!!

Schnell schiebe ich meinen Koffer vor mich wie einen Schutzschild, aber ich glaube, es ist bereits zu spät. Nach traditionell japanisch sieht das ja nicht gerade aus.

„Bist du Mimi?“, kommt mein Verlobter direkt zur Sache und schenkt mir nicht mal ein Lächeln.

Ich schlucke schwer, weil mir dieses erste Aufeinandertreffen jetzt doch etwas unangenehm ist und nicke nur.

„Gut, dann komm.“

Ohne zu fragen packt er meinen Koffer, den ich erst gar nicht hergeben will und verfrachtet ihn in einer … scheiße! Ist das eine Limousine?

Kurz klappt mir ein wenig der Mund auf, obwohl das natürlich nicht das erste Mal ist, dass ich eine sehe oder in einer fahre, meine Familie hatte bis vor kurzem schließlich auch mehr als genug Geld. Aber so vom Flughafen abgeholt zu werden ist doch etwas extravagant.

I like it!

Und man, mein MC Dreamy hat sogar super gute Manieren, denn er hält mir bereits die Tür auf und wartet darauf, dass ich einsteige.

Ich rutsche durch, er folgt mir und gibt dem Fahrer ein Zeichen, dass wir losfahren können. Etwas unbeholfen sitze ich nun tatsächlich neben meinem Verlobten und weiß gar nicht so recht, was ich sagen soll.

„Es ist nett von dir, dass du mich vom Flughafen abholst“, beginne ich nach ein paar Minuten des Schweigens.

Starr ist sein Blick nach vorne gerichtet. „Klar, kein Thema.“

„Ist schon eine Weile her, dass ich in einer Limousine gefahren bin.“

„Hmm.“

Okay. Der Gesprächigste scheint er ja nicht zu sein.

„Warum dieses Outfit? Du siehst gar nicht so aus wie auf dem Foto“, fragt er plötzlich nach einer Weile und ich sehe, wie seine Augen auf meine nackten Beine schielen. Mein Blick folgt seinem und erst jetzt fällt mir auf, dass mein eh schon kurzer Rock mir gefährlich hochgerutscht ist. Peinlich berührt ziehe ich ihn schnell ein Stück runter.

„Ähm, das ist nur, weil ... ich wollte einfach nur was Bequemes anziehen. Wenn ich gleich im Hotel bin, mache ich mich frisch und ziehe mir etwas anderes an.“ Einen Kartoffelsack vielleicht.

„Wir fahren nicht ins Hotel.“

„Wie bitte, was?“

„Ich meine damit, du wirst keine Gelegenheit haben, dich umzuziehen. Wir fahren direkt zu dem Anwesen der Kidos. Sie wollen dich so schnell wie möglich kennenlernen.“

Ich fühle mich, als hätte er mich angeschossen.

Nun wendet er endlich seinen Kopf in meine Richtung. „So sprachlos?“

Ich schlucke schwer. „N-nein. Überhaupt nicht. Ich wusste es nur nicht, sonst hätte ich mir was anderes angezogen.“

Plötzlich lacht er doch allen Ernstes auf. „Das kann ich mir vorstellen. Die Kidos stehen überhaupt nicht auf derartige Outfits.“

Ich verziehe das Gesicht. Als wüsste ich das nicht selber. Und warum nennt er sie eigentlich immer die Kidos? Warum spricht er so förmlich von seinen eigenen Eltern? Na gut, wahrscheinlich ist ihre Beziehung durchaus etwas distanzierter als die zu meinen Eltern.

„Warum hast du mich nicht informiert, dass ich gleich deine Familie kennenlernen werde, sobald ich gelandet bin? Das ist mir jetzt wirklich unangenehm“, sage ich und versuche nicht eingeschnappt zu klingen. Eine kurze Info vorab wäre durchaus sinnvoll gewesen.

„Meine Familie?“, ist jedoch alles, was er sagt.

„Ja, deine Mutter und deinen Vater. Was sollen sie denn jetzt von mir denken?“

Ein breites Grinsen legt sich auf sein hübsches Gesicht und sogleich es mich doch umhaut, würde ich nicht darauf wetten, dass es etwas Gutes zu bedeuteten hat.

„Oh, keine Sorge. Sie werden begeistert von dir sein.“

Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Meint er das ernst?

Na, wie auch immer. Da mein Outfit schon mal nicht überzeugen kann, muss ich umso mehr meinen Charme spielen lassen.

Wir fahren ziemlich lange zum Anwesen seiner Eltern und reden kaum. Joe scheint nicht der gesprächige Typ zu sein. Aber das macht mir im Moment nichts aus. Ich bin so nervös, dass ich sogar vergesse, wie müde ich eigentlich von diesem furchtbaren Flug bin.

Als die Limousine die Einfahrt durchquert und Joe mir kurz und knapp mit einem „Wir sind da“ erklärt, dass wir angekommen sind, staune ich nicht schlecht.

Meine Eltern sind selbst reich, oder waren es zumindest, und auch wir haben das Luxusleben in New York genossen. Aber das hier übertrifft bei weitem alles, was ich mir vorgestellt habe.

Wie viele Krankenhäuser besitzen sie noch mal? Fünf?

Nun, auf jeden Fall genug, um sich eine Villa leisten zu können, die einem Palast gleicht. Diese Familie könnte die Schulden meines Vaters wahrscheinlich aus der Spardose bezahlen.

Und sofort habe ich kein schlechtes Gewissen mehr. Wie praktisch.

Während ich immer noch wie gebannt aus dem Fenster starre, ist mein Verlobter schon längst ausgestiegen und hält mir die Tür auf.

„Kommst du endlich?“, fragt er ungeduldig und ich springe sofort auf.

„Natürlich.“ Ich steige aus und muss den Kopf in den Nacken legen, um das Gebäude vor mir in all seiner Pracht erblicken zu können.

„Hör auf zu gaffen.“

„Äh … wie bitte?“ Wachgerüttelt starre ich Joe an, der neben mir steht.

„Das gehört sich nicht“, setzt er nur recht unfreundlich hinzu und auch ich frage mich, wo meine guten Manieren geblieben sind. Ich bin schließlich nicht irgendein Mädchen von der Straße, die so was noch nie gesehen hat.

„Entschuldige“, entgegne ich peinlich berührt und folge ihm ins Haus.

Die Bediensteten halten uns die Tür auf und einer von Ihnen geleitet uns durch die Eingangshalle hindurch, die durch ihre wertvollen Kunstwerke und Gemälde nur so glänzt. Er bringt uns in einen menschenleeren Raum, in dem wir warten sollen. Wir setzen uns beide nebeneinander auf eine Couch und sind schon wieder allein.

Schweigen.

Ich höre die Uhr an der Wand ticken und mein Herz pocht mit jeder Sekunde die vergeht schneller. Plötzlich sind Schritte zu vernehmen, viele Schritte.

Oh man, sie kommen!

Mit einem Mal fühle ich mich wie betäubt. Meine Kehle wird staubtrocken und mir wird schlagartig bewusst, was ich hier gerade tue. Ich gerate in Panik. So sehr, dass ich nach Joes Hand greife, die neben mir liegt und sie fest drücke.

Verwundert schaut er mich an.

„Tut mir leid“, bringe ich nur krächzend heraus. „Aber könntest du vielleicht kurz meine Hand halten? Ich bin verdammt nervös.“ Die Schritte kommen immer näher.

Seine Verwunderung verwandelt sich in ein schiefes, diabolisches Grinsen.

„Klar doch. Wenn es dich nicht stört, dass ich gar nicht dein Verlobter bin?“

„WAS?“

Mein Kopf schnellt in seine Richtung, während sich meine Augen weiten. Was hat er da eben gesagt?

Er grinst immer noch. Dieser miese, kleine …

Auf der Stelle will ich ihm meine Hand entreißen, aber er hält sie weiter und drückt sie noch fester, so dass ich keine Chance habe.

„Lass los!“, fordere ich, als die Schritte näher und näher kommen.

„Warum? Gibt doch ein schönes Bild ab, wenn wir beide gleich Händchen haltend von deinem richtigen Verlobten gesehen werden.“

Ich ziehe und reiße an meiner Hand, aber dieser Mistkerl will sie einfach nicht loslassen.

Erst in allerletzter Sekunde, als sich die Türklinke nach unten drückt und sie sogleich aufschwingt, gibt er meine Hand frei. Mit einem Ruck lande ich in den Kissen, weil ich so sehr gezogen habe und schaue eine Sekunde später in die verdutzten Augen meiner Schwiegereltern.
 

Ich springe von meinem Platz auf.

„Herr Kido … äh, ich meine Dr. Kido. Frau Kido. Wie schön, Sie endlich kennenzulernen.“ Ich mache eine tiefe Verbeugung und würde am liebsten gleich in dieser Position bleiben, damit ich nicht die Enttäuschung in ihren Gesichtern sehen muss.

„Fräulein Tachikawa, wie schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben“, erhebt der Herr des Hauses nun das Wort. Er klingt nett.

Aber als ich mich wieder aufrichte und mich nun doch traue, ihn anzusehen, sehe ich bereits die Entrüstung in seinem Gesicht. Er mustert mich von oben bis unten und ich kann ihm an der Nasenspitze ansehen, dass ihm das nicht gefällt.

Verdammt. Ich hätte mich einfach in der Limousine umziehen müssen. Scheiß egal, ob dieser, wer auch immer das ist, mir dabei zugesehen hätte.

Frau Kido hingegen lächelt nur leicht verlegen. „Ich hoffe Ihr Flug war gut?“

Ich nicke eifrig. „Ich kann mich nicht beklagen.“

Lüge.

„Und Tai hat sie sicher zu uns geführt?“ Sie deutet mit einer Kopfbewegung auf den Mistkerl, der mich hergebracht hat.

Anklagend werfe ich einen Blick in seine Richtung. Tai also, hm? Was für ein schadenfroher Drecksack, er besitzt doch allen ernstes die Frechheit und grinst immer noch. Dieses Grinsen würde ich ihm am liebsten mit meiner Faust aus dem Gesicht wischen. Wie konnte er mich in dem Glauben lassen, er sei …

„Das ist unser Sohn, Joe“, höre ich Frau Kido sagen, was mich sofort von meinen Mordplänen abbringt und zurück in die Realität katapultiert – und die sieht gar nicht so schlecht aus.

Joe, mein echter Verlobter, tritt hinter seinen Eltern hervor und er ist genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe: groß, schlank, gutaussehend – wenn auch ein bisschen zu brav.

Kurz durchflutet mich Erleichterung. Er haut mich nicht von den Socken, aber er ist definitiv ansehnlich.

„Hallo Mimi, es freut mich, dich kennenzulernen“, sagt er und kommt noch einen Schritt auf mich zu, ehe er sich verbeugt.

„Äh … hallo“, stammle ich, viel zu aufgeregt, verbeuge mich aber ebenfalls. Irgendwie erscheint mir das zu wenig, er ist schließlich mein Verlobter und mein Hirn hat vermutlich eine Kurzschlussreaktion …

Ehe ich mich versehe, schnellt mein Kopf nach vorne und drückt ihm ganz New-York-like zwei Küsschen auf die Wangen – auf jede eines.

Hmm, was ist das für ein Duft? After Shave?

Völlig perplex sieht er mich an und ich hätte nicht gedacht, dass es in diesem Raum noch stiller werden kann, als es eh schon ist.

Schockiert über mich selbst und meine Distanzlosigkeit reiße ich die Augen auf und schlage mir die Hände vor den Mund. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, kribbelt meine Nase auch noch so heftig von seinem After Shave, dass ich niesen muss – laut – und wie ein Elefant.
 

Alle starren mich an.

Oh nein. Oh nein. OH NEIN.

„Ich … äh … also, ich …“

Verdammt, warum glotzen die alle so? Haben die noch nie jemanden niesen sehen?

„Ähm, entschuldigen Sie bitte. Aber hat vielleicht jemand ein Taschentuch für mich?“, frage ich frei heraus und rümpfe die Nase, da sie schon wieder kribbelt.

Keiner bewegt sich, alle sind wie versteinert. Sie schauen mich an, als hätte ich gerade vor ihren Augen einen Mord begangen. Nur Joe befreit sich irgendwann aus seinem Schockzustand und zieht ein Stofftaschentuch aus seiner Jacketttasche.

Ich verkneife es mir, geräuschvoll rein zu schnäuzen und tupfe mir stattdessen nur ganz leicht die Nase ab, wie eine echte Lady.

Kurz denke ich, damit die Situation gerettet zu haben, doch als ich das Gesicht von Dr. Kido sehe, weiß ich, dass es nicht so ist. Grimmig drein blickend setzt er sich in einen Sessel. Nun habe ich doch ein wenig Angst vor ihm.

Mit einer Handbewegung bittet er uns Platz zu nehmen. Ich setze mich so weit weg wie möglich von Tai und überlasse Joe den Platz. Was macht dieser Kerl überhaupt hier? Er gehört doch wohl nicht ernsthaft zur Familie.

„Wir sind froh, dass du es so kurzfristig einrichten konntest, deine Heimat zu verlassen“, sagt Frau Kido, während uns Bedienstete Gebäck und Tee anreichen.

„Ihre Einladung war eine große Ehre für mich“, trage ich direkt ganz dick auf und zeige mein schönstes Lächeln.

„Nun, für uns kam das alles auch etwas überraschend. Nicht wahr, Liebling?“, meint Frau Kido und sieht zu ihrem Mann, dessen Augen mich fixiert haben. Ich komme mir vor wie ein Mäuschen, dass ins Visier eines Adlers geraten ist.

„Allerdings“, nickt er zustimmend. „Wie kamen Sie auf die Idee sich mit unserem jüngsten Sohn zu vermählen?“

„Bitte, Sie können ruhig Du zu mir sagen. Ich kam auf die Idee, weil …“

Weil mein Vater in den Knast muss, wenn ich nicht reich heirate und seine Schulden begleiche. Alles andere würde meine Familie zerstören.

„… weil mein Vater stets in den höchsten Tönen von Ihnen und Ihrer Familie gesprochen hat. Er hatte es gar nicht darauf angelegt, aber er schätzt und achtet Ihre Familie wirklich sehr und da ich schon länger bereit bin, mich zu vermählen, kam ich nicht umhin, ihn zu bitten, diese Verlobung zu arrangieren.“

Wow, Mimi! Du kannst ja lügen ohne rot zu werden. Wer hätte das gedacht?

„Mich mit Ihrem Sohn zu verloben und in Ihre Familie einzuheiraten, wäre das größte Glück, dass ich mir vorstellen kann.“

Okay Mimi, fahr einen Gang zurück.

Der alte Kido sieht mich unverwandt an und ich kann nicht die Regung einer Emotion in seinem Gesicht ablesen.

„Nun, bevor das passiert, hätten wir zunächst noch einige Fragen an dich“, offenbart er mir. Wie auf Kommando zückt Frau Kido einen Stift und einen Notizblock. Wo hat sie den denn so schnell her?

War ja klar, dass sie mich ins Kreuzverhör nehmen.

„Ich bemühe mich, alle Ihre Fragen zu Ihrer Zufriedenheit zu beantworten.“

„Gut. Hast du noch Geschwister?“, beginnt Dr. Kido ohne Umschweife.

„Nein, ich bin Einzelkind.“

„Welche Schule hast du besucht?“

„Die Constance, eine Privatschule für Mädchen in New York.“

„Studiert?“

„Bei der School of Visual Arts, inzwischen arbeite ich als freiberufliche Visagistin.“

„Hmm, interessant.“

Ach wirklich? Dr. Kido rümpft die Nase und rutscht ein wenig in seinem Sessel hin und her. Ich habe die Befürchtung, dass er sich grad erst warm gemacht hat. Ich werfe einen kurzen Blick zu Joe, der brav schweigend neben Tai sitzt. Schon komisch, dass ich hergekommen bin, um ihn kennenzulernen und nun seine Eltern alle Fragen stellen, die eigentlich er stellen sollte.

„Würdest du für eine Heirat dein zu Hause in New York verlassen?“, setzt Kido nun seine Fragerunde fort. Ich nicke sofort.

„Selbstverständlich, sonst wäre ich nicht hier.“

„Du klingst ziemlich entschlossen“, stellt er nüchtern fest.

„Das bin ich.“ Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.

„Das freut mich zu hören“, sagt er zwar, aber ich sehe absolut keine Freude in seinem Gesicht und ehrlich gesagt auch sonst nichts.

„Willst du Kinder, Mimi?“, spricht Frau Kido mich nun an und schenkt mir wenigstens ein aufrichtiges Lächeln, trotzdem löst sie mit dieser Frage Unbehagen in mir aus.

„Ähm, also ich …“

„Wenn ihr Kinder bekommt, müssen wir zunächst wissen, ob ihr chronische Krankheiten in der Familie habt“, fügt Herr Kido hinzu und ich schaue wieder zu ihm.

„Gibt es Allergien?“

„Was? Nein, wieso …“

„Herzfehler? Krebserkrankungen?“

„Ähm, ich weiß nicht … ich …“

„Hattest du schon mal einen langwierigen Krankenhausaufenthalt?“

„Ich …“

„Warst du schon mal in einen Unfall verwickelt?“

„Was? Wieso sollte ich …“, aber ich komme gar nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen, da Dr. Kido weiter seine imaginäre Liste abarbeitet.

„Hast du alle Kinderkrankheiten durchgemacht? Bist du geimpft? Gibt es Epileptiker in der Familie? Haben deine Eltern …?“

„Fünf!“, platzt es einfach so aus mir heraus, weil mein Puls rast und mein Kopf qualmt.

Alle starren mich an.

„Wie bitte, Liebes?“, fragt Frau Kido verwirrt.

„Fünf! Ich möchte fünf Kinder!“, sage ich einfach, damit endlich diese Fragerei aufhört. Die Augen aller Anwesenden weiten sich, nicht zuletzt die von Joe, der mich nun erschrocken anstarrt.

Mist, war das etwa die falsche Antwort? Ich habe doch auch keine Ahnung, was sie hören wollen. Ich habe das erste gesagt, was mir eingefallen ist.

Aber alles ist besser als Dr. Kidos Anamnese-Fragebogen zu beantworten.

Frau Kido lacht kurz auf und schreibt dann kopfnickend etwas in ihr Notizbuch.

„Fünf, das ist ganz schön viel, meine Liebe.“

Ich schlucke schwer. Finde ich auch. Hoffentlich nageln sie mich nicht darauf fest.

„Dann fang schon mal an zu üben“, lacht Tai, der Idiot, plötzlich auf und schlägt Joe auf die Schulter, dessen Gesicht mit einem mal ganz blass aussieht. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. Soll er doch einfach die Klappe halten.

„Und ich habe keine chronischen Krankheiten, weder ich, noch meine Eltern“, sage ich schwer atmend an Dr. Kido gerichtet. Er nickt zwar, aber zufrieden sieht er nicht aus.

„Welche Schuhgröße hast du, Mimi?“, will Frau Kido wissen und ich sehe sie verwundert an.

„Für die Brautschuhe“, erklärt sie mir, als sie mein fragendes Gesicht sieht.

„Achso, 38 denke ich.“

„Und die Kleidergröße? Wenn ihr, sagen wir, im Spätsommer heiratet, müssen wir bald ein Brautkleid aussuchen.“

Kurz leuchten meine Augen auf, weil ich mich schon immer mal in einem echten Brautkleid sehen wollte, doch dann redet Frau Kido einfach weiter. „Das übernehme natürlich ich für dich. Du musst dich um nichts kümmern, meine Liebe. Weder um die Location, noch um die Torte. Das kannst du getrost in meine Hände legen, genauso wie das Kleid.“

„Oh … okay. Ich habe die 36.“ Ich versuche nicht all zu enttäuscht zu klingen, aber ich dachte, wenn ich schon jemanden heirate, den ich nicht liebe, kann ich mich wenigstens bei der Hochzeitsfeier so richtig austoben und meine Mädchenträume ausleben.

„Aber meine Körbchengröße wollen Sie nicht noch wissen, oder?“, lache ich auf, aber mal wieder lacht keiner mit.

Frau Kido sieht mich nur fragend an.

„Welches Körbchen?“

Innerlich Ohrfeige ich mich. Gott, diese Familie geht wohl zum Lachen in den Keller.

„Ach, schon gut“, kichere ich und selbst mir fällt auf, dass ich in ihren Augen vermutlich ein bisschen verrückt rüber kommen muss.

„Da du lange nicht mehr in Japan gelebt hast, wäre es sinnvoll noch ein paar japanische Gepflogenheiten aufzufrischen“, sagt Herr Kido und mustert mich plötzlich auffallend und ich hätte jetzt wirklich gerne einen Kartoffelsack, den ich mir überstülpen könnte.

„Ist das deine gewohnte Kleidung, Liebes?“, spricht Frau Kido das aus, was hier wohl alle seit der ersten Sekunde denken. Sie starrt auf mein Bauchnabelpiercing und legt den Kopf dabei schief, als hätte sie so was noch nie in ihrem Leben gesehen.

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen schießt und ich nur noch betreten zu Boden sehen kann.

„Also, nein. Ich hätte mich gerne noch umgezogen, aber es war leider nicht möglich, vorher noch ins Hotel zu fahren“, gestehe ich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich meinen freizügigen Look sonst rechtfertigen soll.

„Warum nicht? Ihr wart schließlich zwei Stunden zu früh hier. Genug Zeit wäre gewesen“, entgegnet Frau Kido, was mich überrascht aufsehen lässt.

Dann schiele ich zu Tai rüber, der sich auf seinem Platz prächtig zu amüsieren scheint. Dieser hinterhältige Mistkerl! Er hat mich von vorn bis hinten angelogen!

Die Blicke aller haften mal wieder auf mir und sie erwarten eine Erklärung für das hier.

„Mein Hotel ist leider abgebrannt“, schießt es mir durch den Kopf und ehe ich die Lüge überdenken kann, ist sie auch schon ausgesprochen. Erschrocken sieht mich Frau Kido an.

„Oh mein Gott, wie bitte? Das ist ja entsetzlich“, entrüstet sie sich und ich beschließe mit einzusteigen.

„Oh jaaa, das ist es wirklich. Es ist nicht das ganze Hotel abgebrannt, nur die oberen Etagen und dann hatten sie kein Zimmer mehr für mich. Es war also nicht möglich, mich vor meiner Ankunft noch umzuziehen. Und wenn Sie sich wundern, warum meine Kleidung so knapp geschnitten ist: meine Mutter ist schuld. Ich habe ihr schon so oft gesagt, sie soll die Finger von meinen Klamotten lassen. Diese Frau hat wirklich viele Talente, aber Hausarbeit gehört nicht dazu. Sie hat meine Wäsche gewaschen und die Sachen sind alle eingelaufen. Sie müssten mal meinen Koffer sehen – nur Kindergrößen, überall. Nichts passt mehr richtig. Es ist schrecklich!“

Wow. Jetzt habe ich ihnen aber ein Märchen aufgetischt, astrein!

Frau Kido sieht mich leicht irritiert an und weiß nicht so recht, was sie dazu sagen soll, so wie alle anderen auch. Doch plötzlich fängt der alte Kido an zu lachen.

Er lacht so laut, dass ich regelrecht davor erschrecke und mich frage, ob noch derselbe Mann wie eben vor mir sitzt, der mich wie ein Adler mit seinen Blicken durchbohrt hat.

Außer ihn lacht niemand, weil sie wahrscheinlich alle gemerkt haben, dass diese Geschichte unmöglich stimmen kann, aber er hört einfach nicht auf. Alle starren ihn an, als hätte er den Verstand verloren, besonders Joe, der aussieht, als würde er nicht wissen, ob er wach ist oder träumt.

„Köstlich“, lacht er und hält sich den runden Bauch. „Sehr erfrischend, ich muss schon sagen, Fräulein Tachikawa.“

Ich grinse unsicher. „Ich sagte doch, nennen Sie mich einfach Mimi.“

„In Ordnung“, sagt er und beruhigt sich allmählich wieder, ehe er sich von seinem Platz erhebt. Seine Frau und ich stehen ebenfalls auf.

„Es kommt gar nicht in Frage, dass du in einem Hotel übernachtest. Du wirst hier wohnen. So können wir dir dabei helfen, dich wieder mit den japanischen Bräuchen vertraut zu machen“, eröffnet er mir schließlich und ich schlucke schwer. Hier schlafen? Hier leben? In diesem Haus?

„Traditionen sind uns sehr wichtig, Mimi. Aber das weißt du sicher. Die Etikette muss unter allen Umständen gewahrt werden. Joe? Du hilfst ihr dabei, sich hier einzuleben und sich wie eine zukünftige japanische Ehefrau zu verhalten“, ordnet er an, woraufhin sein Sohn sofort aufspringt und sich verbeugt.

„Natürlich, Vater.“

Zweifelnd beobachte ich ihn. Gott, was für ein Schoßhündchen.

„Kaori, meine Schwiegertochter kann dir ebenfalls behilflich sein. Ihr habt 2 Monate, dann wird die Verlobungsfeier sein. Bis dahin müssen wir aus Mimi eine vorzeigbare, elegante Frau machen, das erwartet die Gesellschaft von uns. In 4 Monaten wird die Hochzeit stattfinden.“

Frau Kido klatscht plötzlich in die Hände und grinst übers ganze Gesicht, während ich wie angeschossen dastehe.

„Heißt das etwa … heißt das …?“

„Herzlichen Glückwunsch, zukünftige Schwiegertochter. Du wirst in unsere Familie einheiraten. Joe wird dein Ehemann werden und ihr werdet ein wunderschönes Paar abgeben“, schließt Herr Kido seinen Vortrag ab.

Ich kanns nicht fassen.

Ich habe es geschafft! Ich werde Joes Frau, das ist unglaublich! Gott, ich muss sofort meine Eltern anrufen.

Ich würde dem alten Herrn am liebsten um den Hals fallen, aber diesmal halte ich mich zurück und verbeuge mich stattdessen nur. Joes Eltern verlassen das Zimmer und lassen uns allein.

Kurz legt sich Stille über uns, bis Joe mit einem leisen Lachen das Schweigen bricht.

„Ich glaube, ich habe meinen Vater seit mindestens 10 Jahren nicht mehr lachen sehen. Ich wusste gar nicht, dass er das noch kann“, sagt er.

Ich zwinkere ihm zu. „Gern geschehen.“

„Ich hoffe, dein Hotel ist nicht wirklich abgebrannt.“

„Nein“, antworte ich und sehe betreten zu Boden, doch dann zeige ich mit dem Finger auf den Verräter hinter ihm. „Das ist alles seine Schuld!“

„Seine?“, fragt Joe und sieht nun ebenfalls zu Tai, der inzwischen gar nicht mehr grinst. Die Freude ist ihm anscheinend vergangen.

„Ich habe da wohl was falsch verstanden und mich in der Uhrzeit vertan, tut mir leid.“

„Du lügst doch“, unterstelle ich ihm, aber er geht gar nicht weiter drauf ein.

„Wie gesagt, mein Fehler.“

„Na, wie auch immer“, meint Joe und will das Thema anscheinend ruhen lassen. Aber ich bin immer noch wütend.

„Ich freue mich darauf, dich bald näher kennenzulernen, Mimi.“ Joe klingt aufrichtig, was es mir leichter macht, ihm ein ehrliches Lächeln zu schenken. „Leb dich erst mal in Ruhe ein. Ich werde versuchen, mir ein paar Tage frei zu nehmen, um dir mehr über die Traditionen meiner Familie zu erzählen, damit du gut vorbereitet bist. Fühl dich hier ganz wie zu Hause.“

Joe macht eine tiefe Verbeugung und wie auf Kommando kommt eine Bedienstete herein, die mich auf mein Zimmer begleitet.

Oben angekommen, stehen meine Koffer bereits in dem riesigen Gästezimmer mit eigenem Bad und großen Himmelbett. Ich gehe zum Fenster und werfe einen Blick auf den großen Garten, wo sicher im Sommer viele Feste und Feiern stattfinden. Dann gehe ich ins Badezimmer, um mich frisch zu machen und um mich ein wenig einzurichten.

Nachdem ich meine Koffer ausgepackt habe, setze ich mich müde aufs Bett und starre ins Leere.

Es ist so ruhig hier und doch kann ich jetzt nicht schlafen. Alles ist noch so ungewohnt und fühlt sich fremd an.

Mein neues zu Hause.

Wie merkwürdig das alles einfach ist.

Schlagartig bekomme ich Heimweh. Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause, bei meiner Familie und würde mit ihnen essen und reden, ohne dabei über Geldschulden und irgendwelche arrangierten Ehen zu sprechen.

Ich seufze. Dieses verlogene Theater hat mich alle Kraft gekostet. Wie soll ich das die nächsten 4 Monate durchstehen?

„Das war wirklich bühnenreif“, höre ich eine Stimme sagen und fahre erschrocken zusammen.

Tai lehnt im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt und durchbohrt mich mit seinen braunen Augen.

„Schon mal was von Anklopfen gehört?“, entgegen ich unfreundlich.

„Schon mal was davon gehört, dass man nicht lügen darf?“, kontert er, doch ich verziehe keine Miene, sondern stöhne stattdessen genervt auf.

„Sag mir nicht, du wohnst auch hier. Wer bist du überhaupt? Gehörst du zur Familie?“

„Das wüsstest du wohl gern.“

Vollidiot.

„Schön, dann eben nicht.“ Ich stehe auf, gehe zu meinem Kleiderschrank und tue so, als hätte ich dort irgendwas zu tun. Ich bin nicht daran interessiert, mich weiter mit diesem Verräter zu unterhalten. Was hat er eigentlich gegen mich?

„Ich weiß genau, dass du Joe nur heiraten willst, um an sein Geld zu kommen“, wirft er plötzlich in den Raum und ich halte kurz in meiner Bewegung inne. Dann mache ich unbeirrt weiter und sortiere ein paar Sachen.

„Bei arrangierten Ehen spielt Geld immer eine Rolle“, antworte ich unbeeindruckt.

„Hab ich gehört“, sagt Tai und ich frage mich, ob er nun endlich einen Fuß in mein Zimmer setzen wird oder da weiterhin dumm rum steht, wie der ungebetene Gast, der er nun mal ist.

„Trotzdem. Ich bin zwar Joes Assistent, aber in dieser Angelegenheit bin ich vor allem sein Freund und ich werde es nicht unterstützen, dass er eine fremde Frau heiratet, die ihn nach der Hochzeit ausnimmt wie eine Weihnachtsgans.“

Okay, das reicht. Wütend schlage ich den Schrank zu.

„Ich denke nicht, dass du in der Sache was zu melden hast. Außerdem hast du Dr. Kido gehört. Die Verlobung ist beschlossene Sache, also … was willst du dagegen machen?“

Wir beide funkeln uns an und mir ist klar, dass ich Tai gegen mich habe und dass ich verdammt aufpassen muss, dass er meine Pläne nicht durchkreuzt. Dann, völlig unerwartet, legt sich ein schiefes Grinsen auf seine Lippen.

„Mach dich nicht lächerlich. Wir wissen beide seit der ersten Sekunde, dass du so gut in diese Familie passt, wie ein Paradiesvogel in einen Käfig. Du wirst niemals eine traditionelle, japanische Ehefrau.“

Dann hebt er die Hand zum Abschied und stößt sich vom Türrahmen ab. „Ich wünsche dir schöne Tage bei den Kidos. Genieß es, solange du noch kannst.“

Ich stürme nach vorne und knalle die Tür hinter ihm zu.

Soll er sich doch verpissen! Was weiß er schon?

Ich werde das schon packen, das steht fest. Ich habe gar keine andere Wahl als genau das zu werden, was sie von mir verlangen.

Aufgeben ist keine Option!

Kapitel 3

Tai
 

Mein Wecker klingelt und Musik hallt in meinen Ohren. Die Schlummertaste habe ich bereits dreimal weitergedrückt und ich weiß, ich muss jetzt aufstehen. Früh aufstehen gehörte jedoch noch nie zu meinen Stärken. Nachdem gestrigen Tag konnte ich nicht einfach schlafen, oh nein, ich brauchte Bier. Eine Menge davon und was hab ich jetzt davon? Einen Kater.

Ich gähne und wische mir müde über die Augen. Ist das alles gestern wirklich passiert?
 

Nachdem ich diese Mimi am Flughafen abgeholt und sie in ihrem Outfit gesehen hatte, musste ich sie so wie sie war, der Familie Kido präsentieren. Es ist ja nicht so, als hätte ich sie in diese Klamotten gezwungen. Ich habe nur eine Chance genutzt, um allen ihr wahres Gesicht zu zeigen und spätestens bei unserer Unterhaltung gestern ist mir klar geworden, dass ich mit meinem Gefühl von Anfang an recht hatte. Sie hat irgendwelche Hintergedanken. Ich muss nur herausfinden, welche. Ich habe nie im Leben damit gerechnet, dass der Kido sie duldet, aber er hatte ihr sogar angeboten, dort einzuziehen. Wie hat sie das geschafft? Ich meine, sie war gestern doch wirklich komplett irre.

Ich schlage die Decke zur Seite und strecke meinen Rücken durch. Es wird Zeit unter die Dusche zu gehen und mindestens drei Tassen Kaffee zu trinken. Kopfschmerztabletten - wo habe ich die nochmal hingetan? Meine Wohnung ist relativ überschaubar, wenn man das Anwesen der Familie Kido mit meinem bescheidenen Heim vergleicht, wäre es dort eher eine Rumpelkammer, aber das ist mir egal. Wenigstens kann ich behaupten, dass ich mir alles selbst erarbeitet habe. Mein Beruf oder viel mehr Berufe sind zwar alle eher unkonventionell und meinen Eltern wäre es deutlich lieber gewesen, ich hätte studiert, aber das hab ich mir nicht vorstellen können. Vielleicht irgendwann mal.

Ich krame in meiner Schublade herum und entdecke schließlich eine Kopfschmerztablette. Ich nehme ein Glas aus dem Spülbecken, schütte Wasser hinein und spüle die Tablette mit einem großen Schluck herunter.

Mimi Tachikawa, ich bin überzeugt, dass sie eine Schlange ist, aber Joe ist viel zu gut erzogen worden, als dass er das jemals sagen würde. Egal, mit diesem schrillen Paradiesvogel werde ich mich später beschäftigen.
 

Ich steige unter die Dusche und genieße das warme Wasser auf meiner Haut. Am liebsten würde ich heute blau machen, aber von irgendwas muss ich ja schließlich meine Miete bezahlen und vor allem meinem Traum finanzieren.

Ich trockne mich ab und ziehe mich an. Während ich gerade dabei bin mein blaues Hemd über mein weißes Shirt zu ziehen, höre ich meine Klingel. Zweimal. Okay, wer will so früh was von mir. Ich gehe an den Lautsprecher: "Ja bitte?"

"Hi Bruderherz, lass mich rein oder liegst du immer noch im Bett?" Kari, meine kleine Schwester und eine der wichtigsten Menschen in meinem Leben, sogleich beginne ich zu lächeln. Ich lasse sie in den Hausblock hinein und öffne schon mal meine Haustüre, während ich die Kaffeemaschine anmache. "Hi, wie geht es dir?," betritt sie meine Wohnung und zieht ihre Schuhe aus. "Du erwischt mich nicht gerade an meinem besten Tag", erwidere ich und nehme eine weitere Kaffeetasse heraus. "Möchtest du?“

"Gern. Und, was ist los?" erkundigt sie sich gleich neugierig und kommt auf mich zu. "Du wirst es nicht glauben, aber Joe ist verlobt", offenbare ich ihr. Irritiert mustert mich meine Schwester.

"Wie verlobt? Ich wusste nicht mal, dass Joe eine Freundin hat."

"Hat er auch nicht."

"Und wen heiratet er dann? Dich?", grinst meine Schwester und pustet vorsichtig in ihre Tasse hinein, ehe sie einen Schluck daraus trinkt. "Haha, sehr witzig. Nein, die Ehe ist arrangiert worden."

"Ernsthaft? Na ja, gut ist sie bei Jim ja auch und da war er in Joes Alter, also passt es irgendwie." Meine Schwester scheint das Ganze deutlich lockerer zu sehen, als ich. Ist das denn für alle so unglaublich normal? Verstehe ich nicht. "Aber … Joe will sie nicht heiraten und diese … diese blöde Gans namens Mimi, ist doch nur an seinem Geld interessiert", platzt es aus mir heraus und schon wieder werde ich bei dem Gedanken an diese Person wütend. Zum Glück muss ich sie nicht heiraten. "Bist du dir sicher? Dr. Kido hat sie doch sicher genau überprüft."

"Ja, aber scheinbar ist sie eine Hexe und hat ihn verflucht." Das könnte ich mir wirklich vorstellen.

"Okay, so kenne ich dich ja gar nicht, aber nur weil Joe sie jetzt noch nicht liebt, heißt das nicht, dass es immer so bleibt. Vielleicht verliebt er sich ja noch in sie. Ich würde es ihm wünschen." Kari lächelt verträumt. Frauen eben. Es ist klar, dass sie das sagt. Joe ist nicht nur unser jahrelanger Freund und ich durch Umstände sein Assistent geworden. Er ist zudem auch der Arzt meiner Schwester und die ganze Familie Kido hat ihr das Leben gerettet. Kari hatte vor fünf Jahren eine schwere Lungenentzündung. Sie musste sogar ins künstliche Koma versetzt werden und es stand eine ganze Weile sehr schlecht um sie, doch die Ärzte, gerade Dr. Kido, haben um Karis Leben gekämpft. Es hat viel Rehaaufenthalte und Therapien gebraucht, ehe Kari wieder einigermaßen hergestellt war. Leider ist ihr rechter Lungenflügel bis heute nicht zu 100% hergestellt, weshalb sie eine Lungenfibrose entwickelt und einen leidigen chronischen Husten zurückbehalten hat. Deshalb musste sie ihren Traumjob als Erzieherin im ersten Ausbildungsjahr aufgeben, weil sie zu anfällig für sämtliche Erkrankungen war. Aber sie war niemals traurig oder wütend deswegen. Sie hat ihr Schicksal einfach angenommen. Ich kann mich nicht so einfach mit Dingen zufriedengeben wie sie, dafür ging meine Schwester stattdessen einer anderen Leidenschaft nach: Sie wurde Fotografin und eine sehr gute dazu. "Es ist nicht so, dass ich Joe das nicht auch wünsche, aber kann man sich seine Frau nicht selbst aussuchen?"

"Doch die meisten können das. Ich bin froh, dass meine Familie ganz normal ist und ich irgendwann Takeru heiraten kann und du kannst dir deine zukünftige Frau immerhin auch selber aussuchen. Also mach die Probleme von Joe nicht zu deinen." Meine Schwester, ach, als wäre das alles so einfach. Ich und heiraten? Die letzte Beziehung, die ich hatte, war schneller vorbei als ich gucken konnte und was war nochmal der Grund? Als könnte ich das je vergessen. Jetzt wo sie ständig vor meiner Nase tanzt. "Oder liegt es weniger daran, dass Joe verheiratet werden soll, als eher daran dass du eine gewisse Frau an die Kidos verloren hast?" Wunder Punkt. Warum kennt Kari mich so gut? "Ach Schnee von gestern", brumme ich und meine es auch so. Kaori ist Jims Ehefrau, eine arrangierte Ehe, aber sie ist vor allem auch meine Ex-Freundin. Vor genau drei Jahren waren wir für circa sechs Monate zusammen. Es lief alles gut zwischen uns, ich war verliebt, glücklich. Ich fühlte mich, als hätte ich den Hauptgewinn an Land gezogen. Noch nie hatte ich so eine schöne Freundin. Und von einen auf den anderen Tag hat Kaori sich nicht mehr bei mir gemeldet und nur eine Nachricht hinterlassen, in der stand, das sie Schluss macht. Danach hat sie mich geghostet und wir haben kein Wort mehr miteinander geredet. Ich habe mich ständig gefragt, was ich falsch gemacht habe, bis eines Tages eine Hochzeitsladung in meinem Briefkasten auftauchte. Ich kann es teilweise immer noch nicht fassen. Heute bin ich über Kaori hinweg. Solange ging unsere Beziehung nicht, als dass man da ewig hinterher trauern würde. Aber oft hab ich mich gefragt, was wäre gewesen, wenn … Als ich vor einem Jahr den Job als Joes Assistent angenommen habe, habe ich immer gedacht, dass Kaori mal das Gespräch zu mir sucht und sich erklärt, aber sie tut stets so, als würde sie mich nicht näher kennen. Frauen, sie sind alle falsch und arrangierte Ehen das Letzte. "Trotzdem, die Kidos tun, was sie tun wollen und daran wirst auch du nichts ändern können", spricht Kari weiter. Tzz, denkt sie. Ich muss lediglich dafür sorgen, dass …

"Taichi! Ernsthaft." Kari holt mich aus meinen Rachegedanken und zwingt mich dazu, sie anzusehen. Ich wusste gar nicht, dass kleine Frauen sich so groß machen können. "Lass sie in Ruhe. Es ist nicht deine Angelegenheit. Sie sind alle erwachsen und werden wissen, was sie tun. Du wirst ihnen nicht schaden, sonst bin ich böse auf dich."

"Kari, ich will ihnen doch nicht schaden. Ich mag die Kidos. Sie waren immer gut zu uns, deswegen will ich sie vor Mimi bewahren."

"So schlimm kann sie doch nicht sein. Warte doch erst einmal ab und gib ihr eine echte Chance. Vielleicht änderst du ja dann auch deine Meinung." Kari sieht mich eindringlich an und ich weiß, dass sie nur eine einzige Antwort dulden wird. "Okay okay, eine kleine Chance, aber mehr nicht." Die wird sie eh bei unserer nächsten Begegnung vermasseln. "Danke dir. Vielleicht erzählt Joe mir bei meiner nächsten Untersuchung ja von ihr. Ich bin schon ganz gespannt."

"Erwarte besser nicht zuviel." Ich schaue auf die Uhr und reiße die Augen weit auf. "Oh no, schon so spät?" Mist, es ist gleich halb acht. Ich sollte eigentlich in wenigen Minuten bei Joe sein. Ich nehme meiner Schwester die Kaffeetasse aus der Hand und stelle sie in die Spüle. "Sorry Schwesterherz, aber leider muss ich dich rauswerfen."

"Och schade, aber halt mich auf dem Laufenden. Klingt ja echt spannend."

"Ja total", erwidere ich hastig, schnappe mir selbst schnell mein Handy, schlüpfe in meine Sneakers und verlasse mit Kari meine Wohnung.
 

Zwanzig Minuten später erreiche ich die Villa der Familie Kido. "Hallo Mr. Yagami", werde ich wie so oft von einem der Bediensteten begrüßt. "Hi James", grinse ich erneut beim vorbeilaufen. "Ich heiße Ansgar", ruft er mir wie so oft hinterher. Ach, ich liebe diese Leutchen hier. Joe sitzt bereits auf der Terrasse und blättert in der Tageszeitung. Ich grinse, wie viele Personen Ende zwanzig lesen morgens als Erstes die Tageszeitung? Ich kenne nur einen. "Hi. Und steht schon was Spannendes über dich drin?" erkundige ich mich, während ich mir von Joes Teller eine Tomate stibitze. "Über mich? Nein wieso?"

"Sobald eure Verlobung offiziell ist, wird es kein anderes Thema mehr geben und alle freuen sich auf die Hochzeit des Jahres." Ob der Sarkasmus in meiner Stimme herauszuhören ist? "Oh, das stimmt, da sollte ich Mimi unbedingt vorwarnen. Du bist zu spät zur Arbeit erschienen." Ich grinse. Ja, das weiß ich.

"Kari war bei mir." Auch wenn es nicht ihr Verschulden ist, dass ich mich verspätet habe, so ist es auch keine Lüge. "Geht es ihr gut?", fragt Joe gleich besorgt nach. Er ist eben mehr als nur ihr Arzt. Er ist ein Freund. "Ja, keine Sorge. Wir haben uns nur lange nicht gesehen und deshalb ein wenig verquatscht." Joe legt die Zeitung weg und sieht mich ein wenig ernster an. "Ich weiß, ich habe dich in letzter Zeit stark in Anspruch genommen. Wir hatten es anders vereinbart, aber ich bin froh, dass du mir so den Rücken stärkst." Er lächelt mich unsicher an. Manchmal ist es schwer zwischen Freundschaft und Arbeitsverhältnis den geraden Weg zu finden, aber irgendwie haben wir das hingekriegt. "Ach Joe, alles gut. Ich sag schon Bescheid, wenn es mir zu viel wird und ich kann das extra Geld gut gebrauchen."

"Das ist gut, weil ich in Zukunft auch noch mehr auf dich angewiesen sein werde. Du weißt schon, wegen Mimi." Ich verdrehe die Augen. "Tai", ermahnt er mich gleich wieder und ich sehe ihn ein wenig gelangweilt an. "Du willst das also echt durchziehen?" Ich muss das einfach nochmal fragen, das kann nicht wirklich sein Wille sein. "Ich kann dich da auch irgendwie rausholen. Ich könnte zum Beispiel ein paar Anrufe …"

"Tai! Nein, lass das bleiben. Die Ehe ist beschlossene Sache. Du warst doch gestern dabei und obwohl Mimis Auftritt legendär war, so hat Vater sie angenommen. Da kommt niemand gegen an. Jedoch muss Mimi noch viel lernen. Ich vertraue dir, du kennst uns und ich weiß, dass du ihr das schon alles beibringen kannst und du musst das nicht mal allein machen. Ich habe Kaori gebeten dich zu unterstützen." Was? Bitte nicht. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ich Babysitter für dieses Biest spielen soll, jetzt muss ich das auch noch mit Kaori machen? "Joe, es ist… also… ich kann das nicht. Ich muss sowieso in ein paar Wochen zum Filmdreh, das hab ich dir ganz früh gesagt und ich glaube ich bin da nicht so für qualifiziert." Da gehe ich lieber Toiletten putzen, als mein Tag mit diesen beiden Frauen zu verbringen. Joe hat nicht mitbekommen, dass ich mit Kaori zusammen war. Er war damals viel zu sehr in sein Studium vertieft gewesen, als hätte er irgendwas von seiner Umgebung mitbekommen. Zudem war es ohnehin auch mehr eine heimliche Romanze. "Tai, ich weiß du hälst nichts von diesen arrangierten Ehen und ja ich hätte mir wahrscheinlich eine andere Gattin ausgesucht, aber es ist wie es ist. Mimi ist wirklich sehr hübsch und sie hat eine gute Ausbildung genossen. Sie ist natürlich sehr westlich geprägt, aber das kann man ihr nicht zum Vorwurf machen. Sie kennt ja schließlich nichts anderes und deshalb brauche ich ja auch deine Hilfe. Nicht nur, weil du uns und mich gut kennst, sondern auch weil es keinen besseren für den Job gibt. Du kennst dich so gut mit japanischen Traditionen aus, dass ich selbst noch von dir lernen kann. Ich bin auch bereit dein Honorar um zwanzig prozent zu erhöhen." Zwanzig Prozent? Habe ich das gerade richtig gehört? Das ist eine krasse Gehaltserhöhung. Ich muss überlegen. Es wäre dumm es nicht zu machen, auch wenn ich weiß, dass ich diese Entscheidung bereuen werde. "Na gut, aus alter Freundschaft zu dir werde ich es machen, solange ich hier bin und nicht zu meinem nächsten Projekt losmuss."

"Natürlich, das würde ich nie von dir verlangen. Auch wenn ich immer Angst habe, dich wegen deinen anderen Job irgendwann im Krankenhaus als Patient zu haben."

"Ach Quatsch, das passiert nicht." In all den Jahren ist mir wirklich noch nie was passiert, denn Sicherheit geht immer vor. Das musste ich schließlich auch meinen Eltern und meiner Schwester hoch und heilig versprechen.

"Ich hoffe es. Ich hätte auch schon eine Bitte an dich." Misstrauisch ziehe ich eine Augenbraue hoch. "Die da wäre?"

"Ich würde gerne mit Mimi zusammen frühstücken und sie näher kennenlernen. Würdest du sie wecken? Ansgar hat es eben schon mal versucht, aber ich denke da hatte sie noch mit ihrem Jetlag zu kämpfen." Die holde Maid aus ihrem Schlaf erlösen? Na klar, das mache ich doch gerne. Am liebsten mit einem Orchester. "Klar, ich erledige das gleich. Ich möchte nämlich auch so schnell wie möglich frühstücken." Ich habe heute Morgen außer eine Kopfschmerztablette und einer Tasse Kaffee nichts zu mir genommen und mein Hunger steigt mit jeder Minute.
 

Ich stehe vor Mimis Zimmertüre und klopfe an. Ich bin ja schließlich kein Unmensch. "Mimi?", rufe ich sie, doch bekomme keine Antwort. Vielleicht ist sie über Nacht abgehauen und alles hat sich erledigt. Ja, das wärs doch. Ich öffne langsam die Türe und schleiche hinein. Soviel zum Thema, vielleicht ist sie ja abgehauen. Sie schläft. Tief und fest. "Mimi?", rufe ich sie erneut, doch mehr als ein Schnarchen bekomme ich nicht. Ihr Mund steht offen und die Decke liegt mehr auf dem Boden als auf ihr. Sie trägt nicht gerade viel. Ein dünnes, weißes Nachthemd. Dieses Nachthemd ist ziemlich weit hochgerutscht, weshalb ich ihr Höschen sehe. Geschmack hat sie ja, aber ich löse mein Blick schnell von ihren Beinen und rüttle sie an der Schulter. "Mimi, aufwachen." Nope, keine Chance. Man, die schläft ja wie ne tote. Ich hab es echt auf die sanfte Tour versucht, aber sie will es ja nicht anders. Neben ihr auf dem Nachtschränkchen steht ein Glas. Ich nehme es und laufe damit ins Bad. Ich fülle es bis zum Rand und kann nicht anders als schadenfroh zu grinsen. Hey, ich erledige hier nur meinen Job. Ich stehe wieder vor ihrem Bett und gebe ihr eine letzte Chance, siehst du Kari, ich versuche es wirklich. "Mimi? Aufwachen. Joe erwartet dich. Du weißt schon, der Mann, den du ausnehmen willst wie eine Weihnachtsgans." Sie schläft. Okay. Ich nehme das Glas und kippe es in einem über ihr Gesicht und Oberkörper. "Argh" kreischt Mimi und reißt panisch die Augen auf, dann sieht sie mich und blitzt mich wütend an. "Du schon wieder! Sag mal, spinnst du?", faucht sie und setzt sich auf. "Joe erwartet dich", erkläre ich völlig unbeeindruckt. "Und deshalb schüttest du mir Wasser ins Gesicht, während ich schlafe? Das ist Folter." Ich rolle mit den Augen. Was für eine Dramaqueen. "Ich habe es echt oft genug anders versucht, aber es war nichts zu machen." Erst jetzt bemerke ich, das durch das Wasser das dünne weiße Nachthemd ganz durchsichtig wurde und dieses zudem an ihrem Busen klebt. Okay, nicht schlecht. Zumindest in dieser Hinsicht kann sie punkten. "Im Übrigen ist es hier gar nicht so kalt!"

Mimi sieht mich fragend an, als ich auf ihre Nippel zeige. Sie sieht an sich runter und reißt panisch ihre Augen auf. "Du Spanner, sieh gefälligst nicht hin!" Sie wirft ein Kopfkissen nach mir, fischt die Bettdecke vom Boden auf und bedeckt damit ihren Oberkörper. "Dir ist schon klar, dass ich sowas schon öfter gesehen hab" erwidere ich jedoch gelassen.

"Aber mich nicht", erwidert sie schnippisch und hat sich direkt vor mich gestellt um mich noch wütender anzusehen. Uh, wie bedrohlich. Sowas nennt sich wohl Zwergenaufstand. "Wenn du dann die Güte hättest und dich anziehen würdest, wie gesagt Joe wartet."

"Wenn du die Güte hättest und dich in Luft auflösen würdest", zickt sie weiter. "Den Gefallen kann ich dir leider nicht tun. Wie gesagt, Joe…"

"Ja-haa, ich mach ja schon." Genervt rempelt sie mich an oder versucht es zumindest, denn in bewege mich keinen Millimeter vom Fleck, während sie sich wohl auch noch dabei weh getan hat. "Steh nicht im Weg herum", zickt sie mich an und ich lache los. "Du bist gegen mich gelaufen, aber vielleicht brauchst du ja auch nur eine Brille, dann würdest du zumindest optisch zu deinem Verlobten passen."

Sie dreht ihren Kopf zu mir herum: "Ich brauche keine Brille, mein einziges Problem bist du." Sie geht weiter und knallt die Badezimmertüre zu. Da haben wir ja glatt eine Gemeinsamkeit gefunden. "Es wäre übrigens klug von dir heute ein wenig mehr Stoff anzuziehen, als gestern. Falls deine eingelaufenen Klamotten, sowie du es nennst ähnlich vom Stil sind."

"Ach halt doch deinen Mund", schimpft sie hinter verschlossener Tür weiter und ich grinse.
 

Ein paar Minuten später läuft Mimi an mir vorbei und holt eine Haarreifen aus ihrem Schrank. Ich begutachte sie. Sie hat Minirock und kurzes Top gegen einen langen Faltenrock der bis zu den Knöcheln geht, und eine weißen Bluse eingetauscht. Diesen Look kaufe ich ihr nicht eine Sekunde ab, aber ja, das würde Familie Kido begrüßen. Der Haarreifen soll den unschuldigen Look wohl unterstreichen. "Zufrieden? Das war das Outfit, in dem mich die Familie Kido kennenlernen sollte." Sie beugt sich noch weiter nach unten, um ein paar High Heels aus dem Schrank zu holen." Du solltest vielleicht noch das Etikett aus der Bluse herausschneiden, wirkt sonst ein wenig auffällig", zwinkere ich ihr zu, während Mimi aufspringt, sofort nach hinten greift und sich ein paar Mal vor ihrem Spiegel dreht um das Etikett zu finden. "Wo ist es denn?" Ich lache wieder. Oh man, war das leicht sie reinzulegen. "Argh, du, was hast du eigentlich für ein Problem?", schimpft sie und geht an mir vorbei. "Ich kann nur so Frauen wie dich nicht leiden", gebe ich ihr zu verstehen.

"Frauen wie ich? Tue nicht so als würdest du mich kennen!"

"Oh ich kenne dich."

"Ach ja, dann erzähl, wie bin ich denn so? Hm?"

"Du bist ein verwöhntes Prinzesschen, welches den Hals nicht vollkriegt und sich offenbar nicht mal zu schade ist, dafür einen wildfremden Mann zu heiraten. Du würdest für deine Ziele über Laichen gehen und kennst keine Skrupel." Okay, das war vielleicht was hart, denn ich sehe, wie Mimi mich entsetzt anschaut und die Wut verschwunden ist. "Es ist sehr schade, dass du so über mich denkst", sagt sie leise, doch setzt nicht auf den nächsten Angriff an. "Ich gehe jetzt zu Joe, du kannst ja gerne hierbleiben und in meinen Sachen herumschnüffeln. Sicher brauchst du Beweise für deine wilde Theorie." Sie verlässt ihr Zimmer, ohne mich nochmals eines Blickes zu würdigen und ich folge ihr. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen, aber wieso? So denke ich nun mal über sie und kann man es mir übel nehmen? Ich glaube ihre Geschichte einfach nicht. Früher oder später werde ich die Wahrheit herausfinden und solange werde ich sie bis aufs Blut reizen und ihr das Leben hier ein wenig schwerer machen.

Mimi
 

Versuch dich zu beruhigen, Mimi. Er ist ein Idiot und er hat keine Ahnung. Gar keine.

„Lauf mir nicht hinterher“, fordere ich Tai auf, ohne dabei nach hinten zu blicken. Er geht mir so was von auf den Keks.

„Das hättest du wohl gern. Ich laufe doch nicht dir nach, ich will einfach frühstücken.“

„Auch das noch.“ Muss ich sein Gesicht also auch noch beim Frühstück ertragen. Ich würde ihn viel lieber ansehen, wenn er etwas netter wäre, denn hässlich ist er nicht – nur absolut nervtötend.

Ich gehe an den Bediensteten vorbei, die sich erst vor mir verbeugen, als ich raus auf die Terrasse trete und mir dann auch noch den Stuhl zurückziehen, damit ich mich setzen kann.

„Guten Morgen, mein Verlobter“, sage ich, setze mein süßestes Lächeln auf und sehe dabei zu Tai, der bei den Worten augenscheinlich kotzen könnte. Ist mir so was von egal.

„Guten Morgen, Mimi. Gut geschlafen?“, begrüßt mich Joe und legt seine Tageszeitung zur Seite.

„Geschlafen? Du hättest sie sehen müssen. Sie war halb tot. Und geschnarcht hat sie auch“, mischt sich Tai ein und nimmt ebenfalls Platz. Ich funkle ihn wütend an. Das mit dem Schnarchen stimmt doch gar nicht! Und dass er mir auf die Brüste geglotzt hat, verschweigt er natürlich.

„Ich habe einen ziemlichen Jetlag“, gestehe ich, als mir eine der Bediensteten Kaffee eingießt und eine große Platte Obst auf den Tisch stellt, mit allen köstlichen Früchten, die man sich nur vorstellen kann. Außerdem gibt es Croissants, Bagels, Marmelade – zumindest das Frühstück ist so gar nicht typisch japanisch, was ich sehr begrüße.

„Wow“, sage ich bewundernd. „An diesen ganzen Luxus muss ich mich erst noch gewöhnen. Man wird ja hier behandelt wie eine Königin.“

„Das bist du auch“, antwortet Joe. „Zumindest in diesem Haus.“

Ich sehe, wie Tai genervt die Augen verdreht, aber auch das ist mir egal. Ich habe soeben beschlossen, ihn einfach wie Luft zu behandeln.

„Ich wollte gerne mit dir gemeinsam frühstücken, bevor ich ins Krankenhaus fahren muss. Ich dachte, so können wir uns schon mal etwas näher kennenlernen.“

Ich nicke, als auch schon zwei weitere Gäste zu uns stoßen. Ich habe keine Ahnung wer das ist, aber der Mann sieht Joe ziemlich ähnlich.

„Hallo“, begrüßt er als aller erstes mich. „Du musst Mimi sein.“

„Das ist Jim, mein älterer Bruder. Und seine Frau Kaori“, stellt Joe die beiden vor. Ich stehe auf und verbeuge mich vor ihnen und sie tun es ebenfalls. Dann setzen sie sich mit uns an den großen, runden Tisch.

„Schön, euch kennenzulernen. Ich habe schon gehört, dass Joe noch einen älteren Bruder hat“, beginne ich das Gespräch und nehme einen Schluck von meinem Kaffee, der verboten gut schmeckt.

„Wir konnten es uns natürlich nicht entgehen lassen, dich persönlich kennenzulernen“, sagt Jim und nimmt sich einen Bagel. „Ich bin froh, dass endlich eine Frau darauf kommt, meinen kleinen Bruder zu heiraten. Sonst wäre er wohl bis in alle Ewigkeit mit seinem Beruf verheiratet.“

Ich lächle verlegen und greife nun ebenfalls nach einem Croissant. Gott, ich habe solch einen Hunger, dass ich den ganzen Tisch leer futtern könnte, aber ich halte mich zurück.

„Es ist nichts verkehrt daran ehrgeizig zu sein, ich finde das sehr attraktiv“, entgegne ich gelassen und schenke Joe ein Lächeln, der dankbar für diese Antwort aussieht. Er wirkt ein wenig angespannt, seit sein Bruder zu uns gestoßen ist, genauso wie Tai. Eben sagte er noch, er will frühstücken und jetzt rührt er nichts an und starrt nur in seinen Kaffee.

„Da hast du recht“, stimmt Kaori mir zu und mir fällt auf, wie hübsch sie ist. „Gehst du auch irgendeiner Berufung nach, Mimi?“

Ich nicke. „Ja, ich bin Visagistin.“

„Das ist doch kein richtiger Beruf“, murmelt Tai und meine Augen verengen sich sofort zu zwei schmalen Schlitzen. Will er mich hier vor allen fertig machen oder was?

„Das solltest du nicht sagen, Tai. Schließlich hast du am Set einige davon“, gibt Joe zu bedenken. Mein Interesse ist geweckt.

„Am Set? Bist du Schauspieler?“ Würde ja voll zu ihm passen.

„Stuntman“, brummt er und ich lache kurz auf.

„Stuntman? Ist das dein Ernst?“

„Was ist daran so witzig?“, entgegnet Tai gereizt, doch Joe schüttelt nur den Kopf.

„Ich habe ihm auch schon oft genug gesagt, dass dieser Job ihn noch irgendwann umbringen wird, aber er hört ja nicht auf mich.“

Tai winkt nur ab und lässt diese Aussage unkommentiert. Ich schaue zu Kaori.

„Welcher Arbeit gehst du nach, Kaori?“

Kurz scheint sie etwas irritiert über diese Frage zu sein. Sie sieht zu Jim und beide lachen.

„Gar keiner natürlich. Ich habe zwar Architektur studiert, aber als ich Jim geheiratet habe, habe ich den Job aufgegeben.“

Stutzig runzle ich die Stirn. Aber wieso?

Jim nimmt Kaoris Hand in seine und haucht ihr einen Kuss darauf. „Keine der Kido Frauen muss arbeiten. Sie hätten auch keine Zeit dafür. Sie organisieren die internen Familienangelegenheiten und ziehen die Kinder groß.“

Ich starre die beiden ungläubig an und mit einem Mal ist mir der Appetit vergangen. Hausfrau und Mutter? Das ist alles?

„Dann habt ihr also auch schon Kinder?“, frage ich. Kaum habe ich diese Frage ausgesprochen, verschluckt Tai sich an seinem Kaffee und hustet heftig. Kaori sieht kurz zu ihm rüber, während er sich auf die Brust klopft, dann lächelt sie mich an. „Nein, noch nicht.“

„Aber wir versuchen es schon länger“, fügt Jim hinzu, als Tai regelrecht von seinem Stuhl aufspringt.

„Ich muss mal telefonieren.“

Kaori sieht ihm hinterher, während Jim und Joe weiter frühstücken.

Bin ich die Einzige, der das gerade komisch vorkommt?

„Ich denke, Mimi muss sich erst noch daran gewöhnen, bald eine Ehefrau zu sein“, meint Joe plötzlich und reißt mich somit aus meinen Gedanken.

„Die Verlobung kam sehr plötzlich, aber ich habe das Gefühl, dass du gut in unsere Familie passt.“ Er lächelt mich an als würde er das tatsächlich glauben.

„Ich habe meinen Terminkalender gecheckt und leider stehen in nächster Zeit ein paar Termine an, die ich nicht verschieben kann. Unter anderem ein Ärztekongress, bei dem ich bald 3 Tage weg sein werde. Ich werde Tai versuchen lassen, das ein oder andere umzulegen, aber um ehrlich zu sein, werde ich viel beschäftigt sein.“

„Oh, in Ordnung“, antworte ich und versuche dabei nicht all zu enttäuscht zu klingen.

„Aber ich habe einen Vorschlag für dich“, fügt Joe noch hinzu, nachdem er seine Kaffeetasse gelehrt und abgestellt hat. Ein Bediensteter eilt sofort herbei und will ihm nachschenken, aber Joe schickt ihn mit einem „Nein danke, ich muss gleich los“ wieder weg.

„Was für einen Vorschlag?“, frage ich und lehne mich interessiert in seine Richtung.

„Wie du ja gestern gehört hast, hat mein Vater angeordnet, dass du dich mit den japanischen Gepflogenheiten vertraut machst.“

Angeordnet. Ist er hier der Kaiser oder was?

„Oh ja, Traditionen sind unserer Familie sehr wichtig“, sagt Jim und tupft sich den Mund mit einer Serviette ab. „Für Kaori war das damals zum Glück kein Problem. Sie kommt aus einer traditionell japanischen Familie, deren Stammbaum weit bis in die Kamakura-Dynastie zurück reicht.“

„Wow“, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe, was das bedeutet.

„Stimmt“, nickt Kaori. „Meine Familie hat um 1185 sogar für fast 150 Jahre Japan regiert. Mein voller Name lautet Kaori Minamoto. Jedenfalls bevor ich geheiratet habe.“

Okay. Jetzt staune ich doch nicht schlecht. Sie ist also so etwas wie eine Adelige. An sie werde ich niemals ran reichen.

„Wie auch immer“, unterbricht Joe die beiden, um wieder auf den Punkt zu kommen. „Da Kaori sich in unserer Familie inzwischen sehr gut auskennt, wird sie heute mit dir shoppen fahren.“

Ich grinse, weil ich an gestern zurückdenke und an mein mehr als knappes Outfit. „Wieso? Was ist denn mit meinen Sachen nicht in Ordnung?“, witzle ich und zum Glück versteht Joe den Wink mit dem Zaunpfahl und grinst ebenfalls.

„Tai wird euch beide begleiten. Und er wird dir in nächster Zeit auch etwas unter die Arme greifen und dich mit der japanischen Kultur vertraut machen.“

Mein Herz bleibt förmlich stehen.

Alles, nur das nicht!

„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, winke ich lachend ab. „Ist nicht schlimm, wenn du keine Zeit hast. Ich kann mich auch selbst unterrichten. Ich kann mir ja ein Buch kaufen oder so. Keine Sorge Joe, ich komme schon klar.“

Oh Gott, hoffentlich kann ich das drohende Unheil noch abwenden.

Joe zieht eine Augenbraue in die Höhe und grinst dann breit.

„Nimm’s mir nicht übel, Mimi, aber du hast gestern vor meinen Eltern geniest und dann auch noch ein Taschentuch zum Naseputzen verlangt. Also glaube mir, wenn ich dir sage, dass du dringend Unterstützung brauchst.“

Kaori lacht herzhaft auf. „Das hast du gemacht, ehrlich? Wow, das ist echt mutig von dir, Mimi.“

„Allerdings. Ein Wunder, dass mein Vater dich nicht sofort rausgeschmissen hat. Ich habe es ein mal gewagt am Esstisch zu niesen, als ich 13 war und er hat mich sofort auf mein Zimmer geschickt und gesagt, ich soll über mein Benehmen nachdenken“, lacht nun auch Jim und plötzlich komme ich mir vor wie die letzte Idiotin. Ich hatte keine Ahnung, dass Niesen oder sich die Nase putzen nicht der Etikette entspricht.

„Mach dir bitte keine Gedanken darüber“, meint Joe jedoch nur und greift liebevoll nach meiner Hand. „Tai kann das. Besser als ich. Er ist mein Assistent und es ist sein Job dir zu helfen.“

Ich glaube, es ist eher sein Job mich fertig zu machen. Er war doch von Anfang an gegen diese Hochzeit, er sabotiert mich seit der ersten Sekunde. Ich glaube nicht, dass es gut ausgeht, wenn er ab jetzt jeden Tag um mich ist.

„Und ich hätte noch eine Bitte an dich“, fügt Joe noch hinzu, als wäre das mit Tai eh schon beschlossene Sache. Als hätte ich hier gar nichts zu melden.

„Ich werde für die nächsten 4 Monate hier einziehen. Glaub mir, wenn ich im Krankenhaus arbeite und auch noch in einem anderen Stadtteil wohne, würden wir uns bis zur Hochzeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir jeden Abend gemeinsam essen. Einfach, um uns näher kennenzulernen. Was hältst du davon, Mimi?“

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Eine schöne Idee.“

„Gut“, nickt Joe und sieht zufrieden aus. Ich bin es ganz und gar nicht. Und mein Croissant liegt immer noch unberührt vor mir.

Tai kommt wieder und sieht ganz geschäftig aus. „Joe, wenn du jetzt nicht losfährst, kommst du zu spät zu deinem ersten Termin“, sagt er, während er durch sein Smartphone scrollt.

„Ich bin schon so gut wie weg“, entgegnet Joe und steht auf. „Wir sehen uns heute Abend, Mimi.“ Er verbeugt sich höflich vor mir und zieht dann seine Kreditkarte aus seiner Sakkotasche, um sie Tai zu überreichen. „Du gehst mit Mimi und Kaori shoppen.“

Tai runzelt die Stirn und sieht zu Kaori. Offenbar wundert er sich darüber, dass sie auch mitkommt. Allerdings nimmt er es stillschweigend hin, während Kaori seinem Blick ausweicht.

Okay. Ich spüre hier eindeutig Vibes.

Ich weiß nur noch nicht, welche.
 

„Wo fahren wir hin?“, frage ich Tai, während wir in der Limousine sitzen und in die Stadt fahren. Tai sieht gelangweilt aus dem Fenster.

„Louis Vuitton, Gucci, Prada … sagt dir sicher was.“

Ich ziehe die Stirn kraus und schaue ebenfalls aus dem Fenster.

„So wie du es sagst, könnte man denken, wir fahren geradewegs in die Hölle“, wispere ich, doch er versteht mich sehr wohl.

„Sei nicht so dramatisch, Prinzessin. Immerhin darfst du heute mal so richtig viel Geld ausgeben.“

Ich zische verächtlich. Als hätte ich das noch nie gemacht. Was glaubt er, wer ich bin?

„Wir werden schon was Schönes für dich finden, Mimi“, sagt Kaori, die uns beiden gegenübersitzt.

Irgendwie kommt mir das alles komisch vor. Tai und Kaori kennen sich logischerweise schon länger, immerhin ist sie die Frau von Jim. Trotzdem reden sie kaum miteinander. Als wären sie Fremde.

Sie lächelt mich an und mal wieder fällt mir auf, wie hübsch sie ist. Sie hat bereits all das, was ich mir hart erkämpfen muss.

Ich sehe zu Tai, der weiterhin stur aus dem Fenster starrt. Man kann nicht leugnen, dass er gerade so aussieht, als würde er lieber auf dem Asphalt liegen und sich von einem Bus überfahren lassen, als hier mit uns beiden Frauen zusammen zu sein.

Ich seufze. Das kann ja ein schöner Tag werden.
 

Als wir den ersten Laden betreten, beginnen meine Augen zu leuchten. Ich bin im Himmel! Oh mein Gott, wie wundervoll! Tai hat nicht gelogen. Wo ich hinsehe Prada, Gucci, der ganze teure Scheiß. Ich kann mich gar nicht satt sehen, an all den schönen Kleidern, Röcken und Blusen.

„Hör auf zu sabbern und sieh dich um“, sagt Tai. „Vielleicht findest du ja sogar was, was länger ist als 10cm.“

Ich sehe ihn schräg von der Seite her an. „Dann darf ich vermutlich nicht in deine Hose gucken.“

Tai reißt die Augen auf und fängt an, rum zu stottern. „Das … woher willst du wissen … was soll das jetzt … Ich meinte doch die Röcke, verdammt!“

Wird er gerade rot? Wie süß.

„Krieg dich wieder ein. Sorry, aber das war ne Steilvorlage“, winke ich ab, während Kaori neben mir steht und ebenfalls rot angelaufen ist. Meine Güte. Warum sind die so verklemmt?

„Gott, Mimi“, knurrt Tai und kneift sich in den Nasenrücken. „Jetzt geh endlich und such dir was aus. Und benimm dich hier, klar?“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

Es dauert nicht lange, dann habe ich einen Haufen schöner Kleider eingesammelt, rot, rosa, blau, grün, lang, kurz, mit Ärmel, ohne Ärmel, eines ist sogar rückenfrei. Gerade, als ich sie zur Umkleidekabine schleppen will, kommt mir Tai entgegen.

„Hey, ich wollte das gerade alles mal anprobieren.“

Tai mustert mich und den Stapel Klamotten auf meinem Arm. Begeistert sieht er nicht aus.

„Ich dachte mir schon, dass du so was in der Art aussuchen wirst.“

„Was soll das heißen?“

„Hier.“ Tai hält mir ein Kleid hin. Lang, schwarz, langweilig.

„Wenn ich auf eine Beerdigung gehen will, sag ich Bescheid.“

„Du wirst es anprobieren“, sagt er bestimmt und ich frage mich ernsthaft, ob er einen an der Waffel hat. Dann kommt auch noch Kaori um die Ecke, ebenfalls einen Stapel Klamotten in der Hand. Ich sehe schwarz, grau, braun – erdfarben. Igitt.

„Tut mir das nicht an“, sage ich flehend und starre sehnsuchtsvoll auf die Sachen in meinen Händen, die ich vermutlich niemals tragen werde. Ich habe den Impuls mich hier und jetzt auf den Boden zu werfen und um diese schönen Sachen zu weinen, da reißt Tai sie mir auch schon aus der Hand. Er übergibt sie an eine Verkäuferin, die zu uns geeilt ist und sagt dann nur: „Suchen Sie bitte mehr davon, davon und davon aus“, und zeigt auf einige Kleider, die Kaori in der Hand hat. „Größe 36, ist doch richtig, oder?“

„Ja“, grummle ich und nehme widerwillig die Sachen entgegen, die Kaori für mich ausgesucht hat.

„Ach Mimi, ich weiß, es ist nicht leicht, seinen eigenen Stil aufzugeben, aber glaub mir, du wirst dich daran gewöhnen. Und ich denke mir, die Sachen stehen dir ganz hervorragend“, meint Kaori beschwichtigend, als wir zu den Umkleidekabinen gehen. Klar, sie hat gut reden. Ihr steht vermutlich alles, was sie trägt.

Ich ziehe einige Blusen und Röcke an und jedes Mal, wenn ich aus der Kabine trete, komme ich mir vor, als hätte man mich in einen Kartoffelsack verwandelt.

„Das ist viel zu viel Stoff“, sage ich und winde mich darin, als wäre es eine Haut, die nicht mir gehört, während ich mich zweifelnd im Spiegel betrachte. Wer hat die Farbe dunkelbraun überhaupt erfunden? Voll ätzend.

Die Bluse ist zwar ärmellos, aber sie ist bis zum Hals hochgeknöpft und der Rock geht mir bis zu den Knöcheln.

Tai stöhnt genervt auf, weil ich bis jetzt bei jedem Teil so reagiert habe und tritt nun hinter mich. Er legt zwei Finger auf meine Schulter.

„Der Stoff an deinen Schultern muss mindestens so breit sein, man darf niemals mehr Haut sehen als das. Und hier …“ Er geht in die Hocke und umfasst die Stelle unter meinen Knien. „ … muss der Stoff mindestens bis unter die Knie gehen. Länger ist immer gut, aber das ist das absolute Mindeste, was du tragen musst.“

Als er sich wieder aufrichtet, sehe ich durch den Spiegel in sein Gesicht. Ein neckisches Grinsen legt sich darauf.

„Was meinst du dazu, Paradiesvögelchen? Gibst du jetzt schon auf? Es sind nur ein paar Klamotten. Wenn du daran schon scheiterst …“

Das hättest du wohl gern.

„Tai hat recht, Mimi“, sagt Kaori und steht nun ebenfalls auf. „Es sind nur Klamotten. Sie sind schlicht, aber elegant. Und das Beste ist …“ Sie geht zu einem Regal und greift nach einer sündhaft teuren Kette, die dort liegt. „ … man kann diese langweiligen Sachen unglaublich gut mit schicken Schmuck aufmotzen.“ Tai macht ihr Platz, so dass sie hinter mich treten kann, um mir die Kette anzulegen.

Ich lege den Kopf schief und lächle verlegen. Sie haben recht. Es sind nur Sachen. Ich muss sie nicht mögen, ich muss sie nur tragen.

„Ich würde sagen, dann gehen wir als nächstes zu Tiffanys.“

Kaori grinst. „Ja, das ist die richtige Einstellung. Und keine Sorge, Joe tut das Geld nicht weh, was du ausgibst.“ Sie zwinkert mir zu und ich bin erleichtert, dass sie es mit Humor nimmt. Und nüchtern betrachtet sind die Klamotten auch nicht das Schlimmste. Immerhin sind einige Kleider in schwarz und beige dabei, die mir wenigstens ein bisschen stehen.

Da fällt mir was ein. „Könnt ihr eine Sekunde warten? Ich hätte da noch ein Kleid, was ich gerne anprobieren würde“, sage ich, während Tai mir nur hinterherruft: „Denk an die Etikette!“

Ja ja, schieb dir deine Etikette doch da hin, wo die Sonne nicht scheint. Ich habe verstanden, worauf es ankommt, ich bin schließlich nicht bescheuert.

Ich hole ein Kleid, was mir vorhin schon ins Auge gesprungen ist, was ich aber auf einer normalen Shoppingtour nicht anprobiert hätte. Aber unter diesen Umständen …

Als ich aus der Kabine trete und Tai und Kaori mich darin erblicken, sind sie für einen Moment sprachlos. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt.

„Zu viel?“

Kaori ist die Erste, die ihre Stimme wiederfindet. „Nein, gar nicht. Du siehst wunderschön aus.“

Ich gehe zum Spiegel und betrachte mich zufrieden. Ich trage immer noch die Kette, die Kaori mir angelegt hat. Sie passt perfekt zu dem cremefarbenen Kleid, dass ich mir ausgesucht habe. Es hat einen langen Faltenrock, einen wunderschönen V-Ausschnitt, aber nicht zu viel, und kurze, weite Ärmel. Eine lockere A-Linie und ich muss sagen, ich finde mich selbst wunderschön darin.

„Du solltest es heute Abend tragen, wenn du gemeinsam mit Joe isst“, schlägt Kaori begeistert vor. „Ihm werden die Augen aus dem Kopf fallen.“

Nun räuspert auch Tai sich. Ich drehe mich zu ihm um, stemme die Hände in die Hüfte und schaue ihn genervt an. „Na los, ich warte schon die ganze Zeit darauf.“

„Worauf denn?“

„Auf einen dummen Spruch von dir? Kommt da gar nichts?“

Tai rollt mit den Augen. „Lasst uns einfach bezahlen.“

Verwundert sehe ich dabei zu, wie er in Richtung Kasse abdampft. Was hat er denn?
 

„Meine Arbeit ist getan. Ich bleibe gleich hier, ich habe hier in der Nähe noch einen Termin. Fahrt ruhig ohne mich weiter“, sagt Kaori und verabschiedet sich mit einer tiefen Verbeugung von uns, als wir aus Tiffanys kommen und dort ebenfalls eine beachtliche Summe ausgegeben haben.

„Ich danke dir vielmals“, sage ich und beuge mich ihr dann ein Stück entgegen. „Vor allem, dass du mich mit diesem Idioten nicht allein gelassen hast.“

Sie kichert verlegen. „Nimm ihn nicht so ernst. Er meint es nicht so“, flüstert sie mir zu, während Tai schon wieder Stress macht.

„Kommst du jetzt endlich? Ich habe nicht ewig Zeit.“ Er hält die Tür zur Limousine auf und wartet darauf, dass ich endlich einsteige. Ich verdrehe die Augen.

„Bis bald, Kaori“, sage ich zum Abschied und steige ein.

Tai steigt ein und wir fahren los. Natürlich sagt er nichts, aber diesmal quatsche ich einfach drauf los.

„Ich mag sie“, stelle ich neutral fest.

„Hmm?“, macht Tai jedoch nur.

„Kaori. Sie ist hübsch und nett. Die perfekte Frau.“

„Kann sein.“

Uuh, was für ein Brummbär. Aber mir macht er nichts vor.

„Magst du sie?“

Überrascht sieht er mich an. Jetzt habe ich seine volle Aufmerksamkeit. „Was?“

„Wäre doch nicht schlimm.“

„Sie ist die Frau von Jim, mach dich nicht lächerlich“, weist Tai mich zurecht und tut so, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber ich weiß, was ich gesehen habe.

„So? Ich habe da zwischen euch gewisse Spannungen gespürt.“

„Das bildest du dir ein.“

„Wenn du das sagst.“

„Du nervst“, sagt Tai und ich grinse in mich rein. Jetzt hätte ich ihn doch fast aus der Reserve gelockt.

Ein paar Straßen weiter halten wir schon wieder an, was mich verwundert aufsehen lässt.

„Was wollen wir hier?“

„Wir gehen essen“, eröffnet Tai mir und sieht mich an, als wüsste ich schon, warum. „Wenn du heute Abend das erste Mal mit deinem Verlobten isst, willst du doch einen guten Eindruck hinterlassen, oder nicht? Und da du gestern vor allen Anwesenden in ein Taschentuch geschnieft hast, unterstelle ich dir einfach mal, dass deine Tischmanieren ähnlich schlecht sind.“

Wow. Er tut ja quasi so, als wäre ich der letzte Neandertaler.

„Du hast sie doch nicht mehr alle! Ich weiß sehr wohl, wie man anständig isst“, entgegne ich beleidigt.

„Aber nicht, wie man anständig in Japan isst.“

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Nein, vergiss es. Ich gehe nicht mit dir essen.“ Wieso sollte ich das machen? Eher friert die Hölle zu.

Tai stöhnt genervt auf. „Gott, ich kann es nicht fassen, dass du so stur bist“, sagt er und hält mir eine Hand hin. „Jetzt komm schon. Wenn du heute Abend beim Dinner versagst, fällt das schließlich auf mich zurück und ich kann meinen Job an den Nagel hängen.“

Was geht’s mich an? Dann wäre ich dich wenigstens los.

„Mimi“, sagt Tai nun mit etwas mehr Nachdruck. „Ich bitte dich.“

Jetzt kann ich es mir nicht mehr verkneifen und grinse doch.

„Geht doch.“

„Was?“

„Du kannst nett sein.“

Er lacht kurz auf, als ich meine Hand endlich in seine lege. Er hat recht. Ich muss nicht nur Dr. Kido und seine Frau von mir überzeugen, sondern auch Joe. Ein Essen kann also nicht schaden.

Mimi
 

Taichi führt mich in ein sehr edles, typisch japanisches Restaurant und zwar mit niedrigen Tischen und Stuhlhussen auf dem Boden. Ich gebe zu, ich habe noch nie so gegessen. Klar, mal abends vor dem Fernseher, mit Rotwein und Chips, aber schick in einem Restaurant? Never.

"Und, warst du schon Mal in so einem Restaurant?", erkundigt Tai sich und ich schüttle den Kopf. "Das habe ich mir gedacht, die Familie Kido versucht einmal im Monat in so einem Restaurant essen zu gehen. Meistens eher alle zwei bis drei Monate, weil es nicht so einfach ist alle unter einen Hut zu bekommen." Ich nicke verständnisvoll. Natürlich, warum sollte man auch in ein Restaurant gehen, wo es normale Stühle gibt? Ist ja voll von vorgestern.

Taichi zieht sich die Schuhe aus und ich tue es ihm gleich. Er begrüßt den Kellner mit einer Verbeugung und bittet um einen freien Tisch, wobei zum Glück nicht so viel los ist.

Er setzt sich im Schneidersitz auf ein Stuhlkissen und auch das tue ich ihm wieder nach. War doch gar nicht so schwer!

"Frauen sitzen traditionell auf ihren Fersen", erklärt Tai und sofort setze ich mich um. Oh man, nicht einmal bestellt und schon ein Fehler. Warum ist hier nur alles so anders? Und die ganze Zeit so sitzen? Ist ja voll unbequem. Meine Zehen fangen jetzt schon an zu kribbeln.

"Und, darf ich mir wenigstens bestellen was ich will oder gibt es da auch bald einen speziellen Ernährungsplan für mich?", witzle ich herum, weil das mehr als übergriffig wäre.

"Solange du mindestens Ramen bestellst, geht das voll klar, aber solltest du jemals einen Kido Sprössling in dir tragen, ja, da gibt es tatsächlich viele Auflagen." Tai sagt das mit so einer selbstgefälligen Art, dass ich überzeugt davon bin, dass es nur ein Witz sein muss, aber es ist sein ernst.

"Was, schockiert?", grinst er und bestellt für uns das Essen. Ich habe nicht einmal in die Speisekarte geguckt. "Äh, was hast du bestellt?", frage ich schnippisch.

"Joes Lieblingsessen, du wirst begeistert sein."

"Bestimmt." Oh man, zählt sowas wie ein freier Wille hier gar nicht? Eigene Meinung? Eigene Werte?
 

"So, während wir auf das Essen warten, kümmern wir uns um die nächste Baustelle. So viele, wie hier auf meiner Liste stehen sind vier Monate ein wirklich sehr enges Zeitfenster."

"Ach, übertreib nicht immer so", brumme ich beleidigt. Der Typ verhält sich ständig so, als wäre ich ein Marsmensch.

"Deine Social Media Accounts." Tai holt sein Handy hervor und zeigt meine Instagram Seite. Ich reiße die Augen auf, aber wie …

"Überrascht dich das etwa? Sobald ich deinen Namen wusste, war es mehr als leicht dich zu finden und du bist nicht gerade diskret." Ich pflege meine Social Media Seiten und bin stolz drauf. Klar, zuletzt habe ich in L.A gelebt, daher gibt es natürlich auch viele Bilder von mir in knappen Outfits, aber als wäre das schlimm.

"Und gefällt’s dir?", versuche ich ihn aus der Reserve zu locken. Wenn er mich gefunden hat, muss er auch eins haben. Was er wohl auf seinem Profil zeigt? Ich muss ihn heute Abend suchen.

"Nein!"

Ich rolle mit den Augen, als würde er mir je ein Kompliment machen.

"Zu freizügig, zu viel Party, zu provokant", zählt er auf. "Diese Bilder musst du löschen!"

"Ich habe circa 400 Fotos auf meinem Kanal, wenn ich all diese Fotos lösche, bleibt ja kaum was übrig."

"Ja, das wäre auch besser so und du solltest deinen Account auf privat stellen und einen anderen Namen wählen."

"Stop! Warum ist das so wichtig?" Ich verstehe es wirklich nicht. Immerhin gibt es keine Nacktbilder oder so etwas.

"Du hast echt keine Ahnung?" Tai fasst sich an die Stirn und fängt an diese zu massieren. "Womit hab ich das nur verdient?", fragt er wohl eher sich selbst. "Du weißt wen du bald heiraten wirst?"

"Na klar." Meine Güte und ich soll die Dramaqueen sein? Als ob.

"Offenbar nicht, die Familie Kido ist nicht nur verdammt reich, sondern hier in Japan, besonders in Tokyo, eher sowas wie eine Royale Familie. Es vergeht fast keinen Tag wo du nichts über sie in der Zeitung lesen wirst."

Schock lass nach. Es sind doch nur Ärzte, warum interessiert man sich so für sie?

"Sie haben fünf Krankenhäuser, mehrere Stiftungen gegründet und treten fast überall als Sponsoren auf. Als Jim und Kaori vor zwei Jahren geheiratet haben, gab es kein anderes Thema mehr. Es gab nicht viel zum im Dreck wühlen, dafür waren ihre Images zu fein, aber genau das …" Tai zeigt auf ein Foto von mir im Bikini am Strand in L.A.

Ich sehe so gut auf diesem Bild aus und dazu eine sehr verführerische Pose. "...könnte gefundenes Fressen für die Paparazzi sein." Ich schlucke einen gigantisches Kloß im Hals runter. Wenn sie herausfinden, wer ich bin und meine Familie durchleuchten, dann erfahren sie bald, dass mein Vater Geld veruntreut hat und mit einem Fuß im Gefängnis steht. Ich fühle mich, als würde ich keine Luft bekommen, meine Brust fühlt sich schwer an, als würde mir jemand den Hals zudrücken. Alles könnte auffliegen.

Das darf unter keinen Umständen passieren. "Der einzige Grund warum das noch nicht passiert ist, bin ich. Du darfst also ‚Danke‘ sagen. Ich bin nämlich für die Pressearbeit zuständig und eigentlich hätte ich es gestern schon Publik machen müssen, aber dazu kam ich nicht, daher werde ich heute …"

"Bitte warte damit noch!", unterbreche ich ihn und hoffe inständig, dass er einen Funken Menschlichkeit besitzt.

"Mimi, ich muss das machen, Joe hat mich darum gebeten und der Prof. ebenso. Was kümmert’s dich?" Er stützt seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und sieht mich eindringlich an. Ich weiß nicht wieso, aber es kommt mir so vor, als könnte er mir direkt in die Seele blicken. Ich weiche seinem Blick aus und tue so, als würde ich nach dem Kellner suchen.

"Sagst du mir jetzt endlich die Wahrheit oder sollen das die Schmuddelblätter übernehmen?" Verdammt, was soll ich tun? Ich kann Tai doch nicht reinen Wein einschenken. Er würde sofort damit zu Joe gehen und ihm alles sagen. Unruhig rutsche ich auf meinem Platz hin und her. "Ich… ich werde es schaffen. Die Presse, die Bürger, sie sollen mich lieben. Ich werde üben, jeden Tag. Ich werde alles geben. Versprochen." Tai muss es einfach auf sich beruhen lassen und wenn die Leute mich lieben, dann wäre alles nachher vielleicht gar nicht so schlimm?

"Ich sehe pure Verzweiflung", sagt Tai triumphierend und sieht mich weiter so intensiv an. Ich schaffe es kaum, dem standzuhalten. "Ich habe es dir gestern gesagt und sag es heute wieder: Früher oder später wird die Wahrheit rauskommen. Die Frage ist nur, ob es dich dann wie eine Lawine überrollt."

"Argh, kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Mist. Warum lässt du mich nicht einfach in ruhe?“ Ich weiß, es wäre soviel klüger ihn jetzt nicht mehr zu provozieren, aber er treibt mich einfach in den Wahnsinn.

"Weil es für mich keinen Sinn macht, Mimi. Ich habe mir jedes Bild auf deinem Instagram Profil angesehen. Eine junge Frau, die ein gutes, unbeschwertes Leben führt, die arbeitet, coole Dinge erlebt und tut was sie will. Warum will diese Frau dieses Leben hinter sich lassen, um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kennt und ein Leben führen das fremdbestimmt ist? Warum?"

Verdammt, warum ist Tai eigentlich so scharfsinnig? Es wäre alles viel einfacher, wenn er tatsächlich ein Idiot wäre.
 

Ein paar Minuten sage ich nichts, während uns nach und nach die Getränke und die Vorspeise serviert werden. Ich muss mich sammeln, nachdenken. Tai wird nicht locker lassen und im schlimmsten Fall selber im Dreck wühlen, also muss ich ihm ein Stückchen Wahrheit sagen, soviel dass er mich in Frieden lässt. "Ich glaube nicht an die Liebe", sage ich entschieden.

"Wie, du glaubst nicht an die Liebe?"

"Ich glaube nicht, dass der Mensch dazu erschaffen wurde, ein Leben lang mit nur einem Menschen zusammen zu sein. Ich war schon oft verliebt und habe viel investiert, nur um am Ende nichts zu haben. Liebe ist etwas Vergängliches. Ich habe schon oft gedacht, das ist es jetzt, hier beginnt die ganz große Liebesgeschichte für mich, aber am Ende hatte ich ein gebrochenes Herz. Für mich stand fest: Ich werde niemals heiraten. Na ja zumindest nicht aus Liebe, bei einer arrangierten Ehe weiß ich wenigstens woran ich bin." Männer sind zudem alle gleich. Du kannst sie alle über den Haufen werfen, aber wenigstens hab ich so ausgesorgt und kann meinem Vater helfen. So oft wurde ich ausgenutzt, warum darf ich das dann nicht auch mal machen?

"Und deswegen heiratest du gleich einen fremden Mann? Na klar." Natürlich lässt Tai das Ganze nicht unkommentiert und es war mir klar, dass es ihm als Antwort nicht genügt.

"Ich hab ja zuletzt in L.A gelebt. Ich bin, wie du weißt, Visagistin und wollte natürlich zu den ganz großen Fischen. Hollywood Produktionen, die Stars schminken, das war mein amerikanischer Traum. Jedoch hat er sich schnell als Alptraum entwickelt. Die Mieten sind so unfassbar hoch, dass ich zwei Kellner Jobs annehmen musste. Ich meine, kannst du dir das vorstellen, ich und kellnern? Und ja, so miserabel war ich auch. Die Jobs als Visagistin, die ich bekam, waren ganz kleine Fische und meistens wurde ich nicht mal angemessen bezahlt, ehe ich mich versah, war fast mein ganzes Geld weg und ich bin zurück nach New York zu meinen Eltern. Ich war so überzeugt, dass ich es schaffe, aber ich habe es nicht. Die Bilder auf Instagram sind doch nur eine Illusion und so schön es eine Zeitlang war, so hat es mich kein Stück weiter gebracht und als ich dann davon hörte, dass hier ein junger Arzt zu haben sei, habe ich das für meine beste Option gehalten. Traurig aber wahr." Okay, das war nicht die ganze L.A. Geschichte, aber den Rest werde ich ihm ganz sicher nicht erzählen. Ich will da selber nie wieder dran denken müssen. Ich will das einfach nur vergessen, was da passiert ist. Außerdem wollte ich diesem Mistkerl gar nicht so viel über mich preisgeben. Ich meine, ich weiß überhaupt gar nichts über ihn: Hat er eine Freundin? Warum ist er Stuntman geworden, wie ist er dazu gekommen? Hat er Haustiere? Geschwister? Nichts weiß ich und er weiß jetzt schon viel zu viel über mich. Das gefällt mir nicht.

"Es ist das erste Mal, dass ich dir eine Story abkaufe, die du erzählst", äußert er und hört endlich auf mich mit seinen Blicken zu durchbohren.
 

Tai nimmt seine Schüssel in beide Hände und fängt an laut daraus zu schlürfen. Igitt! Und ich habe keine Manieren, ja ne ist klar.

"Klar, du schlürfst hier aus einer Schüssel und ich darf nicht mal in der Öffentlichkeit niesen", meckere ich und suche vergeblich den Löffel für meine Suppe. Tai lacht jedoch nur dunkel auf und schlürft unbeirrt weiter. "Zu schlürfen oder auch zu schmatzen ist ein Kompliment an die Küche", erklärt Tai mir kurzerhand "Schweigsam eine Suppe zu sich zu nehmen gilt als Beleidigung."

Was? Meine Güte, hier laufen die Uhren wirklich andersherum. Unruhig zapple ich wieder auf meinem Platz herum. Ich spüre meine Zehen nicht mehr, wie lange muss ich denn so sitzen bleiben? "Im Übrigen, soviel herum wackeln auch. Vielleicht solltest du es mal mit Yoga probieren."

Ich verdrehe die Augen, so langsam hab ich keine Lust mehr.

"Was? Wolltest du nicht alles tun, damit das Volk dich liebt?" Tai ist so eine Nervensäge, das macht ihm doch total Spaß, mich die ganze Zeit auf meine Fehler hinzuweisen, aber es ist ja auch sein Job mir zu helfen und irgendwie tut er das ja auch. Nur seine nervige Art stört mich.

"Ich hätte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass ich mich in meinem Heimatland so fremd fühlen würde", murmle ich schließlich, nehme die Schüssel in meine Hände und schlürfe tatsächlich daraus. Total crazy.

"Du lernst das schon alles noch, es ist ja kein Hexenwerk. Du setzt dich heute Abend an dein Instagram Profil und erledigst deine Hausaufgaben. Morgen früh gebe ich ein Statement heraus und glaube mir, danach wird dich hier in Tokyo jeder kennen", sagt Tai und klingt total einfühlsam dabei. Das war wahrscheinlich das erste Mal, dass er nett zu mir ist. Wenigstens gibt er mir diesen einen Tag um meine Spuren so gut es geht zu verwischen. Mehr kann ich auch nicht erwarten.

"Danke", sage ich daher versöhnlich. Er hätte mich auch einfach ins offene Messer laufen lassen und mich den Hyänen zum Fraß vorwerfen können, aber hat er nicht. Vielleicht ist er ja gar nicht so ein Arsch wie ich dachte. Als jedoch der Hauptgang serviert wird und er mich ständig korrigiert, wie ich die Stäbchen zu halten habe, ändere ich schnell wieder meine Meinung und bin froh, wenn wir hier aus dem Restaurant rauskommen.
 

Nachdem Tai mich zurück in die Villa gebracht hat, habe ich noch zwei Stunden Zeit, ehe ich mit Joe zu Abend esse. Die erste Stunde habe ich damit verbracht sämtliche Fotos bei Instagram zu archivieren, mein Profil auf privat umzustellen und mir einen anderen Namen zu verpassen. Jetzt sind noch ungefähr 50 Fotos über. Fotos von Sehenswürdigkeiten, Essen oder Fotos wo ich zwar drauf zu sehen bin, aber auf denen nichts provokativ oder anstößig ist. Tai hab ich nach langem suchen zwar auch gefunden, aber sein Profil ist natürlich auf Privat gestellt und ich kann ihm ja schlecht eine Freundschaftsanfrage schicken. In der zweiten Stunde habe ich mich für das Abendessen mit meinem Verlobten zurecht gemacht und Kaoris Rat befolgt und das cremefarbene Kleid mit V Ausschnitt angezogen. Ich fühle mich wirklich sehr hübsch darin und bin gespannt, wie Joe es finden wird. So richtig viel weiß ich über ihn noch nicht. Ich bin gespannt, ob wir vielleicht doch ein paar Gemeinsamkeiten haben.
 

Es wird Zeit und pünktlich auf die Minute klopft es an meiner Zimmertüre. "Ja bitte?" rufe ich und Ansgar bittet mich ihn zu begleiten. Ich folge ihm und obwohl ich gestern gelandet bin, entdecke ich auch heute noch lauter neue Dinge. Die imposanten Kronleuchter an der Decke, sowie Kunstgemälde an der Wand. Ich will gar nicht wissen, was alleine die Einrichtung im Korridor gekostet hat. Joe sitzt auf seinem Stuhl und unterhält sich angeregt mit Tai.

"Hast du die Presse bereits über unsere Verlobung informiert?", erkundigt sich Joe bei ihm.

"Ich …" Tai sieht mich und deutet auf mich. "Ich bin fertig mit dem Bericht, aber es fehlt mir noch ein Foto vom zukünftigen Brautpaar." Joe dreht sich zu mir und lächelt mich an.

"Mimi, du siehst zauberhaft aus." Joe erhebt sich von seinem Platz und kommt auf mich zu. Ich verbeuge mich. "Habt Dank, mein Verlobter." Wie lange muss ich diese ganze Verbeugungssache eigentlich durchziehen?

"Du hast natürlich recht, Tai. Mimi wäre es dir recht, wenn wir noch ein Foto für die Presse machen? Wir wollen die Verlobung bekannt geben und so zauberhaft wie du heute aussiehst, passt es doch einfach perfekt." Ich nicke mit dem Kopf und lächle ihn an, was bleibt mir auch anderes übrig? Am liebsten würde ich darauf verzichten, aber das wird nichts, also muss ich mein Bestes geben, dass die Leute mich sympathisch finden und mögen.

Joe stellt sich nah an meine Seite und legt seinen Arm um mich. Er ist wirklich sehr groß, selbst in meinen High Heels ist er noch einen ganzen Kopf größer als ich. Auch ich lege meinen Arm um ihn und bin bereit für das Foto. Tai der gerade sein Handy zückt um ein Foto zu schießen lässt seine Hand wieder sinken.

"Sorry Leute, aber das sieht aus … So geht das nicht."

"Was stimmt denn nicht?", erkundigt sich Joe.

"Viel zu steif, das sieht aus, als würde ein Vater seine Tochter im Arm halten. Ihr seid verlobt, ihr wollt heiraten und so sollte das Foto auch aussehen", erklärt Tai und höchstwahrscheinlich hat er auch wieder einmal recht damit. Wir wirken nicht wie ein verliebtes Paar, sondern eher wie Geschwister und wer will schon seinen Bruder heiraten? Igitt.

"Ich habe eine Idee, ihr habt doch einen wirklich schönen Garten. Bei Tageslicht werden die Fotos ohnehin besser. Ich könnte mich vor dich stellen und du legst beide Arme um mich. Wir könnten auch ein Foto machen in dem wir uns anschauen. Wäre das besser?", frage ich.

"Alles ist besser als das!" erwidert Tai und geht bereits Richtung Garten voraus. Joe nimmt meine Hand und führt mich ebenfalls in den Garten. Zum ersten Mal halten wir Händchen. Ein komisches Gefühl, aber daran werde ich mich sicher gewöhnen. "Wie war dein Tag?", frage ich ihn währenddessen.

"Danke der Nachfrage, es war ein stressiger, aber auch guter Tag. Ich bin froh, es noch pünktlich zum Abendessen geschafft zu haben. Und deiner? Hat Tai dir viel erklären können?"

"Ja, wir waren ja zuerst shoppen und im Anschluss in einem klassisch japanischen Restaurant, wo man so auf dem Boden sitzt. Ich gebe zu, das war ein wenig ungewohnt für mich, aber das Essen war himmlisch." Meine Mutter hat immer viel japanisch gekocht, daher bin ich die japanische Küche natürlich gewohnt, aber so fein essen war nochmal was ganz anderes.

"Ich bin sicher, du wirst dich da schnell dran gewöhnen. Es liegt dir ja schließlich im Blut", spricht Joe mir Mut zu und es ist schön zu Wissen, dass er soviel Verständnis für mich hat.

"Auf welche Fachrichtung hast du dich eigentlich spezialisiert?" Das ist das Mindeste, was ich über meinen Verlobten wissen sollte. "Ich werde bald meinen Facharzt in Pneumologie machen", erklärt Joe mir.

"Wow, wie spannend", antworte ich und versuche selbstsicher zu klingen. Memo an mich selbst: Ich muss nachher unbedingt googeln, was Pneumologie eigentlich ist. Wie peinlich.
 

Im Garten angekommen, komme ich jetzt erst dazu ihn richtig zu bewundern. Soviel Grün, schöne Blumen und Büsche. Lustige Buddha Figuren und natürlich einen Springbrunnen. Perfekte Location für ein Foto.

"Stellt euch mal da drüben hin", ordnet Tai an und platziert uns vor dem Brunnen. Joe stellt sich diesmal hinter mich und legt beide Arme um mich. Er zieht mich dicht an sich heran und legt sein Kinn auf meiner Schulter ab. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr, es riecht nach Pfefferminz. Ich lächle in die Kamera und bekomme eine Idee, das Ganze ein wenig aufzulockern. Ich kneife Joe in die Seite und kitzle ihn. "Hey", sagt er, muss aber schmunzeln. "Du weißt schon, dass du in der deutlich schlechteren Position bist, oder?", lacht Joe und kitzelt mich an beiden Seiten. Ich muss ebenfalls lachen und zwar laut. Tai nutzt die Gelegenheit und macht mehrere Fotos. Zu guter Letzt lächeln wir beide in die Kamera und selbst Tai wirkt zufrieden. "Ich denke da haben wir mehr als ein Foto zur Auswahl."

"Uhh, bekomme ich ein Foto für die nächste Runde?", frage ich kichernd.

"Da müssen wir erstmal schauen, ob du auch auf dem Laufsteg überzeugst", grinst Tai.

"Das verstehe ich nicht ganz", wirft Joe ein.

"Ach, es gibt so eine Modelshow, da bekommt man am Ende der Woche immer ein Foto und kommt dann in die nächste Runde bis nur noch eine da ist", erkläre ich Joe und frage mich woher Tai die Show wohl kennt.

"Verstehe." Ich glaube zwar irgendwie nicht, dass Joe es verstanden hat, aber das ist auch nicht weiter schlimm.
 

Nachdem wir unser kleines Shooting im Garten beendet haben, ist Tai nach Hause gefahren und hat den Bericht für die Presse fertig geschrieben. Joe und ich haben gemeinsam zu Abend gegessen und uns unterhalten. Er ist ein reizender Mann, aber wir befinden uns noch ganz an der Oberfläche.

"Ich würde mich gerne für heute Abend verabschieden. Ich bin sehr müde und der Tag war lang."

Ich brauche Zeit alles ein wenig zu verbreiten. Außerdem möchte ich noch mit meinen Eltern telefonieren. "Selbstverständlich, ich muss morgen auch früh aufstehen, da ich Frühschicht habe, aber es wäre schön, wenn du mich morgen im Krankenhaus besuchen würdest. Vielleicht kann ich eine Pause einräumen und wir können gemeinsam zu Mittag essen", schlägt Joe vor und ich finde das klingt wirklich toll.

"Das würde ich sehr gerne machen. Ich freue mich, dich bei der Arbeit zu sehen." Ich lächle Joe an und sehe, wie er ein wenig rot um die Nase wird. Er beugt sich zu mir runter und haucht mir einen Kuss auf die Wange. "Gute Nacht, Mimi", spricht er mit hochrotem Kopf weiter und geht einen Schritt zurück. "Bis morgen." Ich unterdrücke ein kichern und verbeuge mich leicht. "Gute Nacht, Joe." Ich verlasse das Esszimmer und gehe in mein Zimmer. Ich lass mich aufs Bett fallen und merke wie schwer meine Lider sind. Was für ein Tag. Ich sehe auf mein Nachtschränkchen, dort liegt ein Buch mit noch leeren Seiten. Meine Mutter hat es mir zum Abschied geschenkt. Ich war nie der Typ für Tagebuch schreiben, aber hier erlebe ich jeden Tag so viele Dinge, dass es doch sicher hilfreich ist, all das nieder zu schreiben. So schnappe ich mir einen Stift, greife nach dem Tagebuch und öffne die erste Seite. Tag eins von meinem neuen Leben. Ich beginne den Eintrag mit einem Vers. Ich habe schon immer eine Schwäche für Poesie gehabt.
 

>Ganz gleich, wie beschwerlich dein gestern war, stets kannst du im Heute von neuem beginnen.<

Tai
 

Ich liege im Bett und scrolle durch Mimis Instagram Profil, was inzwischen sehr überschaubar geworden ist. Gut, sie hat ihre Hausaufgaben also gemacht. Alles andere hätte sie definitiv den Kopf gekostet. In den Kreisen, in denen die Kidos sich bewegen, wären derart provokante Bilder ein absoluter Skandal.

Kaori wäre so etwas nie passiert. Sie ist immer korrekt, immer angepasst, immer diskret – ganz anders als Mimi. Ich beiße mir auf die Lippe und schüttle den Kopf. Ich will sie gar nicht miteinander vergleichen.

Ich öffne den Ordner mit den Fotos von gestern und gehe alle noch mal durch. Die Aktion von Mimi, Joe zum Lachen zu bringen, war eine gute Idee. Er wirkt sonst immer so verkrampft auf Bildern, aber auf diesen lacht er ganz ausgelassen, genauso wie Mimi. Die beiden strahlen sich an. Allerdings frage ich mich ernsthaft, wie lange sie diese Scharade aufrechterhalten will. Hat sie wirklich vor, ihr ganzes Leben, ja sogar ihre Persönlichkeit umzukrempeln? Niemand schafft es sich um 180 Grad zu drehen – nicht für immer.

Ich suche zwei Bilder aus, die ich gleich der Presse maile und eins für den offiziellen Twitter Account der Familie Kido. Es ist ein Foto, auf dem beide lächelnd in die Kamera schauen. Mimi sah gestern fantastisch in diesem Kleid aus und passt damit perfekt zu Joe, der sowieso immer einen Anzug trägt. Sie könnten das glamouröse Paar sein, dass die Menschen gerne sehen würden.

Aber dann wische ich ein Bild weiter und sehe eine ganz andere Mimi.

Bevor sie die meisten Bilder von ihrem Instagram Account gelöscht hat, habe ich mir einen Screenshot von einem ihrer Fotos gemacht. Sie sitzt am Strand, in kurzen Shorts, die Füße im Sand vergraben und sieht sich den Sonnenuntergang an. Ihre Haare sind zerzaust vom Wind, ihre Wangen gerötet und sie sieht sehr verträumt aus – und so gar nicht wie eine reiche Tochter. Das Foto wurde in L.A. aufgenommen, als sie ihren Träumen hinterher gejagt ist. Das ist noch gar nicht so lange her und plötzlich soll sie ein anderer Mensch sein? Tausche Freiheit gegen goldenen Käfig? Das ist eine Schande. Und dass sie nicht an die Liebe glaubt, gleicht einer Tragödie. Ich bin wirklich gespannt, wie lange sie das durchhält. In 2 Monaten ist die Verlobungsfeier. Ich wette darauf, dass sie bis dahin wieder in New York bei Mami und Papi sitzt.
 

Nachdem ich die Pressemitteilung und den Twitter Post rausgeschickt habe, dusche ich und mache mich auf den Weg zum Kido Anwesen. Ich weiß, dass Joe längst im Krankenhaus ist und da es bereits 10.00 Uhr ist, hoffe ich, dass Mimi schon wach ist. Ich bin extra etwas später losgefahren, damit sie endlich ihren Jetlag ausschlafen kann. Hey, ich bin kein Unmensch. Allerdings würde es mich auch nicht stören, sie wieder mit Wasser zu übergießen. Das hat Spaß gemacht und der Anblick war auch nicht schlecht. Aber als ich an ihre Zimmertür klopfe, höre ich bereits eilige Schritte. Mimi macht die Tür auf und kurz traue ich meinen Augen kaum. Sie trägt tatsächlich die Klamotten, die wir gestern gekauft haben – eine weiße, langärmelige Bluse und einen langen schwarzen Rock. Dazu passenden Schmuck, sie ist gerade dabei sich die funkelnden Ohrringe zu zumachen. Ihre Haare hat sie nur leicht zurückgebunden. Jetzt sieht sie aus wie eine Kido.

Doch anstatt ihr ein Kompliment zu machen, dränge ich mich nur an ihr vorbei ins Zimmer.

„Hey! Ich kann mich nicht daran erinnern, dich reingebeten zu haben“, protestiert sie sofort, schließt aber trotzdem die Tür hinter mir. Ich schaue mich im Zimmer um.

„Hier sieht’s aus wie in einem Schweinestall. Dir ist schon klar, dass es hier Hausmädchen gibt. Lass sie für dich aufräumen.“

„Auf keinen Fall“, widerspricht Mimi. Wieso kann sie nicht ein mal tun, was man ihr sagt? „Ich will nicht, dass jemand Fremdes meine Sachen anfasst.“

„Dann bring das in Ordnung. Oder willst du, dass Joe das Chaos sieht?“ Ich schnaube und hebe mit der Fingerspitze einen ihrer BH’s in die Höhe, der einfach so auf dem Bett liegt. „Obwohl … das könnte ihm durchaus gefallen.“

Mimi schnappt nach ihrem BH und reißt ihn mir aus der Hand.

„Hast du nicht zugehört? Kein Fremder geht an meine Sachen!“ Ich grinse, während sie ihn in den Schrank wirft.

„Ich bin kein Fremder, ich folge dir bei Instagram. Übrigens: gute Arbeit.“

Überrascht dreht Mimi sich zu mir um.

„War das eben ein Kompliment?“

„Nein, das war nur das absolute Mindeste und längst überfällig. Du hättest es bereits tun sollen, bevor du in den Flieger gestiegen bist.“

Mimi schnauft und verdreht genervt die Augen. „War ja klar.“

„Wie auch immer. Bist du soweit?“, frage ich, doch sie tippt nur irgendwas auf ihrem Handy rum, ehe sie es zurück aufs Bett wirft und ins Bad eilt.

„Gleich, ich lege nur noch etwas Make Up auf, dann können wir los.“

Ich schiele auf das Ding und greife es mir. Das Handy ist bei den meisten Menschen das Tor zu all ihren Abgründen. Ich muss einfach checken, ob sie sauber ist. Es ist nicht mal Passwort geschützt. Pfft, Anfängerin.

Ich scrolle durch ihre Nachrichten, aber da ist nichts Verdächtiges. Nur ein paar SMS von ihrer Mutter. Klar ist das nicht sonderlich spannend. Was wirklich Einblicke gibt, ist ihr Browser Verlauf. Willst du wissen, welche Leichen die Menschen in ihren Kellern verstecken, schau dir an, wonach sie gegoogelt haben.

Anscheinend war sie gestern Abend das letzte Mal im Internet und hat das Wort Pneumologie gegoogelt. Ich muss mir ein Lachen verkneifen – nicht ihr Ernst!

Ich scrolle weiter: Seiten von teuren Cremes und Beauty Produkten, ein bisschen YouTube, Seiten von bekannten Visagisten aus L.A. …

Aber dann springt mir etwas ins Auge.

Suche nach Gewinnspiele, schnelles Geld verdienen. Und dann: ein Forum für ‚Arrangierte Ehen‘ und wie Leute damit reich geworden sind. Aber wozu? Sie kommt doch bereits aus einer sehr wohlhabenden Familie.

Ich verenge die Augen zu zwei schmalen Schlitzen und balle eine Hand zur Faust.

Ich wusste, dass da was faul ist. Mir war von Anfang an klar, dass sie Dreck am Stecken hat und Joe nur benutzt, um an Geld zu kommen. Aber warum? Was ist ihr Schlimmes widerfahren, dass sie deswegen bereit ist, ihr ganzes Leben aufzugeben und einen Mann zu heiraten, den sie nicht kennt? War das Gefasel von der unerfüllten Liebe gestern wieder nur Show? Und ich bin darauf reingefallen.

„Ich bin jetzt soweit“, ruft Mimi und ich höre ihre Schritte. Schnell schmeiße ich das Handy zurück aufs Bett.

Als sie aus dem Bad kommt, bleibt sie kurz stehen und sieht mich irritiert an.

„Was ist? Du siehst so ernst aus.“

Ich beiße die Zähne aufeinander und gehe zur Tür. „Es ist nichts. Komm, wir sind spät dran.“
 

Die Fahrt zum Krankenhaus ist die pure Folter und ich muss mich beherrschen, sie nicht zu schütteln und sie anzuschreien, dass sie mir endlich die Wahrheit sagen soll. Wie soll ich Joe und die Kidos beschützen, wenn sie mir nur Lügen auftischt? Doch selbst, wenn ich sie schütteln wollen würde, könnte ich es nicht, da ich heute der Fahrer bin. Eine Limousine wäre heute viel zu übertrieben gewesen, schließlich fahren wir in ein Krankenhaus. Daher nehmen wir heute einen von Joes Wagen.

„Was steht heute noch auf dem Plan, nachdem wir im Krankenhaus waren?“, erkundigt sie sich irgendwann bei mir, nachdem wir uns eine halbe Stunde lang angeschwiegen haben. Gott, der Verkehr ist heute mal wieder die Hölle.

„Nachdem du mit Joe zu Mittag gegessen hast, gibt’s eine Nachhilfestunde in Sachen VIP’s“, erkläre ich ihr ganz geschäftig, doch Mimi lacht nur.

„Was denn? Treffen wir etwa den Kaiser? Oder besser noch: Brad Pitt?“

Diese Frau macht mich wahnsinnig!

„Nein, wir treffen nicht Brad Pitt“, antworte ich deutlich genervt und frage mich, warum sie das nicht alles etwas ernster nimmt. „Ich zeige dir online alle wichtigen Leute, die du kennen musst und die wichtige Geschäftspartner der Kidos sind. Ärzte, Anwälte, Richter, Politiker … die Kidos haben viele einflussreiche Freunde. Wenn du sie bei der nächsten Gala treffen wirst, wäre es gut zu wissen, wer diese Menschen sind. Glaub mir, Joe wird dich ihnen allen vorstellen und du willst dich doch nicht blamieren, oder?“

Ich höre Mimi neben mir die Luft auspusten. „Man, ist das trocken.“

„Du bist nicht zum Vergnügen hier“, sage ich eine Spur zu hart, denn ganz offensichtlich ist sie das nicht.

Beleidigt verschränkt Mimi die Arme vor der Brust. „Das weiß ich selbst. Ich werde mich anstrengen.“

Ich seufze innerlich. Mir wird klar, dass, was auch immer sie verheimlicht, ich so überhaupt nichts aus ihr rauskriege. Ich muss es irgendwie schaffen, dass sie mir mehr vertraut. Nur so werde ich erfahren, warum sie wirklich hier ist.
 

Beim Krankenhaus angekommen fahren wir ins Parkhaus. Ich checke noch mal schnell mein Handy, ob die Pressemitteilung auch genauso rausgegangen ist, wie ich es wollte und stoße bereits jetzt auf den ersten Artikel:

Wer ist die Frau an Joe Kidos Seite?

Sie beginnen bereits Fragen zu stellen. Nicht gut.
 

Ein Pressesprecher der Familie Kido, die in ganz Tokyo für ihre erstklassigen Krankenhäuser bekannt ist, gab heute Morgen bekannt, dass Joe Kido, der jüngste Sohn der Ärztefamilie Kido sich verlobt hat – mit einer Unbekannten.

Wer ist die hübsche Brünette an seiner Seite? (siehe Foto rechts)

Bis jetzt wissen wir nur, dass sie aus dem Ausland angereist ist, jedoch gebürtige Japanerin sei. Man munkelt, die Ehe sei seitens der Eltern arrangiert worden. Schon zwei Jahre zuvor wurde ihr ältester Sohn Jim Kido mit Kaori Minamoto verheiratet, was damals DIE HOCHZEIT des Jahres war – arrangierte Ehen sind also nichts Neues in der Familie Kido. Trotzdem fragt man sich: warum so plötzlich? Was steckt hinter der unbekannten Schönheit, von der wir bis jetzt nichts wissen? Wie wir bereits in Erfahrung bringen konnten, hat sie die letzten Jahre in New York und L.A. gelebt. Was veranlasste sie, ausgerechnet einer Ehe mit Joe Kido zuzustimmen?
 

Daneben das Foto von Mimi und Joe, dass ich geschossen habe, mit ihren Namen.
 

Fuck. Das war so klar, dass sie sich nicht nur mit einem Namen zufriedengeben. Sie wollen ALLES wissen. Jedes Detail. Jede noch so kleine Ecke ihrer Persönlichkeit wollen sie beleuchten und auseinandernehmen. Für die Medien gibt es nichts Interessanteres als einen öffentlichen Skandal. Aber den werden sie nicht kriegen. Nicht, wenn ich schneller bin.

„Ist alles in Ordnung?“, fragt Mimi und sieht mich besorgt an. Kein Wunder, glücklich sehe ich nicht gerade aus. Ich halte ihr mein Handy hin, so dass sie es kurz überfliegen kann.

„Glückwunsch, du bist in der Zeitung.“

Mimi’s Augen huschen über den Artikel und mit jedem Wort wird sie nervöser.

„Ich habe dir ja gesagt, dass das passieren wird“, sage ich und nehme ihr das Handy wieder aus der Hand.

„Meinst du, sie wollen noch mehr über mich herausfinden?“, fragt Mimi fast schon geistesabwesend. Irgendwie sieht sie ziemlich geschockt aus.

„Davon kannst du ausgehen.“

„Okay.“

Ich sehe, wie sie sich auf die Unterlippe beißt und ihre Gedanken gerade ganz woanders sind.

Verdammt! Am liebsten würde ich diese Frau wirklich einfach schütteln.

Beruhige dich. Vertrauen, du brauchst ihr Vertrauen.

„Hey, komm schon“, sage ich versöhnlich und greife nach ihrer Hand. „Mach nicht so ein Gesicht.“

Überrascht hebt sie den Kopf und sieht mich an.

„Du hast selbst gesagt, die Verlobung ist beschlossene Sache. Was können die schon über dich schreiben, was Joe oder der alte Kido nicht eh schon von deinem Vater wissen? Schließlich sind sie alte Freunde.“

Wahrscheinlich eine ganze Menge, sagt mir zumindest mein Bauchgefühl.

Mimi schluckt schwer, dann nickt sie jedoch und ringt sich sogar zu einem Lächeln durch.

„Ja, du hast recht. Wollen wir dann?“

Wir steigen aus und gehen zum Fahrstuhl. Bereits auf den Weg dorthin, werden wir von dem grellen Blitzlicht einer Kamera überrascht. Mimi kneift erschrocken die Augen zusammen, aber ich reagiere schnell und schiebe mich vor sie. Irgendein Paparazzo muss uns gefolgt sein und hat jetzt auf seinen großen Moment gewartet.

Gott, wie ich diese Leute hasse. Kein Respekt vor Privatsphäre.

Als sich die Fahrstuhltüren öffnen, schiebe ich sie rein und zum Glück folgt der Kerl uns nicht.

„Danke“, meint Mimi schwer atmend und sieht mich sorgenvoll an. „Wird das ab jetzt immer so sein?“

„Nicht immer“, lüge ich, um ihr ein bisschen die Angst zu nehmen. „Nur ziemlich oft. Zumindest bis nach der Hochzeit. Danach werden sie Stück für Stück das Interesse verlieren und ihr taucht nur noch ab und zu in den Medien auf. Zumindest war es so bei Jim und Kaori.“

Dass selbst die beiden fast jede Woche in der Zeitung sind, verschweige ich lieber. Aber mir ist schon jetzt klar: sie ist so was von Haifutter.
 

Oben angekommen, gehe ich geradewegs zu Joes Büro. Mimi folgt mir und sieht sich dabei immer wieder suchend um.

„Keine Sorge“, sage ich, weil ich ihre Anspannung förmlich spüren kann. „Wenn jemand von diesen egoistischen, attraktionsgeilen Paparazzi hier auftaucht, rufen wir den Sicherheitsdienst.“

Mimi sieht sich immer noch suchend um, wirkt wie ein scheues Reh, trotzdem sagt sie: „Sie machen nur ihren Job.“

„Sie machen nur ihren Job?“, wiederhole ich fassungslos und zische dabei verächtlich. „Das sind Hyänen, die nicht zögern, dich vor laufender Kamera zu zerfleischen. Du kannst sagen, was du willst, das sind seelenlose Monster, die für ein bisschen Geld alles machen, auch wenn sie dabei deine Grenzen überschreiten.“

„Das sind ziemlich radikale Ansichten“, merkt Mimi an und ich frage mich, warum sie ausgerechnet solche Leute in Schutz nimmt. „Würdest du auch so über den Mann denken, wenn dieses eine Foto davon abhängt, ob er seine Monatsmiete bezahlen kann oder in ein paar Tagen obdachlos ist? Oder wenn er viele Kinder hat, die er versorgen muss?“, fragt Mimi. „Ich glaube daran, dass niemand schlimme Dinge tut, weil er ein schlechter Mensch ist. Menschen tun schlimme Dinge, weil sie verzweifelt sind.“

Ich schnaube ergeben. „Klingt, als wüsstest du, wovon du redest“, sage ich und muss tatsächlich ein wenig lächeln. „Auch wenn es etwas naiv ist.“

Wir bleiben vor Joes Büro stehen und ich klopfe an. Als wir eintreten, sitzt er gerade hinterm Schreibtisch und tippt etwas in seinen Computer ein.

„Jo, was geht?“, rufe ich in den Raum und Mimi sieht mich entrüstet an, weil ich meinen Boss so formlos begrüße. Sie verbeugt sich natürlich, diese Schleimerin.

„Hallo Joe, ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen“, sagt sie und Joe springt prompt von seinem Platz auf, als würde er sich wirklich darüber freuen, dass sie gekommen ist. Hat sie ihn etwa schon um ihren Finger gewickelt?

„Nein, überhaupt nicht“, sagt Joe und verbeugt sich ebenfalls ganz höflich. Dann gibt er Mimi einen Handkuss, die direkt ein wenig rot wird.

Was? Wo bin ich hier? Ist er über Nacht zum Ritter geworden? Angewidert verziehe ich das Gesicht und sehe schnell weg, um diesen intimen Moment nicht zu stören. Er scheint ihr ja jetzt schon verfallen zu sein.

„Was hältst du davon, wenn ich dir gleich erst mal das Krankenhaus zeige? Wir haben einen fantastischen Park“, schlägt Joe vor und Mimi nickt lächelnd.

„Ja, sehr gerne.“

„Vorher muss ich aber noch zu einer Untersuchung. Tai, deine Schwester hat heute einen Termin bei mir. Ich dachte, vielleicht möchtest du dabei sein?“

Kari ist hier? Was für ein Zufall.

„Ja, ich komme gerne mit“, sage ich. „Aber vorher muss ich noch kurz mit dir reden. Unter vier Augen.“

Mein Blick streift den von Mimi und ich vermute, dass sie denkt, dass ich mit Joe über die Paparazzi sprechen will, jedenfalls stimmt sie sofort zu.

„Kein Problem, ich warte einfach draußen.“

Als sie den Raum verlassen hat, sieht Joe mich fragend an. „Was gibt’s denn?“, will er wissen und zieht sich nebenbei seinen Arztkittel über.

„Ich muss mit dir über Mimi sprechen“, komme ich gleich zur Sache. Ihm jetzt noch Honig ums Maul schmieren bringt uns jetzt auch nicht weiter. „Ich habe vorhin ihr Handy gecheckt und glaube, mit ihr stimmt was nicht.“

„Tai“, meint Joe jedoch nur und schüttelt den Kopf, als würde er mich nicht ernst nehmen. „Was ist denn nun schon wieder? Hast du ein anstößiges Foto gefunden? Ich weiß, du magst diese ganze Situation nicht, aber ich habe es schon mal gesagt und sage es gerne noch mal: die Verlobung ist beschlossene Sache. Weder du, noch ich können das ändern. Mimi ist nett und gibt sich Mühe. Was erwartest du von ihr?“

Okay, das reicht, so langsam werde ich sauer. „Das Einzige, was ich erwarte ist, dass sie dich nicht betrügt.“ Ist ja wohl nicht zu viel verlangt. „Mal ehrlich, hat sich irgendeiner von euch mal die Mühe gemacht und ihre Hintergründe gecheckt? Ihren Lebenslauf, einfach alles?“

Joe sieht verwirrt aus und legt nachdenklich die Stirn in Falten. „Nein, wieso sollten wir? Sie ist die Tochter eines alten Freundes meines Vaters. Er vertraut Herrn Tachikawa und somit auch Mimi.“

Und das ist der springende Punkt. Ich muss Joe einfach wachrütteln, vielleicht kommt er ja dann noch mit einem blauen Auge davon, ehe es zu spät ist.

„Joe, ehrlich, ich bin dein Freund und du weißt, dass ich nur dein Bestes will“, sage ich nun etwas versöhnlicher. „Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Ich denke, dass sie nur an dein Geld will und danach weg ist. Überleg mal, eine freie, unabhängige Frau macht von heute auf morgen einen derartigen Sinneswandel durch? No Way! Sie hat auf ihrem Handy gegoogelt, wie man an schnelles Geld kommt und wie viel Geld bei einer arrangierten Ehe für sie rausspringt. Sie wäre nicht die erste Frau, die so etwas macht. Aber da ist noch mehr. Ich habe das Gefühl, dass sie vielleicht eine Leiche im Keller hat, von der wir nichts wissen.“ Im übertragenen Sinne, nicht im wörtlichen.

Nun scheine ich Joes Interesse geweckt zu haben, denn er nimmt seine typische Denker-Pose an und geht mit grimmigem Gesichtsausdruck in seinem Büro auf und ab.

„Meinst du wirklich, ihre Absichten sind so schändlich?“

Ich nicke. „Ich kenne zwar niemanden, der das Wort schändlich heutzutage noch in den Mund nimmt, aber ja. Ich denke, sie ist durchtriebener als du denkst.“

„Okay“, sagt Joe und bleibt abrupt stehen. „Finde heraus, was es ist“, ordnet er an und ich atme erleichtert auf, da er anscheinend gerade zur Vernunft gekommen ist. „Egal, ob die Hochzeit stattfindet oder nicht, wir können es uns nicht erlauben, ins offene Messer zu rennen. Ich hoffe, dass du dich irrst und da nichts ist, aber ich will nichts übersehen. Checke ihr Profil, ich will alles wissen!“

Wieder nicke ich zustimmend. „Wird gemacht.“

Wir sehen uns verschwörerisch an und irgendwie fühle ich mich nicht gut dabei, sie hinter ihrem Rücken auszuspionieren. Das ist nicht unbedingt meine Art, auch wenn ich sie nicht mag und Joe beschützen muss. Aber sie hat uns quasi keine Wahl gelassen. Sie wird uns nicht die Wahrheit sagen und es ist tausend Mal besser, ich finde es heraus, bevor die Presse es tut. Wenn das passiert, sind die Kidos geliefert.

Mimi
 

Während ich vor Joes Tür warte, sehe ich mich im Krankenhaus ein wenig um. Es ist ein ganz klassisches Krankenhaus. Weiße Wände, weiße Decken. Steril eben. Ein paar Schwestern laufen von Tür zu Tür und ich Frage mich, was die Beiden da so lange zu bereden haben. Ich ziehe an meinem Rock, der ungewohnt lang ist und muss daran denken, was Joe vorhin gesagt hat: „Tai, deine Schwester ist da.“

Aha, eine Info, die ich bisher noch nicht wusste. Tai ist also schon mal kein Einzelkind. Warum seine Schwester wohl extra ins Krankenhaus zu einer Untersuchung muss? Hoffentlich ist sie nicht schlimm krank.

Die Tür öffnet sich und die beiden Männer gehen an mir vorbei, während sie sich angeregt über den kürzlich veröffentlichten Artikel austauschen. Okay, das ist etwas eigenartig. Joe hat gar nicht den Blickkontakt zu mir gesucht oder mich irgendwie wahrgenommen. Wortlos folge ich den Beiden und höre gespannt zu. "Und glaubst du, die Presse ist positiv auf Mimi zu sprechen?", hakt Joe bei Tai nach. Sie wissen schon, dass ich direkt hinter ihnen her latsche?

"Auf jeden Fall sind sie Feuer und Flamme und werden sich sicher auf euch konzentrieren."

"Ich fand es nie so schlimm, dass sie sich bisher nicht so für mich interessiert haben. So kann ich wenigstens ungestört meiner Arbeit nachgehen."

"Jetzt werdet ihr die Titelblätter sicher öfter schmücken."

Wie unverschämt, sie reden die ganze Zeit so als wäre ich gar nicht da. Über was haben die vorhin nur gesprochen? Über mich? Hat Tai Joe gesagt, dass ich mich nicht genügend anstrenge? Ich mach doch alles, was ich kann. Sie bleiben stehen und fast wäre ich geradewegs in Joe reingerannt, aber im letzten Moment kann ich mich noch halten.

"Hallo Dr. Kido, die Untersuchungen von Ms. Yagami sind alle eingetragen. Hier sind noch die Ergebnisse vom Labor", teilt eine Krankenschwester mit und überreicht Joe eine Akte. Er nimmt sie entgegen und schaut sich irgendwas an. "Ich danke Ihnen." Er betritt ein Untersuchungszimmer und auch Tai folgt ihm. Ich weiß nicht so recht was ich machen soll und bleibe unschlüssig vor dem Untersuchungsraum stehen. "Brauchst du wieder eine extra Einladung?", stellt Tai die Frage direkt an mich. Ich schüttle den Kopf, folge ihm leise und stelle mich unauffällig in die Ecke. Irgendwie fühle ich mich deplatziert.

"Hallo Kari, schön dich wiederzusehen. Wie fühlst du dich?", richtet Joe die Frage an die Schwester von Tai. Ich schau sie mir neugierig an. Sie sieht Tai tatsächlich sehr ähnlich. Sie scheint auf jeden Fall etwas jünger zu sein. Sie hat braune Schulterlange Haare und ebenso dunkelbraune Augen wie die von Tai, aber ihre Hautfarbe ist um einiges heller, blasser.

"Momentan fühle ich mich sehr gut", erklärt sie mit einem Lächeln.

"Das ist schön, die Laborergebnisse sind auch alle stabil. Wie ist es denn mit deinem Husten?" Kari verdreht die Augen. "Ach, da gewöhnt man sich irgendwann dran, aber es ist trotzdem nervig."

"Ja, das kann ich mir vorstellen. Hattest du denn in den letzten drei Monaten Atemnot oder Atembeschwerden?"

Kari schüttelt ihren Kopf. "Nein, das nicht, aber ich hatte vor einem Monat einen Anfall", erklärt sie.

"Was? Davon hast du mir gar nichts gesagt?" Tai plustert seine Wangen auf und wirkt beleidigt. Irgendwie süß. "Ich will ja auch nicht, dass du dir ständig Sorgen um mich machst. Es reicht schon, dass T.K. dann zum persönlichen Wachhund wird. Ich brauche nicht zwei davon", rechtfertigt sie sich und sieht ihren Bruder versöhnlich an. "Ich will es trotzdem wissen."

"Wie auch immer", unterbricht Joe die beiden Geschwister und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf Kari.

"Wie lange hielt der Hustenanfall an?"

"Hmm, ich würde sagen etwa zwischen fünf und zehn Minuten."

"Das ist lange. Wir machen nochmal eben einen Lungenfunktionstest."

Joe bittet Kari auf einem Stuhl Platz zu nehmen und setzt sich selber gegenüber auf einen Stuhl, wo auf einem kleinen Tisch ein Monitor steht. "Den Ablauf muss ich dir ja nicht mehr erklären", sagt er und holt aus der Schublade eine Klammer mit dem Karis Nase zugehalten wird, heraus.

"Ein paar ruhige Atemzüge, Kari, und wenn ich die Hand hebe, holst du ganz tief Luft und atmest solange wie du kannst aus. Hier ist dein Mundstück." Kari scheint das alles nicht zum ersten Mal zu machen. Sie schiebt sich das Mundstück in ihren Mund und atmet ruhig ein und aus, auf dem Monitor sieht man jetzt eine Kurve. Keine Ahnung was sie zu bedeuten hat, aber es sieht interessant aus. Joe hebt seine Hand und Kari versucht sehr lange auszuatmen, als sie das Mundstück entfernt fängt sie kräftig zu husten an. Tai schaltet sofort, findet einen Wasserbehälter mit weißen Plastikbechern, füllt diesen auf und reicht einen Becher an Kari weiter. Sie nimmt ihn an, während sich durch das Husten kleine Tränen in ihren Augen sammeln. Kari trinkt einen Schluck, muss danach aber wieder leicht husten. Tai schlägt zwischen ihre Schulterblätter und sieht sie sehr besorgt an. "Geht es Kari?" Kari nickt und winkt ab. "Ja alles gut, ihr kennt das doch von mir." Sie trinkt ihren Becher leer und lächelt. Wie tapfer sie ist. "Und Joe, was sagt der Test?", erkundigt sich Tai bei Joe.

"Deine Werte sind zwar alle im unteren Normbereich, aber sehr grenzwertig und da du dazu noch ein sehr junger Mensch bist, macht mir das etwas Sorgen. Ich wäre dafür dir wieder Physiotherapie aufzuschreiben und vielleicht wäre eine Kur am Meer auch nochmal gut für dich. Das solltest du jährlich in Anspruch nehmen. Ich möchte um jeden Preis verhindern, dass die Werte sinken. Ich schreibe dir auch nochmal die Peak Flow Messung für Zuhause auf", erklärt Joe. Ich finde es wahnsinnig beeindruckend wie er das macht. Ärzte haben wirklich was anziehendes an sich. Kari nickt verstehend. "Okay, also wieder tägliches messen?"

"Ja, bis zu unserer nächsten Untersuchung in drei Monaten, aber wenn es dir schlechter geht oder Atemgeräusche auftauchen, meldest du dich sofort. Die Physiotherapie kannst du auch gerne wieder hier im Krankenhaus machen, so kann ich direkt für nächste Woche einen Termin für dich ausmachen."

"Ja gerne, die Physiotherapie hilft mir wirklich immer sehr gut."

"Schon echt praktisch einen Freund zu haben, der hier das sagen hat", grinst Tai.

"Ich hab hier nicht das sagen", erklärt Joe. Wie bescheiden er ist. "Aber in Zukunft schon und widersprechen wird dir hier auch nie jemand." Joe schüttelt lachend seinen Kopf und richtet seine Aufmerksamkeit von Kari auf mich. Er hat wohl jetzt erst wieder Notiz von mir genommen. "Kari, das ist Mimi, sie ist meine …"

"Verlobte. Ich habe es heute schon in der Zeitung gelesen. Mein Handy hat die Schlagzeilen gleich groß auf meinem Bildschirm angezeigt. Hi Mimi, ich bin Kari, Tais Schwester."

"Hallo Kari, es freut mich sehr dich kennenzulernen." Ich verbeuge mich auch leicht vor ihr und weiß immer noch nicht so Recht wie ich mich verhalten soll.

"Darf ich Mimi sagen, was dir fehlt?", fragt Joe Kari, als seine Patientin. Sie nickt und willigt somit ein.

"Kari hatte vor einigen Jahren eine schwere Lungenentzündung und hat dadurch eine Lungenfibrose zurückbehalten, deshalb kommt sie regelmäßig zur Kontrolle", erklärt Joe mir und ich bin dankbar, dass er mich mit einbezieht und sich die Zeit dafür nimmt.

"Ach Joe, brich dir keinen ab, sie hat eh keinen Schimmer wovon du sprichst", funkt Tai dazwischen und am liebsten würde ich ihn würgen, aber unter den Umständen, dass hier jemand wirklich schlecht Luft bekommt, kommt mir das äußerst unhöflich vor. "Tzz, natürlich weiß ich was eine Lungenfibrose ist. Bei einer Lungenfibrose bildet sich überflüssiges Bindegewebe in der Lunge, zwischen den Lungenbläßchen und rund um die Blutgefässe", erkläre ich total selbstsicher. Google sei Dank und nachdem ich gestern Pneumologie gegoogelt habe, habe ich auch direkt die häufigsten Lungenkrankheiten gegoogelt und auch wenn ich keine Ahnung habe, so konnte ich schon immer gut auswendig lernen.

"Wow, sehr gut Mimi, das musste ich Tai früher immer sehr genau erklären."

"Ach, wusstest du das nicht? Ich finde sowas gehört zur Allgemeinbildung einfach dazu." Tai. Will. Mich. Töten!

Aber das ist mir egal. Ich muss bei Joe punkten und nicht bei Tai. "Wirklich beeindruckend, Mimi." Joe lächelt mich an und ich bin gerade richtig froh darüber. "Ich wollte Mimi noch das Krankenhaus zeigen. Kari, möchtest du uns noch begleiten?"

"Sehr gerne."
 

Wir verlassen das Untersuchungszimmer und Joe und Tai gehen wieder voran. Tai scheint wohl noch ein paar Fragen wegen Karis Befund zu haben und so hab ich die Möglichkeit Kari ein wenig näher kennenzulernen. "Mein Bruder, er kann es einfach nicht lassen", spricht Kari los und auch wenn ich nicht weiß, ob sie es zu mir gesagt hat, antworte ich ihr. "Ich finde es schön, wie er sich um dich sorgt."

"Ja, er ist wirklich der beste Bruder, den man sich nur wünschen kann."

"Ich habe keine Geschwister, daher weiß ich nicht, wie es ist einen großen Bruder zu haben." Ich habe nicht das Gefühl, dass mir deswegen was im Leben gefehlt hat, was man nicht kennt, kann man ja schließlich auch nicht vermissen.

"Als Kinder waren wir immer ein Herz und eine Seele. Wir haben uns tatsächlich selten gestritten, obwohl das unter Geschwistern ja auch normal ist. Er hat mich immer schon vor allem und jedem beschützt. In meiner Jugend ist mir das aber dann ein bisschen zu viel geworden. Die Jungs hatten alle Angst vor ihm", erinnert sich Kari zurück und es fällt mir nicht schwer das zu glauben. "Schlussendlich hat er immerhin Takeru abgesegnet, aber vielleicht auch nur, weil der Bruder von Takeru auch ein Freund von ihm ist. Schlimm wurde es erst, als ich krank wurde. Er konnte nichts für mich tun, mich nicht davor beschützen oder die Krankheit auf sich nehmen. Ohne die Kidos wüsste ich auch nicht, ob ich noch hier wäre." Karis Stimme wird ein wenig leiser, auch wenn sie versucht tapfer zu sein, so scheint ihre Krankheit ein sehr dunkles Kapitel bei allen gewesen zu sein. "Das muss sehr schwer für euch alle gewesen sein. Wie alt warst du damals?"

"19 Jahre." Wow, 19 Jahre. So unglaublich jung und doch hing ihr Leben an einem einzigen Faden. Das ist nicht richtig. Das sollte so nicht sein. "Ich bin froh, dass du hier in so guten Händen warst und bist. Jetzt kannst du anderen mit deiner Geschichte Mut machen." Kari sieht mich erstaunt an. "Mut machen?"

"Na klar, ich will mir gar nicht vorstellen, wie viele Menschen das durchmachen, was du durchmachen musstest und eine echte Überlebende ist doch die beste Inspiration."

"So habe ich das noch gar nicht gesehen", murmelt Kari nachdenklich.

"Dann wird es höchste Zeit."

"Dabei ist es bisher immer Tai gewesen der allen Mut zuspricht, aber als Trainer ja auch irgendwie normal."

"Trainer?", hake ich überrascht nach.

"Ach, weißt du das gar nicht? Tai ist Fußballtrainer für eine Bambini Mannschaft." Sofort geht mein Blick zu Tai. Ist der Typ ein Chamäleon?

"Ich dachte, er ist Stuntman", frage ich irritiert.

"Rede nur nicht davon, wenn ihm jemals was passiert, bringe ich ihn um."

Irgendwie scheint niemand darüber glücklich zu sein, dass er Stuntman ist.

"Tai hat immer gerne Fußball gespielt. Natürlich wäre er auch am allerliebsten Fußballprofi geworden, aber dafür hat es nicht gereicht. Irgendwann begann er die Kleinen zu trainieren, aber durch seine zwei Jobs hat er dafür keine Zeit mehr gehabt. Um den Job als Fußballtrainer nicht ganz aufzugeben, hat er dann eine Stiftung gegründet: Jedes Kind sollte Fußballspielen dürfen. Seit zwei Jahren finden in den Sommerferien für zwei Wochen ein Fußballcamp für alle Kinder von fünf bis zehn Jahren statt. Dieses Projekt kostet die Eltern nichts, damit alle Kinder, egal aus welcher sozialen Schicht sie kommen, daran teilnehmen dürfen. Dafür hat es natürlich Sponsoren gebraucht."

"Lass mich raten, die Familie Kido hat das übernommen?" Kari nickt lachend.

"Oh ja und sie sind immer ein voller Erfolg."

"Glaub ich sofort."

Tai. Tai. Tai. Heute habe ich eine Menge interessanter Dinge über dich erfahren. Ich kenne nicht viele Männer, die Stuntmänner sind und gleichzeitig eine Assistentenstelle besitzen, der dann wiederum mit Kindern ins Fußballcamp fährt. Was ist das für ein Typ? Ich glaube sogar, er ist der Einzige, der all diese Dinge gleichzeitig tut.

Joe hält an und dreht sich zu uns um. "Wir erreichen jetzt die Kinderstation, da müssen wir einmal durch und kommen so auch direkt auf die große Terrasse mit Park und Spielplatz. Das war uns besonders wichtig, damit die Kinder auch die Möglichkeit haben zu spielen", erklärt Joe. Ich finde es wirklich toll, dass sich die Familie Kido über so etwas Gedanken gemacht hat. Ich schaue mir die einzelnen Zimmer an. Jedes Zimmer ist belegt. In jedem Zimmer auf der Station ist ein krankes Kind. Mal offensichtlich ein Gips, aber bei manchen weiß ich nicht, was ihnen fehlt. In einem Zimmer sitzen drei Kinder auf großen Stühlen, sie bekommen irgendeine Infusion und zwei von ihnen haben keine Haare mehr, sondern eine Glatze. Bei diesem Anblick werde ich direkt traurig. Es sind doch nur Kinder, warum werden Kinder überhaupt krank? So krank, dass sie an ihrer Erkrankung sterben könnten? Das ist einfach nicht fair. Ob Joe schon oft ein Kind hat sterben sehen? Wie hält man sowas nur aus?

Ich bekomme nicht Mal mit, wie die anderen die Station verlassen. Mein Blick haftet sich auf einen kleinen Jungen, an dessen Zimmer ich gerade vorbei gehen wollte. Er kann nicht älter als fünf Jahre sein. Ich weiß nicht warum er hier ist. Er sitzt an seinem Tisch und malt verträumt. Ich betrete das Zimmer und klopfe vorsichtig an die Tür. "Ja, musst du mich wieder pieken?"

Sofort schüttle ich den Kopf.

"Nein, ich wollte nur dein Kunstwerk bewundern", behaupte ich und schaue es mir genau an. Er hat eine Art Superheld gemalt. "Uhhh, ein Superheld. Welche Superkraft hat er denn?", frage ich den kleinen Jungen.

"Er kann alle Krankheiten heilen, sogar die, die man nicht kennt", antwortet der Junge und malt mit seinem großen grünen Stift weiter. "So ein Superheld braucht aber auch einen Umhang", äußere ich und deute auf den roten Stift.

"Möchtest du den malen?"

"Wenn ich darf."

"Na klar." Ich zeichne einen roten Umhang und bin ganz zufrieden mit unserem krankheitsvernichtenden Superhelden. "Jetzt braucht er nur noch einen Namen."

"Stimmt, mir fällt aber keiner ein", murmelt der kleine Junge und legt seinen Kopf schief.

"Wie ist denn dein Name?", frage ich den kleinen Jungen."Yuto und deiner?"

"Ich heiße Mimi, was hälst du von Atomic Yuto?"

"Aber Yuto ist doch schon mein Name."

"Ja genau deswegen, ich finde du bist der stärkste Junge, den ich kenne. Du wirst nämlich auch jede Krankheit besiegen, allen Nadeln trotzen und jedes Pflaster in Glitzer verwandeln."

"Ja, Glitzer find ich toll und den Namen auch. Darf ich vorstellen, das ist Atomic Yuto", lacht der kleine Junge.

"Oh, es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Atomic Yuto", sage ich und verbeuge mich selbstverständlich auch vor ihm.

"Mimi, was machst du denn hier? Wir warten alle auf dich." Tai steht plötzlich im Zimmer und sieht wie immer genervt aus, wenn er mich sieht. "Ich hab mich nur mit meinem neuen Freund Yuto unterhalten."

Ich sehe zu Yuto runter und lege meine Hand auf seinen Kopf, die Stirn fühlt sich sehr warm an. "Ich muss jetzt leider los, aber ich hoffe, wir sehen uns bald wieder."

"Ja, das fänd ich schön Mimi, bis dahin hab ich auch noch ganz viele Atomic Yutos gemalt", sagt der Junge ganz euphorisch.

"Die lass ich mir unter keinen Umständen entgehen."

"Mimi! Joe wartet und er hat nicht ewig Zeit." Ich verdrehe genervt die Augen.

"Weißt du Tai, wenn es Kari wäre, die hier liegen würde, würdest du auch nicht so einen Aufstand machen. Er ist ein kleiner Junge, der hier liegt und dem ich eine kleine Freude bereitet habe. Ich rette vielleicht kein Leben, aber ich konnte wenigstens einem kleinen Jungen etwas Freude bringen und das ist auch etwas Wert." Ich dampfe an ihm vorbei und Joe steht vor mir. Ich zucke nicht zurück und werde mich für meinen Satz auch nicht entschuldigen. "Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen", spricht Joe weiter und nimmt meine Hand. Was ist denn jetzt los?
 

Er führt mich zur großen Dachterrasse. Soviel grün, so hoch, auf einem Krankenhausdach, mitten in Tokyo. Wahnsinn.

"Ich finde auch, dass strahlende und lachende Kinderaugen ganz wichtig für die Genesung sind. Es war nicht so einfach, meinen Vater von diesem Projekt zu überzeugen, denn schließlich bringt es kein Geld rein, aber die Beiden da hinten." Joe zeigt auf Tai und Kari "haben mir geholfen meinen Vater zu überzeugen."

Ich bin beeindruckt. Ich finde es toll, dass sie das auf die Beine gestellt haben.

"Sowas sollte es überall geben, auch wenn ich weiß, dass das nicht möglich ist."

"Nein, wir sind schon froh, wenn wir Ehrenamtler finden, die für die Kinder vorlesen oder Gesellschaftsspiele spielen."

"Ich würde es so gerne machen, aber leider darf ich nicht", sagt Kari geknickt.

"Nein, das wäre für dich wirklich zu gefährlich", spricht der Arzt direkt an Kari gerichtet.

"Ich würde es gerne machen", platzt es aus mir heraus. Aber irgendwie kommt mir das noch zu wenig vor. Nur vorlesen und Spiele spielen. Da muss noch mehr her. "Du Joe, ich habe da eine Idee. Ich würde hier gerne ein kleines Benefiz Konzert geben. Nichts großes, was die Kinder überanstrengt. Ein kleines Akustik Ensamble mit Kaffee und Kuchen. Die Einnahmen können wir doch direkt für die Station ausgeben oder für Ausflüge."

Oh, das möchte ich machen. Ich liebe es einfach zu planen, zu organisieren und dann das Endprodukt zu bestaunen.

"Mimi, das geht nicht, wir können hier keine Künstler ins Haus holen und Konzerte geben."

"Nein, ich spreche auch nicht von fremden Künstlern, sondern von mir." Joe sieht mich neugierig an.

"Ich kann zufälligerweise Klavier spielen und singen. Ich möchte den Kindern gerne eine Freude bereiten. Ich kann übrigens auch echt gut backen. Du musst niemanden engagieren, ich kann das alles alleine machen. Ich brauche nur deine Erlaubnis."

Tai räuspert sich und Joe sieht ihn an. "Also, ich finde die Idee nicht schlecht. Zu einem, weil die Kinder es grundsätzlich verdienen und zum anderen, weil wir das sehr gut nutzen können, um Mimi in der Öffentlichkeit in ein sehr positives Licht zu rücken und wir brauchen soviel positive Presse wie nur möglich." Joe sieht nachdenklich aus, aber Tais Meinung genießt einen hohen Stellenwert bei ihm.

"Oh, bei den Vorbereitungen würde ich auch gerne helfen und beim Fest. Ich meine, ich kann ja Kaffee ausschenken, oder?" Auch Kari scheint von meinem Vorschlag begeistert zu sein.

Joe sieht noch ein wenig zweifelnd aus, aber dies hält nicht lange an und er nickt.

"Okay, ich meine, ich muss natürlich meinen Vater um Erlaubnis bitten, aber wenn keine großen Kosten entstehen, wir dafür aber viel positive Presse bekommen, wird er es sicher absegnen."

Ich beginne zu strahlen. Okay, es wird mich jetzt schon nerven, dass die Presse dabei sein wird, aber das muss ich einfach zur Seite schieben und mich auf das Wesentliche konzentrieren. Die Kinder.
 

Unsere Mittagspause geht zu Ende. In der Zeit haben Kari und ich uns einen kleinen Plan erstellt, wie wir dieses Benefiz Konzert am besten planen können. Das macht wirklich Spaß. Schon beim ersten Meeting haben wir tolle Ideen gesammelt. Zum einen werde ich nach dem Konzert noch Kinderschminken anbieten und Kari wollte gerne ein kleines, lustiges Shooting veranstalten. Alles natürlich durch den Arzt ihres Vertrauens abgesegnet. Tai und ich haben ebenfalls unseren nächsten Termin. Ich freue mich schon auf langweilige, Anzug tragende Männer, denen ich Honig ums Maul schmieren muss - nicht. Kari begleitet noch kurz Joe, um noch zwei Rezepte von ihm zu erhalten, sodass sie noch nicht gleich mit zum Ausgang geht.

"Die Idee mit dem Benefiz Konzert find ich wirklich gut", gesteht Tai mir. Ich sehe ihn belustigt an, war das etwa ein Kompliment? "Weil es sich gut vermarkten lässt?"

Er schüttelt den Kopf. "Nein, weil Kinder unsere Zukunft sind und Kinder nicht in ein Krankenhaus gehören. Manche sehen nie was anderes und andere kommen hier nicht mehr raus." Traurig und absolut nicht richtig. Ich nicke daher nur betrübt. "Ein paar schöne Stunden, um sie von all ihrem Kummer, den Sorgen und Ängsten abzulenken ist einfach schön." Abgesehen davon, dass Tai gerade einmal ganz normal mit mir geredet hat, ist auch seine Stimmfarbe diesmal sanft und weich. Sonst wirkt sie mir gegenüber hart und kantig. Ich wollte mich gerade bei ihm bedanken, als die Türen des Krankenhauses sich öffnen und das übelste Blitzlichtgewitter losgeht, was ich jemals gesehen habe. Ich höre nur ein "Fuck" aus Tais Mund, doch dafür ist es zu spät. Ich weiß gar nicht wie mir geschieht, da reißt jemand an meiner Hand und hält mir die Kamera direkt vor mein Gesicht. "Mimi? Mimi? Was genau haben Sie vor ihrem Japanaufenthalt in L.A. gemacht?" Ein anderer Reporter, ähnliche Frage. "Wie kam ihr Entschluss Joe Kido zu heiraten?" Wieder ein anderer Reporter, der seine Kamera direkt in mein Gesicht hält. "Kennen Sie sich schon länger?" Ich werde durch die Paparazzi geschoben, von allen Seiten werden Fotos geschossen und Fragen gestellt. Ich bekomme Angst

Warum hört das denn nicht auf?

"Ist die Familie Kido gut zu Ihnen?" Foto.

"Wie viele Sprachen sprechen Sie?" Foto.

"Werden Sie öfters hier im Krankenhaus ihres Verlobten sein?" Foto.

Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll. Ich kann nichts sehen, mir wird schon ganz schwindelig von den ganzen hellen Lichtern. Plötzlich ergreift mich eine Hand, dann ein Arm und ich werde an einen Körper herangezogen, erst will ich mich dagegen wehren, dann sehe ich, dass es Tai ist, der mir mit einem Mal noch größer erscheint als er eh schon ist. Mit der anderen Hand schiebt er die Reporter zur Seite. "Gehen Sie alle sofort aus dem Weg!", spricht er bedrohlich aus und schiebt einem Reporter die Kamera ins eigene Gesicht zurück. Er hebt seine Arme ergeben nach oben und lässt uns durch. Auf den Arztparkplätzen steht Joes Auto. Tai öffnet mir die Autotür, steigt selber schnell ein und tritt hastig aufs Gaspedal. Ich habe die Augen geschlossen. Was ist das eben gewesen? Sieht so meine Zukunft aus? Ich will das nicht, wie können sie so grob vorgehen? Jetzt verstehe ich Tai besser. Vielleicht sind sie wirklich seelenlose Monster. Ich öffne meine Augen und sehe Tai an. Seine Hände umfassen das Lenkrad fest und er sieht wütend aus. "Danke", zittert meine Stimme und ich merke erst jetzt wie sehr mein ganzer Körper bebt.

"Wofür? Dass ich dich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hab?“

"Aber das war doch nicht deine Schuld."

"Ich hätte aber wissen müssen, dass sie auf uns warten und dass sich mittlerweile rumgesprochen hat, wo du bist. Ich mache den Beruf schließlich nicht erst seit gestern." Ich möchte nicht, dass Tai sich deswegen schlecht fühlt. Er kann auch nicht ständig an alles denken. Ich lege meine Hand auf seine, die immer noch das Lenkrad fest umklammert. Seine Körperanspannung lässt nach und er sieht kurz zu mir rüber. "Tai, es ist nicht deine Schuld, du hast mich von Anfang an gewarnt, dass sowas passieren wird. In Zukunft werden wir besser vorbereitet sein." Ich lächle ihn an, um ihm zu zeigen, dass es mir gut geht, obwohl ich mir gerade nicht sicher bin, ob ich mir selber etwas vor mache. "Das wird sicher nicht mehr vorkommen. Ich würde sagen, wir lassen die VIP Lektion für heute ausfallen, holen uns was zu Essen und fahren erstmal zur Villa zurück. Morgen ist auch noch ein Tag." Ich nicke. Ich würde ihm jetzt sowieso nicht widersprechen und so heiß bin ich auf diese VIP Lektion eh nicht.

"Darf ich mir das Essen wenigstens selber aussuchen?", frage ich Tai und ich sehe, dass er ein wenig schmunzeln muss.

"Ja, natürlich." Auch ich lächle und auch wenn das vorhin mehr als gruselig gewesen ist, so ist es jetzt umso schöner, dass Tai und ich mal etwas ungezwungener miteinander umgehen können. Da werde ich heute Abend für mein Tagebuch ja eine ganze Menge Stoff haben.

Kapitel 8

Mimi
 

„Musst du wirklich gehen?“

„Du schaffst das schon. Ich bin nur drei Tage weg“, sagt Joe und sieht mich mitfühlend an, wohingegen ich mir vorkomme wie ein Hündchen, dass von seinem Herrchen verlassen wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch genauso gucke. Mit hängenden Schultern stehe ich auf der Eingangstreppe des Kido Anwesens und sehe dabei zu, wie Joes Koffer von Ansgar in einen Wagen verfrachtet wird.

Würde mich am liebsten direkt mit dazu legen. Ein dunkler, enger Kofferraum, wo mich niemand findet.

„Kann ich nicht doch mit dir kommen?“, frage ich zum dritten Mal an diesem Tag und versuche dabei nicht all zu verzweifelt zu klingen.

Joe lächelt und greift nach meiner Hand.

„Du weißt, dass es besser für dich ist hier zu bleiben.“ Seine warmherzige Stimme versichert mir, dass er gerade nur mein Bestes will.

Ich nicke. Seit der Sache im Krankenhaus sind fünf Tage vergangen und es gab keinen einzigen davon, an dem die Presse nichts über mich geschrieben und Fragen gestellt hat. Unfassbar wie doch eine scheinbar unbedeutende Person plötzlich zum Gespräch der ganzen Stadt wird. Seither haben wir alles in die Villa verlagert und ich bin nicht mehr vor die Tür gegangen – wenn man von dem riesigen Garten mal absieht, in dem ich jeden Tag spazieren gehe. Es war mir ganz recht so, da auch für mich diese neue Berühmtheit ein Schock war. Wenn ich schon an dieses Blitzlichtgewitter und an Tai denke, der mich förmlich da raus zerren musste, wird mir ganz schlecht. Deshalb war ich froh, als Tai und Joe sich nach dem Vorfall einig waren, mich erst mal nicht unnötig der Öffentlichkeit auszusetzen.

Mein goldener Käfig ist nun also perfekt.

Aber jetzt, wo Joe drei Tage zu diesem Ärztekongress muss, fühle ich mich in diesem riesigen Haus irgendwie verloren. Wir haben uns zwar immer nur morgens und abends gesehen, wenn wir zusammen gegessen haben, aber Joe gibt mir die Sicherheit, dass ich in diesem Anwesen nicht mutterseelenallein bin. Denn auch, wenn ich permanent von Bediensteten umgeben bin, fühlt es sich doch manchmal so an.

„Du kannst mich jederzeit anrufen“, sagt Joe und drückt mir zum Abschied einen kurzen Kuss auf die Wange. Ich kann diese liebe Geste leider nicht erwidern. „Tai wird nach dir sehen. Er kümmert sich um dich, wenn ich nicht da bin.“

Innerlich verdrehe ich die Augen. Das klingt als wäre ich ein Haustier, mit dem man ein paar mal am Tag Gassi gehen muss. Ehrlich gesagt habe ich Tai seit dem Vorfall im Krankenhaus nicht mehr gesehen. Und ich habe keine Ahnung, warum. Joe meinte nur, er hätte andere Dinge zu erledigen und ich habe nicht weiter nachgefragt. Dabei müsste ich doch mit meinen Lektionen in japanischer Kultur schon meilenweit hinterher hinken.

Ich nicke wieder und zwinge mich zu einem Lächeln, was Joe zwar nicht so richtig beruhigt, aber einfach genügen muss. Er steigt in den Wagen ein und lässt noch mal das Fenster runter.

„Wir sehen uns in drei Tagen. Tschüss, Mimi.“

„Ja, bis dann. Ich wünsche dir viel Spaß auf dem Kongress.“

Wörter wie „Spaß“ und „Kongress“ in einem Satz zu benutzen erscheint mir absolut kurios.

Als er vom Grundstück fährt, stehe ich noch einige Minuten regungslos da und starre ihm hinterher, unschlüssig, was ich jetzt tun soll. Die letzten Tage habe ich mich viel in der hauseigenen Bibliothek der Kidos ausgetobt. Ich habe viele Gedichte gelesen und auch selbst geschrieben, vor allem Tagebuch. Ich habe hier niemanden, mit dem ich offen sprechen kann und wenn ich mein Innerstes aufschreibe, drehe ich zumindest nicht komplett durch.

„Es ist ein wunderschöner Tag, Miss Tachikawa“, spricht Ansgar mich nun an, weil ich mich immer noch nicht rühre. „Haben Sie schon den Pool ausprobiert? Frau Kido schwimmt dort jeden Morgen ihre Bahnen und schwört darauf, dass es ihr unglaublich gut tut.“

Ich drehe den Kopf zur Seite und lächle ihn verkrampft an. „Versuchen Sie etwa, mich aufzumuntern, Ansgar?“

„Nun, so ein trauriges Gesicht sehe ich nun mal nicht gerne an Ihnen, Miss Tachikawa. Lenken Sie sich ein wenig ab. Man kann es sich hier durchaus gut gehen lassen.“

Klingt ja sehr spaßig – wenn man den ganzen Tag allein ist.

Dr. Kido ist anscheinend mit seiner Arbeit verheiratet und so gut wie nie zu Hause und Joes Mutter … ich habe keine Ahnung, was sie den ganzen Tag so macht. Angeblich ist sie heute zu Hause, aber das Anwesen ist so groß, dass wir es schaffen uns regelmäßig zu verpassen.
 

Ich habe soeben beschlossen, Ansgars Rat zu befolgen und den Pool endlich mal auszuprobieren, also gehe ich hoch auf mein Zimmer und ziehe mich um. Als ich mich in meinem lila Bikini im Spiegel betrachte, muss ich ein wenig schmunzeln. Es ist eine Schande, was diese langen Röcke und Blusen ständig verbergen. Ich hoffe, Joe weiß das. Vielleicht sollte ich den Bikini noch mal anziehen, wenn er wieder da ist.

Unten am Pool liegen bereits mehrere Handtücher bereit, von denen ich mir eins nehme und auf eine Liege lege. Dann gehe ich zum Poolhaus und schaue, ob ich da eine Luftmatratze oder etwas ähnliches finde und tatsächlich, sie ist sogar schon aufgeblasen. Perfekt!

Das Wasser ist angenehm und nachdem ich ein paar Bahnen geschwommen bin, lege ich mich auf die Luftmatratze und lasse mir die Sonne auf den Körper scheinen.

Gott, tut das gut. Es erinnert mich sofort an L.A., obwohl es in Japan zur Zeit nicht ansatzweise so heiß ist wie dort. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass meine Poren gerade jeden einzelnen Sonnenstrahl aufsaugen. Ich seufze erleichtert und freue mich über diese Entspannung so sehr, dass ich sogar kurz weg döse.

Bis mich eine inzwischen vertraute Stimme unsanft wach rüttelt.

„Was machst du da?“

Ich brauche die Augen gar nicht erst öffnen, weil ich schon höre, dass es Tai ist, der offenbar am Rand des Pools steht und beschlossen hat mich zu nerven.

„Geh weg“, knurre ich nur. „Ich meditiere.“

„Ja, das sieht man.“

Er klingt belustigt, aber ich habe die Augen trotzdem immer noch geschlossen, in der Hoffnung, er würde einfach wieder gehen. „Ich habe gehört, dass meditieren traditionell japanisch ist. Also lass mich in Ruhe meine Übung machen.“

Kurz antwortet Tai nicht und ich wage zu hoffen, dass er vielleicht wirklich gegangen ist. Aber das müsste ich ja inzwischen besser wissen. Als ob dieser Typ mich jemals in Ruhe lässt.

„Du weißt schon, dass du nicht für immer hier drin bleiben kannst? Irgendwann musst du wieder vor die Tür und dich den Medien stellen“, sagt er plötzlich nach einer Weile. Sofort zieht sich mein Magen krampfartig zusammen. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke.

„Ja, aber nicht heute“, antworte ich. Ich habe mit meinen Eltern telefoniert. Sie meinten, so langsam werden auch in New York Stimmen laut, die sich fragen, warum mein Vater so plötzlich nicht mehr arbeitet. Es ist eine Frage der Zeit, bis irgendjemand einen Fehler macht. Aber wir waren uns alle einig, dass es für uns alle das Beste ist, den Ball flach zu halten und so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Zumindest bis nach der Verlobungsfeier in zwei Monaten.

„Die Presse hat ein Interview angefragt“, redet Tai jedoch nichtsahnend weiter. „Und ich habe zugesagt.“

„Du hast was?“ Mit einem mal reiße ich die Augen auf und setze mich hin. Ich sehe Tai am Poolrand stehen, er trägt heute nur ein Shirt und eine Jeans und nicht wie sonst einen Anzug. Würde ich nicht gerade völlig in Panik ausbrechen, würde ich ihn sogar ziemlich attraktiv finden.

Tai zuckt mit den Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben. „Früher oder später müsst ihr ein offizielles Statement abgeben und ein Interview erschien mir der sicherste Weg. Ich bekomme die Fragen vorab zugeschickt. Keine Überraschungen, kein Überfall von Kameras in ungünstigen Momenten. Wir können dich ins richtige Licht rücken. Ich dachte, das wäre auch in deinem Interesse.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Verdammt, er hat recht. Was habe ich erwartet? Dass ich mich für immer und ewig hier einsperren kann? Ich bin die Verlobte eines Arztes, dessen Familie viel Einfluss hat. Ich kann mich den Medien nicht einfach so entziehen. Ich muss ihnen irgendetwas geben. Und wie lenkt man einen hungrigen Hund ab, vor dessen Nase ein saftiger Knochen liegt? Genau, mit einem anderen Knochen – einen, an den er viel leichter ran kommt. Wenigstens kann ich so bestimmen, was sie fressen. Das war vermutlich auch Tai’s Gedanke, also kann ich ihm unmöglich einen Vorwurf machen. Er macht nur seinen Job.

Ich rutsche von der Luftmatratze und lasse mich ins Wasser gleiten, um zum Beckenrand zu tauchen. Als ich auftauche, schaue ich zu Tai auf.

„Du hast recht. Danke“, sage ich und Tai nickt. Warum sieht er heute so ernst aus?

Ich stemme mich am Beckenrand hoch und als ich aufstehe, hält Tai mir bereits ein Handtuch hin. Ich Wickel mich darin ein und sehe ihn fragend an.

„Wo warst du die letzten Tage?“

„Ich hatte einiges zu erledigen“, antwortet er knapp, was alles mögliche bedeuten kann.

„Tja, ganz im Gegensatz zu mir“, entgegne ich gelangweilt und Tai huscht ein Grinsen übers Gesicht.

„Hast du mich etwa vermisst?“

Nein, ich sterbe hier nur vor Langeweile.

Ich zische verächtlich, während mein nasser Körper den Boden voll tropft.

„Ich habe mich nur gefragt, wann wir mit unseren Lektionen weiter machen. Ich dachte, Joe wäre das wichtig und plötzlich lasst ihr es so schleifen?“

„Es gab eben Wichtigeres“, gibt Tai nur knapp als Antwort. Gut, offenbar will er mich nicht einweihen, aber das ist mir auch egal.

„Aber da Joe nun erst mal weg ist, hat er mich darum gebeten, dass wir die Zeit intensiv nutzen und mit unseren Lektionen weiter machen. Du hast also Glück. Ich werde dir drei ganze Tage nicht von der Pelle rücken.“

Ich lege den Kopf schief und kaufe ihm sein viel zu breites Grinsen nicht ab. Kaum ist Joe außer Haus, klebt er an mir wie eine Klette? Warum habe ich das komische Gefühl, dass ich hier überwacht werden soll?

„Ich Glückspilz“, antworte ich wenig begeistert und lasse ihn stehen, um zurück ins Haus zu gehen und mich umzuziehen. Doch stattdessen verharre ich mitten in der Tür und betrachte das Spektakel, dass sich mir bietet.

„Wo … wo kommen die ganzen Leute her?“, frage ich überrascht und beobachte wildfremde Menschen dabei, wie sie reihenweise Kleiderständer im ganzen Wohnbereich aufbauen und gefühlt hunderte von Kleidern, eingehüllt in Plastiküberzügen, reinschleppen.

Tai tritt hinter mich und sieht nicht weniger verwirrt aus. Ich gehe zu einem der Kleiderständer, der schon reichlich gefüllt ist.

Weiß. Weiß. Weiß, weiß, weiß, weiß.

Wo ich auch hinsehe, überall weiße Kleider.

Oh. Mein. Gott.

Hilfesuchend sehe ich zu Tai und reiße die Augen auf. „Tai, sind das etwa alles …?“ Doch weiter komme ich nicht, da Frau Kido durch den Eingangsbereich auf mich zugeeilt kommt.

„Liebes, ich habe schon überall nach dir gesucht.“

Sie greift nach meinen Händen und mir rutscht das Handtuch vom Körper. Ich stehe hier allen Ernstes, halb nackt, in mitten von hunderten von Brautkleidern.

Frau Kido strahlt übers ganze Gesicht. „Nur eine kleine Auswahl an Brautkleidern von mir.“ Dann rümpft sie die Nase, während sie mich und meinen Körper betrachtet wie ein Stück teures Fleisch.

„Nehmt diese wieder mit“, ordnet sie an und deutet auf einen Ständer neben uns. „Der Meerjungfrauenschnitt steht ihr nicht.“

Der was?

Ich bin völlig überfordert und weiß gar nicht, was ich sagen soll.

Frau Kido wendet sich wieder mir zu, während sie immer noch meine Hände festhält. „Ich dachte, wir nutzen die Zeit, wenn Joe nicht da ist und machen eine kleine Anprobe.“

Klein? Das nennt sie klein?

„Er soll dich ja schließlich nicht im Brautkleid sehen. Er weiß gar nichts davon. Außerdem können wir unmöglich zur Anprobe in ein Brautmodengeschäft gehen. Stell dir das mal vor, Liebes. Die Presse würde sich ja auf dich stürzen.“

Ich schlucke schwer. Was für ein furchtbarer Gedanke.

„Deshalb habe ich alles kurzerhand hierhin verlegen lassen. Das ist dir doch sicher recht so, Mimi?“

Ich nicke schwach und sehe hilfesuchend zu Tai, der nun auf uns zukommt.

„Aber, wir wollten heute mit unseren Lektionen weiter machen“, versuche ich mich verzweifelt aus dieser Lage zu manövrieren.

„Ach, das kann doch noch bis Morgen warten“, trällert Frau Kido vor sich hin und ist anscheinend hellauf begeistert von ihrer Idee.

„Nun, ich denke, das hier …“, sagt Tai gedehnt und deutet mit dem Finger um sich. „ … was auch immer das werden soll, ist wichtiger.“

Ich schnaufe innerlich und würde ihm am liebsten an den Hals springen. War so klar, dass er mich hängen lässt. Und sein verräterisches Grinsen sagt mir, dass er es mal wieder genießt, mich leiden zu sehen.

„Sag ich doch“, stimmt Frau Kido ihm zu und klopft ihm auf die Schulter. „Guter Junge.“ Dann widmet sie sich wieder dem Personal, um die letzten Anweisungen zu geben.

Ich funkle Tai wütend an.

„Danke, dass du mir in den Rücken fällst.“

Tai lacht amüsiert auf. „Was erwartest du? Du willst eine Kido werden. Egal, was sie mit dir machen, du musst es über dich ergehen lassen.“

Ich verziehe das Gesicht. Wie gut, dass er mich daran erinnert, dass ich ab jetzt keinen freien Willen mehr habe. Hätte ich ja fast vergessen.

„Ich komme später wieder. Viel Spaß bei der Anprobe“, säuselt er belustigt zum Abschied und ich hätte ihm für seine selbstgefällige Art am liebsten in den Hintern getreten. Aber das hätte auch nichts genützt. Er hat ja recht. Augen zu und durch. Wenn ich mich ganz sehr anstrenge, kann ich vielleicht sogar so tun, als ob es mir Spaß macht.
 

Leider ist es genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Zwei Frauen, die extra zur Anprobe mitgekommen sind, helfen mir beim Einkleiden und stecken mich in ein Brautkleid nach dem anderen. Und auch wenn die Prozedur nervenzehrend ist und bereits seit Stunden geht, muss ich doch zugeben, dass die Kleider alle wunderschön sind. Noch schöner wäre es, wenn ich mir selbst eins aussuchen könnte, aber das ist in diesem ganzen Brautmoden-Plan nicht vorgesehen.

„Hmm“, macht Frau Kido nachdenklich, als ich in dem zehnten Kleid vor ihr stehe und legt den Kopf schief. „Sehr hübsch, aber irgendetwas stört mich daran.“

Ach was.

Manche Kleider waren ihr zu kurz, andere zu lang, einige hatten zu viel Glitzer, andere zu wenig Spitze. Zu viel dies, zu wenig das, immer das selbe. Es kostet mich alle Geduld die ich aufbringen kann, nicht schreiend wegzurennen. Wer hätte gedacht, dass sich Joes Mutter als Brautmoden-Monster entpuppt?

„Kann ich etwas trinken?“, frage ich, weil ich nach 4 Stunden wirklich mal eine Pause brauche.

„Natürlich, Liebes.“ Frau Kido schickt eine Bedienstete los und sieht dann die beiden Damen an, die mir bei der Anprobe geholfen haben. „Würden Sie uns bitte alleine lassen?“

Die beiden Frauen nicken und verbeugen sich höflich, ehe sie den Wohnbereich, der über und über mit Kleidern übersäht ist, verlassen.

Ich frage mich, warum Frau Kido mit mir allein sein möchte.

„Komm her, Liebes“, sagt sie und klopft auf den freien Platz neben sich. Eine der Bediensteten bringt mir ein Glas Wasser und ich trinke es sofort aus wie eine Verdurstende. Dann legt Frau Kido eine Hand auf meine Hände, die in meinem Schoß ruhen.

„Du bist sicher aufgeregt“, meint sie und sieht mich mitfühlend an. Ich nicke schwach. „Na ja, man heiratet nicht jeden Tag.“

„Das stimmt“, kichert sie. „Vor allem nicht einen Kido. Das kann eine schwere Bürde sein.“

Ich bin mir nicht sicher, was sie genau meint, nicke jedoch wieder. „Das ist mir klar. Ich weiß, worauf ich mich einlasse und ich schaffe das.“

„Das bezweifle ich nicht“, stimmt sie mir überraschenderweise zu. „Ich wusste von Anfang an, dass du sehr zielstrebig bist. Trotzdem, es ist nicht leicht, wenn ständig alle Augen auf die Frau eines einflussreichen Mannes gerichtet sind. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“

Stillschweigend frage ich mich, ob sie das alles auch durchgemacht hat, als sie jung war. Aus welchen Verhältnissen kommt sie? Wie hat sie sich damals gefühlt, als sie einen völlig Unbekannten heiraten musste?

„Als Kaori damals meinen Jim geheiratet hat, war ich erstaunt, wie gut sie mit der Situation umgehen konnte. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Aber Kaori wurde auch ihr Leben lang darauf vorbereitet. Du vermutlich nicht, nehme ich an.“

Ich schüttle den Kopf. Meine Eltern wollten immer, dass ich selbstbestimmt aufwachse. Was mir das letztendlich gebracht hat, weiß ich auch.

„Keine Sorge, Mimi. Ich bin mir sicher, dass du in deine Rolle reinwächst, wenn du dich genügend anstrengst“, versucht sie mich nun zu ermutigen, was ich ihr hoch anrechne. „Außerdem, was meinen Mann angeht, um den musst du dir keine Sorgen machen. Den hast du dir bereits zum Freund gemacht, wie auch immer du das geschafft hast.“ Jetzt müssen wir beide lachen, als wir an das erste Aufeinandertreffen denken und wie herzhaft der alte Kido über meine Geschichte gelacht hat. „Und bei Joe ist es genauso.“ Nun sehe ich sie fragend an.

„Wie meinen Sie das?“

„Komm schon, Mimi, du bist so jung. Willst du mir allen Ernstes erzählen, du merkst nicht, wie er dich ansieht? Er ist sofort wieder hier eingezogen, als er gehört hat, dass du hier wohnen wirst. Ich denke, das sagt alles.“

Oh, tut es das?

Nun, dann stand ich wohl bisher auf dem Schlauch. Ich dachte, Joe wäre einfach nur überdurchschnittlich höflich, weil er so erzogen wurde. Aber das rückt das Ganze in ein anderes Licht. Wenn ich so darüber nachdenke … die vielen Aufmerksamkeiten, sein Lächeln, die kleinen Küsschen … wow. Der Typ steht total auf mich. Und ich habe es nicht bemerkt.

Mimi, du bist echt aus der Übung.

Verlegen streiche ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, als Frau Kido plötzlich aufsteht und die Hände in die Hüften stemmt.

„So, was machen wir jetzt mit diesem Berg an Brautkleidern?“

„Gute Frage“, kichere ich.

„Möchtest du dir mal eins aussuchen, Mimi?“

Was? Wie? Meint sie mich?

Ungläubig schaue ich sie an, doch sie lächelt nur zustimmend. „Nur zu, such dir eins aus. Bei denen, die ich ausgesucht habe, war ja irgendwie noch nicht das Richtige dabei.“

Ich springe von meinem Platz auf. Ich weiß sofort, welches Kleid ich anprobieren möchte. Ich habe schon vor einer ganzen Weile ein Auge drauf geworfen. Ich hole es von der Stange und halte es in die Höhe, damit Frau Kido es sehen kann.

„Hmm“, macht sie wieder und mustert das Kleid. „Das könnte funktionieren. Komm, wir probieren es an. Ich helfe dir dabei.“

Wir ziehen das alte Kleid aus, was ziemlich schlicht und elegant war, mir aber überhaupt nicht steht. Frau Kido hilft mir in das neue Kleid und ich fühle sofort, dass es mir wie eine zweite Haut passt. Als ich vor den großen Spiegel trete, der extra für die Anprobe im Wohnbereich aufgebaut wurde, stockt mir der Atem.

Es sieht umwerfend aus. Eine schöne A-Linie mit leichter Schleppe, V-Ausschnitt, bestickten Ärmeln mit Spitze. Das Rückenteil ist aus durchsichtigem Stoff, am Rand ebenfalls mit Spitze verziert und mit eleganten Knöpfen entlang der Wirbelsäule zugeknöpft. Ich drehe mich darin und bin total begeistert.

„Es sieht traumhaft aus“, schwärme ich, doch als ich mich umdrehe, um Frau Kidos Meinung zu hören, sehe ich, wie jemand hinter ihr auftaucht.

Tai steht plötzlich mitten im Raum und betrachtet mich eingehend. Ich halte in meiner Bewegung inne. Mein Blick trifft auf seinen und hält ihn einen Moment zu lange fest. Er sagt nichts, sondern sieht mich einfach nur an, als würde er mich nicht kennen. Warum sieht er mich so an?

„Du siehst fantastisch aus!“, klatscht Frau Kido plötzlich in die Hände und reißt mich somit aus meinen Gedanken.

„Äh, danke“, stammle ich verlegen und versuche meine Aufmerksamkeit von Tai auf sie zu lenken.

„Stimmt“, höre ich ihn plötzlich sagen und er kommt die wenigen Schritte zu uns rüber. „Joe wird hin und weg sein, wenn er dich darin sieht.“

Hitze steigt in mir auf und ich glaube, mein Gesicht glüht. Warum ist es mir unangenehm, wenn ausgerechnet er mir ein Kompliment macht? Weil er das sonst nicht tut?

„Tai hat recht. Es ist perfekt für dich, wir nehmen es“, jubelt Joes Mutter und wirkt auf mich wie ein kleines Kind, dass gerade ein Weihnachtsgeschenk bekommen hat.

Wow. In diesem Kleid werde ich also zum Altar schreiten.

Ein Telefon klingelt in einen der anderen Räume und kurz darauf kommt Ansgar zu uns. „Frau Kido, Ihr Mann ist am Telefon und will Sie sprechen.“

„Ich komme“, sagt sie sofort und macht sich auf den Weg. „Oh Taichi, mein Lieber, wärst du wohl so nett und würdest Mimi aus dem Kleid helfen?“

Dann ist sie auch schon weg.

Aus dem Kleid helfen? Geht’s noch?

„Na, schön. Dreh dich um.“

„Wie bitte?“

Etwas unbeholfen stehe ich rum und weiß nicht so recht, wie ich mich verhalten soll.

„Du sollst dich umdrehen“, wiederholt Tai leicht ungeduldig. „Die Knöpfe sind doch hinten, oder?“

„Oh … ähm … ja“, stammle ich, drehe mich wieder zum Spiegel rum und nehme meine Haare nach vorne, damit Tai an den Verschluss kommt. Tai tritt einen Schritt näher, so dass er nun dicht hinter mir steht. Ich schaue durch den Spiegel in sein Gesicht, dass leicht angespannt aussieht.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, frage ich, als er beginnt, das Kleid zu öffnen. Ein leichter Schauer durchfährt mich, aber ich versuche es mir nicht anmerken zu lassen.

„Was meinst du?“, entgegnet er, während er sich Knopf für Knopf nach unten arbeitet. Mit jedem weiteren Knopf, den er öffnet, schlägt mein Herz unerwartet schneller.

„Du siehst aus, als hättest du was auf dem Herzen“, stelle ich fest. „Ist etwas mit Kari?“

„Mit Kari ist alles in Ordnung.“

„Was ist es dann?“

Schweigen.

Na gut, besonders gesprächig war er ja noch nie. Jedenfalls nicht mir gegenüber.

„Das Kleid sieht wirklich schön an dir aus“, sagt er plötzlich nach einer Weile des Schweigens. Ungläubig und mit gerunzelter Stirn schaue ich ihn durch den Spiegel hindurch an. Sagt er das jetzt nur, um von sich selbst abzulenken?

„Was?“, meint er, als er meinen irritierten Blick sieht. „Guck nicht so! Ich habe schließlich keine Tomaten auf den Augen. Oder hat dir noch nie jemand gesagt, dass du hübsch bist?“

Doch, schon. Aber das ist es nicht. Es ist etwas anderes. Es ist die Tatsache, wie er mich berührt. Wie er sich für jeden verdammten Knopf so unfassbar viel Zeit lässt und mir mit jeder Berührung eine Gänsehaut beschert.

„Wie auch immer. Gut, dass du ein Kleid gefunden hast“, räuspert er sich nun und wirkt mit einem mal wieder ganz distanziert. Als er endlich fertig ist, tritt er gleich mehrere Schritte zurück. „Wir haben noch einiges zu tun. Geh dich umziehen. Ich treffe dich in einer Stunde auf der Terrasse.“

Und zack, ist er verschwunden.

Zweifelnd sehe ich ihm nach, während er zur Tür hinausmarschiert. Was war das bitte?
 

Tai

Ich hätte nicht so schnell zum Kido Anwesen zurückkehren sollen. Ich hätte gar nicht zurückkehren sollen. Warum musste sie gerade ausgerechnet in diesem Brautkleid vor mir stehen? Irgendwie hat mich das alles verwirrt.

Ich habe die letzten Tage damit verbracht, Mimis Vergangenheit genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war gar nicht so leicht, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Privatschulen und Unis geben einem völlig Fremden nicht gerne irgendeine Auskunft über ihre ehemaligen Schüler.

Vor allem nicht, wenn ihre Vergangenheit mit Dreck behaftet ist. Ich musste einige Kontakte spielen lassen und habe selbst dann nur das Nötigste erfahren. Überdurchschnittlich gute Schülerin, die ab und zu mal geschwänzt hat, aus gutem Hause kommt, auf einer privaten Mädchenschule war, fängt an zu studieren und geht nach L.A.

Bis dahin ziemlich unspektakulär.

Als ich aber erfahren habe, dass sie nur 11 Monate dort war, wurde ich hellhörig. Wer gibt seinen Traum, dort zu arbeiten und sich einen Namen zu machen, schon nach 11 Monaten auf? Nicht Mimi. Ich kenne sie zwar noch nicht so gut, aber eins weiß ich jetzt schon – sie ist ehrgeizig und zielstrebig. Sie hätte nicht so schnell das Handtuch geworfen. Also habe ich tiefer gegraben … und was ich da fand, gefiel mir so gar nicht.

Als Stuntman bekommt man verschiedene Aufträge, von verschiedenen Firmen, aus verschiedenen Ländern. Aber besonders oft aus Hollywood. Ich habe bereits einige Kontakte dort knüpfen können und es kostete mich zwar ein paar Anrufe und E-Mails, aber letztendlich meldete sich ein Produzent, mit dem ich schon mal zusammengearbeitet habe, bei mir zurück. Und siehe da: der Name Mimi Tachikawa war ihm bereits bekannt.

Er erzählte mir eine wilde Geschichte von einer jungen Visagistin, die nach L.A. kam, um groß raus zu kommen und um für die ganz großen Fische zu arbeiten. Doch es lief nicht so wie erwartet. Angeblich traf er sie bei einer After-Show-Party, als sie gerade dabei war öffentlich Drogen zu konsumieren. Ein anderer Produzent bot ihr Sex gegen Geld an und sie ging mit ihm mit. Danach sah er sie noch ein paar Mal, doch sie verschwand ziemlich schnell von der Bildfläche. Aus der Traum von Hollywood.

Was für eine dreckige Geschichte.

Partys.

Drogen.

Sex gegen Geld.

Die Medien würden sich wie Haie auf diese Story stürzen, wenn sie es erfahren würden. Selbst ich war davon mehr als schockiert. So tief sollte sie gesunken sein, um an ihr Ziel zu gelangen? Das wäre ein ziemlich düsterer Abgrund ihrer Persönlichkeit.
 

Aber als ich sie eben gesehen habe, wie wunderschön, rein und unschuldig sie in diesem Brautkleid aussah, kam mir alles, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe plötzlich so … absurd vor.

Alles erstunken und erlogen. Niemals könnte ein so schönes Wesen eine derart dunkle Seite an sich haben, das kann ich einfach nicht glauben. Und ehrlichgesagt habe ich nun gar keine Ahnung mehr, wie ich all das Joe berichten soll. Wird er der Geschichte glauben? Ich kann es jedenfalls nicht. Oder steckt der Teufel im Detail? Übersehe ich etwas? Aber was? Mimi Tachikawa ist immer noch ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Trotzdem muss ich endlich einen Weg finden, um an sie heran zu kommen. Sonst droht der Familie Kido ein echter Skandal.

Als ich eine Stunde zu spät auf die Terrasse der Kidos komme, ist es bereits dunkel. Mimi sitzt an einen der Pooltische und schreibt etwas in einem Buch. Neben ihr steht ein Glas Rotwein.

„Du bist zu spät“, stellt sie nüchtern fest, als ich mich ihr gegenübersetze.

„Ich weiß, tut mir leid.“

Sie klappt ihr Buch zu und legt den Stift zur Seite. Neugierig schaue ich darauf. „Was ist das?“

„Nichts, was dich etwas angeht“, antwortet sie schnippisch.

Ich grinse. „Schreibst du etwa Tagebuch?“

Ihr Erröten ist Antwort genug. Nun muss ich ernsthaft lachen. „Wie alt bist du? 13?“

„Vollidiot“, wirft sie mir an den Kopf und verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. „Ich schreibe eben manchmal, was mir so durch den Kopf geht, meine Gedanken und … und ab und zu ein paar Gedichte. Was ist so schlimm daran?“

Amüsiert schaue ich sie an. Zum einen, weil ich es tatsächlich etwas süß finde und zum anderen, weil ich sie damit aufziehen kann.

„Du bist also kreativ?“, sage ich und lege ihr ein paar Seiten Papier vor die Nase. „Dann sollte das ja für dich kein Problem sein.“

„Was ist das?“

„Die Fragen zum Interview.“

Sofort greift Mimi danach, als wäre es eine Rarität und liest sich die Fragen durch.

„Das ist …“, stammelt sie, als sie fertig ist und sich seufzend zurücklehnt. „… ziemlich detailreich. Das wollen sie alles wissen?“

Ich nicke. „Was hast du erwartet? Du bist das Gespräch der Stadt. Niemand kennt dich, was dich umso interessanter macht. Ich möchte sogar behaupten, dass du mehr Aufsehen erregst, als Kaori damals, als sie sich mit Jim verlobt hat. Du bist die schöne Unbekannte – das Puzzle, was sie zusammensetzen wollen.“ Genauso wie ich.

Mimi antwortet nicht. Stattdessen starrt sie nur wie gebannt auf die vielen Fragen, die ich ihr gegeben habe.

„Mimi?“

Sie sieht zu mir auf. Verzweiflung zeichnet sich in ihren warmen Augen ab.

„Wenn da irgendetwas ist … egal was … wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, es mir zu sagen.“

Ich sehe, wie sie sich kurz auf die Unterlippe beißt und angespannt ins Leere starrt.

Okay, Zeit ein bisschen mit offenen Karten zu spielen.

„Mimi, ich muss dir was sagen“, gestehe ich ihr, rutsche näher an den Tisch ran und senke die Stimme, damit uns niemand hören kann. „Ich habe einen Freund in L.A. und …“

Mimis Augen weiten sich erschrocken, als wolle sie sagen: sprich bitte nicht weiter! Ich tue es trotzdem. „Der hat mir eine ziemlich wilde Story über dich erzählt und ich frage mich, ob an der ganzen Sache was dran ist. Denn falls ja, müssen wir handeln. Wir können das nicht unkommentiert lassen. Wenn die Presse das herausfindet, kannst du Joe und seine Familie gleich den Wölfen zum Fraß vorwerfen.“

Erst glaube ich, sie streitet wieder alles ab, aber dann …

„Es stimmt nicht.“

„Wie?“ Überrascht sehe ich sie an.

„Egal, was du gehört hast, es stimmt nicht“, sagt sie mit fester Stimme und irgendwie würde ich ihr das gerne glauben.

„Kannst du mich davon überzeugen?“, frage ich vorsichtig und habe das Gefühl, ich bewege mich hier auf dünnem Eis. Entweder sie vertraut sich mir nun an oder sie macht wieder dicht und alles droht den Bach runter zu gehen – einschließlich Joe.

Ich sehe, wie Mimi mit sich kämpft, doch schließlich seufzt sie. „Na, schön“, sagt sie und nimmt noch mal einen großen Schluck von ihrem Rotwein.

„Ich habe dir ja bereits erzählt, dass ich nach L.A. gegangen bin, um meinen Traum als erfolgreiche Visagistin wahrwerden zu lassen. Du weißt auch, dass das nicht geklappt hat und dass es schwierig war an Aufträge zu kommen. Es war so schwer für mich, dass eine Freundin, die ich schon länger kannte, vorgeschlagen hat, mich auf eine After-Show-Party mitzunehmen.“

Okay, nun kommen wir der Sache näher.

„Sie meinte, dort kann ich wertvolle Kontakte knüpfen und alles was Rang und Namen hat in Hollywood treibt sich dort rum. Ich wollte so dringend bekannter werden, dass ich sofort mitgegangen bin und am Anfang lief es auch ganz gut für mich. Ich tauschte Nummern aus, stellte mich bei ein paar Leuten vor, vorwiegend andere Visagisten, die sich bereits in der Branche einen Namen gemacht hatten. Ich hatte an dem Abend einen richtigen Lauf, Tai. Du kannst es dir nicht vorstellen. Ich war wie beflügelt. Und plötzlich traf ich ihn … Er war ein bekannter Produzent und drehte mit großen Hollywood Schauspielern zusammen. Er meinte, ihm würde eine fähige Visagistin in seinem Team fehlen und irgendwie schien ich ihm zu gefallen. Er meinte nur, ich wäre viel zu verkrampft, also bot er mir Drogen an. Und ja, ich habe sie genommen.“

Na, wunderbar. Da haben wir ja die Leiche, nach der ich so lange gesucht habe – und die ich eigentlich lieber doch nicht finden wollte, wie mir soeben klar wird.

„In L.A. tun das einfach alle und ich habe mich hinreißen lassen, um dazu zu gehören. Heute weiß ich, wie dumm und naiv das war. Der Typ hörte einfach nicht auf, an mir rum zu baggern und ehe ich mich versah, war ich in irgendeinem Hotelzimmer und lag halb nackt auf seinem Bett. Ich wusste nicht mal genau, wie ich dort hingekommen war. Er versprach mir, er würde mich gleich morgen früh genau den richtigen Leuten vorstellen und warf mir allen Ernstes ein paar Scheine aufs Bett. Als wäre ich eine billige Schlampe. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich ausgerastet bin.“

Mimi stützt ihre Unterarme auf ihren Beinen ab und vergräbt kurz das Gesicht in beide Hände. Sie atmet tief durch, ehe sie weiterspricht.

„Als der Kerl gemerkt hat, dass er den Sex nicht kaufen kann, ist er durchgedreht und hat mich mitten ins Gesicht geschlagen.“

Meine Hand ballt sich zur Faust. Was für ein widerlicher, kleiner Scheißer.

„Er hat gesagt, meine Karriere wäre zu Ende, ehe sie begonnen hat und er würde dafür sorgen, dass ich morgen in der Zeitung stehe. Irgendwoher wusste er, wie reich und einflussreich mein Vater ist und ihm war klar, dass das ein Skandal für meine Familie wäre.“

„Und … und hast du …?“, traue ich mich kaum nachzufragen, aber Mimi schüttelt vehement den Kopf.

„Nein, ich habe nicht mit ihm geschlafen. Egal, womit er mir gedroht hat. Ich wollte lieber meinen Traum in Hollywood aufgeben, als mich missbrauchen zu lassen.“

Ich atme erleichtert aus. Also ist rein gar nichts an dieser Geschichte dran. Außer das mit den Drogen, aber das bekommen wir definitiv irgendwie vertuscht, sollte es jemals zur Sprache kommen.

„Tai, das ist alles, was in L.A. passiert ist. Das musst du mir glauben“, meint Mimi und sieht mich flehend an.

Keine Ahnung, warum, aber das tue ich. Ich glaube ihr.

„Danke, dass du es mir erzählt hast. Und es tut mir leid, dass dir das passiert ist“, sage ich mit rauer Stimme und bin innerlich immer noch ganz aufgewühlt von dieser Geschichte. So etwas geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Außerdem arbeite ich selbst für die Filmbranche und weiß nur zu gut, welche schwarzen Lichter sich dort rum treiben.

„Jetzt bist du schockiert, was?“ Ein trauriges Lächeln umspielt Mimi‘s Lippen. „Wirst du es Joe sagen?“

„Er ist mein Boss. Und mein Freund“, sage ich, als wüsste sie das nicht. „Aber nein, ich werde ihm nichts erzählen.“

Mimi runzelt überrascht die Stirn.

„Wieso nicht?“

„Weil, wie du selbst sagst, an der ganzen Geschichte nichts dran ist. Warum soll ich ihn damit belasten? Wenn du möchtest, kannst du es ihm irgendwann selbst erzählen. Das ist deine Entscheidung.“

Mimi scheint völlig fassungslos über meine Antwort zu sein und ich muss zugeben, ich bin es auch. Da sitze ich tagelang an meinem Laptop und hänge am Telefon, nur, um bei Joe dann mit leeren Händen anzukommen? Aber hey, das ist doch eigentlich was Gutes. Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten.

„Es sei denn da ist noch mehr, was du mir erzählen möchtest?“, frage ich sicherheitshalber noch mal nach, doch Mimi schüttelt schnell den Kopf.

„Nein, das ist alles. Tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Es ist mir unangenehm, darüber zu sprechen und eigentlich würde ich es gern vergessen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Mimi lächelt sanft und steht seufzend auf, um ein paar Schritte zu gehen, am Beckenrand des Pools bleibt sie stehen und sieht ins blaue Wasser. Ich stehe auf und stelle mich neben sie. Der Pool ist beleuchtet und das gebrochene Licht der Wasseroberfläche spiegelt sich in unseren Gesichtern.

„Jetzt weißt du so viel von mir, was ich dir nie erzählen wollte“, meint Mimi und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Und im Grunde weiß ich kaum was über dich.“

Ja, und das kann auch so bleiben. Ich habe das Gefühl, dass, obwohl ich Mimi rein gar nichts von mir erzählt habe, sie trotzdem weiß, wer ich bin. Oder liegt es daran, dass ich mich in ihrer Nähe nicht verstellen muss?

„Erzähl mir was von dir, Tai.“

„Hmm“, mache ich nachdenklich und grinse dann. „Ich bin ein ziemlich guter Tänzer“, sage ich und leite damit direkt das Thema ein, weswegen ich eigentlich heute Morgen hergekommen war.

„Wieso habe ich die Vermutung, dass du das jetzt nicht ohne Grund sagst?“, entgegnet Mimi vorausahnend.

„Erwischt“, lache ich und fahre mir mit der Hand durchs Haar. „Joe hat mich gebeten, dir in seiner Abwesenheit Tanzunterricht zu geben. Nach eurer Verlobungsfeier findet ein Wohltätigkeitsball statt und es versteht sich von selbst, dass du dort tanzen musst. Das ist euer erster Auftritt als Paar auf dem roten Teppich. Die Leute müssen verzaubert von euch sein.“ Doch schon während meiner Erklärung macht Mimi nur „Pah!“, weshalb ich sie fragend ansehe.

„Was heißt hier Pah?“

„Ich brauche deinen komischen Tanzunterricht nicht. Ich kann das.“

„Ach ja?“ Vorsichtig ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „So wie du angeblich mit Stäbchen essen kannst?“

Mimi macht einen Schmollmund. „Du vergisst, dass ich aus gutem Hause komme. Natürlich hatte ich schon als Kind Tanzunterricht.“ Sie hebt die Arme und will sich auf der Stelle im Kreis drehen, wie eine Ballerina, sieht aber eher aus wie ein sterbender Schwan, weil der Poolrand total nass ist und sie direkt einen Abgang macht. Ihr Schrei durchzieht die ruhige Nacht und ehe ich mich versehe, habe ich die Hand nach ihr ausgestreckt und sie an der Taille gepackt. Ich drehe mich ein Stück mit ihr, bis wir beide zum Stehen kommen und ich nun mit dem Rücken zum Pool stehe, sie in meinen Armen.

Erschrocken über ihren Beinahe-Sturz sieht sie zu mir auf und das erste mal treffen sich unsere Blicke wirklich.

Nein, das stimmt nicht. Vorhin, als sie im Brautkleid vor mir stand, gab es auch so einen kurzen Moment. Wieso verwirrt mich das alles plötzlich so?

Ihre Finger krallen sich in meine Arme, während unsere Blicke einander festhalten. Ihre Augen leuchten und ich verliere mich für einen Moment darin. Ich vergesse völlig, wo wir sind, während ihre Hände über meine Oberarme gleiten und sich auf meine Brust legen. Ich kann ihre Finger durch den Stoff meines Shirts spüren.

Ich sollte mich von ihr losreißen, aber ich schaffe es nicht und bin wie erstarrt. Doch im nächsten Augenblick werde ich erlöst, denn Mimi schubst mich und ich falle rückwärts in den Pool. Das kühle Wasser durchdringt meine Klamotten und jagt mir einen Schreck ein.

Als ich auftauche, funkle ich sie wütend an. „Was sollte das?“

Mimi steht regungslos am Beckenrand und sieht mir dabei zu, wie ich vor ihr im Wasser schwimme. Dann schleicht sich ein diabolisches Grinsen auf ihre Lippen.

„Das war die Rache dafür, dass du mir vorgemacht hast, du wärst Joe.“

Ich presse die Kiefer aufeinander, während Mimi herzhaft lachend weg geht.

Ich rufe ihr noch hinterher, dass sie das bereuen wird, aber sie ist schon längst weg. Diese freche Göre!

Pitschnass und triefend ziehe ich mich aus dem Wasser und schnappe mir ein Handtuch, um meine Haare trocken zu rubbeln, als mein Blick auf etwas fällt, dass sie auf dem Tisch liegen gelassen hat – ihr Tagebuch.

Tai
 

Während ich mir meine Haare trocken rubble, stelle ich fest, dass ich in diesen klitschnassen Klamotten auf keinen Fall in mein Auto steigen kann und werde. Ich ziehe mein Shirt aus und trockne ebenfalls meinen Oberkörper ab. Meine Hose muss ich wenigstens Mal auswringen, wobei, auch diese kann ich so nicht wieder anziehen. Das wird Mimi mir auf jeden Fall büßen. Mimi, was war das heute? Erst haut sie mich in diesem Brautkleid um und dann, vorhin am Pool, kurz bevor sie mich geschubst hat, hatten wir für Zehn Sekunden einen seltsamen Moment. Warum denke ich überhaupt an sie? Ich muss eher darüber nachdenken, wie ich jetzt an trockene Klamotten komme. Obwohl, eigentlich macht es mir auch nichts aus in Boxershorts nach Hause zu fahren. Ich schiele auf Mimis Tagebuch. Ich weiß, es gehört sich nicht, das Tagebuch gehört Mimi, es sind ihre Gedanken, Gefühle, die sie dort niedergeschrieben hat, aber es juckt mir so sehr in den Fingern. Nur ein ganz kurzer Blick? Ich schüttle den Kopf. Nein, lass das Tai.

Ich krame aus meiner nassen Hosentasche meine Autoschlüssel heraus. Zum Glück liegt wenigstens mein Handy auf dem Tisch - neben Mimis Tagebuch. Wieder geht mein Blick dahin. Langsam bewege ich meine Finger zum Tagebuch, doch kurz bevor ich es mir greifen kann, halte ich in meiner Bewegung inne und nehme stattdessen mein Handy. Das ist einfach zu privat, das geht nicht. Und wenn, ja, wenn ich da die Antworten finde, nach denen ich die letzten fünf Tage gesucht habe? Wenn da doch mehr ist, als diese L.A Geschichte? Wobei die wirklich schon sehr hart gewesen ist. Kommt da vielleicht noch mehr oder war das alles? Ein Blick ins Tagebuch und vielleicht weiß ich dann die Antwort. Ich mache das hier schließlich alles für Joe und ehe ich weiter darüber nachdenken kann, habe ich Mimis Tagebuch bereits geöffnet, schlage eine willkürliche Seite auf, stoße auf ein Gedicht und lese.
 

Goldener Käfig
 

Eigentlich braucht sie keinen Namen,

eine Nummer, dies wird wohl genügen,

gefangen im Goldkäfig, gezwungen im Rahmen, ein Leben ohne Vergnügen.
 

Es wird schon wieder, aufm Weg des Herzens, doch traut sie sich nicht heraus.

Bereitet die Isolation des Selbst, auch solch ein Schmerz,

doch wer in der Scheiße sitzt, hat wenigstens ein warmes Haus.
 

Ihre Worte berühren mich. Ich muss aufhören zu lesen, sofort. Ich schließe es, lege es weg und hebe meine nassen Klamotten auf. In diesem Tagebuch werde ich ganz sicher keine neuen Hinweise finden. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn kurz darauf höre ich eilige Schritte und die Schiebetür öffnet sich. Mimi.

"Du …", setzt sie an, doch statt noch etwas zu sagen, sehe ich genau, wo ihre Konzentration gerade hin verschwunden ist. Sie gafft regelrecht auf meinen durchtrainierten Körper. Ich finde dies sehr amüsant und komme ein paar Schritte näher auf sie zu. Dabei kann ich es nicht lassen, meine Brust einmal mehr anzuspannen. "Ich kann mich auch gerne einmal im Kreis drehen", grinse ich anzüglich. Mimi hat sich scheinbar wieder einigermaßen gesammelt und fixiert mich wütend. "Bild dir ja nichts ein. Ich bin nur hier, um mein Tagebuch zu holen." Ich gehe einen Schritt zurück, greife es und gebe es ihr. Sofort reißt sie es mir aus den Händen und dreht sich wieder um. "Wehe, du hast da rein geguckt, dann bringe ich dich um!"

"Würde mir im Traum nicht einfallen", rufe ich ihr hinterher und hey, im Traum hab ich es wirklich nicht gelesen.
 

Mimi
 

Der Wecker klingelt, aber es ist nicht so als ob ich groß geschlafen hätte. Nachdem ich mir gestern mein Tagebuch geholt und Tai halbnackt am Pool gesehen habe, konnte ich dummerweise an nichts anderes mehr denken. Ich könnte mich selbst dafür ohrfeigen, vor allem, weil Tai auch noch gemerkt hat, wie ich ihn angeglotzt habe. Oh man, wie peinlich. Wie soll ich ihm heute nur unter die Augen treten? Der wird mich auf jeden Fall damit bis aufs Blut reizen.

Ich würde behaupten, dass ich immer schon einen guten Männergeschmack hatte. Meine Ex-Freunde sind alle ansehnlich, aber Tai … da stimmt einfach alles. Seine Schultern, seine Oberarme, die Hände, die Beine, diese Waden und dann, oh man, die Brust. So ein heißer Sixpack und dann dieses V-Cut das dort endet, wo etwas anfängt, was von seinen Boxershorts bedeckt war, aber sehen konnte ich es trotzdem. Oh, Mamma Mia. Wer hätte da nicht hingeguckt? Ein Blinder vielleicht. Und abgesehen davon, dass sich ausgerechnet Nervensäge Tai als ein Adonis herausstellt, hatten wir gestern am Pool auch noch einen absolut seltsamen Moment. Seine Augen, sein Blick, schon wieder bekam ich das Gefühl, er könnte mir direkt in meine Seele blicken, aber diesmal war es anders. Es war so intensiv, so brennend. Ich musste da ganz schnell was unternehmen, also hab ich ihn ins Wasser geschubst. Ich sehe immer noch meine Hände, wie sie von seinen Oberarmen über sein Shirt gleiten und jetzt wo ich auch noch weiß, wie die Haut darunter aussieht, wünsche ich mir, ich hätte diese berührt. Oh man, auch ohne in den Spiegel zu blicken weiß ich, dass ich gerade rot wie eine Tomate angelaufen bin. Die Hitze steigt mit in den Kopf. Ich schlage die Bettdecke über meinen Kopf und ersticke meinen lauten Schrei.

Joe.

Joe.

Ich muss einfach nur an Joe denken. Er ist mein Verlobter und er sieht auch gut aus. Ich schleudere die Bettdecke beiseite, stehe auf und gehe ins Bad. Nach einer kalten Dusche und einer heißen Tasse Kaffee geht es mir gleich besser. Tai, tzz, der geht mir nicht unter die Haut. Ich verschwende keinen Gedanken mehr an ihn, zumindest nicht solche. Vollkommen unangebracht. Ich schließe mein Tagebuch und ja, ich habe wirklich versucht seinen Oberkörper da rein zu zeichnen. Traurig geht es mit mir zu Ende, aber ich kann ja schlecht fragen, ob er ein Foto für mich hat. Wobei er es mir sicher auch noch geben würde, mit einem überheblichen Grinsen im Gesicht und natürlich würde er mich damit ein Leben lang aufziehen. Duschen. Ich will duschen und dann Kaffee, das ist mein Plan. Und nicht an Tai denken. Wer ist das schon? Dieser V-CUT … "Argh", schreie ich wieder laut aus und stampfe frustriert ins Bad.
 

Nach der Dusche sehe ich, dass Tai mir geschrieben hat. Ich soll um 9:00 Uhr in einem sportlichen Outfit im Fitnessraum sein. Ja, Familie Kido besitzt einen Fitnessraum, der zwar höchstwahrscheinlich niemals benutzt wird, aber er ist vorhanden. Joe. Ich öffne meinen Chatverlauf und wünsche Joe einen schönen Tag. Die Dusche hat mir auf jeden Fall geholfen, mich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren. Schließlich hab ich eine Aufgabe zu erfüllen. Ich ziehe mir eine Nike Sporthose und einen Sport BH an und würde normalerweise so zum Tanzen gehen, da wir hier aber bloß nicht zu viel nackte Haut zeigen dürfen, ziehe ich mir noch ein grünes Sport T-Shirt über und verlasse mein Zimmer. Bevor ich den Fitnessraum aufsuche, gehe ich an der Küche vorbei und hole mir meinen Kaffee. Die Köchin des Hauses ist so lieb. Sie hat mitbekommen, dass ich morgens gerne einen Smoothie trinke und bereitet mir seit Tag zwei immer einen zu. "Guten Morgen Miss Tachikawa", begrüßt sie mich und hält mir bereits meinen Smoothie entgegen. "Vielen Dank, Mrs. Kobayashi, ich freue mich wie jeden Morgen darauf."
 

Mit meinem Kaffee to Go in der einen und einem Smoothie in der anderen Hand betrete ich den Fitnessraum. "Da bist du ja", begrüßt Tai mich und begutachtet meine Getränkeauswahl. "Sollen das deine Getränke sein?"

"Das eine brauche ich zum Überleben", ich deute auf meinen Kaffeebecher "und der andere ist mein Frühstück", erwidere ich. Tai kommt auf mich zu und nimmt mir beides ab, stattdessen reicht er mir eine Wasserflasche. "Oh nein, ich brauche meinen Kaffee", widerspreche ich vehement und hole mir meinen Kaffee zurück. Soweit kommt es noch, dass ich mir morgens meinen Kaffee wegnehmen lasse. "Weißt du eigentlich, dass ich jeden Morgen einen Smoothie trinke? Das könnte dir auch nicht schaden", sage ich und trinke einen Schluck von meinem heißen Kaffee.

"Ich glaube, nach gestern Abend wissen wir beide, dass mein Körper auch ohne Smoothie gut auskommt."

Ich verschlucke mich an meinem heißen Kaffee und Tai steht grinsend vor mir, um mir die Wasserflasche wieder unter die Nase zu halten. Ich wusste es, als würde er sich diese Gelegenheit entgehen lassen.

Ich versuche mich nicht provozieren zu lassen und nehme die Wasserflasche liebreizend entgegen. "Also, sollen wir jetzt ernsthaft hier zwischen all den Geräten trainieren?"

"Nein, die dienen mehr als Aufwärmung für mich. So tolle Geräte, die hier nur einstauben, aber du darfst mir gerne zusehen, während du dein Frühstück zu dir nimmst. Ich dachte, ich tue dir damit einen Gefallen." Dieses aufgeblasene, dümmliche Grinsen nervt mich und am liebsten würde ich es ihm aus dem Gesicht schlagen. Wie kann man nur so arrogant sein?

"Tzz." Ich sag einfach nichts mehr dazu. Ich habe nämlich beschlossen, dass mir absolut egal ist, wie gut Tai aussieht. Er geht wirklich an die Hantelbank und stemmt Gewichte. Klassiker. Mir egal. Ich trinke meinen Smoothie und bin froh, dass ich mein Handy mitgenommen habe. Was gibt es denn Neues in der Welt der Promis? Oder steht was Neues über mich drin? Ich schiele in Tais Richtung, wenn die Arme so angespannt aussehen, sieht man die Muskeln mehr als deutlich, aber das ist mir egal. Sowas von egal.

"Die haben ernsthaft einen Artikel über meine Klamotten geschrieben und wo man sie kaufen kann."

"Wundert dich das?"

"Also, wenn ich schon eine Stilikone werde, dann doch bitte in meinen Sachen und nicht in diesem Bücherei Look. Grässlich. Ich sehe aus wie meine ehemalige Englischlehrerin."

"Tja, nur deine vorherigen Klamotten entsprechen nicht ganz der Richtlinie." Ich rolle mit den Augen. Nur, weil hier alle so prüde sind.

"Wie lange dauert das noch? Da hätte ich auch noch länger im Bett bleiben können."

"Beruhig dich Prinzessin, ich bin ja schon fertig." Tai stellt die Hanteln wieder zurück auf die Hantelbank und greift nach seinem Wasser. "Prinzessin? Nenn mich gefälligst nicht so!", zicke ich ihn an und Tai deutet mit einer nickenden Kopfbewegung auf eine Tür. "Wir müssen da rein und ich finde schon, dass der Name Prinzessin zu dir passt. Der Name der Königin ist ja leider schon belegt, aber Herzogin wäre noch zu vergeben."

"Herrje, wie kann man nur soviel Blödsinn reden."

Ich gehe an ihm vorbei und öffne die Tür. Der Raum ist perfekt. 40qm, dunkelbrauner Parkettboden und weiße Wände. Ein paar Stühle stehen an der Seite und neben der Tür steht ein kleiner Tisch, wo bereits eine Box drauf steht, aber sonst ist dieser Raum leer.

"Wenn man so eine große Villa hat, stehen eben im Souterrain ein paar Räume leer. Früher bekamen Joe und Jim hier Privatunterricht."

"Sie waren nicht auf einer normalen Schule?", frage ich gleich.

"Doch, aber sie hatten jeden Tag noch zwei weitere Lernstunden und am Wochenende und in den Ferien natürlich auch." Ernsthaft, ich hätte nicht mit ihm tauschen wollen und ich dachte immer diese private Mädchenschule war schlimm.

"Ist ja ne tolle Kindheit", merke ich an.

"Tja, der Senior wollte von Anfang an, dass Jim und Joe ebenfalls Ärzte werden. Es ist nicht so, als ob die Beiden da eine große Wahl hatten." So, wie ich wohl keine Wahl habe, als jetzt ebenso eine Kido zu werden und das bedeutet freier Wille ade'.

"Und was genau sollen wir tanzen?" Ich habe mich tatsächlich richtig auf diese Stunde gefreut. Was gibt es schöneres als Tanzen? Man kann all seine Emotionen hineinfließen lassen. Gute Musik, Augen zu und loslassen.

"Walzer." Und dann sagt Tai das.

"Walzer? Warum nicht lieber Salsa oder Samba?" Und bevor Tai was sagen kann, fange ich auch schon mit dem Salsa Grundschritt an und stelle mir vor ich höre spanische Musik.

"Mimi?"

Eins und zwei.

"Mimi?"

Dann drehen.

"MIMI?

"Ja, was ist?"

"Das ist nicht irgendein Event, das ist die jährliche Krebs Gala, eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Salsa und Samba sind nicht angemessen." Gut, sehe ich ein.

"Aber die Tänze machen trotzdem Spaß. Kannst du Salsa tanzen?"

"Nein."

"Ich dachte du bist ein guter Tänzer?" Hat er zumindest behauptet. Sehen werde ich es gleich. "Deswegen hab ich aber nicht gleich alle Tänze gelernt."

"Dann hast du was verpasst, Deal: ich lerne von dir Walzer und du von mir Salsa."

"Nein, kein Deal. Du lernst Walzer, weil das in deinem Trainingsplan steht und dann hab ich Feierabend."

"Och, bitte Tai, Salsa tanzen muss man zu zweit machen, nicht allein. Komm schon, bitte bitte?" Ich gehe ganz nah auf ihn zu und ziehe meine Unterlippe nach vorne und mache einen Schmollmund.

"Na fein, es wird mich schon nicht umbringen."

"Jaaa, danke. Danach wirst du immer mit mir Salsa tanzen wollen."

"Du bekommst auch immer deinen Willen oder?"

"Vielleicht." Tai schüttelt seinen Kopf und kommt näher auf mich zu.

"Erst etwas Theorie, obwohl Joe schon immer den Walzer üben musste, kann er ihn nicht so gut. Er hat eher zwei linke Füße, was das angeht, aber zumindest den Grundschritt beherrscht er mittlerweile und um das zu lernen, hat es auch nur ein Jahr gebraucht. Selbst ich habe mehrmals versucht, es ihm beizubringen."

"Okay, ich kann ihn ja notfalls führen." Tai schmunzelt. "Klar, was sonst?" Er stellt sich mir gegenüber und fängt an zu erklären.

"Ich zeige dir erstmal den Grundschritt, beim langsamen Walzer gilt der ¾ Takt. Der Herr beginnt mit dem rechten Fuß nach vorne zu gehen, die Dame geht mit dem linken Fuß zurück und macht dann einen Schritt nach rechts. Dein linker Fuß wird herangezogen und schließt ab. Als nächstes gehst du mit deinem rechten Fuß nach vorne, dann machst du einen Schritt nach links. Dieses Mal schließt dein rechter Fuß ab", erklärt Tai sehr ausführlich und denkt wahrscheinlich Joe steht vor ihm. "Ist das alles?" Gesagt, getan. Ich mache genau was Tai gesagt hat und er sieht tatsächlich überrascht aus. "Ich hab dir doch gesagt, dass ich es drauf habe!" So schwer ist das wirklich nicht, als würde man um einen Bierkasten herum tanzen. Dafür kann unmöglich jemand ein Jahr brauchen.

"Gut, mal sehen ob du das noch kannst, wenn ich dich führe und später Musik dazu läuft." Tai greift nach meinen Händen und legt sie in Position. Seine Hände fühlen sich warm und rau an und obwohl seine Hände gefühlt doppelt so groß aussehen wie meine, liegen sie gut in ihnen. Ich sehe Tai an, während er mich nach hinten führt und wir uns im Quadrat bewegen. Wieder und wieder.

"Wie lange sollen wir noch dieses Quadrattanzen machen? Ich denke, ich hab's geschnallt."

"Denke ich auch, dann spiele ich jetzt die Musik ab und wir fangen an, uns dabei zu drehen. Die Bewegung ist aber immer dieselbe", erklärt Tai und ich höre den Song von Lady Gaga <I'll never Love again<.

Direkt bekomme ich eine Gänsehaut. Ob er weiß, dass dieses Lied einer meiner Lieblingssongs ist?

"Bereit?", fragt Tai mich und ich nicke schwach. Er beginnt mich durch den Raum zu führen und obwohl wir immer nur dieses Quadrat tanzen, drehen wir uns die ganze Zeit und schweben durch den Raum. Mit einem mal lässt er die Hand, die zwischen meinen Schulterblättern liegt los, hebt die andere Hand und ich verstehe, dass ich mich einmal um meine eigene Achse drehen soll. Ich bleibe im ¾ Takt und Tai holt mich wieder in den Grundschritt. Wie perfekt wir harmonieren, obwohl wir erst seit einer halben Stunde miteinander trainieren. Ich schaue zu ihm hoch und auch er erwidert meinen Blick, dann dreht er mich wieder und der Song endet. Tai lässt mich los und meine Finger kribbeln und dieses Kribbeln bereitet sich über meinen ganzen Körper aus. War es die Musik, der Tanz oder waren es einfach wir?

Und während ich meinen Gedanken noch nachhänge, ist Tai schon ein paar Schritte weiter.

"Es gibt natürlich noch sehr viel mehr, was man beim langsamen Walzer mit einbauen kann, aber da Joe diese Techniken nicht beherrscht, ergibt es keinen Sinn dir das jetzt beizubringen", erklärt Tai und irgendwie stimmt es mich traurig. Hat er gerade gar nichts gefühlt? Beruht das alles nur auf Einseitigkeit oder versucht er einfach nur professionell zu bleiben? Ich weiß es nicht und nachfragen kann ich nicht. "Also was ist jetzt mit dieser Salsa?"

"Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst. Du kannst auch einfach deinem Feierabend nachgehen." Vielleicht zählt er ja auch wirklich die Minuten, bis er mich endlich wieder los ist? Wer weiß das schon.

"Nein ist okay, du hast den Walzer so schnell gelernt. Ich hab noch Zeit und irgendwie sind wir doch gerade erst aufgewärmt." Ich muss Lächeln, ja, das sehe ich ganz genauso. "Okay, ich denke den Salsa Grundschritt wirst du ähnlich schnell drauf haben, aber können wir auch ein paar Figuren einbauen?" Also, wenn schon, denn schon. Ich will sehen, was Tai drauf hat und kann mir vorstellen, dass er es richtig gut kann.

"Wir schauen mal, wie schnell ich es packe, okay?"

"Abgemacht. Beim Salsa zählen wir im 4/4 Takt. Es wird also diesmal schneller."

"Das habe ich mir schon gedacht. Also, wie fängt es an?"

"Du beginnst mit deinem linken Fuß nach vorne, trete dann zurück auf den rechten Fuß, dann wieder schritt zurück auf den linken Fuß, Pause. Dann dasselbe, nur diesmal gehst du zurück und beginnst mit dem rechten Fuß, trete dann vorwärts auf deinen linken Fuß und endest mit dem Schritt vorwärts auf dem rechten Fuß, dann wieder Pause und so wiederholt sich das dann ständig." Tai sieht sich meine Fußbewegung konzentriert an und nachdem ich ihm die Herrenschritte gezeigt habe, stelle ich mich vor ihm und tanze den Frauen Grundschritt. Erst, ohne uns zu berühren. Tai kommt schnell in den Rhythmus rein. "Sehr gut und jetzt noch ein wenig mehr Hüfte."

"Etwa so?", stellt Tai die Gegenfrage und schwingt sein Becken gekonnt lässig. Tai lernt wirklich schnell und es macht mir echt Spaß mit ihm zu tanzen. Auch ich bewege meine Hüften mehr und lasse sie rhythmisch zu der Vor- und Rückbewegung kreisen. "Okay, du kannst es. Einmal mit Musik." Ich suche nach dem Song >Despacito< auf meiner Spotify App und lasse ihn über die Boxen laufen. Mit der richtigen Musik lässt sich die Choreo einfach noch viel besser tanzen. "Yeah, voll gut." Ich freue mich richtig, weil Tai das so gut macht. "Tja, ich lerne auch schnell", grinst Tai, aber ich kann nichts Gegenteiliges sagen. Nachdem wir ein paar mal den Grundschritt getanzt haben, wird es mir zu langweilig und wir gehen jetzt im gleichen Rhythmus in den Seitwärtsschritt über, auch das nimmt Tai relativ zügig an und ich führe zwei Drehungen mit ein. Ich grinse wahrscheinlich die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd. Ich habe das letzte Mal am Strand von L.A. Salsa bei einer Beachparty getanzt, dies liegt bereits einige Monate zurück und das war vor dem ganzen Scheiß, der mir da passiert ist. Beim Salsa sind die Körper noch enger als beim Walzer und die kreisenden Bewegungen führen auch schnell dazu, dass man relativ locker miteinander umgeht.

Ich drehe mich um und bleibe mit meinem Rücken an Tais Brust stehen. Ich bleibe in der Musik, meine linker Arm wandert nach oben, ich stehe mit meinen Füßen fest auf dem Boden und lasse meine Hüften kreisen, während ich mich bei jedem Takt weiter nach unten bewege. Dann drehe ich mich in der Hocke wieder um, greife nach Tais Händen und stelle mich in einer schnellen Bewegung auf. Mein Gesicht ist ganz nah an dem von Tai. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut, unsere Blicke treffen sich, seine Lippen sind leicht geöffnet. Mein rechter Arm legt sich hinter Tais Nacken und ich wollte gerade meinen Kopf nach hinten schwingen, als …

"Ihr seid ja der Wahnsinn!", kreischt auf einmal Frau Kido und klatscht hinter uns begeistert in ihre Hände. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass eine weitere Person den Raum betreten hat. Oh man, hoffentlich denkt sie jetzt nichts falsches. Sofort lasse ich Tai los und stelle mich neben ihm. "Äh, nach dem Walzer wollte ich unbedingt noch Salsa tanzen", erkläre ich verlegen.

"Ihr seid ja richtige Profitänzer, also mein Mann ist ja so gar kein Tänzer." Tja, der Apfel fällt wohl nicht weit vom Stamm.

"Wir sind dann jetzt auch fertig und ich muss eh los", äußert Tai und geht Richtung Wasserflasche die noch auf dem kleinen Tisch steht. Er trinkt kurz einen Schluck daraus und geht auf Frau Kido zu. "Für die Wohltätigkeitsveranstaltung ist sie fit. Ich komme morgen wieder."

"Ach schade, ich dachte ihr könnt mir nochmal was vorführen. Manchmal ist es hier ziemlich langweilig."

"Das würde ich ja gerne, aber leider habe ich gleich noch einen anderen wichtigen Termin und ich bin eh schon spät dran."

Hä, was für ein Termin? Da hat er mir vorhin gar nichts von gesagt. Der will doch nur hier weg. Aber warum so plötzlich? Ich weiß nicht mal, wie er es gefunden hat. Aber er hatte doch Spaß, oder?

"Na gut, mein Junge, dann freue ich mich schon auf morgen", sagt Frau Kido und sieht Tai hinterher.

Ein wenig verloren stehe ich hier in diesem leeren Raum und sehe unschlüssig zu Frau Kido. "Da Tai jetzt weg ist, hast du bestimmt Zeit für mich, oder?"

Oh nein, was erwartet mich jetzt wieder? "Ich habe hier mehrere Brautzeitschriften mit Frisuren und Make-Up und ich dachte wir können uns ja Mal inspirieren lassen." Bitte nicht. Frau Kido weiß doch, dass ich Visagistin bin. Ich weiß eigentlich ziemlich genau was ich will, aber freier Wille ade' oder wie war das? "Ja, gern", antworte ich daher und zwinge mich zu einem Lächeln. Ich verlasse den Tanzraum und folge Frau Kido nach oben ins Wohnzimmer, um mich weitere Stunden über schreckliche Frisuren durchzuquälen und hänge mit meinen Gedanken doch die ganze Zeit an den letzten zwei Stunden und dem Tanztraining mit Tai.

Ich werde aus diesem Typen einfach nicht schlau. Aber dennoch bin ich dankbar, heute so einen schönen Vormittag gehabt zu haben, obwohl er sehr nervig endet und Tai extrem überheblich und arrogant ist.

Kapitel 10

Mimi
 

Als ich den Trainingsraum betrete, wartet Tai bereits auf mich. Komisch, ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass er auch hier sein wollte. Hat er auf mich gewartet? Es scheint so, denn er kommt bereits mit großen Schritten auf mich zu.

„Noch eine Tanzstunde? Ich dachte, ich hätte jetzt alles drauf“, sage ich, doch er schnappt sich einfach meine Hand und zieht mich an sich.

„Ein bisschen mehr Übung kann nicht schaden“, lächelt er. Ich stutze. Warum sieht er mich so an? So hat er mich noch nie angesehen.

Die Musik setzt ein und er beginnt mich zu führen. Wir tanzen den Walzer und bewegen uns geschmeidig im Kreis.

„Auch wenn es ganz schön ist mit dir zu tanzen“, sage ich nach der Hälfte des Liedes. „Sollten wir unsere Zeit nicht sinnvoller nutzen?“

„Zum Beispiel mit …?“

„Mit … keine Ahnung. Gibt es nicht irgendwelche Benimmregeln, die du mir dringend beibringen musst?“

„Da gibt es noch so einige.“ Tai grinst verwegen. „Aber ich hatte einfach Lust, mit dir zu tanzen.“

Was?

Noch ehe ich den Gedanken zu Ende denken kann, springt das Lied plötzlich weiter und Tai fängt an Salsa zu tanzen.

Wie verrückt.

„Du hast ziemlich schnell gelernt“, staune ich über seine perfekte Haltung. Jeder Schritt sitzt.

„Ich hatte eine gute Lehrerin.“ Ich schaue zu ihm auf und die Röte steigt mir ins Gesicht. Was ist los mit ihm? Er macht mich total nervös.

Das Lied springt wieder und jetzt dringt plötzlich ein dramatisches Orchester aus den Lautsprechern. Ich halte in meiner Bewegung inne und schaue verwundert um mich.

„Was soll das?“

Wir hören auf zu tanzen. Stattdessen drängt Tai mich zurück. Ich stoße mit dem Rücken an die Wand der Trainingshalle und sehe erschrocken zu ihm auf. Was hat er vor? Er steht ganz dicht vor mir, unsere Körper berühren sich und seine Augen lodern vor Erregung. Seine Hände landen auf meiner Taille und rutschen wie selbstverständlich nach unten, bis sie auf meinem Po liegen und mich an ihn ziehen.

Meine Hände drücken gegen seine Brust. „Was machst du da?“

„Meinst du, ich sehe nicht, wie du mich anschaust?“, flüstert er und sein Atem streift meine Wange. Genauso wie seine Lippen, die sanft meine Haut berühren. Er haucht mir einen Kuss in die Halsbeuge und ich schließe seufzend die Augen.

„Nein … ich bin mit Joe verlobt.“

„Aber ich will dich.“

„Sag das nicht!“

Ich winde mich unter seinen Berührungen, seinen Küssen, aber ich habe keine Chance. Alles, was meine Finger tun, ist, sich noch fester an seinen starken Armen festzuhalten und sich in seine Haare zu graben.

Oh nein, wir dürfen das nicht. Aber warum fühlt es sich so gut an?

Ein Stöhnen entfährt mir, als er mich noch dichter an sich zieht und mich endlich küsst. Der Kuss schmeckt nach Verzweiflung, nach Verlangen. Seine Hände wandern weiter, erkunden jeden Zentimeter meines Körpers. Als seine Hand unter mein Shirt gleitet und seine Fingerspitzen meine nackte Haut berühren, stöhne ich erneut auf und schlinge ein Bein um seine Hüfte.

Ich presse mich ihm entgegen, als würde mein Körper ganz von alleine handeln.

Ich will das hier nicht.

Doch ich will es, ich will ihn.

Nein, ich will Joe heiraten. Das ist alles, was ich will.

Was sind das für wirre Gedanken? Und dieses ohrenbetäubende Orchester? Kann das mal jemand abstellen?

Tai’s Stöhnen, als mein Mund seinen erkundet, geht in diesem Lärm völlig unter, genauso wie meine Zweifel. Seine Hände wandern in meine Trainingshose, während er mit jedem Kuss meine Lust nur noch weiter steigert. Begierig zerre ich an seinem Shirt. Ich will es ihm ausziehen, als plötzlich …
 

„Aaah!“

Kaltes Wasser klatscht in mein Gesicht und mein Schrei durchbohrt die Wände. Ich reiße meine Augen auf und schaue in dasselbe Gesicht wie eben, nur, dass er einfach dumm grinst.

„Das macht einfach zu viel Spaß.“

Ich knurre Tai an und oh ja, wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt tot umgefallen.

„Ich hasse dich!“, würge ich hervor, schlage die Bettdecke zurück und wische mir meine klitschnassen Haare aus dem Gesicht.

Tai steht breit grinsend mit einem leeren Glas vor meinem Bett. Natürlich ist er angezogen, während ich mal wieder im Nachthemd vor ihm sitze. Ich schwöre, wenn er mir jetzt wieder auf die Titten glotzt, bringe ich ihn um!

Ein falscher Blick und er ist fällig.

„Ich dachte, deinen Jetlag hättest du inzwischen überwunden.“

„Habe ich, du Vollidiot. Deshalb musst du mir auch kein Wasser ins Gesicht schütten. Kannst du mich nicht mal sanfter wecken?“, fauche ich ihn an, doch er zuckt nur mit den Schultern.

„Habe ich versucht. Du warst mal wieder nicht wach zu kriegen. Du schläfst echt wie ein Stein, unglaublich. Und dann sabberst und stöhnst du auch noch dabei.“

Sofort spüre ich die Hitze meine Wangen hochsteigen. „Ich habe was …?“

„War’s ein schöner Traum?“, fragt Tai ohne Umschweife und setzt sich auf meine Bettkante, als hätte ihn irgendjemand dazu eingeladen. „Hast du einen Sex-Traum gehabt? Mit Joe?“

Dieses provokante Grinsen.

Nein, mit dir, du Idiot. Und eben wird mir klar, dass es eher ein Albtraum war. Was ist da nur in mich gefahren? Ich muss verrückt sein.

„Das reicht“, sage ich nur und schubse ihn von meinem Bett, ehe ich selbst aufstehe. „Ab morgen schließe ich die Zimmertür ab.“

Tai lacht, weil er es mal wieder geschafft hat, mich auf den Arm zu nehmen, während ich einfach nur sauer und verwirrt bin. Was für ein beschissener Traum.

„Beeil dich, wir sind spät dran“, meint er dann, als ich bereits beginne, mir mein Kleid für heute aus dem Schrank zu suchen. Ich frage gar nicht erst, was wir heute vorhaben, ich bin viel zu durcheinander. Mein Puls rast immer noch und mein Kopf fährt Achterbahn.

„Ich warte unten auf dich.“

„Ja ja, verzieh dich einfach.“

Deutlich amüsiert verlässt er den Raum und schließt die Tür hinter sich, während mir gar nicht zu lachen zu Mute ist.

Ich brauche dringend eine Dusche.
 

Zugegeben, ich brauchte eine ziemlich lange Dusche. Jetzt ist mein Kopf befreit, meine Gedanken sind rein wie die eines Babys und meine Augen sehen wieder klar.

Dieser Tanz gestern war ziemlich … intim. Tai und ich waren uns körperlich sehr nahe und er sieht nicht gerade schlecht aus. Wen würde so was kalt lassen? Dieser Traum war gar nichts. Nichts! Nada! Eine irre Fantasie, die ich schon längst vergessen habe. Wichtig ist, dass ich mich fokussiere – und zwar auf Joe.

Während ich die Treppen nach unten steige, bleibe ich stehe und krame mein Handy aus meiner Tasche. Ich wähle Joes Nummer. Es dauert nicht lange, bis er abhebt.

„Hallo?“

„Guten Morgen, mein Verlobter“, grinse ich ins Telefon. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“

„Guten Morgen, Mimi. Ja, es geht so. Das Bett ist schon ziemlich bequem, aber dafür sind die Zimmernachbarn sehr laut oder besser gesagt ihr Fernseher“, sagt Joe und klingt tatsächlich ziemlich müde.

„Oh, das tut mir leid für dich. Ist der Kongress anstrengend?“

Joe lacht. „Für andere vermutlich, ja. Für mich fühlt es sich wie Freizeit an. Es macht einfach so Spaß hier. Schade, dass er nur 3 Tage geht.“

Ich grinse unsicher. Meint er das ernst?

„Oh, ähm, das soll natürlich nicht heißen, dass ich mich nicht auf zu Hause freue“, ergänzt er schnell noch. „Ich freue mich, dass wir uns morgen wieder sehen. Und ich habe eine gute Nachricht für dich, Mimi. Ich habe es tatsächlich geschafft, mir zwei Tage frei zu nehmen. Dann hätten wir endlich Zeit, etwas schönes zusammen zu unternehmen und uns besser kennenzulernen. Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, weil du deine Zeit mehr mit Tai verbringst als mit mir.“

„Nicht doch“, winke ich schnell ab. „Es ist nicht halb so schlimm wie du es dir vorstellst.“

Es ist doppelt so schlimm!

„Wirklich? Kommt ihr gut mit den Lektionen voran? Wie lief die Tanzstunde? Kannst du den Walzer?“

Bei der Erinnerung an die Tanzstunde gestern keimt ein flaues Gefühl in meinem Magen auf. Warum bin ich so verunsichert? Es ist doch im Grunde gar nichts passiert. Wir haben nur getanzt, das ist alles. Mehr war da nicht.

„Ja, Tai ist ein guter Tänzer. Ich hatte den Walzer ziemlich schnell drauf“, sage ich und versuche meine Gedanken wieder auf Joe zu lenken.

„Das stimmt“, lacht Joe auf. „Tai konnte schon immer besser tanzen als ich. Ich hoffe, du hältst es auf dem Wohltätigkeitsball trotzdem mit mir aus, auch wenn ich zwei linke Füße habe.“

Bei der Vorstellung, wie Joe über die Tanzfläche stolpert, muss ich kichern. „Ich werde es schon überstehen.“

„Das ist gut“, sagt er amüsiert. „Wir müssen einen guten Eindruck hinterlassen, Mimi. Das ist meinem Vater sehr wichtig. Es werden viele Freunde von ihm anwesend sein.“

Ich schlucke schwer. „Ich weiß, ich werde das packen.“

Danke für noch mehr Druck. Ich spüre jetzt schon, wie alle Augen auf mich gerichtet sein werden.

„Da bin ich mir sicher“, stimmt Joe mir zu. Es wundert mich, wie viel Vertrauen er in mich setzt, obwohl er mich ja gar nicht kennt.

„Dann sehen wir uns morgen?“, frage ich.

„Wir sehen uns morgen. Bis dann, Mimi.“

„Bis dann“. Ich lege auf und atme tief durch. Ich muss mich einfach noch mehr anstrengen. Nichts darf schief gehen. Und meine Gedanken für Tai dürfen mir auf keinen Fall im Weg stehen.

Ich gehe weiter nach unten und finde ihn im Wohnbereich. Er sitzt dort und liest etwas auf seinem Handy, während er auf mich wartet und mich gar nicht bemerkt. Ich stehe da und sehe ihn an. Seine gebräunte Haut. Seine starken Arme. Sein braunes Haar.

Mir wird warm.

Warum kann er nicht einfach unattraktiv sein? Das würde so vieles leichter machen. Dieser Tanz gestern … hat er das auch gespürt oder war das nur ich? War da nicht irgendeine Verbindung?

Tai hebt den Kopf und sieht, wie ich da stehe und ihn anstarre.

„Wird auch Zeit“, begrüßt er mich deutlich genervt. „Ich warte seit einer Ewigkeit.“

Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. Danke, dass du es mir so leicht machst, dich nicht zu mögen, Tai.
 

Kaum sitzen wir in der Limousine und fahren zu unserem ersten Termin, beginnt Tai zu reden wie ein Wasserfall.

„Wir haben heute viel vor und einen straffen Zeitplan“, beginnt er und scrollt geschäftig durch sein Handy. „Zuerst hast du eine Kimono Anprobe, du brauchst dringend einen, für traditionelle Feste. Davon gibt es im Jahr einige, ein paar davon finden auf dem Anwesen der Kidos statt. Danach fahren wir zu einer Teezeremonie.“

„Wow, klingt ja spannend“, witzle ich, aber Tai hört mir gar nicht zu und macht weiter mit seinem Programm.

„Die Familie Kido zelebriert das regelmäßig, häufig auch alleine oder zu zweit, aber als Schwiegertochter wird von dir erwartet, bei so etwas anwesend zu sein. Danach fahren wir was essen, natürlich in einem traditionell japanischen Restaurant. Auf dem Weg dorthin lernst du bitte das auswendig.“ Er streckt seinen Arm zur Seite aus und hält mir irgendeine Akte unter die Nase. „Das ist der Stammbaum der Familie Kido, du solltest ihn kennen. Zudem sind dort die Steckbriefe aller wichtigen Geschäftspartner, Freunde und Bekannter drin, die bei der Familie Kido großes Ansehen genießen. Spätestens auf der Gala wist du sie kennenlernen. Wir haben es neulich nach dem Krankenhaus ja leider verpasst, das zu tun, also musst du diese Lektion jetzt nachholen.“

Ich puste die Luft aus. „Klar, sonst noch was?“, frage ich eigentliche eher zum Scherz, aber Tai ist noch nicht fertig.

„Danach steht Sport auf dem Programm. Unter anderem Golf.“

„Golf?“

„Ja, das ist Joes Lieblingssport. Aber ich werde auch deine allgemeine Fitness testen. Als Frau eines Kido, wirst du einen personal Trainer und einen strickten Trainingsplan haben. Dr. Kido ist, als Arzt, die Gesundheit seiner Familie sehr wichtig, also halte dich besser daran.“

Wie bitte? Und das wollen wir ALLES heute machen?

„Du weißt aber schon, dass der Tag nur 24 Stunden hat?“, entgegne ich und sehe Tai zweifelnd an. Hat er den Verstand verloren?

Tai seufzt, als würde ich ihm auf die Nerven gehen. „Ich könnte mir auch Besseres vorstellen. Aber ich muss bald für ein paar Tage ans Filmset, weil ich da einen …“

„Ein Filmset? Wow! Kann ich mitkommen?“

„Auf keinen Fall.“

Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre schmollend aus dem Fenster. Spielverderber. Das wäre endlich mal was gewesen, was mich interessiert hätte. Aber nein, ich gehe gerne stattdessen zu langweiligen Teezeremonien.

„Ich wollte damit nur sagen, dass wir uns ranhalten müssen. Eure Verlobungsfeier ist nicht mehr weit und ich habe auch noch andere Verpflichtungen, wie zum Beispiel meinen Job als Stuntman. Ich kann nicht ewig viel Zeit damit zubringen, dich zu unterrichten. Also tu uns beiden einen Gefallen und streng dich an. Umso schneller bist du mich los.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ja, vermutlich hat er recht. Ich sollte diese ganzen dummen Gedanken an ihn einfach vergessen. So distanziert wie er sich mir gegenüber verhält, hatte das gestern sowieso nichts zu bedeuten, genauso wenig wie diese Blicke zuvor. Alles Einbildung. Und so wie Tai klingt ist er nur mehr als froh, wenn er bald keine Zeit mehr mit mir verbringen muss. Also sollte ich einfach seine Bitte erfüllen und mich bemühen. Aber warum fühle ich mich dann trotzdem so gekränkt?
 

Die Kimono Anprobe ist die reinste Tortur. Natürlich kann es auch nicht irgendein Kimono sein. Ich komme mir vor wie eine Geisha.

„Ist das wirklich notwendig?“, rufe ich aus der Ankleide, als mir die Verkäuferin die gefühlt zehnte Lage Stoff umlegt.

„Ich kann nicht fassen, dass du mir diese Frage stellst“, höre ich Tai von draußen zurückrufen.

Ich seufze. „Und ich kann nicht fassen, dass du mir das antust“, flüstere ich augenrollend, während mir der Obi angelegt wird. Irgendwann sagt die Verkäuferin „Fertig“ und bestaunt ihr Werk, während ich mich sichtlich unwohl fühle.

„Wollen Sie Ihrem Freund das Ergebnis zeigen?“

„Er ist nicht mein Freund“, antworte ich grummelnd.

Als ich aus der Kabine trete, hebt Tai den Kopf und sieht von seinem Handy zu mir auf.

„Hmm, nicht schlecht“, sagt er jedoch nur und schaut dann wieder auf sein Smartphone.

Wie bitte? Nicht schlecht? Das ist alles? Und dafür quäle ich mich 20 Minuten bei der Anprobe?

„Was ist?“, fragt er nun, als er bemerkt, dass ich mich nicht rege. „Los, probier den Nächsten an.“

„Was? Aber warum? Der ist doch super.“ Er ist rosa und hat ein schönes Rosenmuster im Stoff. Was hat er nur dagegen?

„Glaub mir, du wirst mehr als einen brauchen.“

Ich stöhne genervt auf. „Super, Tai. Ich hoffe, ich darf einen davon nachher bei der Teezeremonie tragen.“

Der pure Sarkasmus trieft aus meiner Stimme, aber das scheint Tai zu ignorieren.

„Gute Idee, dann kannst du gleich üben darin zu sitzen.“

Ich presse die Zähne aufeinander und schließe die Augen. Ganz ruhig, Mimi. Ganz ruhig. Sonst bringst du ihn heute noch um.
 

Eine Autofahrt und fünf Kimonos später sitze ich in einem davon bei der Teezeremonie und könnte vor Langeweile sterben. Warum tun Menschen sich so was freiwillig an? Ja ja, ich weiß schon, es geht um die innere Ruhe und darum, den Geist frei zu machen. Aber ich bin doch schon ruhig, genauso wie Tai, der einfach seinen Tagesplan abarbeitet und kaum mit mir spricht.

Unauffällig schiele ich zu ihm rüber. Er sieht total hochkonzentriert aus, während er der Dame dabei zusieht, wie sie den Tee anrührt. Interessiert ihn das wirklich oder ist er innerlich tot?

Puh, also meine Beine sind es jedenfalls gleich. Ich habe das Gefühl, ich kann keine Sekunde länger auf meinen Fersen sitzen.

So sieht jetzt also mein Leben aus. Teezeremonien, hübsche Kleider, brav und stumm herumsitzen und all das tun, was die Familie sagt. Schreck lass nach. Und Tai interessiert das nicht die Bohne. War da gestern echt nichts zwischen uns?
 

Nachdem die Teezeremonie vorbei ist, meine Beine nicht mehr durchblutet werden und Tai mich keines Blickes gewürdigt hat, geht es wie geplant weiter zum Essen. Tai ist damit beschäftigt an mir rum zu nörgeln und mir zum zehnten Mal zu erklären, wie man die Stäbchen richtig hält und hinlegt. Wie schnell oder langsam ich essen soll, wie ich sitzen soll, ja sogar in welcher Phase des Essens man am besten die Toilette aufsucht und selbst dabei gibt es noch einiges zu beachten. Mir ist quasi jeder Bissen im Hals stecken geblieben und nachdem wir das Restaurant verlassen haben, schwirrt mir der Kopf.

„Als Nächstes steht Sport auf dem Programm“, klärt Tai mich noch mal auf. Als wäre das nötig gewesen. „Wir fahren kurz zum Anwesen zurück, du ziehst dich um und von dort aus joggen wir zur Golfanlage.“

„Klar doch. Willst du mir auch noch vorschreiben, in welcher Reihenfolge ich meine Klamotten auszuziehen habe?“ Inzwischen bin ich so gereizt von seinem ganzen Getue, dass ich gar nicht anders kann als zickig zu reagieren.

„Du tust so, als würde mir das Freude bereiten“, entgegnet Tai tonlos, aber sieht dabei wie immer aus dem Fenster. Natürlich sieht er mich nicht an. Wieso auch? Ich bin ja nur die nervige, kleine Verlobte seines Freundes.

„Keine Ahnung, tut es das?“, antworte ich gereizt, aber Tai zischt nur, als wäre diese Frage keine Antwort wert.

Innerlich platze ich fast, wegen seiner arroganten Art, die er heute an den Tag legt und plötzlich finde ich es richtig gut, dass wir joggen gehen. Ich werde den ganzen Frust einfach weglaufen.
 

In der Villa angekommen, pelle ich mich aus diesem Kimono und schmeiße ihn achtlos auf mein Bett, was er definitiv nicht verdient hat. Aber ich bin einfach so sauer. Und das ist noch gar kein Ausdruck. Ich koche vor Wut! Tai ist echt das Letzte. Erst haben wir da gestern so etwas wie eine Verbindung, tanzen uns die Seele aus dem Leib, ich vertraue ihm meine Geheimnisse an und beginne, mich ihm zu öffnen und er? Er behandelt mich wie Luft?

Na, schön. Wenn er es so will, diese Spielchen kann ich auch spielen.

Ich ziehe mir meine Sportsachen an und gehe wieder nach unten. Tai steht selbstverständlich schon draußen und macht sich warm. Am liebsten würde ich einen Moment länger auf der Treppe stehen bleiben und seine Muskeln bewundern. Er hat wirklich einen durchtrainierten Körper, das muss man ihm lassen. Aber vermutlich braucht er den als Stuntman auch.

„Da bist du ja“, stellt er fest, als er mit ein paar Liegestütz fertig ist.

„Ja, können wir es dann hinter uns bringen?“ Ich verzichte auf das Warm Up und laufe einfach los, dicht gefolgt von Tai.

„Du solltest dich wirklich zuerst aufwärmen.“

„Danke, aber mir ist warm genug.“ Und das nicht, weil ich dich schwitzend gesehen habe.

„Gut, deine Sache. Wir machen unterwegs ein paar Boxenstopps und bauen leichte Muskelaufbauübungen mit ein. Dr. Kido will heute Abend einen Bericht von mir über deine momentane Fitness.“

Ich schnaufe verächtlich. „Sehr schön, kann er gleich auf seinem Anamnesebogen hinzufügen.“

Wir laufen eine ganze Weile, erst einfach die Straße entlang, dann biegen wir in einen Park ein. Zwischendurch halten wir immer wieder an und ich muss dämliche Liegestütz, Kniebeugen und Sit-up’s machen.

„Dafür schmorst du in der Hölle, Yagami“, keuche ich, nachdem Tai endlich den fünfzigsten Sit-up gezählt hat und ich halbtot im Gras zusammenbreche.

„Hey, ich könnte mir auch besseres vorstellen“, antwortet er, während ich mit dem Rücken im Gras liege und nach Luft schnappe. Böse funkle ich ihn an. Er ist natürlich überhaupt nicht aus der Puste. Für ihn muss das hier ein Spaziergang sein.

„Ja, das hast du heute mehr als deutlich gezeigt.“

„Was meinst du?“

Stellt er sich jetzt dumm?

Ich stütze mich auf beide Unterarme ab und schaue zu ihm hoch.

„Warum bist du heute so ein Kotzbrocken, Tai?“

„Ich bin ein was?“, fragt er irritiert und verschränkt die Arme vor der Brust. Sein Bizeps spannt sich an, was ich ziemlich heiß finde, mir aber grad total egal ist. Mit Sexyness kann er heute nicht mehr punkten.

„Ein Kotzbrocken!“, wiederhole ich. „Du bist distanziert, du schaust mich nicht an, du wiederholst ständig, dass du das hier eigentlich alles nicht willst, nörgelst nur an mir rum, Mimi tu dies, Mimi tu das …“ Ich könnte die Liste noch fortsetzen, aber stattdessen springe ich auf die Beine und stemme die Hände in die Seite. „Was habe ich dir getan?“

„Wieso solltest du mir was getan haben?“

„Denkst du, du kannst mich aus der Villa ekeln?“

„Was?“ Verwirrt sieht Tai mich an.

„Ach, komm schon“, sage ich provokant. „Ich weiß genau, dass du was gegen diese Heirat hast. Aber wenn du glaubst, ich verschwinde, nur weil du ein bisschen eklig zu mir bist, hast du dich geschnitten. Nur zu deiner Info: ich kenne weitaus schlimmere Typen als dich, also streng dich etwas mehr an, wenn du mich loswerden willst.“

Ich lasse ihn stehen und jogge weiter. Tai folgt mir. „Wie kommst du darauf, dass ich dich loswerden will?“

„Oh bitte“, schnaufe ich, während ich immer schneller laufe, als würde ich vor ihm weglaufen wollen. „Du warst von Anfang an gegen mich.“

„Nicht gegen dich“, höre ich Tai sagen, der mich inzwischen eingeholt hat. „Nur gegen diese arrangierte Ehe. Ich habe nichts gegen dich.“

Fast hätte ich aufgelacht. „Erzähl das deiner Oma.“

„Hey Mimi“, meint Tai plötzlich und kommt mir gefährlich nahe. „Wie schnell kannst du rennen?“

„Warum? Soll das etwa auch auf den Anamnesebogen?“ Ich bin echt genervt davon.

„Nein, aber wir werden verfolgt.“

„Was?“ Erschrocken schaue ich mich zu allen Seiten um, während Tai mich nur weiter antreibt. „Lauf einfach weiter. Der Kerl hinter uns folgt uns schon seit einer ganzen Weile und hat eben sein Handy rausgeholt und auf uns gerichtet.“

„Meinst du, er ist ein Paparazzo?“ Super, da gehe ich das erste mal seit Tagen wieder aus dem Haus und schon kleben sie an mir wie die Fliegen.

„Oder ein Zivilist, der etwas Kohle verdienen will. Wie auch immer, er wird uns nicht in Ruhe lassen, also müssen wir ihn abhängen.“

Ich lache gequält auf. „Ich denke, das gibt meine Kondition nicht her.“ Vor allem nicht, seit du mich durch dieses harte Training gejagt hast.

„Streng dich an, Prinzessin, oder du siehst dein Bild heute Abend in den Nachrichten“, sagt Tai nur und beschleunigt bereits sein Tempo. Ich komme kaum hinterher. Inzwischen joggen wir nicht mehr, wir rennen. Und ein Blick nach hinten verrät mir, dass unser Verfolger nun auch drauf los sprintet, das Handy immer noch in der Hand. Scheiße!

Tai ist super schnell und so langsam geht mir die Puste aus, obwohl ich förmlich über den Boden fliege. Meine Lunge schmerzt und ich weiß nicht, was Tai’s Plan ist, wenn dieser Kerl nicht aufgibt. Lange halte ich das nicht mehr durch. Der Park ist riesig, aber wir schaffen es einfach nicht ihn loszuwerden.

Plötzlich legt Tai noch einen Zahn zu und hängt mich locker ab. Was soll das? Ich versuche mit ihm mitzuhalten, aber zwecklos. Er ist viel zu schnell. Allerdings geht unserem Verfolger auch allmählich die Puste aus. Inzwischen ist er ziemlich weit zurück gefallen und ich nutze die Chance und sammle noch mal alle Kräfte. Tai ist um die nächste Ecke gebogen und ich habe ihn aus den Augen verloren. Trotzdem folge ich seinem Weg und als auch ich um die Ecke springe, packt mich plötzlich ein Arm von der Seite und reißt mich vom Weg. Ich werde hinter einen Baum gezerrt und starke Arme legen sich um meinen Körper, um mich festzuhalten, eine Hand auf meinen Mund gepresst. Ich will aufschreien, aber es geht nicht. Erst, als ich mich winde, merke ich, dass es Tai ist.

„Psst!“, macht er und deutet somit an, ruhig zu sein. Ich stehe mit dem Rücken zu ihm, dicht an seine Brust gepresst. Mein Brustkorb hebt und senkt sich viel zu schnell und ich habe das Gefühl kaum noch Luft zu bekommen. Tai nimmt die Hand von meinem Mund, als er sich sicher ist, dass ich nicht losschreie und legt sie stattdessen auf die Stelle, wo mein Herz ist – das rast wie verrückt.

Genau in diesem Moment rennt der Kerl an uns vorbei, der uns verfolgt hat und rennt einfach immer weiter und weiter. Er hat uns nicht entdeckt. Ich atme erleichtert aus und sacke in mich zusammen. Würde Tai mich nicht immer noch festhalten, würde ich wohl auf der Stelle zusammenbrechen. Daher bin ich froh, dass er es tut.

Wir bleiben einfach noch einen Moment so stehen – reglos. Auch ich kann in meinem Rücken Tai’s Herzschlag spüren, welcher viel zu schnell geht. Seine Arme sind immer noch um meinen Körper geschlungen.

Und plötzlich ist es wieder da – dieses Gefühl. Diese … Verbindung. Diese Anziehung. Es fühlt sich genau wie gestern an, als wir uns so nah waren.

Tai lockert seinen Griff und will mich loslassen, doch ich greife schnell nach seiner Hand und halte sie fest.

Ich muss das jetzt spüren.

Ich muss wissen, ob ich mir das alles nur eingebildet habe.

Tai hält in seiner Bewegung inne und so verharren wir einen Moment zu lange. Spüren den Herzschlag des jeweils anderen. Spüren die Anziehung.

Es kostet mich alle Kraft, mich jetzt nicht umzudrehen, aber ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst.

Diese Nähe verwirrt mich. Und würde ich ihm jetzt in die Augen sehen, dann …

„Mimi?“

Ich schlucke schwer. „Ja?“, hauche ich.

„Lass mich los, okay?“

Ich erschrecke vor mir selbst, weil ich seine Hand immer noch festhalte und springe förmlich aus seiner Umklammerung.

Oh Gott. Was war das? Hat ihn diese Nähe genauso berührt wie mich?

Doch als ich mich zu ihm umdrehe, erkenne ich … nichts.

Da ist nicht die geringste Emotion in seinem Gesicht, nichts, was mich glauben lassen könnte, er hätte das selbe gespürt wie ich.

„Verdammt, wir müssen besser aufpassen“, sagt er stattdessen nur, als wäre nichts gewesen. „Das war haarscharf. Ich hoffe, er hat kein brauchbares Foto hinbekommen.“

Ist das alles worum es ihm geht?

Dass wir eben eng umschlungen hinter einem Baum standen, interessiert ihn gar nicht?

Mit einem Mal packt mich die Wut.

„Wäre es nicht deine Aufgabe gewesen, darauf zu achten, dass uns niemand verfolgt?“, fahre ich ihn an.

„Wie soll ich das bitte anstellen? Ich bin nicht dein Bodyguard. Wir haben Glück, dass uns nicht schon viel eher jemand gefolgt ist.“ Er ist gereizt. Genau wie ich. Aber warum sind wir so wütend aufeinander?

„Mir egal“, fauche ich. „Ich habe so die Nase voll von all dem hier.“ Und damit meine ich nicht nur die Paparazzi und die Presse.

Tai verzieht das Gesicht.

„Hey, du musst nicht so kratzbürstig sein. Du wolltest das hier! Du bist freiwillig hergekommen, um Joe zu heiraten. Du hättest wissen müssen, was dich erwartet.“

Ja, hätte ich.

Aber hätte ich auch erwarten müssen, ausgerechnet hier in Japan dir zu begegnen?

„Ich wollte das hier?“, wiederhole ich ungläubig. „Du hast keine Ahnung!“

Damit lasse ich ihn stehen. Ich drehe mich um und gehe einfach.

„Wo willst du hin? Wir müssen noch Golfen“, höre ich Tai mir hinterher rufen, aber da kann er lange warten.

„Steck dir deinen Golfschläger sonst wo hin“, rufe ich zurück und stampfe davon in Richtung Kido Anwesen.

Tai.

 

Eine Zeitlang bleibe ich noch regungslos im Park stehen und versuche meinen wilden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn, weil ich mich einfach so unfassbar über mich selbst aufrege. Mimi scheint mich zu hassen. Ich habe ihr schließlich auch unzählige Gründe dafür geliefert. Ich habe mich entsprechend von meiner schlechtesten Seite gezeigt, sie wenig beachtet und ja, sie ein wenig auflaufen lassen, aber es ist besser so. In den letzten zwei Tagen hat sich die Stimmung zwischen uns irgendwie verändert. Ich kann nicht genau benennen, was es damit auf sich hat. Erst die Blicke am Pool, dann das Tanztraining, jede Berührung hat sich so natürlich und selbstverständlich angefühlt. So, als ob wir schon immer miteinander getanzt hätten. Als wäre es das Normalste auf der Welt, dass wir uns so nah sind. Und selbst gerade eben wieder, als wir so dicht beieinander standen und die Atmung des jeweils anderen gespürt haben, ist es, als hätten wir eine Verbindung zueinander, eine unglaubliche Anziehungskraft, wie zwei Magnete die sich immer wieder anziehen. Aber es ist mir lieber, wenn sie mich hasst.

Ich könnte sie dazu bringen, sich in mich zu verlieben. Ich glaube sogar, es ist ein Kinderspiel. Aber was bringt es uns dann? Sie wird Joe heiraten, deshalb ist sie hier. Sie ist nicht hierher gekommen, um mich kennenzulernen und wenn einmal beschlossen ist, dass ein Kido Sprössling heiratet, dann wird das auch geschehen. Ich habe keine Lust auf so ein Drama wie damals mit Kaori, denn wie ich schon auf die harte Tour lernen musste: hierbei geht es nicht um Liebe und auch wenn darüber in Liebessongs gerne anders gesungen wird, dass die Liebe am Ende siegt und so, so stimmt es nicht. Am Ende gewinnt immer das Geld oder das Statussymbol, aber Liebe? Nein, die bleibt allein zurück.

Abgesehen davon ist Joe einer meiner besten Freunde und ich werde ihm bestimmt nicht in den Rücken fallen. Mimi und ich, wir können aber auch keine Freunde werden, dass ist mir in den letzten Tagen klar geworden. Ich wollte es versuchen. Für Joe, aber dann war da diese Anziehung und die gehört hier einfach nicht hin und ich werde alles dafür tun, dass ich dieses Gefühl im Keim ersticke. Notfalls immer wieder. Ich tue ihr ein Gefallen damit, auch wenn sie es jetzt noch nicht sehen kann.

 

Ich jogge ebenfalls zum Kido Anwesen zurück und lege sogar noch eine Extrarunde oben drauf. Ablenkung durch Sport hat mir schon immer geholfen, einen einigermaßen kühlen Kopf zu bewahren. Später werde ich noch mit dem Prof. zu Abendessen und ihn über den Erfolg des heutigen Tages informieren.

Wie Spaßig.

Mimi entdecke ich in der Villa nirgends mehr, vielleicht geht sie mir aber auch aus dem Weg und wenn, ist es sicher besser so. Trotzdem stelle ich mir die Frage, ob ich mich bei ihr entschuldigen sollte, aber vielleicht erwecke ich dann so etwas wie Hoffnung bei ihr und das will ich auf keinen Fall.

Ich gehe Richtung Gästebad und da ich mir diesmal genug Wechselsachen eingepackt habe, bin ich auch direkt für das Abendessen fertig angezogen. Frau Kido sitzt bereits dort und leider nicht allein. Kaori sitzt direkt neben ihr und gemeinsam stecken sie ihre Nase in ein, klar, in ein Brautmagazin. "Hallo Tai, ist Mimi nicht bei dir? Ich muss ihr unbedingt noch diesen Schleier zeigen. Ich glaube ja, ein Langer, der über den Fußboden ragt, wäre schöner, aber Kaori findet den Kurzen hier eleganter." Frau Kido hält mir die Zeitschrift entgegen und ich kann gar nicht mit Worten ausdrücken, wie egal mir die Länge des Schleiers ist oder ob sie überhaupt einen trägt.

"Ähm, nein ist sie nicht. Wir waren nicht beim Golfen. Der Tag war heute wohl doch etwas zu voll getaktet und Mimi hat eine Pause gebraucht."

"Verstehe, das hab ich mir schon gedacht, aber morgen ist ja auch noch ein Tag."

"Ja, nur die Zeit rast trotzdem und nächste Woche bin ich nicht da, um ihr zu helfen."

"Wo bist du denn? Hast du Urlaub?" Über diese Frage muss ich fast Lachen.

Urlaub? Was ist das? Ich habe, wenn es hoch kommt, eine Woche Urlaub im ganzen Jahr. Ich spare alles, was ich kann, für meine Weltreise, dann hab ich Urlaub satt und muss mir diese ganze scheinheilige Welt nicht länger antun. "Nein, mein eigentlicher Hauptjob wartet auf mich, als Stuntman." Kaori sieht nicht eine Sekunde zu mir auf. Sie schaut sich weiter dieses blöde Brautmagazin an und würdigt mich wie immer keines Blickes. Geübt ist eben geübt.

"Achso." Frau Kido scheint es auch nicht weiter zu interessieren, aber wenigstens redet sie mir auch nicht rein. "Haruiko müsste auch gleich kommen. Er ist schon gespannt auf deinen Bericht."

Und wie auf Kommando kommt der Herr des Hauses auch schon durch die Türe. Die Begrüßung zu seiner Frau ist irgendwie distanziert. Ein halbes Lächeln, ein kurzes belangloses „Wie war dein Tag?“ und oberflächlicher Smalltalk ist alles, was ich mit bekomme. Nach all den Jahren vielleicht normal, vielleicht war es aber auch nie anders. Werden Joe und Mimi auch so enden? Eine Beziehung, die immer nur an der Oberfläche kratzt oder kann aus so einer arrangierten Verbindung eine echte, tiefe Liebe werden?

Irgendwie wage ich das zu bezweifeln. Nach zwei Jahren Ehe glaub ich nicht mal, dass Kaori und Jim echte Gefühle füreinander hegen. Na ja, Jim vielleicht schon, aber Kaori? Wir mögen vielleicht nur ein halbes Jahr zusammen gewesen sein, aber es war eine sehr intensive Zeit und ich habe eine ganz andere Kaori kennengelernt.

„Taichi, setz dich zu uns." Der Professor sieht mich an und ich unterdrücke ein Augenrollen, komme aber seiner Bitte nach. Kurze Berichterstattung und dann bin ich hier ganz schnell weg. "Und hat Mimi heute dem Tag standhalten können?", kommt er gleich zur Sache.

"Nein, hab ich nicht." Ich drehe meinen Kopf zur Tür und Mimi ist reingekommen. Sie trägt ein langes, dunkelblaues Kleid, mit gestrickten Ärmeln und einer angemessenen Rocklänge. Trotzdem steht es ihr sehr gut. "Nachdem ich von irgendwem durch den halben Park mit einer Kamera verfolgt worden bin, hatte ich keine Kraft mehr für Golf gehabt", erklärt sie und zuckt mit ihren Schultern.

"Verstehe, du kannst aber nicht immer vor den Fotografen davonlaufen. Sie sind wichtig für uns. Kaori, wie klärst du solche Angelegenheiten?"

Kaori setzt sich noch gerader hin, falls das überhaupt möglich ist und sieht zu Mimi.

"Ich bedanke mich für ihr Interesse an meiner Person, lächle in die Kamera und wünsche ihnen zum Abschluss noch einen schönen Tag."

"Na, das klingt doch gar nicht so schwer. Mimi, das wirst du doch sicher auch schaffen, oder?"

Sofort nickt Mimi, aber ich sehe ihr an, dass sie es am liebsten nicht machen möchte.

Mimi ist nicht wie Kaori.

Kaori wurde ihr ganzes Leben auf dieses Leben vorbereitet, aber Mimi? Sie weiß nicht ansatzweise, auf was sie sich hier eingelassen hat. "Natürlich, es ist nur noch sehr ungewohnt für mich."

"Du wirst dich daran gewöhnen, Mimi. Keine Sorge", versucht Kaori sie zu beruhigen.

"Und im Endeffekt bleibt dir auch gar nichts anderes übrig. Das Interesse der Öffentlichkeit verschwindet nicht, nur weil du es gerne so hättest. Also gewöhne dich lieber gleich daran", führt Dr. Kido ohne Umschweife hinzu. Da ist er wieder, der Arsch vom Dienst. Hauptsache die Familie Kido steht gut da und glänzt, ohne Rücksicht auf Verluste. "Genau deswegen haben wir auch ein Interview Termin in einer Woche zugesagt. So haben Joe und vor allem aber Mimi die Möglichkeit sich in einem positives Licht zu präsentieren, diverse Fragen zu beantworten und das Volk bekommt neue Pärchenbilder", erkläre ich schnell, damit Mimi aus der Schussposition kommt. Ohne Joe muss sie sich ja hier total wohl fühlen. Also fast sowie ich. "Hervorragend, dann wäre das ja geklärt. Wie war der heutige Fitnesscheck?"

"Beweglichkeit: Sehr gut, Kraft: Ausbaufähig, Koordindation: Mittelmäßig, Ausdauer: Sehr gut", schließe ich mein Notizbuch und somit den Fitnesscheck ab. Ich sehe überraschte Gesichter auf allen Seiten. Mimi hat aber eine wirklich gute Fitness. Sie hat immerhin mit mir mithalten können und das ist nicht so einfach. Gut, Kraft ist relativ, aber nichts, was eine Kido Frau zu 100% erfüllen müsste. "Das klingt doch wirklich ausgezeichnet. Bist du sportlich, Mimi?", möchte Frau Kido genauer wissen. "Ich war in der Schule Cheerleaderin und habe auch so viele Jahre getanzt. Ich habe mich sogar Mal an Ji-Jiutsu versucht."

"Ach, wirklich?", staunt Kaori nicht schlecht.

"Ja, nicht so lange zwar, aber es hat wirklich Spaß gemacht." Darüber muss ich tatsächlich ein wenig schmunzeln. Auch ich habe einige Jahre Ji-Jiutsu betrieben. "Ji-Jiutsu ist nichts für eine Kido Frau, aber Tanzen ist durchaus erwähnenswert", argumentiert Haruiko sachlich. Mich schüttelt es. Wer gibt einem denn vor, wer was zu machen hat und für wen was das Beste ist? Absolut krank. "Schön, dass wir den Abend gemeinsam mit unseren bezaubernden Schwiegertöchtern verbringen. Jetzt, wo unsere Söhne beide auf dem Ärztekongress sind."

"Danke, für die Einladung, Frau Kido. Ich freue mich immer hier zu sein. Daheim ist es ohne Jim manchmal etwas langweilig."

Mit Jim bestimmt auch, denke ich nur. Ich frage mich, wann ich hier endlich die Biege machen kann? Da kommen die Kellner vorbei und bringen das reichlich gefüllte Essen herein. Meine Güte, das sieht alles wirklich furchtbar lecker aus. "Tai, möchtest du nicht noch zum Essen bleiben?", lädt Frau Kido mich zum Essen ein und obwohl ich eigentlich nur schnell nach Hause wollte, so kann ich bei diesem leckeren Anblick einfach nicht widerstehen. "Sehr gerne."

 

Eine Misosuppe und Sushi als Vorspeise. Tempura, Gemüse und Reis mit Curry als Hauptgang. Da Mimi und ich jetzt ein paar mal zusammen essen waren, bin ich ganz optimistisch, dass sie es hinbekommt.

Sushi isst Mimi sehr gerne, aber ich weiß von ihren Erzählungen, dass sie nicht gerne scharf isst. Dr. Kido reicht Mimi zu ihrem Sushi die Wasabi Schüssel an. Mimi schüttelt den Kopf und nimmt stattdessen Sojasoße. "Ich esse nicht so gerne scharf", erklärt sie. Haruiko schüttelt gleich seinen Kopf. "Oh doch! Die Scharfstoffe im Essen steigern den Speichelfluss. Das Wiederum hat eine positive Wirkung auf die Zahngesundheit. Unser Gewebe wird zudem besser durchblutet, unsere Körpertemperatur steigt und das wiederum kurbelt unseren Stoffwechsel an. Und Gewichtszunahme ist nun wirklich nichts, was wir tolerieren würden."

What the fuck. Mimi, was tust du nur hier? Warum stehst du nicht einfach auf und gehst? Das kannst du unmöglich wollen. "Ich kann es ja mal probieren", gibt sie sich geschlagen und ich kann es einfach nicht verstehen. Sie tunkt ihr Sushi in die Wasabi Schüssel. Zu viel, es ist zu viel Mimi. "So gelobe ich mir das." Das selbstgefällige Kido Grinsen geht mir so auf die Eier. Mimi schluckt alles runter und ich sehe gleich wie sie anfängt zu kämpfen. Ihr Kopf wird rot und sie fängt an sich mit einer Hand Luft zuzufächern. Ich schalte sofort und schenke ihr ein Glas Milch ein. Ich schiebe es ihr unauffällig rüber, genauso wie das Brotkörbchen, dem bisher keine Beachtung geschenkt wurde. Dankbar trinkt sie einige Schlücke und ihr Gesicht wird langsam wieder heller. "Auch daran gewöhnst du dich, Mimi", lächelt Frau Kido ihr zu. Was für eine Scharade. Lasst sie doch einfach essen, was sie will.

 

Nach dem Abendessen kommt der Kellner mit einer großen Flasche Sake an. Er füllt allen Beteiligten, inklusive mir, die Porzellanbecher auf. "Auf unser neuestes Familienmitglied, mögest du dich wie Kaori wohl bei uns fühlen", ruft Frau Kido feierlich aus.

"Ja genau, so wohl und so glücklich, nicht wahr Kaori?", sage ich direkt zu ihr und hebe mein Porzellanglas hoch.

"Wie noch nie zuvor in meinem Leben", lächelt sie und nimmt ebenfalls einen kleinen Schluck, lässt den Rest aber unberührt stehen. Ich denke mir meinen Teil dazu. Wie kann es sein, dass ich Kaori noch nicht mal aus der Reserve locken kann? Ihre Fassade bröckelt nicht mal ansatzweise. Ich leere auch meinen Porzellanbecher, aber rühre die zweite Einheit nicht mehr an. Auch Mimi hat ihren Sake ausgetrunken, genauso wie Prof. Kido. "Oh, für die junge Dame noch einen." Und da wird Mimis Porzellanbecher auch wieder mit Sake aufgefüllt. "Danke." Sie schaut etwas unschlüssig in ihren Becher, aber trinkt ihn schließlich wieder leer.

Okay, sie sollte lieber einen Gang zurückschalten, wenn sie gleich nicht vom Stuhl kippen möchte, denn ehe ich mich versehe, hat sie bereits fünf Sake getrunken. Moment, habe ich ihr je erzählt, dass, wenn man in Japan sein Getränk leert, man automatisch nachgeschenkt bekommt, solange bis man sein Glas oder Becher nicht mehr leert? Ich glaube nicht, denn sie kippt gerade den sechsten Sake hinunter und ich befürchte der Nächste wird sie umhauen. "Meine ich es nuuhrr oder … Hicks … ups, aber immerhin musste ich nicht niesen", lallt Mimi und lacht sich halb kaputt. Oje, oje.

„Ähm Mimi, ich denke, es reicht für heute", versuche ich sie irgendwie zu erreichen, aber natürlich habe ich keine Chance. "Was reicht? Das hier? Hicks, also i-ich finde ja, dass ist der beste T-teil des Tages."

"Geht es ihr nicht gut?", erkundigt sich Frau Kido und ich sehe sie ungläubig an. Hat sie noch nie eine Betrunkene gesehen? "Sie verträgt wohl nicht soviel", stellt Prof. Kido nüchtern fest. Wow, Glanzleistung. Sie ist gerade Mal 1,65 cm groß und wiegt wahrscheinlich keine 55 Kilo, dazu kommt, dass sie gerade nach ihrer Wasabi Einheit nicht sonderlich viel gegessen hat, also ja, da verträgt sie wohl nicht soviel Alkohol. "Also Mimi, wir betrinken uns doch nicht. Du solltest deine Grenzen kennen", erklärt Frau Kido ihr, als ob Mimi dem jetzt noch folgen könnte.

"Ja aber, also ich, weiß ich", stammelt sie und schielt auf ihren Becher, der wieder aufgefüllt wurde. Ich nehme ihn ihr aus der Hand und lasse den Kellner wissen, dass sie für heute genug hat.

"Ey man Tai, dass ist voll, äh, nicht nett", lallt sie weiter, aber ich lass mich jetzt nicht auf eine Diskussion mit einer betrunkenen Mimi ein. Das kann nur böse enden.

"Ich werde mich jetzt verabschieden. Vielen herzlichen Dank für die Einladung, aber es ist schon spät und ich möchte ausgeruht sein, wenn Jim morgen vom Kongress zurück kommt", erklärt Kaori, steht von ihrem Stuhl auf und verbeugt sich. "Es war sehr reizend, dass du unsere Einladung angenommen hast. Unser Fahrer soll dich sicher nach Hause fahren."

"Ich begleite sie noch ein Stück, nicht dass sie vor lauter Fluren den Weg nicht findet“, sage ich.

"Das ist nicht notwendig, Tai."

"Ach Tai, er ist ein echter Gentleman", flötet Frau Kido und leert auch ihren Sake zum dritten Mal an diesem Abend.

"Eher ein Idi-idiot", kichert Mimi hinter vorgehaltener Hand, obwohl sie ja trotzdem jeder hören kann.

"Keine Sorge Mimi, ich werde danach selbstverständlich auch noch dich nach oben begleiten, denn du verläufst dich ganz sicher."

"Uhh, kanns kaum erwarten, oh man, Brot." Und schon stürzt sie sich aufs Brot und schmatzt, aber hey, bei uns ist Schmatzen ja was gutes. Kaori hat währenddessen still und heimlich das Esszimmer verlassen und ich hab die Chance verpasst, sie mal alleine anzutreffen. Mist, jetzt hinterher zu laufen wäre wohl zu auffällig. Dieses Biest.

"Ich denke, sie hat für heute auch genug. Wir müssen wirklich darauf achten, dass sie in der Öffentlichkeit keinen Alkohol trinkt. Das wäre ja eine Schande, wenn solche Bilder in der Zeitung zu sehen sind", tadelt der Senior und mir reicht es für heute wirklich. Ich kann den Typen nicht eine Minute länger ertragen. "Ich bringe sie mal nach oben." Ich bedanke mich für das Abendessen, sowie die Einladung und verbeuge mich leicht. "Es war wie immer köstlich." Ich stehe auf und gehe zu Mimis Platz rüber, um ihren Stuhl ein wenig zurück zu schieben. "Ey, Brot essen", wehrt sie sich und stopft sich den Mund wieder voll.

"Weißt du was, nimm dir noch was für den Weg mit", schlage ich diplomatisch vor.

"Oh ja, Wegebrot. Gute Nacht Mom und Dad", lacht Mimi, während sie mit vollem Mund spricht. Ich sollte ihr wirklich besser den Mund zu halten. Ich halte die Tür auf und Mimi geht einfach los. Schlechte Idee, sie kann keinen Meter geradeaus gehen, rempelt gegen die Wand und verliert ihr Brot. "Aua." Sie fängt an, die Wand zu hauen und streicht über ihre Schulter, die vom Aufprall etwas zu schmerzen scheint. "Mimi, was machst du denn?"

"Ach, lass mich einfach oder machst du dir plötzlich Sorgen um mich?"

"Na ja, ich bin für dich verantwortlich, bis Joe wieder kommt."

"Tzz, ich kann auch selbst nach oben gehen."

"Das bezweifle ich, du gehst nämlich in die falsche Richtung." Oh man, wie kann man nur so orientierungslos sein? Bevor sie sich hier nachher noch ernsthaft verletzt, packe ich sie mir und trage sie hoch. "Huch, ey lass mich runter", empört sich Mimi und strampelt mit ihren Füßen. Wie ein trotziges kleines Kind. "Wie gesagt, ich bringe dich nur die Treppen sicher nach oben." Eigentlich habe ich fest damit gerechnet, dass Mimi wieder diskutiert, doch sie wehrt sich zu meiner Überraschung nicht. "Du bist echt stark", spricht sie auf einmal drauf los.

"Ähm, wie bitte?"

"Du bist so, so stark. Ich mag das."

"Na, so schwer bist du nun wirklich nicht."

"Das meine ich nicht, wie du die Presse letztens eingeschüchtert hast und auch jetzt deine Arme, voll die Muskeln, aber nicht so protzig, sondern genau richtig."

"Wenn du das sagst." Sie ist betrunken, sie weiß nicht, was sie sagt. "Und du hast voll die schönen Augen, hat dir das schon mal jemand gesagt?"

"Nein, noch nicht wirklich."

"Was? Skandal, aber ich weiß warum."

"Und warum?"

"Weil du ein Arsch bist und total arrogant. Du siehst zwar gut aus, aber du bist ein Arsch."

"Ich bin kein Arsch", rechtfertige ich mich, obwohl ich mich Mimi gegenüber wirklich mies gezeigt habe und erreiche Mimis Zimmer. Ich öffne die Tür und trete hinein. "Und du fragst nie, ob du ein fremdes Zimmer betreten darfst."

"Aber ich bin nicht fremd."

"Aber ein Arsch."

"Bin ich wirklich nicht."

"Doch, heute warst du einer. Zumindest zu mir. Warum, wenn du doch keiner bist? Warum dann zu mir?" Ist Mimi noch betrunken? Sie wirkt plötzlich gar nicht mehr so angeheitert. Was soll ich denn einer angetrunkenen Mimi da jetzt antworten? Na ja, vielleicht hat sie es morgen auch wieder vergessen. "Du bist die Verlobte von Joe."

"Ich weiß und deswegen bist du ein Arsch?"

"Ja, wir sollten darauf achten, dass unsere Beziehung weiterhin professionell bleibt und Distanz bewahren. "Professionelle Distanz sozusagen."

"Hä? Warum das denn?"

"Glaub mir Mimi, es gibt unzählige Gründe."

Und obwohl ich gerade noch dachte, sie wäre gar nicht so betrunken, so verliert sie mal wieder ihr Gleichgewicht und droht zu fallen, doch ich fange sie gerade noch rechtzeitig auf. Sie bohrt ihre Fingernägel fest in mein Shirt und unsere Blicke treffen sich. Noch immer ist ihr Kopf nur wenige Meter vom Fußboden entfernt und da spüre ich sie wieder, die Anziehungskraft zwischen uns. Ich will mich ihrem Blick entziehen, mir nicht eingestehen, dass es mir eine Gänsehaut beschert oder dass ich mich in ihren Augen verlieren könnte. "Ich glaube ja, dass du gut küssen kannst", haucht sie plötzlich und auch wenn unsere Münder gefährlich nah aneinander sind, realisiere ich, was hier passieren könnte. Ich habe eine Kurzschlussreaktion, lasse Mimi los und sie fällt auf den Fußboden. "Aua", schreit sie auf. "Wegen dir hab ich morgen bestimmt eine Gehirnerschütterung."

"Dann ist es ja gut, dass morgen dein Verlobter wieder kommt", sage ich und richte mich auf. Mimi dreht sich auf ihren Bauch und wirft einen ihrer Schuhe nach mir. "Und du bist doch ein Arsch." Ich drehe mich wieder zu ihr um und würde ihr gerne erklären, warum ich mich so verhalte, aber ich kann es nicht. Diese Nähe dürfen wir nicht zulassen. Es würde uns nur in ein tiefes Unglück stürzen. Ich tue dies, um sie zu beschützen und nicht um sie zu schikanieren. "Gute Nacht, Mimi", ist alles was ich sage, verlasse ihr Zimmer und lasse sie auf dem Fußboden zurück.

Kapitel 12

Mimi
 

Scheiße, dröhnt mir der Schädel. Ächzend drehe ich mich vom Bauch auf den Rücken. Oh Gott, ich kann mich keinen Zentimeter mehr rühren. Und wieso liege ich nicht in meinem Bett, sondern daneben? Wie kann das sein? Ich bin mir ziemlich sicher, dass mich Tai gestern aufs Zimmer … verdammt. Tai.

Ich hebe den Kopf leicht an, soweit es meine Kopfschmerzen zulassen und sehe an mir hinab. Ich trage immer noch das Kleid von gestern Abend, aber ein Schuh fehlt. Den habe ich nach Tai geworfen, das weiß ich noch. Aber warum habe ich ihn geworfen?

Ach, scheißegal.

Mein Hinterkopf knallt zurück auf den Fußboden und ich bin am Überlegen, ob ich einfach den ganzen Tag hier liegen bleibe.

Aber da klingelt auch schon mein Handy. Wer zum Teufel stört mich jetzt?

Ich taste blind um mich und tatsächlich, es liegt auch auf dem Fußboden, in Reichweite. Schmerzverzerrt verziehe ich das Gesicht. Soll doch dieses verdammte Klingeln endlich aufhören! Das fühlt sich an als würden Domglocken gegen die Wände meiner Schädeldecke schlagen.

Ohne nachzusehen, wer anruft, gehe ich ran.

„Hallo?“, krächze ich und merke wie heiser meine Stimme ist. Hat der alte Kido mich gestern Abend echt abgefüllt oder habe ich mir das eingebildet?

„Du bist zu spät“, höre ich eine inzwischen bekannte Stimme am anderen Ende.

„Du nervst. Geh weg“, sage ich schläfrig zu Tai und lege einfach auf.

Not Today!

Aber natürlich lässt sich dieser Typ nicht so einfach abschütteln und ruft kurz darauf wieder an.

„Was willst du?“, gehe ich nun deutlich genervter ran und massiere mir dabei die Stirn.

„Du bist zu spät.“

„Sagtest du bereits.“

„Und?“

„Was und?“ Was erwartet der Mistkerl eigentlich von mir?

„Wann kommst du? Ich stehe seit einer halben Stunde vor dem Eingang und warte auf dich.“

„Tai, bitte“, stöhne ich auf, als wäre ich gerade eben gefoltert worden. Und so fühle ich mich auch. „Können wir das heute ausfallen lassen? Was auch immer du vorhast, wir machen es morgen, ok?“

„Morgen bin ich nicht mehr da“, entgegnet Tai deutlich gereizt. „Der Filmstart wurde vorverlegt und ich muss früher am Set erscheinen.“

Okay. Von mir aus. Ist mir egal.

„Also los, schmeiß dir ‘ne Aspirin ein und schwing deinen Hintern nach unten. Es geht zum Golfen.“

Für kein Geld der Welt gehe ich heute Golfen. Allein, wenn ich daran denke, wie sich der Abschlag des Balls anhört, kriege ich noch mehr Kopfschmerzen. Wobei ich vermutlich eh nur den Rasen treffen würde.

„Stell dich auf den Kopf, Taichi. Ich komme nicht mit.“

„Gut“, sagt er plötzlich und ich wundere mich schon, warum er so früh eingeknickt ist. „Wenn das dein Wunsch ist. Ich werde es an Joe und Dr. Kido weiterleiten.“

Was? Du miese, kleine Ratte.

Ich höre es rascheln und er will ernsthaft auflegen, während ich ins Telefon brülle.

„Halt, nein! Warte! Ich komme mit.“

Vor meinem geistigen Auge kann ich schon sein triumphierendes Grinsen sehen.

„Gute Entscheidung. Prinzessinnen haben keinen freien Tag. Nicht in dieser Familie“, sagt er selbstgefällig und ist offensichtlich auch noch stolz auf seine List.

„Danke, dass du mich daran erinnerst.“ Ich drücke mich stöhnend vom Boden hoch und schaue verwirrt um mich. Mein zweiter Schuh liegt bei der Tür, also ziemlich weit weg von mir.

„Sag mal, warum habe ich eigentlich gestern mit meinem Schuh nach dir geworfen?“

Plötzlich herrscht Stille am anderen Ende.

„Tai?“ Ist er noch dran?

„Du weißt es nicht mehr?“

Ich zucke mit den Schultern. „Nein, aber vermutlich hast du wieder irgendwas saudummes gemacht oder gesagt. Ist auch egal. Ich bin mir sicher, du hattest es verdient.“

Schon wieder schweigt er. Mein Gott, was hat er denn?

Schließlich höre ich nur noch ein Räuspern. „Okay, dann bis gleich. Und beeil dich.“ Dann legt er auf.

Verwirrt sehe ich mein Handy an und strecke ihm dann die Zunge raus.

Oh ja, ich habe ja so was von Lust mit ihm Golfen zu gehen.
 

Eine halbe Stunde, zwei Aspirin und einen richtig starken Espresso später, den ich mir in Windeseile runter gekippt habe, gehe ich nach draußen, wo Tai schon auf mich wartet. Er lehnt lässig gegen den Wagen, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Wird aber auch Zeit“, begrüßt er mich unfreundlich, doch als unsere Blicke sich treffen, durchzuckt mich ein Blitz – oder eher: eine Erinnerung.
 

„Ich glaube ja, dass du gut küssen kannst.“
 

Abrupt halte ich in meiner Bewegung inne und starre ihn an. Bitte sag mir, dass das nicht wirklich passiert ist und ich halluziniere.

Dabei sehe ich es plötzlich glasklar vor meinem inneren Auge. Tai, der mich auffängt, als ich beinahe hinfalle. Meine Finger, die sich in sein Shirt krallen. Seine Augen, die meine fixieren. Seine verlockenden Lippen.

Und dann dieser Satz … „Ich glaube ja, dass du gut küssen kannst.“

Nein.

Bitte, lieber Gott.

Mach, dass das nicht wirklich aus meinem Mund gekommen ist.

Beinahe kriege ich Schnappatmung. Tai legt den Kopf schief und sieht mich durchdringend an.

Ob er auch an diesen merkwürdigen Moment denkt? Ich muss verrückt geworden sein, so etwas zu ihm zu sagen.

Da hilft nur eins: Pokerface.

Immerhin glaubt er, ich kann mich an nichts erinnern. Also setze ich mich wieder in Bewegung und gehe auf ihn zu.

„Joggen wir heute nicht zur Golfanlage?“

„Ich dachte, heute nehmen wir den Wagen. Ich habe keine Lust mehr auf ungebetene Besucher“, sagt Tai.

„Wie schade“, scherze ich. „Dabei dachte ich, du würdest mich so gerne noch mal mit deinem Trainingsprogramm quälen.“

Von dem ich den schlimmsten Muskelkater überhaupt habe.

Davon und vom Schlafen auf dem Fußboden.

Tai’s Mundwinkel zucken belustigt. „Wenn du das unbedingt willst, lässt sich da sicher was machen.“

Ich kichere und verdrehe die Augen. Warum kann er nicht immer so locker und nett sein?

„Nach dir“, sagt er dann und hält mir die Autotür auf. Ich will gerade einsteigen, als ein weiteres Auto die Einfahrt hoch fährt. Es ist der Wagen von Joe. Überrascht sehen Tai und ich uns an, als es direkt hinter unserem hält. Keine Sekunde später steigt Joe aus und Ansgar eilt wie auf Kommando herbei, um ihn zu begrüßen und seine Koffer aus dem Kofferraum zu holen.

„Mimi, schön dich zu sehen“, meint Joe, als er mich sieht und kommt geradewegs auf uns zu.

„Hey Kumpel, was machst du denn schon hier?“, will Tai wissen und auch ich sehe Joe fragend an.

„Ja, du wolltest doch erst heute Nachmittag wieder kommen.“

„Ich weiß, aber ich wollte dich unbedingt sehen, Mimi. Deshalb bin ich extra einige Stunden eher abgereist.“

Oh! Das ist ihm sicher schwer gefallen, sich von seinem geliebten Kongress zu trennen.

„Ich wollte den Tag unbedingt mit dir verbringen“, fügt er noch hinzu und prompt werde ich ein bisschen rot um die Nase. Das ist ja schon ein wenig süß.

Fast hätte ich vergessen, dass Tai auch noch neben uns steht, doch nun räuspert er sich laut und unterbricht damit Joes Flirtversuche.

„Wir wollten eigentlich gerade zum Golfen aufbrechen, weil wir das gestern nicht mehr geschafft haben“, meint er und kratzt sich unsicher am Hinterkopf.

„Ach, das trifft sich gut“, fährt Joe sofort dazwischen und sieht durchaus begeistert aus. „Dann nehme ich dir diese Aufgabe doch gerne ab.“

„Wie?“ Tai sieht verwirrt aus.

„Ich gehe mit Mimi Golfen“, sagt Joe selbstsicher. „Ich wollte heute sowieso irgendwas Romantisches mit ihr machen, also, was eignet sich besser dafür, als eine Partie Golf?“

Zweifelnd sehe ich ihn an. Ist das sein Ernst?

„Ich dachte, wir würden vielleicht irgendwo schick essen gehen oder einen Spaziergang machen“, schlage ich stattdessen vor, aber Joe winkt nur ab. „Alles zu seiner Zeit. Glaub mir, es gibt keinen besseren Ort für ein erstes Date als eine Golfanlage.“

Wow. Mehr fällt mir dazu nicht ein.

„Du hast natürlich dann heute frei, Tai“, richtet Joe das Wort an seinen Freund. „Und selbstverständlich bekommst du trotzdem deine 20% extra Honorar, wie wir es vereinbart hatten.“

Jetzt spitze ich meine Ohren. 20%? So so, wer nimmt Joe hier aus wie eine Weihnachtsgans?

„Ich mache mich nur schnell frisch und ziehe mich um, dann können wir los“, meint Joe und verschwindet schnell im Haus.

Ich drehe mich zu Tai um und verschränke die Arme vor der Brust.

„20% also, hm?“

„Hast du gedacht, ich mache das hier umsonst?“, entgegnet Tai.

Ich zucke nur mit den Schultern. „Nein, nein, ich wusste nur nicht, dass ich dir nur 20% wert bin. Das ist alles.“

Tai grinst und stößt ein kurzes Lachen aus. „Glaub mir, das nächste Mal nehme ich hundert.“

Ich muss kichern und sehe dann zweifelnd zum Anwesen. „Ist er immer so?“

„So, was?“

„So …“ Ich will Joe nicht beleidigen, finde aber nicht die richtigen Worte.

Tai lacht. „Du meinst spießig. Ja, irgendwie schon. Aber auf eine nette Art und Weise. Stell dich drauf ein, dass ihr nachher noch ins Museum geht und den Abend dann mit einer gemütlichen Runde Schach ausklingen lasst.“

Meine Augenbrauen ziehen sich zweifelnd zusammen. „Joe hat eine merkwürdige Auffassung von Spaß.“

„Ja, vermutlich seid ihr da ziemlich gegensätzlich“, stimmt Tai mir nachdenklich zu. „Wie man gestern Abend gesehen hat.“

Ich schnaube. „Wenn du auf den Sake anspielst, das war nicht meine Schuld. Ich wollte nicht so viel trinken.“

„Dachte ich mir. Und ich muss mich bei dir entschuldigen.“

Mit großen Augen sehe ich zu ihm auf. Was hat er da gerade gesagt?

„Ich habe es versäumt dir zu sagen, dass man in Japan nicht austrinken darf, wenn man genug hat. Ist das Glas leer, wird höflich wieder nachgeschenkt. Also war es im Grunde meine Schuld, dass du so abgestürzt bist.“

Oh, ach so ist das. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Und beleidigt.

„Und ich dachte, du willst dich dafür entschuldigen, dass du gestern so ein Arsch warst.“

„Ich habe dir gestern schon mehrmals gesagt, dass ich kein Arsch bin“, knurrt Tai plötzlich und wirkt ein wenig verärgert.

„Dann verhalte dich nicht so“, fordere ich.

Ich verstehe ihn einfach nicht. Er kann so nett und lieb und fürsorglich sein, sonst hätte er mich gestern Abend nicht auf mein Zimmer getragen. Und wenn er mich anlächelt fühlt es sich an als würde die Sonne aufgehen. Ich spüre, dass er ein gutes Herz hat. Aber er zeigt es nicht. Nicht mir gegenüber.

„Ich tue das nicht aus Spaß oder weil ich dich hasse, Mimi.“ Tai’s Stimme ist fest und bestimmt, genau wie sein Gesicht. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht mich todernst an.

„Ich versuche nur professionelle Distanz zu wahren, das ist alles.“

Ich lache trocken auf. Will er mich auf den Arm nehmen?

„Ich weiß, dass du es auch merkst, Mimi. Spätestens nach gestern Abend weiß ich das“, sagt Tai nun deutlich sanfter.

In meinem Bauch wird es gefährlich warm, wenn ich daran denke, was ich zu ihm gesagt habe und was beinahe passiert wäre.

„Tai, das war nur …“, beginne ich mich zu rechtfertigen, aber er lässt mich nicht einmal ausreden.

„Ich weiß, ich sollte das nicht, aber ich fühle da etwas, wenn wir uns … wenn wir uns nah sind.“

Shit. Also habe ich es mir doch nicht eingebildet. Ich beiße mir auf die Unterlippe und weiche seinem Blick aus, der mich förmlich durchbohrt und bis in meine Seele vordringt. Ein unangenehmes Gefühl. Oder ist es einfach nur beängstigend? Mir ist noch nie jemand unter die Haut gegangen. Bei ihm ist das irgendwie anders und das bereitet mir Sorgen.

Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, weil ich nun sicher sein kann, dass ich nicht verrückt bin. Dass ich mir das nicht alles nur eingebildet habe. Dass er genauso empfunden hat wie ich.

Dennoch ist diese Erkenntnis nichts Gutes. Ich wünschte, ich hätte falsch gelegen. Hätte ich doch nur falsch gelegen …

„Ich wünschte, du hättest das nicht gesagt“, kommt es mir über die Lippen, weil mir schlagartig bewusst wird, was das bedeutet.

„Ich weiß, dass das nicht sein darf“, antwortet Tai daraufhin. „Du bist mit Joe verlobt und ich habe nicht vor, ihm irgendetwas streitig zu machen, schon gar nicht seine zukünftige Ehefrau.“

Ich zische verächtlich und trete unruhig von einem Fuß auf den anderen. Wo bleibt denn Joe nur?

„Glaub mir, das würdest du auch nicht schaffen. Ich bin hergekommen, um Joe zu heiraten, nicht, um mich von kurzweilig aufkommenden Gefühlen verwirren zu lassen. Das gestern war gar nichts. Ich war einfach nur betrunken.“

Genau! Der Plan steht und er ist unumstößlich. Ich muss meinen Fokus auf Joe richten, mehr nicht. Ich muss seine Frau werden und dann meine Familie retten.

Tai gibt ein abfälliges Lachen von sich, als fiele ihm das auch gerade wieder ein. „Dann ist ja gut, dass wir uns einig sind.“

„Ja, klar. Professionelle Distanz ist alles, was ich will“, sage ich entschieden.

„Schön.“

Ja, schön.

Joe kommt gerade zurück und auf uns zu.

„Ist vielleicht ganz gut, wenn wir uns die nächsten Tage nicht sehen, um etwas Abstand zu gewinnen“, fügt Tai noch schnell hinzu und wendet sich dann komplett von mir ab. Ich weiß gerade nicht, ob ich wütend oder enttäuscht oder erleichtert über diese Aussage sein soll.

„So, ich bin bereit“, verkündet mein zukünftiger Ehemann und hält mir die Wagentür auf. Ich höre noch, wie Tai und Joe sich verabschieden und Tai meint, dass er eher ans Set muss und für mindestens eine Woche weg sein wird, aber das ist mir egal. Ich will gerade nur noch fort von ihm.
 

So ein Idiot – denke ich und schlage mit voller Wucht gegen den Golfball.

Joe staunt nicht schlecht. „Wow Mimi, das ist der erste Ball, den du getroffen hast“, sagt er anerkennend, während er dem Ball hinterher sieht, der nicht ansatzweise so weit fliegt wie seiner.

Um mich herum sieht es aus wie auf einem Mienenfeld. Ich habe etliche Löcher in den Rasen geschlagen, bis ich den Ball getroffen habe. Aber so kann ich mich wenigstens abreagieren.

Warum bin ich eigentlich so wütend auf Tai? Er hat doch im Grunde recht mit dem, was er gesagt hat. Wir sind uns dummerweise viel zu nah gekommen, haben so etwas wie eine Verbindung gespürt. Alberner Hokuspokus. Meine Gefühle haben mich eindeutig in die Irre geführt und es wird Zeit, dass ich meinen Weg wieder finde.

Joe legt mir den nächsten Ball hin. „Versuch’s gleich noch mal. Eine Glückssträhne soll man nicht unterbrechen“, sagt er zuversichtlich, während ich eher Lust hätte mit diesem Golfschläger auf einen Baum einzudreschen. Wie wär’s mit dem Baum, hinter dem wir uns versteckt haben und Tai mich innig umklammert hat?

Ich hole aus und schlage mit voller Wucht zu, treffe aber mal wieder nur den Rasen.

Okay …

Das macht mich gleich noch wütender. Wie kann man diesen Sport nur mögen?

„Deine Schlagkraft ist nicht von schlechten Eltern“, meint Joe und ich riskiere einen Blick in seine Richtung. Er scheint das sogar ernst zu meinen, denn er lächelt mich optimistisch an.

„Ich denke, es liegt an deiner Haltung, dass du den Ball nicht triffst.“

Zweifelnd runzle ich dir Stirn. „Ich glaube, Golf liegt mir einfach nicht so.“ Das wäre die logischere Schlussfolgerung.

„Vertrau mir, es ist ganz einfach“, lacht Joe auf und kommt zu mir, um sich hinter mich zu stellen. Seine Hände legen sich auf meine Hüften und rücken mich vorsichtig in die richtige Position.

„Die Füße stehen hüftbreit auf dem Boden, drück den Rücken nicht zu sehr durch, mach dich locker und verlagere deine ganze Kraft in deine Arme.“

Seine Finger umfassen zusammen mit meinen den Golfschläger und führen mich. Wir fixieren den Ball an, aber ich kann mich kaum darauf konzentrieren, weil Joe so nah hinter mir steht. So nah waren wir uns noch nie. Wer hätte gedacht, dass Golf derart intim sein kann?

Trotzdem fehlt etwas. Das Prickeln? Seit ich hier bin, wollte ich mit Joe allein sein, um ihm näher zu kommen. Jetzt, wo wir es sind, fühlt es sich zwar ganz gut an, aber … nicht wie bei Tai.

Das verwirrt mich.

Joe führt mich, wir holen gemeinsam aus und schlagen den Ball ab. Er fliegt in hohem Bogen davon.

„Wow!“, sage ich anerkennend. „So einfach ist das?“

„Ist es“, meint Joe und tritt zur Seite, um einen neuen Ball aus der Hosentasche zu holen. „Jetzt du.“ Er legt den Ball hin und ich versuche mich haargenau so zu platzieren wie er es eben gemacht hat. Ich will mich darauf konzentrieren, aber meine Gedanken schweifen wieder ab.

Es ist nicht schlimm, wenn ich noch nichts für Joe empfinde. Wir hatten bisher kaum die Möglichkeit wirklich Zeit miteinander zu verbringen, wenn man von den gemeinsamen Abendessen mal absieht. Aber da reden wir meist nur über belangloses Zeug. Außerdem erwartet auch niemand von mir, dass ich mich in ihn verliebe, am wenigsten ich selbst. Unsere Ehe wurde arrangiert, es ist selbstverständlich, dass wir noch nichts füreinander empfinden. Allerdings sollte ich auch nicht für jemand anderen etwas empfinden. Aber das tue ich ja auch nicht. Tai ist … eine Verwirrung – nichts weiter.

Ich fixiere wie eben den Ball und hole kräftig aus, um das Ding wegzuballern, aber dann höre ich einen schrillen Schrei. Erschrocken drehe ich mich um und halte mir die Hand vor den Mund, denn ich habe Joe getroffen – mitten ins Gesicht.

„Joe!“, rufe ich und lasse den Schläger fallen, um zu ihm zu eilen. Er hält sich die Stirn und verzieht schmerzverzerrt das Gesicht.

„Oh mein Gott, Joe! Es tut mir so leid!“ Wenn er eine Platzwunde oder gar eine Gehirnerschütterung hat, bringt mein zukünftiger Schwiegervater mich um.

„Alles bestens“, schwindelt Joe ganz klar und versucht Fassung zu bewahren.

„Lass mal sehen“, sage ich und nehme seine Hand weg. Eine dicke Beule zeichnet sich auf seiner Stirn ab. „Oh, verdammt. Das sollten wir unbedingt kühlen.“

Joe zwingt sich zu einem schiefen Lächeln. „Ich dachte, ich wäre der Arzt.“

„Es tut mir so leid“, wiederhole ich noch mal. Wäre ich doch mit den Gedanken nicht so weit weg gewesen.

„Ist schon gut, du hast mich nur gestreift. Hättest du mich richtig getroffen, hätte ich jetzt wahrscheinlich ein Loch im Kopf“, stöhnt er und fasst erneut an die schmerzende Stelle. „Ich denke, du hattest recht. Golf liegt dir nicht.“

Trotz des Vorfalls muss ich kichern. „Sagte ich ja. Lass uns das nächste mal lieber schwimmen gehen. Oder Trampolin springen.“

Joe muss lachen und ich bin sehr froh, dass er es mit Humor nimmt. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen.

„Ich denke, wir sollten nach Hause gehen. Dann kann ich mich verarzten“, meint Joe und plötzlich bin ich ein bisschen traurig, dass das Date offenbar schon vorbei ist, ehe es richtig begonnen hat.

„Oh. Ja, okay“, entgegne ich enttäuscht. Wäre ich doch nicht so dumm gewesen. Ich dachte, wir könnten uns endlich näher kennenlernen.

„Keine Sorge, Mimi“, meint Joe, als er meinen Blick sieht und erneut tritt ein aufgeregtes Funkeln in seine Augen. „Unser Date ist noch nicht vorbei.“
 

Ein paar Stunden später finde ich mich tatsächlich bei einer Partie Schach wieder, wie Tai vorausgesagt hat.

Wie aufregend. Ich kann nicht fassen, dass Joe das ernst meint. Die letzten Stunden über haben wir die Zeit damit zugebracht, gemeinsam zu Mittag zu essen, was noch der aufregendste Teil davon war. Danach hat er versucht, mir bei einer Tasse Tee den Aktienmarkt zu erklären, ehe wir im hauseigenen Garten spazieren gegangen sind und Joe mir die Biografie irgendeines Künstlers erzählt hat, die er vermutlich auswendig gelernt hat. Jetzt sitzen wir in der Villa und spielen Schach und ich bin drauf und dran zu verlieren. Wer hätte das gedacht?

„Ich hoffe, du hast den Tag genossen“, sagt Joe und setzt seinen Läufer drei Felder schräg nach rechts und bringt damit meine Dame stark in Bedrängnis.

„Ja, ich hatte selten so viel Spaß“, lüge ich und schenke ihm ein Lächeln. Ich will nicht, dass er sich schlecht fühlt, ihm hat der Tag so viel bedeutet.

„Ich fand es auch sehr schön“, entgegnet Joe, während ich meinen Bauern einfach ein Feld vor ziehe und damit rein gar nichts bezwecke. Joe runzelt die Stirn.

„Mimi, hast du schon mal Schach gespielt?“

Erwischt.

„Nun, wie du weißt, bin ich aus gutem Hause und ja, ich habe es gelernt, aber ich war nie im Schachclub oder so.“

„Oh, der Schachclub … das waren Zeiten“, gerät Joe plötzlich ins Schwärmen und wirkt leicht verträumt. Ich muss kichern. Warum wundert mich das jetzt nicht?

Während Joe seinen nächsten Zug macht, redet er weiter. „Welchen Hobbys bist du denn bisher so nachgegangen? Schach.“

Schach? Jetzt schon? Ich beuge mich über das Brett und überlege. „Na ja, wie du weißt, bin ich Visagistin, daher habe ich meine Freizeit meist damit verbracht, mich weiterzubilden. Ich liebe meinen Job und habe gerne jede freie Minute rein gesteckt. Ähnlich wie bei dir und den Ärzte Kongressen.“

Ich ziehe meinen König aus der gefährlichen Zone, sehe aber schon, dass die Lage aussichtslos ist.

„Und sonst so?“, will Joe weiter wissen.

Sonst so? Partys, Shopping, Typen … nein, das sage ich besser nicht.

„Ich schwimme ganz gerne. Und ich mag gute Musik“, sage ich deshalb.

„Oh, Klassik?“

Okay, wie viele Lügen kann dieser Abend vertragen?

„Ja, Klassik ist super.“ Ich kann ja schlecht sagen, dass ich auf Pop und EDM abfahre.

„Stimmt, es geht nichts über ein gutes Orchester“, antwortet Joe, aber ich kann nur unsicher grinsen.

„Oh, und ich tanze wirklich gerne.“

Joe lacht, als würde das auf der Hand liegen. „Habe ich gehört. Tai hat erzählt, dass du eine begabte Tänzerin bist. Ich wünschte, ich könnte das auch behaupten.“

„Tai hat von mir erzählt?“, ist alles, was ich verstehe. Dass er mir gerade ein Kompliment gemacht hat, überhöre ich glatt.

„Ja, wieso wundert dich das? Er ist mein Assistent. Schach matt“, sagt Joe, als er seinen Turm noch vier Felder nach links zieht.

„Verdammt“, stoße ich aus und lasse mich frustriert zurück in meinen Sessel fallen. Ich habe verloren. Aber was viel wichtiger ist: was hat Tai ihm noch alles über mich erzählt? Immerhin hat er versprochen mein Geheimnis aus L.A. für sich zu behalten.

„An welchem Set dreht Tai momentan eigentlich?“, wechsle ich schnell das Thema.

„Hat er es dir nicht erzählt?“, entgegnet Joe verwundert, als würde ihn das ernsthaft überraschen, dass Tai mir nicht sonderlich viel anvertraut.

Ich schüttle den Kopf.

„Er dreht einen Film in Chiba.“

Chiba also. Ist ja nicht weit von hier.

„Ich sehe, dass es dich in den Fingern juckt hinzufahren“, grinst Joe plötzlich und lehnt sich entspannt zurück. „Tu dir keinen Zwang an. Aber bitte erst nach unserem zweiten Date morgen. Wie du weißt, habe ich mir extra Zeit genommen.“

Ich schüttle schnell den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Ich habe nicht vor, dort hin zu fahren.“

„Wieso nicht?“, will Joe wissen. „Es wäre eine gute Ablenkung, solange er weg ist. Ich kann verstehen, dass du das Filmset liebst, immerhin hast du es in Hollywood als Visagistin versucht. Und übermorgen muss ich wieder arbeiten. Kaori hat leider auch keine Zeit, dich weiter zu unterrichten. Aber ich will dich nicht drängen. Fühl dich frei zu tun, wonach dir der Sinn steht“, sagt Joe, hebt dann jedoch schnell einen Zeigefinger. „Solange es nicht in der Öffentlichkeit ist. Die solltest du vielleicht lieber meiden, bis wir das Interview gegeben haben.“

Ich senke den Blick und denke nach. Tai hat sehr deutlich gesagt, dass er mich nicht dort haben will.

„Danke, das ist lieb von dir, Joe. Aber ich denke, ich würde Tai dort nur bei der Arbeit stören.“

Außerdem sagte er, er findet es gut, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen. Offenbar braucht er Abstand. Professionelle Distanz – wie er es so schön genannt hat.

„Mimi, ich habe da noch ein Geschenk für dich“, redet Joe weiter und wirkt plötzlich ganz ernst. Dann steht er auf, kommt auf mich zu und kniet sich vor mich hin wie ein Ritter.

Ich schrecke zurück. Oh verdammt, was wird das hier?

Joe lacht auf, als er meinen verdutzten Gesichtsausdruck sieht. „Keine Angst, das wird kein Antrag. Dafür kennen wir uns nicht gut genug. Außerdem sind wir ja schon verlobt. Aber es fehlt trotzdem noch ein entscheidendes Detail.“ Er kramt in seiner Hosentasche rum und holt eine kleine Ringschachtel raus. Ich schnappe nach Luft, als er sie öffnet und mich ein wunderschöner Ring in weißgold, mit einem funkelnden Diamanten in der Mitte anstrahlt.

„Oh man, ich glaube, ich bekomme keine Luft mehr“, gestehe ich, weil mich der Ring wirklich umhaut. Wie viel der wohl wert ist?

Joe grinst. „Ich wusste die genaue Größe nicht, daher hoffe ich, dass er passt. Vorausgesetzt, du willst ihn annehmen.“

„Soll das ein Scherz sein?“, platzt es aus mir heraus, woraufhin Joe lachen muss.

„Das freut mich. Also Mimi …“ Er nimmt den Ring aus der Schatulle und sieht zu mir auf. „ … bitte trage diesen Ring als Zeichen unserer Verbindung.“

Ich nicke und gebe ihm meine Hand, damit er ihn mir anstecken kann. „Er passt perfekt“, stelle ich erleichtert fest und hebe die Hand, um ihn im Licht zu betrachten.

„Dank Joe, er ist wirklich wunderschön.“

Joe lächelt mich warmherzig an und plötzlich komme ich mir ganz albern vor, dass ich mich innerlich so über diesen Tag beschwert habe. Ich kann mich glücklich schätzen einen so liebevollen Mann wie Joe heiraten zu dürfen. Er ist aufrichtig, klug, charmant, höflich, kultiviert und gut. Er hat alles, was man sich wünschen kann. Und ich stelle mich wegen ein bisschen Golf so an. Wie kindisch von mir.

„Ich werde ihn in Ehren halten, versprochen“, sage ich an Joe gerichtet. „Und ich werde mir noch mehr Mühe geben, um den Anforderungen deiner Familie gerecht zu werden.“

Joe lächelt immer noch ganz glückselig und nimmt meine Hand in seine, während er immer noch wie ein Prinz vor mir kniet. „Was mich betrifft, meine Anforderungen hast du bis jetzt mehr als erfüllt.“

Unsicher grinse ich. „Und das obwohl ich dir eine Beule beschert habe.“

Joe greift sich an die Stirn, die ziemlich dick und blau ist, aber inzwischen wohl dank ein paar Schmerzmitteln nicht mehr ganz so weh tut.

„Nun, jetzt hast du etwas von mir und ich habe etwas von dir. Auch ich werde diese Beule in Ehren halten und sie mit Würde tragen – ich habe sie schließlich von meiner Verlobten.“

Wir prusten beide los und ich spüre, wie mir ein kleiner Stein vom Herzen fällt. Kurzzeitig hatte ich heute das Gefühl, dass Joe und mich so rein gar nichts verbindet. Aber ich spüre, wie ehrlich er es mit mir meint und das ist alles, was ich will. Das könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden und wenn aus Freundschaft irgendwann noch Liebe wird, kann ich mich mehr als glücklich schätzen.

„Oh mein Gott, ist das etwa ein Ring?“, dröhnt es plötzlich durch den Raum und wir schrecken beide auf. Joe erhebt sich, als auch schon seine Mutter auf uns zugestürzt kommt und auf meine Hand starrt. Augenblicklich wird sie ganz wehmütig und Tränen glitzern in ihren Augen.

„Joe, Liebling, der ist ja wunderschön“, schwärmt sie und ist ganz ergriffen. „Ich wusste doch, dass du Mimi magst.“

„Mutter“, meint Joe daraufhin schüchtern. „Das ist doch nur ein Ring. Sie braucht einen, was sollen denn sonst die Medien denken?“

„Zur Hölle mit den Medien!“, entfährt es ihr und fast hätte ich aufgelacht. „Ein Ring ist immer ein Zeichen von Liebe und Zuneigung. Und er ist perfekt für Mimi.“

Ich starre auf den Ring, der so wunderschön funkelt an meiner Hand. Hoffentlich kann ich genauso perfekt für ihn sein, wie er für mich.

Dieser Ring ist nicht nur ein Zeichen von Zuneigung oder Verbundenheit. Er ist auch ein Zeichen von Verantwortung. Ich hoffe, ich kann dieser Verantwortung gerecht werden und meine Pflicht erfüllen.

Mimi

 

Es sind schon vier Tage vergangen seit Tai nach Chiba aufgebrochen ist, aber mir ist das egal. Ich zähle ja auch nicht die Tage oder so, warum sollte ich auch? Ich bin immerhin die Verlobte von Dr. Joe Kido. Ich schaue auf meinen wunderschönen Verlobungsring und beginne gleich zu lächeln. Das war einfach so eine süße Geste von ihm.

Die letzten Tage habe ich damit verbracht langweilige Steckbriefe von sämtlichen Familienmitglieder der Familie Kido, sowie wichtigen Geschäftspartner zu erlernen.

Es ist so trocken, dass selbst der Anblick des Ringes mich nicht mehr glücklich gemacht hat und ich mir gewünscht hätte, ich hätte irgendwas mit Tai gemacht.

Und während ich hier vor Langeweile umkomme, ist er bei einem spannenden Filmdreh als Stuntman und obwohl Joe mir die Erlaubnis gegeben hat, ihn dort zu besuchen, so will Tai mich nicht sehen. Professionelle Distanz, ja das ist unser neuer Lieblingssatz. So ein dämlicher Idiot.

Außerdem ist die Hälfte ja auch schon um und in drei Tagen ist er auch schon wieder hier, aber es ist ja nicht so, als ob ich die Tage zählen würde. Auf keinen Fall!

Joe, ich muss einfach nur an Joe denken.

Er ist lieb und klug und Tai hingegen, oh nein, schon wieder denk ich an ihn.

Ich sollte mich wirklich wieder mehr mit Yoga beschäftigen, um mich zu fokussieren.

Ich muss meine ganzen Gedanken mal wieder niederschreiben und gehe zurück auf mein Zimmer, welches ich gerade erst verlassen habe.

Ich nehme mir mein Tagebuch in die Hand, blättere eine freie Seite auf, ziehe eine lange Linie durchs Blatt und eröffne eine Pro und Contra Liste.

Pro Joe: nett, höflich, kultiviert, schlau, lieb, großzügig.

Contra: Vielleicht etwas spießig, so what.

Pro Taichi: Er sieht gut aus, kann gut tanzen, ist fürsorglich, ein Familienmensch, er kann lustig und wahnsinnig charmant sein.

Contra: Er ist so überheblich und arrogant. Er kann total gemein sein und er ist distanziert, aber er nennt es ja lieber professionelle Distanz. Tzz.

Der eindeutige Gewinner ist Joe, es liegt doch ganz klar auf der Hand. Tai ist nur eine kurzzeitige Gefühlsverwirrung, mehr nicht.

Außerdem gibt es Wichtigeres als Tai,

an den ich sowieso nicht denke, zu denken.

 

Heute bin ich um zehn Uhr mit Kari verabredet. Es ist unsere erste Verabredung, um das Krankenhausfest zu planen. Wie sehr ich mich einfach auf dieses Fest freue, auf das Planen, auf die Kinder, die hoffentlich einen wunderschönen Tag haben werden und das ohne Sorgen. Ich klappe das Tagebuch zu und verlasse mein Bett.

Ich mache mich nochmal kurz im Bad frisch und spreche mir selber Mut zu. Mut. Tai ist mutig und stark, dass gehört auf die Pro Liste. Oh Gott, dass habe ich ihm ja auch noch gesagt, wie peinlich.

Gedanken: verschwindet und dieser Abend erst recht. Mimi: Konzentration. Immerhin verlasse ich gleich die Villa und will nicht wieder in ein Blitzlichtgewitter geraten, denn diesmal wird Tai mich nicht retten …

 

Der Wagen steht bereit und der Fahrer öffnet mir die Tür. Schon komisch, diesmal ohne Tai einzusteigen. Er war so aufmerksam, als er mir beim letzten Mal die Tür geöffnet und mich hat einsteigen lassen. Eigentlich hat er das jedesmal gemacht, auch wenn er nicht viel von mir hielt. Ja, Tai ist ein Gentleman, dass muss auch auf die Pro Liste.

Ich sitze hinten, die Scheiben des Autos sind verdunkelt und dennoch trage ich eine Sonnenbrille. Dabei ist der Himmel bewölkt und Regen ist zudem für später auch gemeldet. Ob es in Chiba heute auch regnen soll? Ach, mir doch egal.

Der Wagen setzt sich in Bewegung und ich fange sofort an, nervös aus dem Fenster zu blicken.

Verfolgen uns schon Autos?

Werde ich fotografiert?

Ich werde schon paranoid.

Ich bin einfach nur heilfroh, als ich die Adresse erreiche, die mir Kari gestern Abend zugemailt hat.

Es ist ein kleines, gemütliches Café. Ich trete ein und sehe bereits Kari an einem Tisch sitzen. "Hi Kari", begrüße ich sie und Kari blickt zu mir hoch und legt ihr Smartphone auf den Tisch, auf welches sie gerade noch geschaut hat. "Ein schönes Café hast du dir ausgesucht."

"Ja, hier hatten Takeru und ich unser erstes Date", beginnt sie gleich zu strahlen.

"Soso, erzähl mir von Takeru und wann lerne ich ihn mal kennen?"

"Er ist groß, hat blonde Haare und blaue Augen", fängt sie an zu schwärmen und gleich bin ich verwirrt. Der typische Stereotyp eines Japaners scheint er nicht gerade zu sein. "Damit hab ich nicht gerechnet. Ist er Japaner?"

"Ja und nein, er ist halb Japaner und halb Franzose", erklärt sie.

"Ach was? Okay, der muss ja mega gut aussehen. Zeig mir ein Bild von ihm." Kari scheint zu zögern. Hat sie etwa Angst, ich könnte ihn ihr streitig machen? "Du weißt, dass ich mit Joe verlobt bin?!" Und bei dem Wort verlobt, zücke ich auch schon meine Hand und zeige ihr den Verlobungsring. "Wow", entgegnet Kari nur, hält meine Hand fest und blickt wie erstarrt auf meinen Ring. "T.K. könnte auch langsam mal einen Antrag machen. Wir sind jetzt schon seit sechs Jahren ein Paar, aber bisher nichts." Kari wirkt geknickt, holt ihr Smartphone wieder hervor und zeigt mir ein Bild, auf denen sie Beide drauf zu sehen sind. "Aww, wie süß seid ihr denn?" Ohne Zweifel sieht man einfach schon auf dem Foto, wie verliebt die Beiden ineinander sind. Ob es solche Bilder auch jemals von mir und Joe geben wird?

"Vielleicht plant er ja schon einen Antrag für dich", versuche ich sie aufzumuntern. Nach sechs Jahren Beziehung würde ich auch langsam ungeduldig werden. "Das hat Tai auch schon vermutet, das war vor zwei Jahren." Tai. Ich habe doch glatt ganze zehn Minuten nicht an ihn gedacht.

"Vielleicht plant er ganz lange, damit es was Besonderes wird."

"Oder vielleicht bin ich nicht die Richtige und er wird mich nie fragen", nuschelt Kari und sackt ein wenig in sich zusammen. "Nein, das glaube ich nicht. Ich meine, ich kenne T.K zwar nicht, aber er wäre dumm, wenn er eine Frau wie dich nicht für immer festhalten würde." Wieder beginnt Kari zu schmunzeln.

"So etwas in der Art hat Tai auch schon mal zu mir gesagt. Ihr seid euch ähnlicher, als ich dachte." Hat er? Sensibel scheint er auch noch zu sein. Oh man, das kommt auch auf die Pro Liste. Kann der Typ auch irgendetwas nicht? "Du, sag mal, warum ist Tai eigentlich Single?" Kari verdreht ihre Augen. "Sagen wir einfach, Tai ist sehr anspruchsvoll." Aha, sehr anspruchsvoll, kommt doch glatt auf die Negativ Liste. "Obwohl, so kann man das auch nicht sagen. Eigentlich, fällt es ihm nur schwer sein Herz zu verschenken. Ich glaube er fürchtet sich zu sehr davor, wieder verletzt zu werden."

"Aber wenn man sein Herz nie verschenkt oder es nicht wenigstens versucht, dann kann man auch nie wirklich Liebe erfahren und das wäre doch wirklich traurig." Liebe, dabei glaube ich doch selber nicht mehr daran. Hmm, könnte ich den Satz auch zu mir selbst sagen? Wann habe ich das letzte mal jemanden wirklich in mein Herz gelassen? Das ist schon sehr lange her.

"Und so etwas in der Art habe ich auch schon mal zu Tai gesagt", lacht Kari und dennoch bleibt ihr Blick standhaft. "Nachdem Tai zuletzt sein Herz verschenkt hat und es gnadenlos gebrochen wurde, lässt er es lieber gleich bleiben, so war zumindest seine letzte Antwort, als ich ihn gefragt habe." Okay, ich kann nicht anders, ich bin einfach viel zu neugierig. Wer könnte Tai nur so das Herz gebrochen haben? So einen Typen lässt man doch nicht ziehen. "Wer war denn seine Ex-Freundin?", versuche ich ganz gleichgültig diese Frage zu stellen, als würde es mich nicht brennend interessieren. Kari schmunzelt, aber schüttelt ihren Kopf. "Das frag mal lieber Tai."

Oh no, tu mir das nicht an, Kari. Tai wird es mir niemals sagen. "Okay, ja ist auch eigentlich egal", winke ich ab und bestelle mir zunächst bei der Kellnerin einen Latte Macciato. "Wie läuft es denn mit dir und Joe?", stellt stattdessen Kari eine Gegenfrage. "Joe? Ja, ich würde sagen, es läuft gut. Wir sind natürlich noch in der Kennenlernphase, aber was ich bisher von ihm kennenlernen durfte, gefällt mir sehr."

"Das freut mich für euch. Ich glaube daran, dass auch aus einer arrangierten Ehe eine echte Liebesgeschichte entstehen kann."

Tut sie das wirklich oder möchte sie mir nur ein gutes Gefühl übermitteln?

"Ja, ich auch", lüge ich, aber was soll ich auch sonst sagen? Dein Bruder geht mir viel mehr unter die Haut, als es für uns beide gut ist? Wobei das ja gar nicht der Fall ist, immerhin ist Tai mir sowas von egal. "Vielleicht wäre das ja auch was für deinen Bruder, dann bleibt er nicht allein", witzle ich, doch Kari schüttelt sofort ihren Kopf. "Glaub mir, bevor er das macht, würde er eher 20 Katzen adoptieren." Okay, keine Überraschung, wenn einer gegen das Konzept der arrangierten Ehen ist, dann ist es Tai, aber ich verstehe bei aller Liebe nicht warum? "Ja, dass er davon nicht der größte Fan ist, hat er mir gleich zu Beginn zu verstehen gegeben."

 

Die Kellnerin bringt uns unsere Getränke und stellt die Tassen vorsichtig auf den Tisch, dann schielt sie zu mir rüber und scheint mich zu mustern. "Alles in Ordnung?", frage ich sie höflich, aber bestimmend.

"Verzeihen Sie, ich wollte sie nicht so anstarren, aber sind Sie nicht Mimi Tachikawa? Die Verlobte von Dr. Joe Kido?" Die Kellnerin, die maximal ein paar Jahre jünger ist als ich, wirkt total verträumt, als würde sie voll auf Joe stehen. Ist Joe hier etwa ein angesagter Single gewesen? "Ähm, ja bin ich." Sofort reißt sie ihre Augen weit auf und packt mich mit beiden Händen an den Schultern. Warum kommt die überhaupt so nah und fasst mich an? "Oh mein Gott, ich glaube einfach nicht, dass du wirklich hier in diesem Café auftauchst. Darf ich mit dir ein Foto machen?" Meint die das etwa ernst? Ihr Grinsen reicht locker von hier bis nach Australien. Ich nicke unsicher und sehe dabei fragend zu Kari.

Ich stelle mich neben die Kellnerin, die sofort ihren Arm um mich legt, drückt Kari ihr Smartphone in die Hand und grinst wie ne Verrückte in die Kamera. Ich versuche nicht allzu angespannt auszusehen und hoffe, dass dieser Zirkus schnell vorbei ist. "Danke dir, das ist sooo nett von dir." Sie schaut sich total verliebt dieses Foto an und verschwindet wieder hinter dem Tresen.

Was. War. Das?

Ich blicke komplett entrüstet zu Kari, die ihre Hand über ihren Mund hält, aber schließlich doch anfängt, laut zu kichern. Ich kann nicht anders, als mit einzusteigen und ebenso zu lachen. "Kari? Ernsthaft, sind die einfach alle irre hier?"

"Du hast dich wohl noch nicht daran gewöhnt, dass du jetzt hier sowas wie ein It-Girl bist, oder? Du bist die Verlobte von Dr. Joe Kido, glaub mir, für deinen Status würden Frauen töten oder dich zumindest beneiden." Würden sie? Ich wusste gar nicht, dass mein süßer Joe so eine heiße Nummer ist, das macht ihn glatt attraktiver. Dabei finde ich irgendwie auch unheimlich, dass sich völlig Fremde über ein Foto mit mir freuen. Wird sie es jetzt ewig anschmachten? und vor allem wird es nun immer so sein?

"Was hast du dir denn schon fürs Fest überlegt?", wechselt Kari schließlich das Thema und ja stimmt, wir haben ja eine Mission zu erfüllen. Ich sprudle nur so über vor Ideen. Ich habe mir von Joe alle Patientenstammblätter zeigen lassen, um zu gucken, ob Kinder dabei sind, die eine Nahrungsmittelallergie haben. Ein Kind hat einer Allergie gegen Nüsse und zwei haben eine Lactoseintolerenz, aber sonst kann ich mich Backtechnisch austoben. Ich erzähle Kari von den verschiedenen Kuchen, die ich backen möchte, wie eine Einhorn Torte oder eine Torte von Cars und bitte Kari darum, Krümmelmonter Muffins zu backen. Ich habe bereits alles gekauft, um die Kinder schminken zu können und Kari wiederum hat von einem Kollegen eine Fotobox organisieren können und möchte lustige Motive basteln, damit die Kinder verschiedene Fotos machen können. Die Musik, da bin ich mir noch nicht ganz sicher, welche Stücke ich gerne vorführen möchte. Es muss gut mit der Gitarre und dem Klavier zu begleiten sein. Ich möchte keine Düsteren Songs singen, aber auch nicht die: Ich-bin-total-Happy-Songs. Es muss irgendwas dazwischen sein.

Wir sind ganz zufrieden mit unserem ersten Krankenhausfest Meeting und es freut mich zu sehen, wie das Fest mehr und mehr Gestalt annimmt.

"Wow, da haben wir echt schon viel gesammelt", freut sich Kari.

"Total. Ich glaube, das wird einfach mega schön."

"Ja, auf jeden Fall. Es sind noch circa drei Wochen bis zum Fest. Übrigens wirst du dort ganz sicher auf Takeru treffen", lächelt Kari. Wie süß sie einfach jedesmal ist, wenn sie von ihrem Freund spricht. "Vielleicht frage ich ihn ja mal, warum er dir bisher keinen Antrag gemacht hat."

"Nein, das darfst du nicht, bitte, bloß nicht."

"Natürlich falle ich nicht mit der Tür ins Haus, so ganz unauffällig."

"Du meinst so unauffällig, wie du eben mehr über Tais Ex-Freundinnen herausfinden wolltest?", grinst Kari triumphierend und wie gut ich dieses triumphierende Grinsen kenne. Wer in dieser Familie hat denen das weitervererbt?

"Okay, okay, es interessiert mich eben. Er war die ganze Zeit so schroff mir gegenüber und bevor er nach Chiba gefahren ist, haben wir uns auch noch gestritten, also glaub ich zumindest. Zumindest war es anders als sonst."

"Tai kann manchmal kühl wirken, aber er ist gar nicht so, wenn man ihn erstmal näher kennt, sieht man, dass er einen ganz weichen und warmen Charakter hat."

"Das mag ja sein, aber dazu müsste er erstmal etwas von sich erzählen, dass macht er nämlich nie." Ich habe immer noch das Gefühl, als würde ich viel zu wenig bis gar nichts über ihn wissen und das nervt mich. Er ist geheimnisvoll, das kommt auf die Contra Liste. Oder auf die Pro Liste? Ich seufze und lasse meinen Kopf auf den Tisch sinken. "Alles okay?"

"Äh, ja klar."

"Tai lässt sich nicht gerne in die Karten schauen, aber dranbleiben lohnt sich normalerweise."

"Na ja, jetzt ist er ja eh am Set. Wie aufregend, ich meine, ich weiß hier ist nicht Hollywood, aber ich vermisse dieses hektische Geschehen am Filmset. Wo sich jeder auf jeden verlassen muss, wo jeder noch so kleine Kameraassistent wichtig ist. Und Cut: Maske bitte. Ich will das auch wieder haben." Oh man, ich klinge wie ein kleines Mädchen, welches man gerade die Lieblingspuppe abgenommen hat. "Na, dann besuche Tai doch einfach. Er hat uns schon öfter eingeladen, aber ich glaube mir würde das Herz in die Hose rutschen, wenn ich ihn in Action sehen würde." Joe hat auch gesagt, ich soll ihn besuchen. Meine Lektionen habe ich alleine so gut, wie ich konnte gelernt, das Krankenhausfest steht auch soweit. Es gibt tatsächlich gerade nicht viel, was ich hier machen kann. "Ich weiß ja nicht mal wo in Chiba.“ Dass Tai mich da nicht sehen will, verschweige ich ihr lieber. "Die Adresse kannst du von mir haben. Er hat mir gestern noch geschrieben, er muss mir jeden Abend ein Lebenszeichen schicken, sonst bin ich sauer auf ihn."  

"Und was hat er geschrieben?" Klinge ich eigentlich so verzweifelt, wie ich mich fühle? "Dass es ihm gut geht, er noch immer lebt, als wäre das lustig und dass ich mir nicht so viele Sorgen machen soll."

"Okay, du kannst sie mir ja mal geben. Ich überlege es mir. Ich weiß nicht, ob es mir was bringt, denn eine Kido Frau arbeitet ja nicht und hat auch scheinbar sonst keinen spaß in ihrem Leben. Sie sieht nur gut aus und nickt gelegentlich, wenn sie was gefragt wird." Fast vergessen, dass mein früheres Leben der Vergangenheit angehört. "Ich habe sie dir geschickt. Ich muss jetzt auch leider los. Takeru und ich sind noch verabredet. Wir wollen ins Kino, der neue Marvel Film läuft." Und wieder huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, ob sie das selber noch merkt? Ich wusste gar nicht, dass man nach sechs Jahren noch so verliebt in denselben Kerl sein kann. Beeindruckend.

"Dann will ich dich nicht aufhalten. Es war schön mit dir."

"Ja, fand ich auch. Ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen."

"Ich mich auch und viel Spaß im Kino." Kari holt ihr Portmonee heraus, doch ich halte sie auf. "Ich übernehme das."

"Danke." Ich sehe Kari noch hinterher, ehe ich bei der komischen Kellnerin die Rechnung verlange. Ich gebe ihr ein gutes Trinkgeld, auch, weil sie anscheinend meinen Standort nicht verraten hat.

 

Ich steige wieder in das Auto ein und der Fahrer lässt kurz die Scheibe runter. "Wo soll es hingehen, Miss Tachikawa?"

Es muss eine Kurzschlusshandlung sein, als ich sage. "Fahren Sie auch nach Chiba?"

"Wenn das Ihr Wunsch ist?" Ist es das?

"Ja."

Unterwegs schreibe ich eine Kurznachricht an Joe, dass ich mich auf dem Weg nach Chiba begebe, dort etwas Sightseeing machen möchte, Tai am Set besuchen will und mich später wieder bei ihm melden werde.

Mit dem Auto brauchen wir tatsächlich nur zwei Stunden, bis wir in Chiba angekommen sind. Ich bin tatsächlich noch nie in Chiba gewesen und bin begeistert. Es ist eine wirklich schöne Stadt und ich glaube, ich werde hier einen der berühmten Tempel besuchen. Vielleicht interessieren sich die Leute in Chiba auch nicht so sehr für mich, das wäre ein weiterer Pluspunkt.

"Wir sind da", kommt es schließlich von dem Fahrer und irgendwie wird mir gleich ganz mulmig zumute. Er öffnet mir die Tür und ich steige unsicher aus. Wird Tai sehr wütend sein, wenn er mich sieht oder mich direkt zum Teufel jagen? Es sind mehrere Straßen abgesperrt und ich kann nicht soviel erkennen, weil ein großes, weißes Leinentuch alles abdeckt. Ich bedanke mich beim Fahrer und gebe ihm zu verstehen, dass er in der Nähe bleiben soll. Ich gehe langsam ans Set heran. Gerade Außendrehs sind besonders spannend und aufregend. Ich höre tatsächlich wie viele Stimmen laut miteinander reden. Ich gehe immer weiter, als mich plötzlich jemand aufhält. "Stopp. Sie dürfen nicht weitergehen."

Mist, war ja klar, dass ich hier nicht so einfach einmarschieren kann. "Ich gehöre zu dem Stuntman Taichi Yagami", erkläre ich und trete unruhig von einem auf den anderen Fuß. Ich bin jetzt so nah dran, ich lass mich jetzt von niemanden mehr aufhalten. "Mr. Yagami, ist gerade im Einsatz." Sofort geht mein Blick zum Filmset. "Ich muss zu ihm."

So viele Leuten stehen hier. Einer hält die Studioleuchte, einer die Kamera selbst, einer die Kabel und wieder andere einen Monitor. Manche tragen Mikrofone und sind überall verkabelt. Einige tragen Essen und Getränke hin und her. Ich entdecke sogar eine kleine Schminkecke. Große, helle Spiegel, Licht, Tische über und über mit Make Up und Haarstyling Produkten.

Ein Traum.

Aber Tai entdecke ich nirgends.

"Mensch Yagami!", brüllt auf einmal der Regisseur und mein Kopf schellt in seine Richtung. Ich sehe Tai an einer Hauswand aufsteigen. Ein mickriger Sicherheitsgurt hält ihn, gerade noch so. Ich reiße die Augen weit auf, okay, jetzt weiß ich was Kari meinte, denn mein Herz rutscht mir sofort in die Hose. Er rutscht wieder etwas ab. Ich sehe, wie er sich mit aller Mühe an der Hauswand festhält und ich schrecke zusammen. Ach, du meine Güte, er stürzt gleich ab. "Halt dich fest", schreie ich auf einmal nach oben und Tai sieht mich an. Er ist so weit über mir, aber trotzdem durchdringt mich sein Blick und dann stürzt er endgültig ab.

Kapitel 14

Tai
 

Ich stürze mindestens 30 Meter in die Tiefe, ehe das Sicherheitsseil mich mit einem Ruck zum stoppen bringt.

Verdammte scheiße!

Das Adrenalin pumpt immer noch durch meine Venen und ich brauche einen Moment, um zu realisieren, was eben passiert ist. War das eben …?

Jedoch, spätestens, als der Regisseur mich anbrüllt, kapiere auch ich, dass ich es grad richtig vergeigt hab.

„Sag mal Yagami, willst du mich verarschen?“

„Sorry Boss“, rufe ich nach unten, während ich immer noch an dem Seil baumle, was inzwischen langsam nach unten gelassen wird.

„Was sollte das?“, keift er mich an, als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen habe.

„Bin abgerutscht“, entgegne ich und öffne den Gurt an meiner Hüfte, um mich vom Seil zu befreien.

„Wohl eher abgelenkt“, widerspricht er und zeigt hinter sich. „Wer ist diese Tussi und was macht sie hier?“

„Hey!“, fauche ich ihn sofort an. „Sie ist keine Tussi.“

„Von mir aus. Aber schaff sie hier weg. Und dann drehen wir die Szene noch mal.“ Er dreht sich um und geht zum Team zurück. „Zehn Minuten Pause für alle.“

Alles klar. Ich muss das schleunigst klären. Was zur Hölle macht sie hier?

Schnellen Schrittes gehe ich auf Mimi zu, als sie mir auch schon ein „Es tut mir leid“ entgegen schleudert und sich die Hände vor den Mund hält.

„Wolltest mich wohl sterben sehen.“ Ich bleibe vor ihr stehen und Mimi fängt sofort an hastig meine Arme und meinen Oberkörper abzutasten. Ich schüttle ihre Hände von mir ab. „Hör auf! Was soll das?“

„Oh Gott Tai, bist du verletzt?“ Sie sieht ernsthaft besorgt aus. Ja, sogar richtig panisch.

„Ich stehe doch vor dir, oder?“

„Aber du bist so tief gefallen“, stellt sie schockiert fest und jetzt sehe ich die Angst, die sich tatsächlich in ihrem Gesicht abzeichnet.

„Machst du dir etwa Sorgen um mich?“, grinse ich und zeige dann auf meinen Hüftgurt. „Ich war an einem Sicherheitsseil befestigt, mir ist nichts passiert.“

„Oh … okay …“

Mimi richtet sich nun wieder etwas auf und lässt von mir ab, aber wirklich entspannt sieht sie nicht aus.

„Mimi“, sage ich daher eindringlich und packe sie an den Schultern, damit sie mir in die Augen sieht. „Es. Geht. Mir. Gut. Und jetzt krieg dich wieder ein.“

Nun verzieht sie das Gesicht und wischt meine Hände von ihren Schultern.

„Du bist ganz schön unhöflich. Ich bin extra hergekommen, um dich …“

Um mich, was? Zu sehen? Mein Herz beginnt für einen Moment aufgeregt zu schlagen.

„Ich meine, um dich an deinem Set zu besuchen. Ist ja tierisch aufregend hier.“

Ja, na klar. Was sonst? Ich kann gar nicht anders, ich muss einfach grinsen.

„Hätte nicht gedacht, dass du mich mal vermisst“, ärgere ich sie.

„Ich vermisse dich nicht, kein Stück.“ Mimi verschränkt die Arme vor der Brust und sieht dabei aus wie ein kleines Kind.

Wieso empfinde ich gerade so was wie Genugtuung?

„Hatte ich nicht gesagt, du sollst nicht kommen?“

„So was in der Art hast du wohl gesagt, ja.“

Diese sture Frau. Wieso kann sie sich nie an die Regeln halten?

„Joe sagte, es wäre in Ordnung, wenn ich mich hier mal ein wenig umsehe“, meint Mimi ganz unschuldig. „Ich habe das Filmset echt vermisst.“

Ihr Blick wandert sehnsuchtsvoll über die Kulisse und die Requisiten, bis er schließlich an der Maske hängen bleibt. Plötzlich komme ich mir super mies vor – wie der Arsch, für den sie mich immer hält. Ich bin gerade an einem Filmset und tue das, was ich liebe. Und Mimi liebt es mindestens genauso wie ich. Nur sie darf ihren Traum nicht mehr leben, nie wieder. Sie wird eine Kido und damit war’s das in diesem Business. Irgendwie tut sie mir leid.

„Na schön“, sage ich versöhnlich. „Wenn du schon mal hier bist, ich könnte eine Maske gebrauchen. Interesse?“

Überrascht sieht Mimi zu mir auf. „Aber du hast doch Leute, die das für dich tun.“

Himmel, sie kapiert aber auch gar nichts. „Schon klar, aber ich will, dass du das machst. Mach dich wenigstens nützlich, wenn ich wegen dir schon fast in den Tod gestürzt wäre.“

Ich gehe in den Bereich, wo die Maske aufgebaut ist und lasse mich auf einen der Stühle nieder. Mimi folgt mir und schaut sich etwas unsicher um.

„Das geht schon in Ordnung“, versichere ich ihr, als sie ein paar Pinsel und das Make Up begutachtet.

„Hey, die Sachen sind gar nicht so schlecht“, gesteht sie und beginnt, mir zunächst die Stirn mit einem Tuch abzutupfen. „Was dreht ihr denn für einen Film?“

„Einen Actionfilm“, sage ich und halte ganz still, damit sie ihre Arbeit machen kann. Jetzt nimmt sie das Make Up in die Hand und prüft, welcher Farbton am besten zu meiner Hautfarbe passt.

„Ich spiele einen Gangster, der aus dem Knast ausgebrochen ist und sich gerade auf der Flucht befindet. Na ja, zumindest sein Double. Man sieht mich im Film ja meist nur von hinten.“

„Du spielst also den Bösen in der Geschichte“, stellt Mimi fest. „Passt ja irgendwie.“

Ich atme schwerfällig aus. Ich finde es furchtbar, dass sie so von mir denkt.

„Im Grunde bin ich nicht so“, sage ich, weiß aber eigentlich gar nicht so richtig, was ich damit bezwecken will. Wollte ich nicht genau das mit meinem Verhalten erreichen? Warum ist es mir so wichtig, was sie von mir denkt?

„Hmm“, schnaubt Mimi lachend. „Komisch, genau das hat deine Schwester auch gesagt.“

„Du hast dich mit Kari getroffen?“, entgegne ich überrascht.

„Ja, wir haben das Fest für die Kinder im Krankenhaus geplant. Von ihr habe ich auch deine Adresse bekommen.“

So so, meine kleine Schwester war mal wieder viel zu gesprächig.

Sie nimmt einen Pinsel und Puder in die Hand und beginnt, mir das Gesicht abzupudern, als mir förmlich etwas ins Auge springt. Ich schnappe ihr Handgelenk und halte es fest.

„Was ist das?“ Ein wenig ungläubig starre ich auf das funkelnde Ding an ihrem Ringfinger. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, als Mimi mir auch schon ihre Hand entreißt.

„Ein Verlobungsring?“, knurre ich, obwohl das ja auf der Hand liegt. Ich spüre, wie etwas in mir aufsteigt, was mich selbst überrascht – Eifersucht.

„Joe hat ihn mir geschenkt“, sagt sie und macht unbeirrt mit ihrer Arbeit weiter. Sie sagt das so beiläufig. Als wäre es keine große Sache. Als hätte es nichts zu bedeuten.

Aber ich kenne meinen Freund Joe – wenn er einer Frau einen Verlobungsring schenkt, dann hat das definitiv was zu bedeuten. Zum Teufel noch mal, so was hat einfach IMMER was zu bedeuten, es ist schließlich ein verdammter Verlobungsring!

„Dann gehe ich davon aus, dass eure Dates gut liefen“, entgegne ich viel zu bissig. Mimi hält kurz inne und sieht mich stirnrunzelnd an, vermutlich weil ich so gereizt darauf reagiere. Ich wünschte, ich hätte mich mehr unter Kontrolle. Aber bei dieser Frau habe ich irgendwie nie etwas unter Kontrolle. Alles, an was ich gerade denken kann ist, ob sie sich näher gekommen sind. Allein die Vorstellung davon missfällt mir. Aber warum ist das so? Es sollte mir egal sein, ob Mimi und Joe tatsächlich was miteinander haben.

„Ja, es war sehr schön“, bestätigt Mimi meine Vermutung und macht mit ihrer Maske weiter. „Joe ist wirklich nett und hat ein gutes Herz. Ich kann mich glücklich schätzen, ihn heiraten zu dürfen.“

Irgendwo habe ich das schon mal gehört. Wie schafft es die Familie Kido nur jedesmal ihre Frauen derart gefügig zu machen? Nur mit Macht und Geld? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen – so eine ist Mimi nicht. Auch wenn ich das anfangs von ihr erwartet habe. Worum geht es ihr wirklich?

„Ich würde das anders sehen“, entgegne ich.

„So, und wie?“

„Die Pause ist vorbei, zurück ans Set!“, ruft der Regisseur plötzlich durch die Reihen und um uns herum wird es ganz wuselig. Alle eilen zurück hinter die Kamera und nehmen ihre Positionen ein.

„Wir machen weiter mit Szene 105, Take 21.“

Ich rutsche vom Stuhl und bin dankbar für die Unterbrechung.

„Ich muss wieder zurück“, sage ich, ohne Mimi eine Antwort zu geben. Denn im Grunde ist es doch so, dass nicht sie sich glücklich schätzen kann, in die Familie Kido einzuheiraten.

Im Gegenteil – die Kidos haben Glück eine Frau wie Mimi gefunden zu haben, die bereit ist, ihre ganze Freiheit aufzugeben, um Ehefrau zu sein. Wobei ich mir immer noch nicht vorstellen kann, dass sie das wirklich alles freiwillig tut. Sie ist keine zweite Kaori.

„Darf ich zusehen?“, fragt Mimi und tritt ganz unruhig von einem Bein aufs andere. Es bedeutet ihr anscheinend echt viel hier zu sein. Plötzlich fühle ich mich schlecht, weil ich ihr verboten hatte herzukommen.

Ein leichtes Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. „Klar, aber nur, wenn du keinen Herzinfarkt kriegst. Und du solltest diesmal wirklich die Klappe halten, sonst stürze ich wirklich noch in den Tod.“

Mimis Augen beginnen vor Freude zu strahlen und erwärmen mein Herz. Wenn wir zusammen ihre Lektionen abgearbeitet haben, sah sie immer so ernst aus. Außer beim Tanzen, da war sie ganz bei sich selbst. Völlig losgelöst von jedem Druck, den diese Familie tagtäglich auf sie ausübt. Das hier, das Filmset, ist ihre Welt. Hier fühlt sie sich wohl. Hier strahlt sie übers ganze Gesicht. Und ich weiß jetzt schon, dass ich sie so viel lieber mag.

„Oh, danke Tai“, meint sie und hüpft aufgeregt auf der Stelle. „Ich verspreche auch ganz ruhig zu sein.“

„Ja, ja schon gut. Komm einfach mit.“

„Das kommt definitiv auf die Pro Liste“, höre ich sie hinter mir flüstern, als sie mir unauffällig folgt.

„Was?“

„Ach, nichts.“

Sie strahlt mich glücklich an und erneut trifft mich ihr Lächeln mitten ins Herz – was inzwischen gefährlich weh tut, jedes Mal, wenn ich an sie denke. Und leider habe ich das in den letzten Tagen viel zu oft gemacht. Wahrscheinlich war ich deshalb beim Dreh auch nicht ganz bei der Sache.

Ich glaube, jetzt kann ich mich besser fokussieren. Ob das an ihr liegt?

Ich spüre, wie das Adrenalin zurück kehrt, als ich für die nächste Szene fertig gemacht werde. Das ist immer so, kurz vor einer Actionszene. Genau dieses gefährliche Prickeln liebe ich. Hier bin ich genau in meinem Element. Ein letztes Mal suche ich Mimis Blick, die mich die ganze Zeit zu fixieren scheint. Dann werde ich mit dem Seil hochgezogen.

„Und Action!“, ruft der Regisseur durch ein Megaphone und ich schalte von der einen auf die andere Sekunde um. Ich schwinge mich an die Wand des Gebäudes und halte mich daran fest. Es besteht komplett aus Glas und ich habe spezielle Handschuhe an, mit denen es mir möglich ist, mich Stück für Stück an der Wand hochzuziehen. Ein Schauspieler erscheint am Fenster und streckt mir seine Hand entgegen. Ich greife nach ihr, aber rutsche ab und stürze beinahe in die Tiefe – natürlich alles nach Drehbuch.

Als ich es geschafft habe, geht die Verfolgungsjagd weiter und ich muss noch einige Szenen als Double drehen. Für die Nahaufnahmen brauchen sie mich natürlich nicht, aber da ein Großteil des Films aus gefährlichen Actionszenen besteht, muss ich ziemlich oft ran. Die letzte Szene für heute, in der ich von einem Hochhaus springe und gleichzeitig hinter mir eine Bombe explodiert, gibt mir den ultimativen Kick. Ich bin immer noch ganz aufgeregt, als ich unten von der Matte rolle und der Regisseur „Cut! Das war’s für heute“ ruft.

Während ich mich von den Gurten und Seilen befreie, kommt er sogar persönlich zu mir und klopft mir auf die Schulter. „Gut gemacht, Yagami. Das ist die Leistung, die ich von dir gewohnt bin.“

„Danke“, kriege ich jedoch nur keuchend heraus. Ich bin ganz schön erledigt. Trotzdem suchen meine Augen bereits die eine Person, für die ich mich eben so ins Zeug gelegt habe. Keine Ahnung, warum, aber irgendwie wollte ich Mimi beeindrucken.

Und so wie sie aussieht, habe ich das geschafft, denn sie kommt mit großen, ungläubigen Augen auf mich zugerannt.

„Tai“, ruft sie begeistert. „Das war ja fantastisch! Unfassbar, dass du da wirklich runter gesprungen bist, das ist echt der blanke Wahnsinn.“

Ich lächle verlegen. „Was soll ich sagen? Ich bin eben echt cool.“

Breit grinsend stemmt sie die Hände in die Hüfte. „Angeber.“

Mein Grinsen wird noch breiter. „Wann musst du wieder zurück? Ich dachte, wir könnten noch etwas essen und ich zeige dir den Rest vom Set. Aber vorher muss ich duschen.“ Ich bin komplett verdreckt. Schweiß und Ruß klebt an mir und mein Körper muss dringend warmes Wasser sehen.

Mimi sieht unsicher auf die Uhr ihres Handys. Ich weiß, es ist schon spät und ich weiß, ich wollte sie anfangs gar nicht hier haben. Aber jetzt, wo sie da ist, kann ich sie nicht einfach so gehen lassen.

„Ich habe Joe zwar gesagt, dass ich zum Abendessen zurück bin, aber das dürfte ich inzwischen ohnehin verpasst haben.“

„Gut, dann hol mich einfach in einer Stunde bei meinem Trailer ab, es ist der mit der Nummer 52.“

Mimi nickt. „Okay, bis dann.“
 

Nach einer ausgiebigen Dusche fühle ich mich schon fast wieder wie ein Mensch. Der Drehtag war extrem anstrengend und jeder Muskel in meinem Körper schmerzt. Dennoch hätte es besser nicht laufen können. Ich liebe diesen Job einfach.

Pünktlich um 20 Uhr klopft es an die Tür meines Trailers. Ich öffne sie und ihr umwerfendes Lächeln trifft mich ganz unerwartet. Ich muss kurz schlucken, bis ich sie reinbitten kann, weil ich die letzten Tage sehr mit mir gerungen habe, mir immer wieder eingeredet habe, dass da nichts zwischen uns ist. Aber die Wahrheit sieht gerade so aus, dass sie mein Herz klopfen lässt – und das ist nicht gut, auch wenn es sich so anfühlt. Ich muss verdammt aufpassen. Aber hey, wir essen nur zusammen, wie wir es schon so oft getan haben. Was soll schief gehen?

„Wow, das ist ja richtig gemütlich hier drin“, sagt Mimi lachend, als sie meinen winzigen Trailer betritt und sich umsieht. Außer einer kleinen Kochnische, einer Sitzbank mit Tisch und einem Bett mit angrenzender Dusche findet man hier nicht viel.

„Ich weiß, du bist besseres gewöhnt“, sage ich und spiele damit auf die Villa an, in der sie momentan lebt.

„Ach was, mich stört das kein bisschen. Im Gegenteil“, sagt sie und macht es sich auf der Sitzbank bequem. „Ich liebe das Filmset-Feeling. Und ich liebe es, hinter den Kulissen zu sein, das ist einfach immer eine besondere Atmosphäre.“

In Mimis Augen tritt schon wieder dieses Funkeln, dass sie immer hat, wenn sie darüber spricht.

Ich muss grinsen. „Dann ist ja gut“, sage ich, gehe zur Küche und fange an den Kühlschrank leer zu räumen. „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht. Für dich habe ich keine Mühen gescheut und vorhin heimlich das halbe Buffet der Schauspieler leergeräumt.“

Mimi lacht. „Du hast das Essen geklaut? Sehr originell, Tai.“

Ich zucke mit den Schultern. „Die essen das eh nicht alles, also warum etwas verschwenden?“

Lachend schüttelt Mimi den Kopf, während ich uns auftische. „Du bist echt unmöglich.“

Ich stelle alles auf den Tisch, hole zwei Teller und Besteck aus den Schränken und setze mich ihr gegenüber. „Bedien dich. Hier musst du auch nicht mit Stäbchen essen.“

„Wie gut für mich.“

Wir essen und ich erzähle Mimi währenddessen von den ganzen Actionszenen, die ich schon gedreht habe. Sie fragt mir Löcher in den Bauch und ich finde es irgendwie süß, dass sie sich so dafür begeistern kann. Man könnte meinen, sie lebt mehr für das alles hier, als ich es je tun könnte.

„Was hast du eigentlich alles mit meiner Schwester besprochen, als ihr euch getroffen habt?“, frage ich neugierig und schiebe mir dabei ein Sandwich in den Mund.

Mimi stochert nachdenklich in ihrem Essen rum. „Ach, eigentlich haben wir fast nur über das Fest im Krankenhaus gesprochen. Kari ist eine wertvolle Hilfe. Und sie ist unfassbar nett und liebenswert. Du hast Glück eine so tolle Schwester zu haben.“

„Ja, da hast du recht“, stimme ich ihr zu. „Kari hat einfach ein gutes Herz.“

„Hmm“, macht Mimi und macht plötzlich ein Gesicht, als würde sie angestrengt nachdenken. Dann legt sie ihre Gabel ab und es platzt förmlich aus ihr raus. „Wer war deine Ex-Freundin, Tai?“

Ich runzle die Stirn. „Was? Wie kommst du denn jetzt darauf?“ Warum interessiert sie das überhaupt?

„Ich … Kari hat da so was angedeutet“, stammelt sie fast schon verlegen. „Dass du dich nach deiner letzten Freundin verändert hast und nicht mehr bereit wärst, dein Herz zu verschenken.“

Na super! Kari war wirklich viel zu gesprächig.

„Das geht dich nichts an, Mimi“, sage ich deutlich härter als beabsichtig. Aber was soll ich machen? Sie hat gerade eine alte Wunde aufgerissen.

„Ach, komm schon, Tai“, sagt sie gekränkt. „Sind wir nicht über diesen Punkt hinaus? Denkst du immer noch, du könntest mir nicht vertrauen, nachdem ich dir von der Sache in L.A. erzählt habe?“

Ich presse die Kiefer aufeinander. „Das ist was anderes.“

„Warum?“

„Weil es …“ Ich finde nicht mal die richtigen Worte dafür. Es ist zu kompliziert. Sie würde es nicht verstehen. „Es ist eben ziemlich brisant.“

„Ich denke, ich kann es verkraften.“

Diese Frau ist so stur. Ich puste hörbar die Luft aus.

„Willst du das wirklich wissen?“

Sie zuckt leicht mit den Schultern und ihre Gesichtszüge werden mit einem Mal ganz weich, beinahe mitfühlend. „Ich will einfach nur wissen, was Schlimmes passiert ist, dass du denkst, du dürftest nicht mehr lieben.“

Sie tut es schon wieder. Ihr Blick durchbohrt mich wie ein Schwert und geht mir direkt unter die Haut. Warum ist das nur so?

„Okay“, sagt Mimi, streckt ihren Arm über den Tisch aus und hält mir ihren kleinen Finger hin.

„Äh, was soll das werden?“, frage ich verwirrt, während sie mich todernst ansieht.

„Kleiner Fingerschwur.“

„Bitte?“ Fast muss ich lachen.

„Kleiner Fingerschwur. Kennst du das etwa nicht? Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich es niemanden sagen werde. Dieser Schwur ist bindend.“

Ein amüsiertes Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, weil sie so unfassbar süß ist.

„Du sagst das, als würden wir einen geheimen Pakt eingehen und beide tot umfallen, wenn wir ihn brechen.“

„Oh, wenn du wüsstest.“

Ich lache und verhake meinen kleinen Finger kopfschüttelnd mit ihrem. „Na schön.“

„Also, wer ist es?“, fragt Mimi neugierig.

„Kaori.“

Stille.

„Schockiert?“

„Nein, ich habe mir bereits so was in der Art gedacht“, antwortet Mimi.

Tatsächlich? War es so offensichtlich? Wie kann es sein, dass sie es wusste, obwohl sie mich überhaupt nicht kennt und Menschen, die tagtäglich um mich herum sind, nichts gemerkt haben? Weil sie mich sieht, wie ich wirklich bin? Ist das der Grund? Keine Ahnung, wie sie das macht, aber ich habe gerade das erste Mal das Gefühl, mich jemanden anvertrauen zu können, der nicht Kari ist.

„Wir waren nur ein halbes Jahr zusammen, aber es war ziemlich intensiv. Ich dachte, sie wäre die eine. Ich dachte, es wäre endlich etwas Festes“, beginne ich zu erzählen, stehe jedoch auf und beginne schon mal abzuräumen, da wir beide fertig sind. „Ich meine, ich wusste schon, wer sie ist und welchen gesellschaftlichen Status sie hat. Ich wusste, welche Verpflichtungen das alles für sie mitbringt. Aber naja, du kennst das … man denkt immer, man wäre der eine Mensch, der den anderen ändern kann. Ich dachte, ich wäre ihr genauso wichtig gewesen wie sie mir.“

Mimi nickt verständnisvoll. „Und dann hat sie Jim geheiratet. Das muss hart für dich gewesen sein.“

Ich schnaufe und lege nachdenklich den Kopf schief, während ich mich gegen die Küchenzeile lehne. „Im ersten Moment schon. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es wäre kein Schock gewesen. Allerdings habe ich ziemlich schnell verstanden, dass ich rein gar nichts daran ändern kann und ich sie ziehen lassen muss. Ich habe nur gedacht, dass sie sich mir gegenüber rechtfertigen würde, aber das hat sie nie getan. Sie hat mich hinter sich gelassen, als wäre es das einfachste von der Welt einfach einen fremden Mann zu heiraten.“

Kurz versinke ich in der Erinnerung daran, die längst nicht mehr so weh tut wie damals. Dennoch ist diese Geschichte ein Teil von mir und der Grund für all das hier – warum ich nicht an die Liebe glaube. Warum ich nicht daran glaube, sein Herz einer einzigen Person zu schenken. Und vor allem, warum ich nicht an diese arrangierte Ehe zwischen Mimi und Joe glaube. Das ist doch absurd.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Mimi plötzlich aufsteht und zu mir kommt. Sie stellt sich direkt vor mich und nimmt meine Hände in ihre, während sie mit mitfühlenden Augen zu mir aufschaut.

„Es tut mir leid, dass dir das passiert ist“, sagt sie sanft und erwischt mich damit eiskalt. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, trotzdem grinse ich nur und sage: „Schwamm drüber.“

„Ich habe gerade das erste Mal das Gefühl dich zu verstehen, Tai. Warum du mir gegenüber manchmal so schroff bist.“

Beschämt sehe ich zur Seite. Im Grunde will ich das doch auch alles nicht. „Das tut mir leid.“

Mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber frisst mich gerade echt auf. Ich war wirklich ein Arsch und habe mein Verhalten damit gerechtfertigt, dass es so das Beste ist. Doch als ich sie wieder ansehe, sehe ich kein Stück Bitterkeit in ihrem Gesicht. Stattdessen lächelt sie mich einfach nur an.

„Schwamm drüber“, wiederholt sie meine Worte von eben und entlockt mir damit ebenfalls ein Lächeln.

„Du könntest ja ab jetzt einfach versuchen, nicht ganz so mies zu mir zu sein, denn anscheinend hast du ja durchaus auch eine nette Seite.“

„Du bist echt unglaublich, weißt du das?“, entgegne ich nur kopfschüttelnd, weil ich nicht fassen kann, dass sie wirklich kein Stück nachtragend ist.

Mimi schweigt und erst jetzt fällt mir auf, dass sie immer noch meine Hände festhält. Erst jetzt realisiere ich, wie verdammt nah wir uns schon wieder sind. Liegt das nur daran, dass es in diesem Trailer so schrecklich eng ist oder …

„Tai“, flüstert Mimi und durchbricht diese unerträgliche Stille, die sich wie ein Stein auf meine Brust gelegt hat.

„Ja?“

„Du sagtest kurz bevor du abgereist bist, dass du … dass du etwas spürst, wenn wir uns nah sind.“

Ich schlucke schwer. „Ja.“

Mimi hebt unsere Hände in die Höhe und verschränkt unsere Finger miteinander. Es ist so eine kleine winzige Geste, die nichts bedeuten sollte und trotzdem treibt sie meinen Puls in die Höhe.

„Und jetzt? Geht es dir jetzt auch so? In diesem Moment?“ Sie sieht mich nicht an, stattdessen betrachtet sie unsere Hände, die einander festhalten.

Mein Mund wird staubtrocken und trotzdem formen meine Lippen dieses Wort. „Ja.“

„Mir auch“, sagt sie so leise, als hätte sie Angst, uns könnte jemand belauschen. Als wäre es ein weiteres Geheimnis, dass wir nun miteinander teilen.

Ich spüre das Verlangen in mir, sie an mich zu ziehen, die wenigen Zentimeter, die unsere Körper noch voneinander trennen auch noch zu überbrücken, bis da einfach keine Lücke mehr ist. Aber ich tue es nicht. Stattdessen entziehe ich mich ihrem Griff und umfasse ihre Hand. Wir sehen beide auf den Ring, der an ihrem Finger glitzert und uns mehr als deutlich macht, dass diese Gefühle nicht von Bedeutung sind. Es sei denn sie würde …

„Sag mal, willst du das alles wirklich?“, frage ich leise, während ich immer noch ihre Hand festhalte und wie gebannt auf diesen verdammten Ring starre.

„Was meinst du?“

„Willst du ihn wirklich heiraten?“

Mit einem Mal entreißt sie mir ihre Hand, als hätte sie sich an etwas verbrannt.

„Natürlich will ich das. Das weißt du doch.“

Was? Das kann unmöglich ihr Ernst sein. Niemals, das kaufe ich ihr nicht ab.

„Ist dir bewusst, was du alles aufgeben müsstest?“, frage ich sie. „Ich habe dich heute gesehen. Du warst hier das erste Mal seit deiner Ankunft du selbst. Du liebst das Filmset und deine Arbeit, sie macht dich aus, sie ist ein Teil von dir. Und du gibst das alles auf, ohne mit der Wimper zu zucken? Deine ganze Freiheit? Tut mir leid, wenn ich das sage, aber das passt einfach nicht zu dir, Mimi. Ich glaube dir kein Stück, dass du das hier alles willst.“

Mimi schnaubt über meine Antwort und sieht trotzig zu mir auf. Als hätte sie sich an dieser Idee, Joe Kido zu heiraten so sehr festgebissen, dass es kein Zurück gibt.

„Was weißt du schon?“

Aber du irrst dich, Mimi. Es gibt immer ein Zurück. Blanke Wut packt mich, weil ich das alles nicht glauben kann.

Ich packe ihre Hand. „Komm mit!“

„Hey, was soll das?“, entgegnet sie und stemmt sich mit aller Kraft gegen mich, als ich sie aus dem Trailer und hinter mir her ziehe. Aber ich lasse sie nicht los, ich ziehe sie einfach immer weiter. Sie muss begreifen, dass sie eine Wahl hat, verdammt.

Kaoris Zukunft war längst in Stein gemeißelt, als ich sie kennenlernte, aber Mimis ist es nicht.

„Tai, was soll das?“, faucht Mimi mich an, während ich mit ihr in ein Gebäude am Set gehe. „Jetzt lass endlich los!“, fordert sie, aber ich ziehe sie die Stufen hoch, bis ganz nach oben. Ich stoße die Metalltür zum Dach auf und der kühle Wind pfeift uns um die Ohren.

„Tai, jetzt hör auf.“ Mimi klingt verängstigt und hysterisch, aber ich lasse sie erst los, als ich sie bis zum Rande des Daches geschliffen habe. Völlig aufgewühlt sieht sie mich an, während ihre Haare wild im Wind wehen. „Was hast du vor? Du machst mir echt Angst, Tai.“

„Spring!“

„Was?“

„Du sollst springen“, sage ich bestimmt, doch sie lacht nur ungläubig auf und versucht sich erfolglos die Haare aus dem Gesicht zu wischen.

„Sag mal, drehst du jetzt völlig durch?“

„Wieso?“, entgegne ich verbissen und balle die Hände zu Fäusten, weil ich so wütend bin. „Du bist diejenige die durchdreht. Denn genau so wird dein Leben ab jetzt aussehen.“ Ich zeige auf den Abgrund vor uns und die mindestens 50 Meter, die uns vom Fußboden trennen. Mimi riskiert einen Blick in den Abgrund, zieht jedoch ihren Kopf sofort wieder zurück.

„Du verstehst es noch nicht, Mimi“, schreie ich sie förmlich an. „Genau so wird es ab jetzt für dich ablaufen, jeden einzelnen Tag. Wenn die Familie Kido sagt: Spring! Dann springst du! Und du stellst keine Fragen. Du tust es einfach. Du wirst schnell aufhören, darüber nachzudenken, warum du das tun sollst, denn das spielt keine Rolle. Du springst einfach.“

Ich sehe, wie Mimi nachdenklich die Stirn runzelt. Wahrscheinlich denkt sie gerade, ich hätte den Verstand verloren. Aber ich versuche nur, ihr vor Augen zu führen, wie ihr Leben ab jetzt aussehen wird. Wieso versteht sie nicht, dass sie einfach alles verliert, was sie ausmacht, wenn sie diesen Schritt wirklich geht?

„Tai, wirklich, du verstehst das nicht“, entgegnet sie verbissen.

Ich kann nicht fassen, dass sie es einfach nicht begreifen will.

„Bitte, Mimi“, sage ich und klinge vermutlich genauso verzweifelt, wie ich mich fühle. „Überleg es dir noch mal. Du kannst das unmöglich für dich wollen.“ Niemand würde das wollen, der eine Wahl hat.

Ich sehe, wie Mimi mit sich kämpft, wie sie sich verbissen gegen meine Worte wehrt. Sie muss doch wissen, dass ich recht habe … Sie weiß es und doch …

„Doch, Tai, genau das will ich“, sagt sie so bestimmt, als hätte sie nie etwas ernster gemeint in ihrem Leben. „Ich will Joe heiraten und es gibt nichts, was mich davon abbringen könnte.“

Fassungslos starre ich sie an. Habe ich mich so in ihr getäuscht?

Es fällt mir zwar schwer, aber schließlich gebe ich mich geschlagen und nicke nur noch.

„Okay, wenn das dein Wunsch ist.“

Mimi presst die Hand mit dem Verlobungsring an sich, als könnte er ihr jeden Moment davonfliegen. Oder als müsste sie sich mit aller Macht daran festkrallen, um sich selbst davon zu überzeugen, was sie eben gesagt hat.

„Das ist es“, antwortet sie und ich nicke wieder.

„Du solltest jetzt nach Hause fahren“, sage ich schweren Herzens. „Dein Verlobter wartet sicher schon auf dich.“

Ich drehe mich um und gehe. Sie findet sicher auch alleine hier raus. Ich kann nicht glauben, was da gerade passiert ist. Ich habe ihr eben einen Ausweg geboten und sie hat ihn abgelehnt. Stattdessen rennt sie lieber geradewegs in den Käfig zurück, der sie umgibt. Ich dachte, Mimi wäre anders als Kaori. Aber warum fühlt es sich dann wie ein verdammtes Déjà-vu an? Und was viel schlimmer ist: warum trifft es mich mitten ins Herz?

Mimi

 

Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll. Ich bin vollkommen verwirrt. Gestern bin ich noch bei Tai in Chiba gewesen und wir sind uns wieder so verboten nah gekommen. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zumachen und war erst in den frühen Morgenstunden zurück. Tais Nähe beflügelt mich, wie bei einem Rausch. Er ist wie eine Droge, die, wenn man sie nur einmal kostet, nicht mehr vergessen kann und direkt süchtig wird. Ich habe sogar kurz geglaubt, es könnte einen Ausweg für uns geben, aber so einfach ist das nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich ihm das erklären soll. Tai ist so aufregend. Ich brauche keine Pro und Contra Liste mehr, denn egal wie viele Punkte er sammelt und selbst, wenn er es ist, der mein Herz besitzt, so wird es am Ende immer Joe sein. Nur wem gegenüber ist das eigentlich fair?

Tai ist so wütend gewesen.

Auf mich.

Er war verzweifelt und irgendwie bin ich es auch. Er glaubt, ich hätte eine Wahl, aber im Grunde habe ich die nicht. Oder?

Mein Schicksal ist zwar nicht wie das von Kaori vorherbestimmt, aber manchmal ist es einfach das Leben selbst, welches einen in die Knie zwingt.

Ich kann mich doch nicht für ihn und gegen meine Familie entschieden, nur, weil ich dummerweise Gefühle für ihn entwickelt habe.

Gefühle, die ich nicht geplant habe. Gefühle, die aber jetzt schon so überwältigend sind, dass ich nicht weiß, ob ich sie für immer ignorieren kann.

Ich muss meine Mutter anrufen. Gibt es vielleicht doch einen Weg? Gibt es doch irgendeine Chance, dass aus Tai und mir ein Paar werden könnte?

“Hi Mama”, sage ich gleich lächelnd ins Telefon.

“Mimi, Schatz, es ist schön, deine Stimme zu hören. Geht es dir gut?” Es ist so eine banale Frage, aber warum fällt es mir so schwer, sie zu beantworten?

“Es … es ist okay …”

“Ohoh, was ist los?” Soll ich meiner Mutter alles erzählen? Von Tai und dass ich unsicher bin, ob ich Joe wirklich heiraten will? Aber würde das nicht unsere Familie zerstören?

“Es ist alles okay, wirklich. Es ist schwerer als ich es mir vorgestellt habe, das gebe ich zu, aber es sind alle wirklich sehr nett zu mir. Besonders Joe.”

“Wie schön. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht so leicht für dich ist. Es ist eben doch ein ganz anderes Leben.”

“Ja.”

Mama, wäre es ok, wenn ich nicht in die Familie Kido einheirate? Können wir Papa irgendwie anders helfen? Ich möchte sie so gerne fragen, aber ich traue mich nicht. Wie gerne, würde ich ihr von Tai erzählen und wie recht sie damit hatte, dass ich den Richtigen einfach noch nicht getroffen hatte. “Du glaubst gar nicht, wie stolz wir auf dich sind”, höre ich meine Mutter sagen, doch plötzlich fängt sie an zu schluchzen. “Mama, was ist passiert?” Ich bekomme Angst, sie würde sonst nicht weinen, nicht wenn nicht was Schlimmes passiert wäre.

“Sie … sie waren hier. Die Polizei, sie waren hier und haben deinen Vater abgeholt.” Das Weinen von meiner Mutter wird immer lauter, immer hysterischer und auch ich bin fassungslos. Sie braucht ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, ehe sie weitersprechen kann. “Er sitzt in Untersuchungshaft, gegen Kaution würden wir ihn frei bekommen, aber nicht mal dafür haben wir das Geld. Wir haben nur einen Pflichtverteidiger bekommen, aber der ist nicht besonders gut. Der Prozess ist erst fürs nächste Jahr angesetzt und bis dahin können wir nichts mehr für ihn tun. Es sei denn wir haben eine halbe Millionen Dollar.”

Oh nein.

Auch mir steigen sofort Tränen in die Augen. Ich weiß, dass mein Vater nicht unschuldig ist, dass er einen dummen Fehler begangen hat, aber tut das nicht jeder Mal von uns, wenn wir nur verzweifelt genug sind? Zu wissen, dass er aber jetzt im Gefängnis sitzt. Wir ihn nicht da raus bekommen und er bis zum Prozess schon einsitzt, lässt mich vollkommen erstarren

Ich bin Handlungsunfähig. “Ich werde ihn da rausholen, Mama. Ich verspreche es dir. Ich werde das Geld auftreiben.” Papa, du musst nicht mehr lange warten. Halte durch.

“Ach Mimi …” schluchzt meine Mutter wieder. “Ich wollte es dir erst nicht erzählen, um es dir nicht noch schwerer zu machen, aber ich halte es jetzt schon nicht mehr aus.”

Wie egoistisch von mir zu denken, ich könnte Joe verlassen, um mit Tai zusammen zu sein. Nein, Tai und ich wir werden niemals zusammen sein. Auch wenn es mir das Herz bricht. Auch wenn ich ihn jede Sekunde vermisse, die er nicht an meiner Seite ist, auch wenn die Sehnsucht mich fast umbringt.

Hat Kaori sich damals auch so gefühlt? Oder war es so leicht für sie, alles einfach hinzuschmeißen, Tai auszuradieren und Jim zu heiraten und wenn, kann sie mir verraten, wie sie das gemacht hat?

“Es war gut, dass du es mir gesagt hast.” Es ist genau das, was ich brauche. Ich muss mich daran erinnern, warum ich all das tue, warum ich mein altes Leben aufgebe. Warum ich nicht den Job machen kann, den ich so liebe oder mit dem Mann zusammen sein kann, der mein Leben zum Beben bringt. “Mimi?”

“Ja?”

“Leider kommt da noch mehr. Du musst vorsichtig sein. Die Presse hat sich auf uns gestürzt. Es kann nicht lange dauern, bis es auch in Japan angekommen ist. Es tut mir leid.”

Schock. Lass. Nach. “Mama, ich muss auflegen.” Ich gebe ihr nicht mal die Chance, noch irgendwas zu sagen. Ich muss Joe finden. Ich muss Tai anrufen. Ich muss es ihnen sagen, bevor es die Schlagzeile des Tages tut. Verdammt, Tai hatte von Anfang an recht. Wieso hab ich mich ihm nicht anvertraut? Jetzt wird Joe mich verlassen und ich werde meinen Vater niemals retten können. Oh nein.

 

 

Tai

 

Ich sitze angespannt im Zug und bin auf dem Weg nach Tokyo. Ich bin hier kurz vorm Durchdrehen. Normalerweise hätte ich noch einen weiteren Drehtag gehabt, aber diesen musste ich unverzüglich canceln.

Ein Informant aus den USA rief mich an. Ich habe ihn vor ein paar Wochen schon gesprochen, als ich Nachforschungen über Mimi gemacht habe und die Drogengeschichte rausbekommen hatte. Heute in aller Früh rief er mich an und was er mir erzählt, ließ mich erschaudern. Mimis Vater wurde verhaftet, er hat wohl angeblich Gelder veruntreut. Stimmt das? Wusste Mimi das? Herrgott nochmal, warum hat sie mir das nicht erzählt?

Ich habe schon 20 mal versucht, Joe anzurufen, aber er steckt wohl in einer OP. Ich versuche sogar Jim und Haruiko im Wechsel anzurufen, aber keiner geht ans beschissene Smartphone. Warum auch? Ist ja nur ein verfluchter Notfall. Wie soll ich das große Unheil abwenden, wenn ich hier keinen erreiche? Soll ich eigenmächtig handeln? Jetzt schon eine Stellungnahme raushauen? Mein Smartphone klingelt, endlich. Mimi. Okay. Was sie wohl will?

“Was ist?”, gehe ich kurz und knapp dran. Ich bin immer noch wütend. Wütend über meine Gefühle für sie, wütend über unseren Streit und wütend über alles, was ich heute herausgefunden habe, dass sie sich mir nicht anvertraut hat und ich sie deshalb nicht beschützen kann. “Tai.” Sie weint, sie klingt verzweifelt. “Ich … ich muss dir was sagen …”, beginnt sie zu stammeln.

“Du meinst, dass dein Vater im Knast sitzt? Das weiß ich schon.” Ich kürze das Ganze ab, dafür habe ich nämlich überhaupt keine Zeit. “Du … du weißt es?”

“Ja, seit ein paar Stunden. Deshalb sitze ich auch im Zug. Ich bin in 20 Minuten da. Warum hast du mir das nichts gesagt?” knurre ich ins Telefon. Sie hätte es mir sagen müssen. Ich habe ihr so viele Chancen gegeben.

“Ich ... ich hatte Angst, dass sie mich dann wegschicken. Ich … ich muss ihm doch helfen. Tai, verstehst du es, JETZT?”

Sie weint, sie schreit, sie leidet.

Deshalb das Ganze? Deshalb will sie unbedingt Joe heiraten? Weil ihr Vater ein Krimineller ist?

“Beruhig dich, bitte. Ich bin gleich da und ich hoffe inständig, dass es dann noch nicht zu spät ist.”

“Okay”, schnieft sie. Ich lege auf. Ich scrolle wieder über die Promi Schlagzeilen, es steht noch nichts über Mimis Vater drin. Noch nicht. Wieso kommt es mir vor, als würde ich hier auf einer tickenden Zeitbombe sitzen? Ich könnte versuchen das Interview auf heute legen zu lassen. Es war eigentlich erst in drei Tagen geplant, aber soviel Zeit haben wir nicht und bis dahin hat sich sicher auch Joe zurückgemeldet. Ich suche die Nummer von dem Journalisten heraus und wähle sie gleich. Er stimmt mir zu, dass Interview auf heute vorzulegen. Hoffentlich sind wir noch zeitig genug. Noch 15 Minuten. Verdammt. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

 
 

Mimi

 

Tai ist schon wieder wütend auf mich und ich kann ihn so gut verstehen. Hab ich wirklich geglaubt, ich könnte die Geschichte ewig verbergen? Es ist so dumm und naiv von mir gewesen. Ich laufe auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Wo bleibt Tai nur? Noch immer keine Spur von ihm. Joe hat sich auch noch nicht zurückgemeldet. Ich kann ihm das ja schlecht auf die Mailbox quatschen. Verdammt wenn Tai es schon weiß, dann wissen es vielleicht auch schon andere, die versucht haben an Informationen über mich zu kommen. "Argh", schreie ich nur noch so laut ich kann, aus mir heraus, weil ich mich so über mich selbst aufrege.

Einfach alles droh zu scheitern.

Mein Brustkorb fühlt sich immer enger an. Ich bekomme kaum noch Luft, mein Puls rast. Ich schwitze, mein Mund wird staubtrocken.

Hilfe.

Ich bekomme nicht Mal mit, wie ein Wagen vor mir anhält. Ich muss atmen, aber ich weiß nicht wie. Plötzlich ist es Tai, der mich an den Schultern packt und meinen Namen ruft. Es fühlt sich an, als wäre er viel zu weit weg. Es ist zu spät. “Mimi, atmen”, fordert er auf und sieht mich eindringlich an, aber ich kann nicht. Ich japse nur noch. Mir wird schwindelig und dann ist alles schwarz.

 
 

Tai

 

“Mimi, verdammt.” Ich fange Mimi auf, bevor sie auf den Asphalt aufschlägt. Da wohnen hier 100 Ärzte und keiner ist hier. Ansgar und Frau Kido kommen angelaufen. “Oh Gott, was ist passiert?” schreit Frau Kido panisch.

“Ich glaube, sie hat eine Panikattacke. Sie ist ohnmächtig.” Ich habe keine Ahnung von sowas, aber das würde doch passen, oder? “Leg sie auf den Boden und bringe sie in die stabile Seitenlage. Ansgar sofort den Notarzt absetzen.” Ansgar nickt und wählt bereits den Notruf und ich bin gerade einfach nur froh, dass Frau Kido da ist. Ich kann gerade nicht klar denken. Nicht solange Mimi ohnmächtig ist. “Tai, kannst du ihren Puls überprüfen?”, fragt Frau Kido mich.

“Äh, ja klar.” Ich halte meine Zeige und Mittelfinger an ihrem Handgelenk und versuche mich zu konzentrieren. Verdammt nochmal, ich fühle so gut wie nichts und ihr Brustkorb bewegt sich nicht. Ich halte Mimi fest, sie muss atmen. “Mimi, atme bitte.” Wir bekommen das alles hin, aber bitte atme. Tu mir das nicht an.

“Tai, du musst mit der Herzdruckmassage anfangen.” Verdammter Mist.

“Mimi?”, rufe ich verzweifelt, aber sie antwortet nicht. Ich mache ihren Oberkörper frei, dadurch, dass sie eine Bluse trägt, ist sie schnell aufgerissen. Ich stemme meinen Oberkörper auf und lege eine Hand auf die Mitte ihres Brustkorbes, mit der anderen Hand verschließe ich die andere und drücke ihren Brustkorb runter. 30 mal bleibe ich in dieser Haltung, dann senke ich meinen Kopf. Meine Lippen berühren ihre und ich beatme sie zweimal. Niemals hätte ich gedacht, dass sich unsere Lippen auf diese Art und Weise das erste Mal begegnen würden, aber mit dieser Frau läuft nichts wie üblich.

 

Ich stemme mich wieder auf und beginne von vorn. Ich rufe sie immer wieder, bleibe meinem Tempo dennoch treu. Habe ich da gerade ein knacken gehört? “Tai, soll ich dich ablösen?” Keine Ahnung, wer mich das fragt oder wie lange ich das schon mache, aber ich lass sie nicht los oder das jemand anderes machen.

Auf keinen Fall. Plötzlich kommt ein japsen. Mimi reißt die Augen auf und holt tief Luft. Wir sehen uns an und sie hält sich an mir fest. “Mimi, Gott sei Dank. Du bist wieder da.” Ich helfe ihr vorsichtig, wieder in die sitzende Position zu kommen und halte sie fest.

“Tai?”

Blaulicht, Martinshorn. Der Notruf kommt angefahren. “Tai? Mimi? Was ist passiert?” Ich blicke hoch. Es ist Joe. Ich mache Platz, aber weiche Mimi noch nicht von ihrer Seite. Noch immer pumpt das Adrenalin durch meinen Körper, ähnlich wie bei meinem Job als Stuntman. Sie atmet wieder, meinetwegen. “Sie ist ohnmächtig geworden”, erklärt Frau Kido. “Tai hat sie wiederbelebt, eine Minute lang.” Eine Minute? Wann hat sich das letzte Mal eine Minute wie eine halbe Ewigkeit angefühlt? Sofort öffnet Joe seinen Arztkoffer und holt ein Blutdruckmessgerät heraus. Er liegt die Manschette um ihren Arm und misst ihren Blutdruck. “100/60 mmHg, du meine Güte, was ist hier los?”

“Ich … ich weiß auch nicht. Ich habe plötzlich keine Luft mehr bekommen. Ich … es tut mir leid.”

“Ach Mimi, sowas kann doch mal passieren. Wir müssen dich nur wieder aufpeppeln und beobachten. Am besten untersuchen wir dich morgen näher im Krankenhaus. Nur verstehe ich nicht, warum du einfach umkippst. Ansgar hole mir was zu trinken und am besten auch Traubenzucker.”

“Ja, Sir.” Ansgar läuft los und verschwindet schnell in der Villa. Wusste gar nicht, dass der Typ so schnell rennen kann.

“Nein, es tut mir alles so schrecklich leid”, wimmert Mimi und sieht entschuldigend zu Joe.

"Aber was denn?”

“Vielleicht kann ich das kurz übernehmen”, versuche ich die Oberhand des Gespräches zu übernehmen, denn die Zeit rast immer noch gegen uns.

“Nein, ich muss das selber machen.” Kurz blickt Mimi zu mir, ehe sie sich mit ihrem Oberkörper ganz zu Joe dreht. "Mein Vater ist gestern verhaftet worden. Er sitzt in Untersuchungshaft.”

“Was? Warum das denn?”, fragt er gleich verwirrt nach.

“Weil er Gelder veruntreut hat.”

Stille.

“Mimi, hast du das etwa gewusst?”, ist schließlich Frau Kido, die als erste ihre Stimme wiederfindet. Langsam nickt Mimi und gleich sammeln sich Tränen in ihren Augen. “Ich wollte ihm helfen …”

“Moment mal und deshalb willst du mich heiraten, oder? Um die Schulden deines Vaters zu begleichen?”, fragt Joe diesmal deutlich gereizter nach. Wieder nickt Mimi, doch schafft es nicht mehr, Joe weiter anzusehen. Er steht auf, lässt Mimi los und dreht sich weg. Er zieht seine Brille aus und massiert sich die Schläfe.

“Da ist noch etwas …”

“Was kann denn da jetzt noch kommen?”, fragt Frau Kido in einem sehr schrillen Tonfall und einem sehr wütenden Blick nach. Ich will gerade echt nicht in Mimis Haut stecken.

“Die Presse in New York weiß es. Es gab eine Schlagzeile.” Sofort reißt Joe den Kopf um und sieht extrem verärgert aus.

“Wie bitte? Du … weißt du eigentlich, was du mir, was du unserer Familie damit antust?” Fassungslos blickt Joe drein, doch Mimi hat es scheinbar die Sprache verschlagen. Sie zittert am ganzen Körper. Ich reiche ihr ein Taschentuch, weil die Tränen unkontrolliert über ihr Gesicht wandern, dann richte ich mich auf. “Ich habe das Interview vorverlegt, auf heute. In der Hoffnung, dass wir die Geschichte zuerst aus unserer Sicht erzählen können. Ich habe niemanden von euch erreicht und wusste nicht was ich tun soll”, rechtfertige auch ich mich. Auch wenn ich gar nicht weiß warum.

“Nein, solange können wir nicht warten. Schick jetzt gleich ein Statement raus. Los!”, brüllt Joe mich an, als könnte ich irgendwas dafür. Er hat mich noch nie in meinem gesamten Leben angeschrien. Ich wusste nicht mal, dass er so schreien kann. “Okay." Ich habe das Statement vorhin im Zug schon fertig geschrieben und muss ich es jetzt nur bei Twitter und den anderen Social Media Kanälen hochladen.

“Stop! Wir sind zu spät”, kommt es auf einmal aus dem Mund von Frau Kido und sie dreht ihr Smartphone in unsere Richtung.

 

Ertappt! Ist Mimi, die neue Verlobte von Dr. Joe Kido doch nicht so unschuldig wie angenommen? Der Vater, Keisuke Tachikawa ist gestern in New York verhaftet worden.

 

Man sieht tatsächlich sogar Fotos von Mimis Vater, wie er in Handschellen abgeführt und in einen Streifenwagen verfrachtet wird. Selbst Mimi scheint das Bild zum ersten Mal zu sehen. Tränen rollen über ihre Wange.

"Verdammt. Wir sind zu spät." Joe tritt seinen Arztkoffer um und der gesamte Inhalt verteilt sich über den Fußboden. "Ich muss hier weg." Joe lässt Mimi auf dem Boden zurück und auch Frau Kido folgt ihrem Sohn in die Villa zurück. Währenddessen kommt Ansgar mit dem Wasser zurück und reicht das Glas an Mimi weiter. "Danke", stammelt sie.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich machen soll. Joe hinterher oder hier bei Mimi bleiben? Ich halte ihr meine Hand entgegen, um ihr hochzuhelfen, doch sie bleibt an Ort und Stelle sitzen. "Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch in die Villa rein darf", flüstert sie.

"Ach Mimi, ich habe Joe tatsächlich noch nie so gesehen. Ich werde mit ihm reden, okay? Es wird schon alles." Was soll ich ihr auch sonst sagen? Dass sie hier nicht mehr willkommen sein wird?

 

Ich folge Joe in die Villa und sehe wie Mimi anfängt, den Inhalt des Arztkoffers wieder mit Ansgar aufzuräumen. Ach Mimi.

"Hi Joe, warte mal", rufe ich ihm nach. Er dreht sich zu mir und bleibt stehen. "Was denn, Tai? Was willst du mir jetzt sagen, was mich beruhigen könnte? Wir sind Skandalfrei und DAS ist echt der Gipfel."

"Dennoch müssen wir uns dringend irgendwas überlegen."  

Das Interview? Haruiko? Oh mein Gott, der wird Mimi erwürgen.

"Hast du es gewusst?"

"Nein. Heute morgen hat mich mein Informant angerufen und seitdem versuche ich euch zu erreichen. Ich hab mich sofort auf den Weg nach hier begeben. Keiner ging zuvor ran."

"Na ja, Tai, wir sind Ärzte und sind mit wichtigeren Dingen beschäftigt, als vor unseren Smartphones zu sitzen", giftet Joe weiter und langsam werde ich sauer. Wie redet er eigentlich mit mir? "Du wirst es nicht glauben, aber auch ich habe mein Filmset verlassen, wo ich eigentlich noch einen Tag hätte bleiben müssen, nur um euren Arsch zu retten und vielleicht bin ich kein Arzt, aber das macht euch auch nicht zu besseren Menschen. Also Krieg dich ein."

"Tai, hat recht, er hat auch nur sein Bestes gegeben. Die Schlagzeile ist jetzt da und wir müssen überlegen, wie wir aus dieser Sache möglichst glimpflich davonkommen." Joe nickt und sieht mich wieder ruhiger an. "Es tut mir leid, Tai. Es ist nur … Wieso hat sie nicht mit uns geredet? Wie konnte sie uns das nur antun?"

"Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass es niemals ihre Absicht war irgendeinen von euch zu verletzen. Sie ist einfach nur eine junge Frau, eine Tochter, die Angst hatte, ihren Vater zu verlieren." Mimi wollte einfach nur ihren Vater beschützen und es ehrt sie sehr, dass sie dafür bereit ist, ihre Freiheit zu opfern. Sie will verhindern, dass ihr Vater ins Gefängnis geht, ist aber bereit sofort ihr Leben in einem goldenen Käfig zu verbringen. Soviel Ironie.

Tai, hast du einen Vorschlag?", fragt Joe mich. Er scheint mir also wieder zu vertrauen.

"Wir müssen im Interview gleich Schadensbegrenzung betreiben und vor allem darf Mimi nicht mit ihrem Vater über ein Kamm geschert werden."

"Wie wäre es, wenn Mimi Streit mit ihren Eltern hat und gar keine Ahnung von alldem hatte?", schlägt Frau Kido vor und ich überlege gleich, ob die Rechnung aufgeht, aber wie die Presse bereits geschrieben hatte, sind Mimis Vater und Haruiko alte Freunde. Warum sollte Mimi dann mit ihren Eltern gebrochen haben? Nein, das wäre nur die nächste Negativ Schlagzeile. "Nein, das würde uns keiner abkaufen. " Das wird schwerer als erwartet.

 
 

Mimi

 

Alles ist vorbei. Ich habe es einfach komplett vermasselt. Joe ist schwer enttäuscht von mir. Tai ist sauer. Mein Vater sitzt im Gefängnis und meine Mutter ist auch im Arsch. Na super, besser hätte es doch nicht laufen können. Ich habe es geschafft, einfach jeden zu verletzen, den ich gerne habe. Bravo. Ganz großes Kino, Mimi. Noch immer schmerzt mein Brustkorb und ich bin mir nicht mal sicher, ob Tai mir nicht versehentlich eine Rippe gebrochen hat. Ich kann kaum aufstehen. "Miss Tachikawa, soll ich ihnen etwas zu Essen holen?", fragt Ansgar nach und ich schüttle nur traurig den Kopf. "Nein danke", stammle ich. Der Krankenwagen ist mittlerweile wieder vom Kido Anwesen verschwunden, dafür fahren zwei neue Fahrzeuge auf die Villa zu. Um Gottes Willen, wer ist das? Ansgar eilt herbei und öffnet die Türe. Der Professor steigt aus und ich schlucke einen schweren Kloß im Hals runter. Er sieht mich direkt an.

Kalt. Eiskalt. "Mitkommen!", ordnet er an. Ich unterdrücke den Schmerz und stehe auf. Ich beiße mir auf die Zähne und folge ihm in die Villa. Die Bediensteten öffnen ihm die Türe und verbeugen sich. Auch sie trauen sich kaum, ihn anzusehen. Er geht direkt ins Wohnzimmer, wo auch Tai, Joe und Frau Kido stehen und sich angeregt unterhalten. "Hinsetzen!" Ich setze mich hin. Ich gehorche, ich widerspreche nicht. Wahrscheinlich nie wieder. Ich muss an gestern denken, als ich mit Tai auf dem Dach stand und er zu mir sagte, ich solle springen und dass so mein Leben jetzt aussehen würde. Wie recht er hatte. Wieso hat er nur jedesmal Recht? Und wie soll ich hier je um Verzeihung bitten. Joe? Frau Kido? Sie waren doch immer nur gut zu mir und ich habe ihnen so viel Schande bereitet, dabei wollte ich das doch nie. Gehorchen ist das Einzige, was ich jetzt tun kann, doch dann brüllt Haruiko los und blanke Wut trifft mich.

Kapitel 16

Mimi
 

„Wie konntest du nur?“ Haruiko schreit mich an und ich zucke zusammen. Ich schaue ihn an, völlig erstarrt. Ich fühle mich wie ein Reh, das gerade den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wird. Ich sitze mit zerrissener Bluse vor ihnen und komme mir völlig entblößt vor.

„Ich kann nicht fassen, dass ich diesen Mist aus den Medien erfahren muss“, wütet er weiter und hält anklagend sein Smartphone in die Höhe, ehe er es in die nächste Ecke schleudert. „So ein Dreck!“

Erneut zucke ich zusammen, niemand traut sich etwas zu sagen.

„Hast du davon gewusst?“ Nun richtet sich sein wütender Blick auf Joe, dieser schüttelt nur den Kopf. „Natürlich nicht. Meinst du, ich hätte jemals eingewilligt sie zu heiraten, wenn ich davon etwas gewusst hätte?“

Sie?

Er meint mich.

Und er spricht über mich, als wäre ich gar nicht da. Als wäre ich Abschaum.

„Und du?“ Nun richtet sich seine Wut auch noch gegen Tai und er macht einige bedrohliche Schritte auf ihn zu. Er packt Tai am Kragen, doch dieser rührt sich nicht und weicht keinen Zentimeter zur Seite.

„Wozu bist du nütze, wenn du deinen Job nicht anständig machst? Ich sollte dich auf der Stelle feuern!“

„Vater!“, ruft Joe aufgebracht und versucht, dazwischen zu gehen. „Tai kann nichts dafür. Lass ihn los!“

Haruiko lässt tatsächlich von Tai ab und beginnt stattdessen, wie ein Wahnsinniger im Raum auf und ab zu gehen. Er lockert seine Krawatte und Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Wenn er jetzt auch noch einen Herzinfarkt bekommt, habe ich diese Schuld auch noch auf meinem Gewissen.

Ich wage einen Blick zu Tai, der sich immer noch nicht rührt. Er sieht mich nicht an. Er ist gegen mich. Er muss gegen mich sein. So wie alle anderen. Ich habe alles verraten, alles kaputt gemacht. Diese Lüge hätte es niemals geben dürfen.

Ich fühle mich so schrecklich. Alle bekommen es ab, es ist alles meine Schuld.

„Verdammter Keisuke!“, verflucht Haruiko meinen Vater lauthals und stampft nun wieder auf mich zu. Sein Blick trifft mich so hart, dass ich glaube, gleich wieder in Ohnmacht zu fallen.

„Hat er dich hierher geschickt, um uns in diesen Skandal zu verwickeln?“

„Nein, das war ganz allein meine Idee.“

„Dachtest du ernsthaft, du könntest herkommen, meinen Sohn heiraten und uns mit in den Abgrund reißen?“

„Nein, ich wollte nie …“

Doch er hört nicht auf verbal auf mich einzuprügeln. „Niemals werde ich zulassen, dass mein Sohn eine wie dich heiratet. Keisuke muss den Verstand verloren haben, wenn er glaubt, dass ich mich von ihm hinters Licht führen lasse. Schickt mir seine einzige Tochter und wozu? Damit sie uns in den gesellschaftlichen Ruin stürzen kann.“ Er schreit die Worte heraus, dreht sich um und greift im Affekt nach einer großen Marmorvase. Ich halte die Luft an, als er auch schon ausholt und die Vase durch das nächste Fenster schleudert. Der Knall lässt uns alle erschrocken zusammenfahren, Frau Kido beginnt zu wimmern und hält sich die Ohren zu, während klirrend die Glasscherben zu Boden fallen. Blut rauscht in meinen Ohren und mein Puls rast.

Oh mein Gott. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden so durchdrehen sehen. Er ist völlig außer sich vor Wut.

In dem Moment stürmen Jim und Kaori ins Zimmer, aber ich sehe nur noch rot. Ich kann ihre Gesichter kaum mehr richtig erkennen, weil die Tränen, die mir erneut über die Wange strömen, meinen Blick verschleiern.

„Vater, ist das wahr, was in den Medien steht?“, platzt es aus Jim heraus und ich höre, wie aufgewühlt auch er ist. Ich sehe auf meine zitternden Hände hinab. Wie konnte ich das nur tun?

Joe … Frau Kido … Kaori … sie waren alle so gut zu mir und ich habe ihr Vertrauen missbraucht.

Tai …

Ich hebe den Kopf, sehe ihn an, sehe, wie er mit Jim, Joe und Dr. Kido in eine hitzige Diskussion verfallen ist, während Frau Kido und Kaori hilflos daneben stehen.

„Wir müssen das sofort beenden! Das ist der einzige Weg. Lös die Verlobung mit Mimi sofort auf“, kommt es von Jim.

„Jetzt sofort? Direkt nach der Schlagzeile?“, meint Joe verwirrt.

„Wir sollten vor allem jetzt keine voreiligen, unüberlegten Schritte tun“, fällt Tai ihm ins Wort.

„Von mir aus können sie und ihr verfluchter Vater gemeinsam in den Knast einfahren, ich will sie hier nicht mehr sehen.“

„Aber Vater, du kannst doch nicht …“ Joe.

„Es ist der einzige Weg. Sie muss sofort von hier verschwinden.“ Jim.

„Wir müssen überlegen, was wir tun können, was wir für Optionen haben.“ Tai.

„Es ist eine neue Meldung rausgekommen.“ Frau Kido, die ihr Smartphone in die Höhe hält. „Mimi wird beschuldigt, mit der Geldwäsche ihres Vaters in Verbindung zu stehen. Sie hätte Amerika angeblich nur verlassen, um vor der Polizei und den rechtlichen Konsequenzen zu fliehen. Sie schreiben, sie ist eine Flüchtige. Und wir hätten ihr Unterschlupf gewährt und würden nun eine Kriminelle verstecken.“

Ich sacke in mich zusammen.

Oh. Mein. Gott.

Was …? Wieso tun sie das? Wieso schreiben sie Dinge über mich, an denen nicht ein Funken Wahrheit dran ist? Das darf alles nicht sein, das ist …

„Das ist Rufmord!“, brüllt Haruiko erneut los und ist drauf und dran das nächste Fenster zu zerschlagen. Die Diskussion geht weiter.

Jim, der mich der Polizei ausliefern will.

Joe, der nicht weiß, was er tun soll.

Tai, der versucht mich und diese unheilvolle Situation zu retten.

Dr. Kido, der außer sich ist vor Hass gegen mich und meinen Vater.

Ich kann nicht mehr.

Das Blut in meinen Ohren rauscht inzwischen so heftig, dass ich kein einziges Wort mehr verstehe, was sie sagen. Aber das muss ich auch nicht. Ich weiß auch so, was jetzt noch zu tun ist.
 

Tai
 

Ich kann nicht fassen, dass sie das wirklich verlangen. Was sind das für Menschen? Dr. Kido würde Mimi am liebsten sofort ins Gefängnis bringen und Jim würde sie auf die Straße jagen und sie ihrem Schicksal überlassen. Und Joe? Der tut nichts, um das zu verhindern. Mimi ist seine Verlobte und er verteidigt sie kein Stück. Was ist denn jetzt mit diesem scheiß Ring und der Bindung, die sie damit eingegangen sind?

Alle sind so furchtbar wütend und schreien sich an, keiner kann mehr klar denken.

„Könnten wir jetzt bitte alle mal fünf Gänge zurück schalten und überlegen, was für eure Familie das Beste wäre?“, fahre ich dazwischen.

„In unserer Familie gab es noch nie einen Skandal“, brüllt Haruiko uns alle an. „Und jetzt soll Joe die Tochter eines Kriminellen heiraten? Das wird uns gesellschaftlich ruinieren. Vielleicht hat Jim recht und wir sollten die Verlobung sofort auflösen.“

Die Verlobung lösen?

JA!

Nein!

Verdammt, was will ich eigentlich?

Ich will Mimi beschützen, das ist im

Moment alles, was mich interessieren sollte.

„Wir sollten das kurz überdenken“, sage ich und versuche einen professionellen Ton anzuschlagen, obwohl mir eher danach wäre, hier alles kurz und klein zu schlagen, weil sie Mimi so mies behandeln.

„Ihr könnt ihr nicht einfach den Rücken zuwenden und behaupten, ihr wusstet von alledem nichts.“

„Aber es stimmt doch, wir wussten nichts davon“, fährt Joe aufgeregt dazwischen.

„Und wie würdet ihr dann in der Öffentlichkeit dastehen? Wie die letzten Idioten, weil ihr den Hintergrund ihrer Familie nicht überprüft habt?“

„Keisuke ist ein alter Freund von mir, natürlich habe ich ihm vertraut“, keift mich Haruiko an. „Wer konnte denn ahnen, dass er Gelder veruntreut hat und seine Tochter nun benutzt, um seine Weste reinzuwaschen? Es ging ihm die ganze Zeit nur um unser Vermögen.“

Guten Morgen. Das merkt ihr erst jetzt? Trotzdem, ich glaube nicht, dass Keisuke seine Tochter benutzt hat, viel mehr bin ich der festen Überzeugung, dass Mimi eigenständig gehandelt hat, um ihren Vater zu retten. Doch das weiß nur sie selbst.

Richtig, das ist es! Nur sie selbst weiß es. Was weiß die Presse schon über die Hintergründe? Alles, was sie wissen, ist, dass Keisuke Gelder veruntreut hat und verhaftet wurde – mehr nicht. Alles andere ist reine Spekulation und hat nichts mit der Wahrheit zu tun. Wir müssen ihnen etwas geben, dass sie gefahrlos schlucken können, ohne die Familie Kido gesellschaftlich zu diskreditieren.

„Das ist es! Wir sagen, ihr wusstet über alles Bescheid“, werfe ich ein und ernte dafür fassungslose Blicke.

„Hast du den Verstand verloren, du Bengel?“

„Überlegt doch mal: wollt ihr wirklich, dass alle euch für unfähig halten, den Hintergrund eurer zukünftigen Schwiegertochter zu überprüfen? Sie hat euch hinters Licht geführt und ihr seid darauf reingefallen. Es wäre besser zu behaupten, ihr hättet es gewusst. Ihr wolltet eurem Freund helfen und seid felsenfest von seiner Unschuld überzeugt. Wir sagen, die Familie Tachikawa hat von Anfang an mit offenen Karten gespielt und ihr seid in alles eingeweiht. Lasst es uns so aussehen, als würdet ihr hinter Mimi und ihrer Familie stehen. Glaubt mir, die andere Option wäre, alles abzustreiten und euch wie Idioten da stehen zu lassen.“

Alle senken den Blick und denken angestrengt nach. Innerlich könnte ich explodieren über diesen Schwachsinn, aber es ist die einzige Chance, Mimi zu beschützen und gleichzeitig die Kidos zu retten und ihnen eine reine Weste zu bescheren.

„Es wäre das Beste, wenn die Verlobung bestehen bleibt“, höre ich mich selbst sagen und kann gleichzeitig nicht fassen, dass ich das tue. Dabei wäre es so einfach gewesen. Schon in wenigen Stunden hätte ich eine Pressemitteilung rausgeben können, dass die Verlobung zwischen Mimi und Joe gelöst ist. Sie wäre frei und ich müsste meine Gefühle nicht mehr zurückhalten. Aber zu welchem Preis? Nein, das ist es nicht wert.

Was ich fühle spielt jetzt gerade keine Rolle.

„Das Interview soll heute Nachmittag stattfinden, da könntet ihr alles wieder ins richtige Licht rücken“, sage ich nun an Joe gewandt. „Wir verkaufen es als einen Akt der Großzügigkeit und der Nächstenliebe. Du sagst, Mimi hat sich dir von Anfang an anvertraut und du wolltest ihr unbedingt helfen.“

Genau, das ist der perfekte Plan. Sie müssen einfach zustimmen.

„Hmm, Tai hat vielleicht gar nicht so unrecht. Auch schlechte Presse kann gute Presse sein, wenn man die richtigen Fäden zieht“, stimmt nun auch Jim mir zu. „Wir könnten als Wohltäter dastehen.“

Ich mustere ihn mit einem abfälligen Blick. Du kleine Ratte. Eben wolltest du Mimi noch zum Teufel jagen und jetzt könnte sie euch nützlich sein, um euren Status reinzuwaschen. Ihr seid alle so durchtrieben. Aber egal, Hauptsache Mimi ist damit geholfen.

„Ich weiß nur nicht, ob sie so ein Interview heute noch durchsteht, sie ist vorhin in Ohnmacht gefallen und ich musste sie …“ Ich drehe mich zu ihr um und schaue auf den Platz, auf dem sie eben noch gesessen hat – doch sie ist nicht mehr da.

Panisch sehe ich mich um.

„Verdammt, wo ist sie?“, fährt Dr. Kido sofort herum und rastet erneut aus. „Los, findet sie!“

Ich stürme aus dem Raum. Scheiße! Sie muss verschwunden sein, als wir uns alle angeschrien haben. Wieso habe ich nicht besser auf sie geachtet?

Verflucht, Mimi, wo bist du?
 

Mimi
 

Vor genau einer Stunde habe ich das Anwesen der Kidos verlassen. Meine Sachen habe ich zurückgelassen. Stattdessen habe ich mir nur die zerrissene Bluse ausgezogen und sie gegen ein einfaches Shirt mit Jeans eingetauscht. Dann habe ich noch eine Jacke angezogen, die Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und mir ein Cap aufgesetzt, damit man mich nicht erkennt. Nun irre ich völlig planlos durch die Straßen und gehe in der Menge als irgendeine Person unter, die nicht gerade einen Skandal heraufbeschworen hat. Ich fühle mich so unfassbar schlecht und das nicht nur, weil meine Rippe schmerzt. Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass Tai sie gebrochen hat.

Tai … was wird er nur von mir denken? Dass er von Anfang an recht hatte? Dass ich ein hinterhältiges Miststück bin, das seinen Freund ausnehmen will? Genau so komme ich mir vor, wie der letzte Abschaum.

Aber das ist egal. Es spielt einfach alles keine Rolle mehr. Inzwischen weiß ich wirklich nicht mehr, was ich mir gedacht habe. Irgendwie dachte ich wohl, ich könnte Joe heiraten und bis zur Hochzeit würde schon niemand merken, dass meine Familie vor dem finanziellen Ruin steht und wir dringend Geld brauchen, um meinen Vater frei zu kaufen. Ich war ja so, so naiv.

Tränen laufen mir übers Gesicht, während ich einfach immer weiter gehe, keine Ahnung wo ich jetzt hin soll …
 

Tai
 

Ich reiße die Tür zu ihrem Zimmer auf und stürze förmlich hinein. Ich spare es mir, ihren Namen zu rufen, denn ich gehe nicht davon aus, dass sie noch hier ist. Ich will nur sehen, ob es hier irgendeinen Hinweis darauf geben könnte, wo sie sich aufhält.

Suchend sehe ich mich um, sehe die zerrissene Bluse auf dem Fußboden liegen, die ich ihr vorhin aufgerissen habe. Alle ihre Sachen hat sie hier gelassen. Egal, wo sie jetzt hin ist, es sieht so aus, als würde sie zurückkommen – oder es soll so aussehen! Denn ehrlich gesagt habe ich Angst, sie könnte für immer weg sein. Dieser Gedanke schnürt mir die Kehle zu und die Schuld nagt an mir. Verdammt, ich hätte sie besser beschützen müssen. Ich hätte nicht locker lassen dürfen. Wieso habe ich gestern nicht mehr nachgebohrt? Wir standen zusammen auf diesem verflixten Dach und sie hat mir weis gemacht, dass sie das alles freiwillig tut, dass es keinen Grund dafür gibt. Und ich habe es ihr geglaubt, einfach so. Ich hasse mich dafür. Ich müsste sie inzwischen besser kennen. Eine Frau wie Mimi würde niemals ihre Freiheit aufgeben und sich blindlings in eine arrangierte Ehe stürzen. Ich bin so was von bescheuert!

Ich beiße die Zähne fest aufeinander und will gerade aus dem Zimmer stürmen, als ich ihr Tagebuch auf dem Nachttisch liegen sehe. Selbst das hat sie zurückgelassen, dabei weiß ich ganz genau, wie viel es ihr bedeutet. Ich stürze darauf zu und reiße es an mich, schlage die erste Seite auf und beginne zu lesen. Mir ist egal, ob sie mich dafür hassen wird, aber ich muss es endlich wissen, die ganze Wahrheit – damit ich sie beschützen kann.

Ich beginne zu lesen, schnell, Seite für Seite, Zeile für Zeile. Dort drin steht einfach alles! Sie hat alle ihre Gefühle und Gedanken aufgeschrieben, über ihren Vater, über ihre Familie, über Joe, über die bevorstehende Hochzeit und über …

Über mich.

Sie schreibt, ich bin ein Idiot.

Sie schreibt, sie mag mein Lächeln und meine Stärke.

Sie schreibt, dass sie von mir geträumt hat.

Sie schreibt, dass ich sie mit meiner kühlen Art verletze.

Und dann …
 

Da ist sie

Die Stecknadel

Sie fällt und ich falle mit ihr

Lautlos

Wie ein dünnes Blatt Papier
 

Ich habe darauf gewartet, dass das passiert

Dass mich dein Blick ein mal so fixiert

Zwei Körper

Erstarrt

In Zeit und Raum

Es fühlt sich so an

Als ständen wir immer noch hinter diesem Baum
 

Deine Hände halten mich fest

Ich fühle was du fühlst

Auch wenn du es nicht zulässt

Und erneut die Gefühle

mit einem Glas voller Zweifel runterspülst
 

Könnt ich gut lügen

würd ich sagen:

Du interessierst mich nicht

Und ich erfülle hier nur meine Pflicht

Aber du stellst zu viele Fragen

Zu viele Fragen

Bis meine Lüge

an deinen Lippen zerbricht
 

Es liegen nur noch Sekunden

Zwischen ja und nein

Zwischen: bitte tu es und

Lass es sein!

Zwischen hoffen und flehen

Zwischen Zögern und Verlangen

Zwischen: ich will dich und

Du solltest jetzt gehen
 

Da ist sie

Die Stecknadel

Sie fällt und ich falle mit ihr

Lautlos

Wie ein dünnes Blatt Papier
 

Du tust das Richtige

Lässt mich fallen und gehst

Trotzdem tut es weh,

dass du dich nicht mehr umdrehst

Es ist nichts passiert und doch war’s zu viel

Ich wollt dich nicht lieben

Das war nie das Ziel
 

Der Kuss bleibt ein Traum, nur Fantasie

Und einen Tag später brechen wir Entschuldigungen übers Knie

Du willst das hier alles nicht

Sagst einfach: Los!

Geh!

Und erfüll deine Pflicht!

Wie’s mir dabei geht, ist dir völlig egal

Aber ich tue es

Denn ich hab keine Wahl
 

Du willst es so

Also trete ich zurück

Mit viel Arroganz

Was bleibt ist

unerfüllte Sehnsucht

Und professionelle Distanz
 

Ich fasse es nicht, dass sie ein Gedicht über uns geschrieben hat. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr das gerade mein Herz berührt. Und wie sehr es mir leid tut, dass ich sie so behandelt habe.

Unfassbar wie viel sie über mich geschrieben hat, wie viel ich ihr offenbar bedeute.

Ich halte kurz inne. Ich möchte diese Worte so gerne aus ihrem Mund hören. Aber ich weiß selbst am besten, dass diese Zeilen niemals dieses Buch verlassen werden.

Ich schüttle den Kopf. Egal, das alles ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich Mimi finde und zurückhole.

Ich schlage das Buch zu und eile aus dem Zimmer.

Mimi, ich finde dich! Und wenn es die ganze Nacht dauern wird.
 

Mimi
 

Keine Ahnung wie viele Stunden ich umhergeirrt bin, bis meine Tränen endlich getrocknet sind. Ich weiß, dass es inzwischen dunkel ist und ich weiß, dass ich mich verlaufen habe. Was soll’s. Niemand wird mich vermissen oder nach mir suchen. Wahrscheinlich waren sie alle mehr als erleichtert, als sie festgestellt haben, dass ich weg bin.

Es tut mir leid, Papa. Ich habe versagt. Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfen werde. Und jetzt?

Jetzt sitzt du im Gefängnis und ich kann nichts mehr für dich tun.

Ich habe mich noch nie in meinem Leben so machtlos gefühlt.

Verbissen umklammere ich das Glas Whiskey, was ich mir bestellt habe. Vor zwei Stunden, als es dunkel wurde, bin ich in eine Bar gegangen. Mit tief ins Gesicht gezogenem Cap sitze ich nun hier, keine Ahnung, wo ich bin und keine Ahnung, wo ich hin soll.

Ich habe quasi mit einem Schlag alles verloren, wofür ich die letzten Wochen so hart gekämpft habe. Ich war bereit, alles für meine Familie aufzugeben und jetzt ist alles ruiniert – mein Vater, ich, der Ruf der Kidos … es ist ein Drama.

Ich leere mein Glas in einem Zug und bestelle gleich noch eins. Der starke Alkohol brennt in meiner Kehle, aber wenigstens hält es mich davon ab, durchzudrehen. Eine Panikattacke reicht mir für heute. Meine Hand wandert hoch zu meiner Brust, die immer noch schmerzt, aber ich rede mir ein, dass ich es nicht anders verdient habe. Keine Ahnung, wo ich jetzt wäre, wenn Tai mich nicht wiederbelebt hätte.

Oh, Tai … es tut mir so, so leid, dass ich euch enttäuscht habe. Ich wollte dich nie anlügen.

„Guten Abend“, höre ich plötzlich eine Stimme sagen und eine Person lässt sich auf dem Barhocker neben mir nieder. „Ich nehme dasselbe wie sie.“

Mein Blick wandert zur Seite, während ich überlege, ob ich flüchten oder einfach sitzen bleiben soll.

Es ist Tai und er sieht deutlich angespannt aus.

„War nicht leicht dich zu finden“, sagt er, als der Barkeeper ihm seinen Whiskey hinstellt.

„Woher wusstest du, wo ich bin?“

„Du wurdest erkannt. Glücklicherweise von einem Bediensteten aus dem Kido Anwesen, der dich zufällig hier in der Nähe gesehen hat. Trotzdem musste ich zwölf verschiedene Geschäfte und Bars abklappern, bis ich dich gefunden habe.“ Tai nimmt einen Schluck, sieht jedoch weiter stur geradeaus. Er hat mich noch nicht angesehen.

Ich trinke ebenfalls und verziehe das Gesicht dabei.

„Ich wusste nicht, dass du gerne Whisky trinkst“, sagt Tai beiläufig.

„Tue ich auch nicht. Ich hasse es. Egal … warum bist du hier?“

Tai schwenkt sein Glas in seiner Hand hin und her, als würde er darüber nachdenken.

„Wolltest du abhauen?“, fragt er, anstatt meine Frage zu beantworten.

„Ja“, sage ich wahrheitsgemäß. „Daher hättest du dir die Mühe nicht machen brauchen, nach mir zu suchen.“ Ich beginne an meinem Verlobungsring rum zu spielen und ihn an meinem Finger hin und her zu drehen, bis ich ihn schließlich abnehme und eingehend betrachte. „Da ich ja kein Geld habe, habe ich überlegt, ob ich ihn versetzen soll, um mir von dem Geld ein Flugticket nach New York zu kaufen. Aber dann erschien mir das doch nicht richtig, also …“ Ich lege Tai den Ring vor die Nase. „Gib ihn bitte Joe zurück. Ich habe nicht das Recht ihn zu besitzen.“

Tai starrt den Ring ausdruckslos an, rührt ihn jedoch nicht an.

„Wenn du nicht nach New York kannst, wo willst du dann hin?“, fragt er stattdessen und sieht mich endlich das erste Mal seit dem Vorfall in der Villa an. Wie gerne würde ich mich gerade einfach in seine Arme werfen.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht kannst du mir etwas Geld leihen? Aber du bekommst es nicht zurück, denn ich bin eine Kriminelle.“

Hass und Wut, gepaart mit Verzweiflung steigt meine Kehle hoch und ich spüle die Gefühle schnell mit Alkohol runter. Ich habe keine Kraft mehr, mich ihnen hinzugeben.

So muss sich Aufgeben anfühlen.

„Das ist Bullshit und das weißt du“, entgegnet Tai schnaufend und wendet sich mir nun ganz zu. Dann greift er nach meiner Hand. „So bist du nicht und das weißt du. Lass sie schreiben, was sie wollen, es stimmt nicht. Du hast versucht, deinen Vater zu retten, mehr kann man dir nicht vorwerfen.“

Nun rollt mir doch eine einzelne Träne über die Wange, die ich schnell weg wische. „Ja, aber es reicht, um mich wegzuschicken. Ich habe es nicht verdient, in diese Familie einzuheiraten. Warum sollten sie mir jetzt noch helfen, nachdem ich sie so hintergangen habe?“

„Mimi, hör zu …“

„Nein, Tai“, sage ich und die pure Hilflosigkeit schwingt in meiner Stimme mit. Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so verzweifelt wie jetzt. „Ich habe ihr Vertrauen missbraucht. Sie werden mir nicht vergeben. Es ist, wie wenn man ein Blatt Papier zerknüllt. Man kann versuchen es wieder zu glätten, aber es wird nie wieder so aussehen wie vorher. Für mich gibt es kein Zurück.“

Tai antwortet nicht, während ich nun doch angefangen habe zu weinen, obwohl ich es nicht wollte. Er hält einfach meine Hand. Mit gesenktem Blick starre ich auf unsere Finger, die sich schon wieder so verboten nah sind. Aber nein, so ist es nicht mehr.

„Etwas Gutes hat es doch“, sage ich und lächle schwach. „Ich muss dich nicht mehr belügen. Ich kann dir sagen, was ich fühle.“

„Oh, Mimi.“ Tai drückt meine Hand und führt sie an seine Lippen. Er presst die Augen zusammen, als würde ihm mein Geständnis Schmerzen bereiten.

„Ich wollte es die ganze Zeit nicht wahrhaben, es mir nicht eingestehen. Aber du hattest recht. Da ist etwas zwischen uns. Ich weiß noch nicht genau, was es ist, aber … aber ich fühle was, wenn ich in deiner Nähe bin“, offenbare ich ihm und das erste Mal heute fühle ich mich befreit. Befreit von dieser Schuld und von den Lügen, den Ausreden und Rechtfertigungen. Ich habe keinen Grund mehr irgendetwas zu verdrängen.

„Ich dachte immer, dass ich nicht dazu fähig wäre“, lache ich plötzlich auf. „Und dann platzt du in mein Leben und stellst alles in Frage, wovon ich die ganze Zeit überzeugt war. Ich habe nicht an die Liebe geglaubt und jetzt denke ich, vielleicht ist es ja doch möglich. Vielleicht gibt es so etwas wie Seelenverwandtschaft ja doch.“

Tai öffnet die Augen und sieht mich an. In seinem Blick liegt so viel Wärme. Zuneigung, die ich eindeutig nicht verdient habe.

„Es tut mir leid, dass ich dich die ganze Zeit wegen meiner Familie belogen habe, Tai. Es tut mir leid, dass du so schlecht von mir gedacht hast.“ Ich entziehe ihm meine Hand und stehe auf. Ich lege eine Hand an seine Wange, lege den Kopf schief und schenke ihm ein letztes, aufrichtiges Lächeln. „Und es tut mir leid, dass wir uns nicht unter anderen Umständen begegnet sind. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.“

Ich beuge mich vor und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. „Mach’s gut, Tai. Ich werde dich vermissen.“

Dann verlasse ich die Bar, ohne mich noch mal umzudrehen.

Tai.

 

Ich winke dem Kellner zu und begleiche schnell die Rechnung von Mimi und mir. Da wollte sie doch glatt die Zeche prellen. Ich schnappe mir den Ring und verfolge Mimi.

Ihre Worte lösen so viel in mir aus. Unter anderen Umständen hätte das mit uns was ganz Großes werden können. Aber es war wichtiger, sie zu beschützen, ihr die Chance auf eine Zukunft zu geben. Es scheint wohl mein Schicksal zu sein, immer den falschen Frauen hinterher zu jagen, aber hieran war nichts falsch und auch wenn Mimi nicht die Frau an meiner Seite sein kann, so bin ich doch froh, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Ich werde an ihrer Seite bleiben. Als Freund. Ich werde sie nicht aufgeben. Ich werde sie weiter beschützen. So bin ich eben.

"Tai, bitte, warum läufst du mir noch immer hinterher?"

"Weil alles ein wenig anders gekommen ist als du denkst."

"Das weiß ich doch selbst, deshalb will ich doch gehen. Ich muss es euch allen nicht noch schwerer machen, als es eh schon ist."

"Und wo willst du hin?" Mimi zuckt mit den Schultern, geht aber weiter geradeaus. Sie bleibt weder stehen, noch dreht sie sich um. Warum ist sie eigentlich immer so stur? "Du weißt, dass du mir nicht davon laufen kannst, oder? Glaubst du wirklich, ich suche dich die ganze Nacht, um dich dann einfach ziehen zu lassen?"

Sie bleibt stehen und dreht sich um und beinahe wäre ich in sie reingelaufen. "Tai, bitte." Ich halte Mimi an den Schultern fest und lächle sie so mitfühlend an, wie ich nur kann. "Du hast noch immer ein Zuhause. Die Familie Kido ist nicht gegen dich. Sie werden es im Interview so dastehen lassen, dass sie davon gewusst haben, dass sie euch helfen wollten und dass sie an die Unschuld deines Vaters glauben." Ungläubig sieht Mimi mich an. “Aber wie?”

“Ich konnte sie überzeugen, dich nicht aufzugeben und die Verlobung nicht zu lösen.”

"Warum? Warum hast du das nur getan?", flüstert Mimi und senkt ihren Kopf nach unten. "Weil du das nicht verdient hast. Ich finde es wirklich sehr tapfer und selbstlos von dir, dass du bereit bist, deine Freiheit, dein selbstbestimmtes Leben aufzugeben, um einen Mann zu heiraten, den du nicht kennst oder liebst und das alles nur, um deinen Vater zu retten."

"Das würde doch jede tun."

"Oh, da irrst du dich aber gewaltig."

"Aber Tai, ich kann nicht zurück. Sie hassen mich. Ich habe Angst." Sie hebt ihren Kopf und sieht mir wieder direkt in die Augen. Ihre wunderschönen, goldbraunen Augen, bei deren Anblick mir jedesmal warm ums Herz wird. "Ich kann nicht zurück."

"Du bist nicht allein. Ich werde weiterhin an deiner Seite bleiben. Du musst da nicht alleine durch." Mimi schafft es sogar, dass sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen abzeichnet. "Warum rettest du mich eigentlich immer?"

"Na ja, einer muss den Job halt übernehmen. Es kommt mit auf meinen Lebenslauf: Stuntman, Assistent, Fußballtrainer und persönlicher Lebensretter von Mimi Tachikawa", grinse ich und Mimi schüttelt lächelnd ihren Kopf.

"Du bist echt ein Idiot, Tai." Manchmal bin ich das, aber hierbei ganz sicher nicht.

"Und danke, für deine Worte eben, Mimi. Ich muss sagen, dass du mich kurz echt durcheinander gebracht hast und ja, alles ist ganz schön verkorkst, aber danke dir trotzdem für deine Aufrichtigkeit."

Mimi löst sich aus ihrer Starre und fällt in meine Arme. Ich lege meine Arme schützend um sie und halte sie einfach nur fest. Endlich darf ich sie festhalten. Vielleicht ist es das einzige Mal, dass ich sie so festhalten darf. Nur für diesen einen Moment, wo sie es so sehr braucht, gehalten zu werden, damit sie nicht auseinanderbricht.  "Du bist der einzige Mensch, der mich so gut kennt und so viel über mich weiß, Tai und dabei kennen wir uns erst seit drei Wochen."

Sind es wirklich erst drei Wochen? Seit Mimi in meinem Leben aufgetaucht ist, habe ich jedes Zeitgefühl verloren.

"Das Einzige, was ich dir noch nicht gesagt habe, ist, dass ich einen Sextraum von dir hatte."

Ich reiße die Augen auf, drücke sie von mir weg und grinse so breit, dass ich wohl eine Banane quer essen könnte. "Ach, und wie gut war ich?"

Mimi rollt mit ihren Augen und begreift wohl, was sie gerade gesagt hat.

"Ich hätte den Whisky nicht trinken sollen. Warum sag ich dir so etwas nur?"

"Moment, es ist an dem Tag gewesen, als ich dir das Wasser übers Gesicht geschüttet hatte, oder?"

Mimi läuft rot an, aber nickt schließlich.

"Haha, also ich hoffe ich habe dich wenigstens nicht zu früh geweckt und du hast noch das Finale erreicht." Mimi schweigt und beißt sich auf die Zähne.

"Nein, dazu ist es nicht gekommen. Im übrigen war diese Wasseraktion echt mies, beide Male." Okay, ein bisschen leid tut es mir auch. "Du warst wirklich nicht anders zu wecken, beide Male. Okay, beim zweiten Mal hätte ich mir jetzt gewünscht, ich hätte dich nicht geweckt. Zumindest nicht so früh.

"Oh man, hör bitte auf, mich damit aufzuziehen."

Wie süß, wenn sie mich anfleht. Könnte ich mich glatt dran gewöhnen.

"Für heute, Prinzessin. Für heute."

"Und nur, dass du es weißt: du hast mir eine Rippe gebrochen, aber danke, dass du mein Leben gerettet hast. Mal wieder."

Habe ich das wirklich? Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ich sehe sie entschuldigend an. "Es tut mir leid, Mimi. Hast du Schmerzen? Wir fahren auf jeden Fall gleich ins Krankenhaus.“

"Es muss dir nicht leid tun, wie gesagt, du hast mein Leben gerettet. Ich habe vor ein paar Stunden zwei Schmerztabletten genommen. Seitdem geht es."

"Super, erst Schmerztabletten, dann Alkohol und das nachdem du heute eine Panikattacke hattest und in Ohnmacht gefallen bist. Das ist echt nicht gut, Mimi. Willst du dich umbringen?" Jetzt schimpfe ich doch tatsächlich mit ihr, aber das ist einfach extrem Verantwortungslos.

 
 

Mimi.

 

Bevor ich überhaupt noch etwas erwidern kann, weil ich selber weiß, wie dumm alles ist, weil ich mich und das Leben aufgegeben habe und mir die Konsequenzen egal waren, hält eine Limousine direkt vor uns an.

Joe steigt aus und sieht mich undefinierbar an. "Mimi, wir haben dich überall gesucht.“

Joe, ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. "Ich … es tut mir leid." Ich weiß nicht, wie oft ich das in den letzten 14 Stunden gesagt habe, aber wahrscheinlich hat es schon gar keine Bedeutung mehr.

„Wir fahren jetzt ins Krankenhaus, lassen dich durchchecken und fahren dann zurück und bringen diesen verdammten Tag hinter uns. Wir müssen alle unsere Kräfte sammeln. Mein Vater musste das Interview auf morgen, nein, warte, auf später verschieben. Um halb zehn. Also lege dich bitte schlafen und sei morgen parat."

Ich nicke. Joe ist immer noch sehr distanziert mir gegenüber, aber das kann man ihm wohl nicht übel nehmen. Ich setze mich auf die Rückbank und Tai setzt sich ebenfalls nach hinten. Er setzt sich neben Joe und mir gegenüber. Joe sieht starr aus dem Fenster und scheint meine Anwesenheit kaum zu ertragen. Er will mich wirklich noch heiraten? Er kann mir ja nicht mal in die Augen sehen. "Joe?"

Joe hält seine Hand hoch und ich verstehe, dass ich besser ruhig bin.

"Mimi, ich weiß, dass es dir leid tut, aber es ändert nichts daran, dass du unehrlich warst. Eine Ehe kann nur funktionieren, wenn wir einander vertrauen können und aktuell kann ich das nicht. Es wird Zeit brauchen, bis ich das wieder kann, aber ich bemühe mich, einverstanden?" Ob ich einverstanden bin? Ich bin doch die hinterhältige Ziege, die alles vermasselt hat. Ich nicke und reiße meine Augen auf. Ich habe den Ring nicht mehr. Wie soll ich ihm das jetzt erklären? Sofort schaue ich zu Tai und zeige unauffällig auf meine Hand. Tai öffnet seine Sakkotasche und deutet damit an, dass sich der Verlobungsring darin befindet. Ich atme erleichtert aus und lehne mich zurück. Schon wieder hat Tai mich gerettet.

 

Ich habe mir den Wecker auf sieben Uhr morgens gestellt. Ich bin jedoch erst gegen halb drei in meinem Zimmer gewesen. Es hat ewig gedauert, bis die Untersuchungen im Krankenhaus durch waren und noch mal ewig, bis ich überhaupt einschlafen konnte. Zum Glück geht es mir zumindest körperlich wieder gut, außer, dass eine meiner Rippen gebrochen ist, was ich ja schon vermutet hatte.

Nach gestern Abend habe ich nicht erwartet, dieses Zimmer noch einmal zu sehen und jetzt bin ich wieder hier. Mein Tagebuch liegt noch immer auf meinem Bett, da lag es vorher aber nicht. Irgendwer hatte es also in der Hand und wahrscheinlich darin gelesen? Tai?

Nachdem ich gerade eben bestimmt eine halbe Stunde unter der Dusche stand, ziehe ich mich fertig an. Eine weiße Jeanshose, ein beigefarbenes T-Shirt und ein beiger Blazer darüber. Meine Haare habe ich geglättet und ein leichtes Tages Make-up aufgelegt. Der Look gefällt mir wirklich gut, aber ob ich heute überhaupt mit irgendetwas punkten kann, wage ich zu bezweifeln.

Dieses Interview macht mich unendlich nervös. Das Aufeinandertreffen mit der Familie Kido macht mich nervös. Einfach alles macht mich nervös. Welche Fragen werden sie mir stellen und sind sie für oder gegen mich? Hoffentlich ist Tai gleich dabei, sonst werde ich das nicht schaffen. Ich brauche wenigstens einen Menschen an meiner Seite, der mich irgendwie mag.

Es klopft an der Tür und ich halte vor Schreck die Luft an. "Ja, bitte?"

Joe steht hinter der Tür. Ich bin tatsächlich überrascht ihn hier zu sehen, denn er ist bisher noch nie in meinem Zimmer gewesen. Nur Tai.

"Darf ich reinkommen?"

"Selbstverständlich."

"Ich muss dir noch ein paar Dinge erzählen, ehe gleich das Interview losgeht.

Meine Eltern werden dabei sein. Du sollst nur antworten, wenn mein Vater es dir erlaubt und auf ein paar Fragen, die vielleicht kommen könnten, solltest du das sagen." Joe reicht mir einen Zettel und ich falte ihn auseinander.

"Lerne die Sätze jetzt noch auswendig und lass es natürlich klingen. Bekommst du das hin?" Ich nicke.

"Hab ich mir gedacht … Gut, dann nutze die verbleibenden zehn Minuten, um zu lernen und sei pünktlich um zwanzig nach neun im Foyer."

"Alles klar, sonst noch etwas?"

"Ja, versuche uns nicht wieder zu blamieren." Mit diesen Worten dreht Joe sich um und lässt mich alleine zurück. Oh man, er ist noch so unglaublich sauer auf mich. Wie soll ich dieses Interview nur überstehen?

 

Es ist Viertel nach neun. Ich habe die Sätze, die zum Teil wirklich affig sind, so gut wie ich kann, auswendig gelernt und hoffe, dass ich das hinbekomme. Ich darf mir absolut keine Fehler mehr erlauben. Wahrscheinlich nie wieder. Ich gehe schon nach unten, denn zu spät kommen, geht gar nicht. Ich sehe bereits Tai im Foyer stehen. Es tut so unendlich gut, ihn zu sehen. Er dreht sich zu mir um und lächelt mich an. "Alles okay? Konntest du ein bisschen schlafen?", erkundigt er sich gleich und ich nicke zaghaft.

"Ich hoffe, du auch."

Plötzlich geht eine Tür auf und Haruiko steht vor mir. Sofort stelle ich mich gerade hin, meine Rippe schmerzt dadurch wieder etwas mehr, aber das darf ich mir nicht anmerken lassen. "Mitkommen."

Wird er je wieder mehr als ein Wort an mich richten? Ich komme mir jetzt schon vor wie ein Hund, den man versucht, zu erziehen. Ich folge ihm und Tai nach draußen. Klar, das Wohnzimmer kommt nicht in Frage, die Fensterscheibe ist sicher immer noch kaputt. "Hinsetzen." Haruiko deutet auf den Platz neben Joe. "Joe, wenn gleich der Journalist kommt, hältst du Mimis Hand. Ich möchte auf jeden Fall, dass du die Geschichte erzählst, wie du Mimi den Ring geschenkt hast."

"Okay." Ich blinzle auf den Ring. Gestern Abend hat Tai ihn mir noch zurückgegeben, kurz bevor er selber nach Hause gefahren ist. Es kommt mir immer noch so falsch vor, ihn zu tragen. Noch ist es mehr ein Fremdkörper. Ein verflucht wertvoller Fremdkörper. Zu dem Ring und der Verlobung gibt es auch einstudierte Sätze, die ich mir als erstes merken konnte. Ansgar teilt uns mit, dass der Journalist jetzt da ist. Ich bin so nervös und muss mich so unendlich konzentrieren, um nicht wieder in Ohnmacht zu fallen. All das hier macht mich noch krank.

Joe hält meine Hand und obwohl ich weiß, dass er es machen muss, bin ich gerade froh, dass jemand meine Hand hält, auch wenn es nicht die warme, raue Hand ist, die ich mir jetzt lieber wünschen würde. Ich schiele kurz zu Tai rüber, der mit einem Kopfnicken versucht mir Mut zuzusprechen.

"Mr. Takahashi, wie schön, dass sie es so kurzfristig einrichten konnten."

"Ja, wieso hat es denn gestern nicht mehr geklappt?", fragt er gleich nach.

"Unsere liebreizende Schwiegertochter ist gestern in Ohnmacht gefallen."

"In Ohnmacht? Geht es Ihnen gut?", richtet Herr Takahashi die Frage direkt an mich.

"Es geht ihr besser, vielen Dank der Nachfrage. Uns war das Wohlergehen unserer Schwiegertochter wichtiger. Gestern gab es so viele gemeine Schlagzeilen, das musste sie, aber auch wir alle, erst einmal verarbeiten. Gemeinsam als Familie."

Okay, ich darf also absolut nichts sagen. Ist vielleicht auch besser so. So eine Scharade kann ich mir nicht mal ausdenken.

"Apropo Schlagzeile, Keisuke Tachikawa sitzt in Untersuchungshaft, wussten Sie von den Anschuldigungen gegen Mimis Vater und stimmt es, dass Fräulein Tachikawa mit ihrem Vater gemeinsame Sache gemacht hat?"

So ein Blödsinn. Am liebsten würde ich ihn anschreien, aber ich lächle die ganze Zeit, als hätte ich keine einzige Gehirnzelle mehr. Haruiko schüttelt lachend seinen Kopf. "Selbstverständlich wussten wir von dieser Sache. Keisuke ist ein alter Freund von mir und wir wussten, dass diese Geschichte hier logischerweise viel Aufsehen erregen würde, aber unsere beiden Kinder haben sich so unendlich ineinander verliebt, da konnte ich, als heimlicher Romantiker, nicht anders als der Verlobung trotz allem zuzustimmen."

"Aber es heißt doch, dass die Verlobung arrangiert worden ist."

"Das ist auch richtig. Keisuke und ich haben miteinander gesprochen und dann haben sich unsere Kinder kennengelernt und es traf sie wie der Blitz und obwohl ich am Anfang wegen der Sache mit Keisuke skeptisch war, so haben uns unsere Kinder vom Gegenteil überzeugt. Es ist Liebe und selbstverständlich stehen wir auch hinter Keisuke, denn in einer Familie steht man in Guten, wie in schlechten Zeiten zusammen."

Wow.

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Er hätte mich am liebsten eben noch verprügelt und jetzt bin ich die Schwiegertochter schlechthin. Respekt, für dieses Schauspiel.

„Joe, wie war es, als sie Mimi das erste Mal getroffen haben?"

Joe sieht zu mir und lächelt mich an. Er hebt meine Hand und küsst den Verlobungsring. "Sie hat mich direkt umgehauen. Ihr Lächeln, ihre Augen, vor allem aber ihr gutes Herz."

"Und Mimi, was hat Ihnen an Joe gefallen?" Stichwort. Da kommt die Liste zum Einsatz. "Er ist so liebevoll gewesen und hat mich ständig zum Lachen gebracht." Was für eine Maskerade. Joe hat mich noch nie zum Lachen gebracht, aber egal. "Außerdem respektiert er mich und nimmt mich so wie ich bin."

Wow. Ich wiederhole mich zwar, aber mir fällt nichts mehr ein, was man dazu sagen kann. "Wie schön, dass Sie sich ineinander verliebt haben. Haben Sie Mimi dann gleich den Verlobungsring geschenkt?"

"Das kam später. Ich wollte unbedingt den perfekten, romantischen Moment abwarten." Ah ja, das tolle Golfspiel, das mit einer Partie Schach beendet wurde. Aber nein, denk an die Liste, Mimi. "Ja und wie perfekt er war. Es war wie in einem Disney Film. Eine Kutschfahrt durch den Park, am See haben ein paar Geigenspieler gespielt und unter der Brücke waren überall Lichter, Lampions und hunderte von Kerzen aufgebaut. Es war so ein wunderschönes Farbenspiel. So ein warmes Licht und als er dann auf die Knie ging, schrie ich aus vollem Herzen ja."

"Wow, das klingt ja wirklich sehr romantisch. Es ist schön zu wissen, dass sie hier so gut aufgehoben sind. Es ist sicher schwer für sie mit all dem fertig zu werden. Was sagen Sie zu den Anschuldigungen bezüglich ihres Vaters?"

Ich weiß nicht, ob oder was ich sagen soll. Ich sehe zu Haruiko rüber, darf ich was sagen. Stand etwas auf der Liste? Verdammt, ich weiß es nicht mehr. "Es ist …"

"Es ist natürlich schwer für sie, aber seit wir Mimi erzählt haben, dass wir selbstverständlich sofort die Kaution bezahlen, um Keisuke aus der Untersuchungshaft zu bekommen, geht es ihr deutlich besser." Kaution bezahlt? Haben sie das etwa wirklich gemacht?

“Also haben sie die Kaution vorerst bezahlt, um Keisuke aus der Untersuchungshaft zu holen?”

"Ja, wir glauben an die Unschuld von Keisuke. Er ist ein guter Mann und hat uns seine wundervolle Tochter geschickt. Sie ist ein Geschenk des Himmels." Wohl eher aus der Hölle. War ich nicht gestern noch der Teufel? Moment, haben die Kidos meinen Vater wirklich aus dem Gefängnis geholt? Ich muss das wissen.

"Es ist wirklich wundervoll zu sehen, wie gut sie sich verstehen und wie wundervoll sie einander unterstützen. Gibt es denn schon einen Termin für die Hochzeit?"

Joe nickt eifrig, als wäre er deswegen vollkommen aus dem Häuschen. Ich muss sagen, ich lerne heute eine ganz neue Seite an ihm kennen und hätte nicht gedacht, dass er auch so seine Fehler hat. "Erstmal feiern wir in drei Wochen unsere offizielle Verlobungsfeier und am 20. September soll unsere Hochzeit stattfinden." Was? Am 20. September? Das habe ich bisher noch gar nicht gewusst. Werde ich denn gar nicht mehr für irgendwas gefragt? Sofort geht mein Blick zu Tai, der genauso irritiert aussieht wie ich. Nein, er hat es auch nicht gewusst.

"Und wo wird die Hochzeit stattfinden?"

Joe grinst, aber hält seinen Zeigefinger an seinen Mund.

"Das verraten wir nicht, um einen unnötigen Presserummel vorzubeugen."

"Ah okay, aber sicher werden viele versuchen den Ort der Location herauszufinden. Mimi, ist es denn so, wie sie es sich vorgestellt haben?"

"Ähm …" Haben sie meinen Vater wirklich aus der Untersuchungshaft befreit? Warum sollten sie das tun? Eine halbe Millionen Dollar, dass ist so viel Geld. "Ja, ich konnte alle meine Mädchen Träume ausleben. Es wird ein wunderschönes Fest." Das stand nicht auf der Liste, aber ich schätze, so eine Antwort werden sie wohl von mir erwarten. "Ich glaube, ich spreche im Namen von allen Japanern, wenn ich sage, dass wir uns alle sehr auf diesen Tag freuen."

"Nicht so sehr wie wir", erwidert der Professor großspurig.

 

Das Interview ist beendet. Herr Takahashi verabschiedet sich mit einer tiefen Verbeugung bei Haruiko und bei Joe selbst. Ich habe zwar keine Ahnung von so etwas, würde aber behaupten, dass es ganz gut gelaufen ist. Sobald der Journalist aus dem Blickwinkel ist, lässt Joe meine Hand los. "Ich würde sagen, es ist gut gelaufen, oder Papa?"

Haruiko dreht sich um und sieht emotionslos aus. "Wollen wir es hoffen." Nun sieht er mich an und sofort läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Er ist wirklich gruselig.

"Du wirst ab jetzt streng überwacht. Du bekommst Ausgangssperren und in dein Smartphone werde ich GPS hinzufügen, damit ich immer weiß, wo du dich rumtreibst und wenn du die Villa verlässt, dann nur mit einem unserer Angestellten." Ist das sein Ernst? Ich werde hier behandelt, wie eine schwere Kriminelle. Absolute Kontrolle bestimmt jetzt mein Leben. "Haben Sie meinen Vater wirklich aus der Untersuchungshaft geholt?"

"Ist das das Einzige, was dich interessiert?" Ehrlich gesagt, ja, immerhin mache ich das alles doch nur seinetwegen und nicht, weil ich mich gerne wie Dreck behandeln lasse. "Habe ich. Nicht um dir einen Gefallen zu tun, sondern weil es hier als gute Tat angesehen wird. Wir können ihn ja schlecht da drin versauern lassen und so stehst du zudem tief in unserer Schuld, nicht wahr?" Ich nicke, denn leider hat er damit Recht. "Dann wäre das geklärt. Ich muss ins Krankenhaus." Während Haruiko und seine Frau bereits verschwinden, bleiben Joe, Tai und ich zurück. "Du hast dich gut geschlagen heute und diese strengen Maßnahmen werden nicht ewig gelten, okay?“, sagt Joe.

"Das ist mehr als übertrieben, Joe. Ihr behandelt sie damit wie eine Haussklavin", springt Tai für mich gleich wieder in den Ring.

"Es ist doch nicht für ewig. Nur, bis wir Mimi wieder vertrauen können und wir sicher sind, dass sich so ein Skandal nicht wiederholt."

"Ich kann verstehen, warum ihr so handelt …" Wirklich, auch wenn es unmenschlich ist und ich so etwas niemals erwartet habe.

"Ich muss jetzt ebenfalls ins Krankenhaus. Es wird zudem sehr spät werden. Ab morgen möchte ich trotzdem wieder, dass wir gemeinsam frühstücken."

"Ja, das können wir machen." Vielleicht wird es irgendwann auch wieder unbeschwerter zwischen uns.

Joe verschwindet und ich sehe sofort zu Tai. "Ich bin sowas von am Arsch."

"Ja, ich bin ehrlich gesagt entsetzt über diese Oscarreife Vorstellung und über die Kontrolle über dich. Vielleicht hätte ich diesen Vorschlag doch niemals machen sollen …" Tai sieht geknickt nach unten und scheint sich deshalb schlecht zu fühlen.

"Doch Tai, denn du hast diesmal nicht nur mich gerettet, sondern unbewusst auch meinen Vater und das war doch von Anfang an das Ziel. Ich habe nun mal Mist gebaut und mit den Konsequenzen muss ich jetzt leben."

"So etwas hast du nicht verdient, Mimi."

"Du hast doch gehört, es ist nicht für immer. Vielleicht nur bis zur Hochzeit, wenn endgültig mein altes Leben vorbei ist."

"Einfacher wird es dann aber auch nicht."

"Was ist schon einfach? Also, was steht heute auf dem Trainingsplan?"

Tai grinst. "Ehrlich gesagt, außer das Interview, nichts. Oh, aber du hast ja gehört, mit einem Angestellten darfst du die Villa verlassen."

"Ja, aber ich kann doch nicht …"

"Wir lassen dein Smartphone hier und gehen ins Kino und vielleicht bringe ich dich danach wieder zurück, vielleicht aber auch nicht." Sofort muss ich Lachen, so etwas schafft wirklich nur Tai. "Ich würde es trotzdem gerne mit Frau Kido absprechen. Sonst werde ich das Vertrauen nie wieder gewinnen.

"Gut, dann sag aber nichts von Kino, sondern dass wir noch etwas für's Krankenhausfest besorgen wollen."

"Oh, ich könnte wirklich noch etwas gebrauchen und zwar sämtliche Backzutaten."

"Na dann, los." Ich habe mir tatsächlich die Erlaubnis bei Frau Kido eingeholt und freue mich den Tag heute mit Tai zu verbringen. Irgendwie werde ich das alles hier schon überleben. Solange zumindest Tai noch an meiner Seite ist.

Mimi
 

Die letzten drei Tage waren halbwegs erträglich, was größtenteils an Tai lag. Er hat sich alle Mühe gegeben, mich in meinem goldenen Käfig bei Laune zu halten. Sonst redet ja hier keiner mit mir. Frau Kido ist immer noch nett zu mir, spricht aber nur das Nötigste. Außerdem sehe ich sie am Tage kaum, wie den Rest der Familie. Joe sehe ich nur beim Frühstück und Abendessen und selbst das scheint ihm zu viel zu sein. Er verhält sich mir gegenüber sehr distanziert und ich weiß nicht, was ich noch tun soll, damit er mir vergibt. Der Einzige, der in diesem Hause nett zu mir ist, ist Ansgar. Aber hey, ist ja immerhin auch sein Job.

Der alte Kido beruft jeden Tag aufs Neue eine Familien-Konferenz ein – oder wie ich es nenne: die Mimi-Tachikawa-Krisen-Sitzung. Tai muss dann immer mit anwesend sein und wir sprechen über die neusten Schlagzeilen. Die Medien haben das Interview geschluckt – wie auch nicht, das war schließlich Oscarreif – aber die Gerüchte hören trotzdem nicht auf. Jeden Tag kommt eine neue Schlagzeile, auf die wir angemessen reagieren müssen. Dafür ist dann Tai zuständig. Er berät uns und Dr. Kido nickt ab oder nicht. Ich habe dabei nicht viel zu melden. Wozu auch? Geht ja nur die ganze Zeit um mich.

Immerhin haben sie ihr Wort gehalten und meinen Vater gegen Kaution aus dem Gefängnis geholt. Ich habe sogar schon mit meinem Vater telefoniert und es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Auch er hat inzwischen ein schlechtes Gewissen und wollte mit Joes Vater darüber sprechen. Aber dieser ist zu stur und will kein Wort mit Keisuke wechseln. Ich bin sicher, er verabscheut uns.

Keine Ahnung, wie ich das je wieder gut machen soll, aber ich gebe nicht auf. Wenn die Schulden meines Vaters bis zum Prozess nicht beglichen sind, erwartet ihn schlimmeres als eine Untersuchungshaft.

Momentan bin ich einfach nur froh, wenn wir alle mit einem blauen Auge davon kommen. Noch schöner wäre es, wenn mein Verlobter mal wieder mit mir reden würde, aber da kann ich wohl lange warten.

Heute ist erst mal Backen angesagt. Morgen startet das große Fest im Krankenhaus und ich bin schon ganz aufgeregt deswegen. Das ist meine Chance, es wieder gut zu machen, zumindest ein bisschen.

Ich bin gerade fleißig dabei, den Teig für die Einhorntorte anzurühren, als Tai schwer bepackt in die Küche stolpert.

„Hey, da bist du ja endlich“, sage ich. Tai knallt die Einkäufe auf einen Tisch und beginnt zu schnaufen.

„Man, war das anstrengend. Brauchst du wirklich so viele Sachen?“

Ich schmunzle ein wenig. „Wie kann es sein, dass du von Häusern springst und nach einem kleinen Einkauf derart aus der Puste bist?“

„Ich hasse einkaufen. Ich mache das hier nur für dich.“

Ich schenke ihm einen vielsagenden Blick, woraufhin Tai sich gleich korrigiert. „Und weil es mein Job ist, natürlich.“

„Ja, natürlich“, grinse ich, stelle die Schüssel ab und werfe einen Blick in die Tüten.

„Hast du an den Glitzer gedacht?“

„Welchen Glitzer?“

„Tai!“, fahre ich ihn fassungslos an, woraufhin er sofort anfängt zu grinsen.

„Klar hab ich an den verdammten Glitzer gedacht.“

„Gut“, entgegne ich und widme mich wieder meinem Teig. „Keine Party ohne Glitzer!“

„Jaah“, meint Tai jedoch nur und sieht mich an, als wäre ich von einem anderen Stern. „Also dann, viel Erfolg noch bei deinen Torten und dem ganzen Kram, ich werd dann mal …“

„Halt!“, rufe ich, als er gerade einen Fuß zur Tür raussetzen will. „Wo willst du hin?“

„Ich will, äh … ich muss dringend noch was erledigen.“

Ich strecke den Arm aus und zeige anklagend mit dem Rührlöffel auf ihn.

„Du willst dich doch nicht etwa drücken, Taichi Yagami?“

„Drücken? Ich? Wovor?“ Er tut ganz unschuldig. Kann er gut.

„Vorm Backen natürlich.“

„Okay“, sagt Tai nun ergeben und kratzt sich am Hinterkopf. „Ernsthaft, Mimi. Backen und ich, das ist wie Butter und Schokolade. Das passt einfach nicht zusammen.“

„Butter und Schokolade passen ganz hervorragend zusammen.“ Ich stemme die Hände in die Hüften. „Du kannst mich doch jetzt hier nicht hängen lassen. Ich schaffe das nicht, ohne eine helfende Hand.“

„Es sind jede Menge Bedienstete im Haus.“

Dieser kleine … er will sich unbedingt aus dem Staub machen.

Also bleibt mir nur noch eins: nörgeln.

„Tai-ai-ai“, wimmere ich und verziehe das Gesicht. „Du wolltest ab jetzt nett sein, schon vergessen?“

„Glaub mir, Prinzessin“, lacht Tai jedoch nur. „Ich tue dir hiermit einen Gefallen. Außerdem sind die Kinder im Krankenhaus schon krank, die brauchen nicht noch eine Magenverstimmung, weil sie meinen giftigen Kuchen gegessen haben.“

Ich ziehe einen Schmollmund und fange an, ganz melodramatisch den Teig weiter zu rühren. „Na, schön. Ich kann dich ja nicht zwingen“, schniefe ich.

Als ich das sage, stöhnt Tai auf und kommt endlich zu mir rüber.

„Na gut, ich helfe dir. Was man nicht alles tut … Du bist echt nervig, ich hoffe, das weißt du.“

Meine Antwort ist ein breites, zufriedenes Grinsen.

„Du hast was gut bei mir“, sage ich und schiebe ihm auch gleich ein paar Backzutaten rüber. Er kann ja schon mal die Sahne steif schlagen.

„Ich komme drauf zurück“, beginnt nun auch Tai zu lachen und am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen, weil ich ihm so dankbar bin. Nicht nur, weil er mir gerade hilft, sondern weil er die letzten Tage wirklich für mich da war.

„Mir gefällt dein Lachen“, rutscht es mir ganz verträumt raus, während ich in den Teig starre.

Tai sieht zu mir rüber und erst jetzt fällt mir auf, dass das vielleicht etwas unpassend war. Wir wollten das ja nicht mehr tun – uns anziehend finden. Auch, wenn ich noch keine Ahnung habe, wie das gehen soll. Aber jetzt, wo ich wieder, oder immer noch, mit Joe verlobt bin, sind solche Gefühle absolut tabu!

Genau in dem Moment, wo ich an ihn denke, steckt mein Verlobter seinen Kopf zur Tür rein.

„Ansgar, bist du hier? Oh …“, macht er, als er uns erblickt. „Ihr seid das.“

„Ja“, sage ich und schaue zu Tai rüber. Stehen wir uns auch nicht zu nah? Nicht, dass Joe noch auf komische Gedanken kommt. „Tai hilft mir beim Backen. Du weißt schon, für das Fest morgen.“

Rechtfertige ich mich gerade vor ihm, damit er auch ja nichts Falsches denkt? Aber anscheinend tut er das ohnehin nicht, denn er zuckt nicht mal mit der Wimper.

„Okay, dann viel Erfolg“, sagt er völlig unterkühlt und verlässt sofort wieder den Raum, als würde er es keine Sekunde länger in meiner Nähe aushalten.

Betrübt senke ich den Kopf. „Er hasst mich.“

„Er hasst dich nicht“, sagt Tai mit ruhiger Stimme. „Er ist nur verletzt, das ist alles.“

„Meinst du, er kann mir irgendwann verzeihen?“ Ich wüsste nicht mal, ob ich es könnte, wenn ich an seiner Stelle wäre.

„Ich denke schon, ja“, antwortet Tai, während wir beide mit unserer Arbeit weiter machen. „Joe ist kein schlechter Kerl, ich denke, das hast du auch schon gemerkt. Von allen Kidos ist er definitiv der Netteste. Aber auch er ist nicht ohne Fehler, auch wenn er noch so ein großartiger Arzt ist. Er ist auch nur ein Mensch und du hast ihn hintergangen. Gib ihm einfach etwas Zeit.“

Gedankenversunken nicke ich. Vielleicht kann ich ihn ja morgen auf dem Fest davon überzeugen, dass ich es ernst meine und dass mir das hier immer noch wichtig ist.
 

Tai hat nicht untertrieben, als er sagte, er und das Backen passen nicht zusammen. Ehrlich gesagt wäre ich fünf mal schneller gewesen, wenn ich ihn weggeschickt und es doch alleine gemacht hätte. Aber ich muss gestehen, ich genieße gerade einfach seine Nähe. Nicht nur, weil ich ihn inzwischen ganz gern um mich habe – wer hätte das gedacht? – sondern auch, weil ich mich dank ihm nicht komplett mutterseelenallein in diesem Land und in dieser Villa fühle.

„Stimmt es, dass die Kidos die Kaution von deinem Vater übernommen haben?“, erkundigt er sich, während wir gemeinsam die Einhorntorte verzieren, immerhin macht er sich dabei ganz gut. Ich nicke. „Ja, das haben sie tatsächlich. Ich freue mich, dass mein Vater vorerst frei ist, aber ich habe auch ein schlechtes Gewissen deswegen.“

„Ja?“, hakt Tai stutzig nach. „Aber bist du nicht genau dafür hergekommen?“

Ich zische verächtlich. „Du meinst, wegen Geld?“

Tai zuckt mit den Schultern, während ich dabei bin, rosa Perlen auf der Torte zu verteilen.

„Ja, das stimmt, muss ich zu meiner Schande gestehen. Aber was ich dir erzählt habe, war trotzdem nicht nur gelogen. Ich glaube wirklich nicht an die Liebe und eine arrangierte Ehe war nicht die schlechteste Option, auch wenn die Idee daher rührte, dass ich meinen Vater retten wollte.“ Trotzdem hätte ich ein deutlich weniger schlechtes Gewissen, wenn diese ganze Sache mit Joe nicht komplett geschauspielert wäre. Wenn wir wenigstens ansatzweise etwas füreinander empfinden würden. Ja, dann würde es mir deutlich besser gehen. Aber so komme ich mir wirklich vor wie eine Betrügerin.

Plötzlich klingelt der Timer auf meinem Handy und ich fahre hoch. „Oh, der nächste Kuchen ist fertig.“

„Ich mach das schon“, sagt Tai und geht zum Backofen, um den fertigen Kuchen rauszuholen. Dann schreit er mit einem Mal alles zusammen und ich höre, wie ein Blech scheppernd auf den Boden knallt. Erschrocken drehe ich mich um.

„Was ist passiert?“, frage ich, während Tai bereits zum Waschbecken rennt.

„Nichts, ich hab mich nur etwas verbrannt.“

Nur etwas verbrannt? Sein schmerzverzerrtes Gesicht sagt mir da aber etwas ganz anderes. Schnell laufe ich zu ihm rüber.

„Zeig mal her!“ Er hält seine Hand unter den Wasserstrahl, aber ich sehe bereits, dass seine Handfläche rot schimmert. „Oh Tai, das sieht übel aus.“

„Halb so wild.“

Will er mich auf den Arm nehmen?

„Du musst hier nicht den starken Mann spielen“, sage ich und eile los, um einen Erste Hilfe Kasten zu holen.

Als ich zurückkomme, hat Tai sich bereits ein Geschirrtuch um seine Hand gewickelt.

„Ehrlich Mimi, es geht schon“, winkt er nur ab, als ich das Verbandsmaterial vor uns auf der Arbeitsplatte ausbreite.

„Red keinen Blödsinn und zeig her“, fordere ich jedoch und reiße förmlich seine Hand an mich. Ich wickle das Tuch ab und sehe mir seine Handfläche an.

„Autsch“, entfährt es mir und selbst ich muss die Zähne zusammenbeißen. Weiß doch jeder, wie weh das tut.

„Ich sag doch, es ist halb so wild. Ich bin Stuntman, schon vergessen? Ich hatte schon weitaus schlimmere Verletzungen.“

„Ich sagte doch, du musst nicht den Starken spielen. Warum greifst du auch einfach ohne Handschuhe an das Backblech? Jetzt lass es doch bitte einfach zu, dass ausnahmsweise mal ich dich rette.“ Sonst ist es ja immer umgekehrt.

Ich öffne eine Salbe und beginne sie vorsichtig auf der verbrannten Stelle zu verteilen. Jetzt verzieht Tai doch die Mundwinkel und kneift die Augen zusammen.

„Tut wohl doch weh“, stelle ich triumphierend fest, woraufhin von ihm nur ein knappes „ein bisschen“ kommt.

Grinsend schüttle ich den Kopf.

„Es ist ja schön, dass du so mutig und stark bist, das imponiert mir. Aber vor mir musst du dich nicht verstellen“, sage ich und meine es genauso. Ich kenne Tai noch nicht lange, aber inzwischen durfte ich so viele verschiedene Seiten an ihm kennenlernen, dass ich neugierig geworden bin, was wohl tief unter der Oberfläche schlummert.

„Danke, Prinzessin. Das Gefühl habe ich auch“, entgegnet Tai und ein zaghaftes Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab. Ein Lächeln, dass mein Herz verboten höher schlagen lässt.

„Du bist immerhin die Erste, der ich von Kaori erzählt habe. Na ja, mit Ausnahme von Kari.“

Ich kneife die Augenbrauen nachdenklich zusammen. Ich bin diese Geschichte immer und immer wieder im Kopf durchgegangen und schnalle es einfach nicht. „Wie kann es sein, dass niemand etwas gemerkt hat? Ich meine, Joe ist so ein guter Freund von dir und nicht mal er hat gemerkt, dass zwischen euch was war?“

„Oh man“, lacht Tai sarkastisch auf, als ich die Salbe verschließe und anfange, einen Verband um seine Hand zu wickeln. „Du hast doch gesehen, wie gut Kaori das kann. Sie tut einfach so, als wäre das alles vorherbestimmt und alles andere kehrt sie unter den Teppich.“

„Hmpf“, mache ich nur und schnaube verächtlich. „Ich glaube, ich mag sie nicht mehr.“

Nun lacht Tai wirklich. „Du darfst sie ruhig mögen, das ist völlig in Ordnung. Ich sage ja auch nicht, dass sie deshalb ein schlechter Mensch ist. Das ist sie definitiv nicht. Aber auch sie hat eben ihre Fehler, so wie wir alle.“

„Und was sind deine Fehler?“
 

Tai
 

Meine Fehler?

Du meinst, dass ich drauf und dran bin, mich in die Verlobte meines Freundes zu verlieben? Ja, das ist mit Abstand mein größter Fehler.

Ich grinse jedoch nur schief. „Ich habe keine, ich bin die Ausnahme.“

„Oh, da würden mir aber so einige einfallen“, lacht Mimi auf und ich schmunzle verstohlen.

„Ja, hab ich gelesen“, rutscht es mir heraus.

Mimi hört auf den Verband um meine Hand zu wickeln und starrt mich an.

„Wie, gelesen?“

Verdammt. Ich beiße mir auf die Zunge. Das hätte ich jetzt wirklich nicht sagen sollen.

„Tai, hast du etwa …?“, beginnt sie, als ich ihr nicht antworte und stattdessen an die Decke starre als wäre da irgendetwas super Spannendes zu sehen.

„Keine Ahnung, wovon du sprichst.“

Ich spüre, wie sich ihre Blicke in mich bohren. „Hast du mein Tagebuch gelesen?“

Fletscht sie da etwa die Zähne?

„Du schreibst Tagebuch? Wusste ich ja noch gar nicht“, lüge ich eiskalt, aber das rettet mich nun auch nicht mehr, denn sie schlägt mich bereits gegen den Oberarm. „Tai!“

„Okay, okay, ist ja gut. Jaah, ich habe es gelesen. Zufrieden?“

„Nein, natürlich nicht. Wie konntest du nur?“, fährt sie mich an.

„Es tut mir ja leid“, entgegne ich reumütig und schaue sie mitleidig an. „Du warst schließlich verschwunden und hast es einfach hier rum liegen lassen. Du hast es zurück gelassen, also dachte ich, es wäre dir egal.“

„Ist es aber nicht. Das waren sehr intime Gedanken.“

Mimi ist eindeutig sauer, zurecht. Trotzdem kann ich mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen.

„Oh ja, ich weiß.“ Dort standen schließlich allerhand Dinge drin, die mich betreffen. Und die waren nicht ohne.

„Hör ja auf so dämlich zu grinsen!“, fordert Mimi mich auf und schlägt mir direkt noch mal gegen den Arm. Ich muss lachen, denn ich habe es gerade geschafft, dass sie ein kleines bisschen rot wird.

„Okay, ich verspreche dir, dass ich dich nicht mehr damit aufziehen werde.“ Zum Schwur halte ich meinen kleinen Finger in die Höhe und warte drauf, dass sie ihren bei mir einhakt, aber stattdessen funkelt sie mich nur wütend an.

„Danke“, entgegnet sie bissig und zieht den Knoten um den Verband besonders fest, so dass ich kurz aufschreien muss.

„Am besten, ich verbrenn das Ding einfach“, sagt sie dann schließlich, während sie die Verbandssachen wieder wegräumt. „Da stehen einfach zu viele Geheimnisse drin.“

„Das wäre aber sehr schade drum“, gestehe ich schulterzuckend. „Ich mag deine Poesie.“ Wobei ich gestehen muss, dass ich auch nicht möchte, dass sie die Gedanken an mich vernichtet, die sie so ehrlich aufgeschrieben hat. Es ist schließlich der einzige Beweis dafür, dass sie mehr für mich empfindet, als nur platonische Freundschaft.

Mimi sieht beschämt zur Seite. „Die hast du also auch gelesen.“

„Ich hab’s nur überflogen“, schwindle ich, weil ich merke, wie peinlich ihr das ist.

„Das beruhigt mich“, antwortet Mimi jedoch wenig überzeugend.

Sie bringt den Verbandskasten weg und wir machen uns daran, die Torte weiter zu verzieren. Den runtergefallenen Kuchen müssen wir leider noch mal neu backen, was noch mal etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt als geplant.

Irgendwie ist Mimi ganz in Gedanken versunken und wirkt distanzierter, seit ich ihr vorhin gesagt habe, dass ich ihr Tagebuch gelesen habe. Jetzt habe ich doch ein verdammt schlechtes Gewissen deswegen, aber was hätte ich denn tun sollen? Ich wollte sie einfach nur beschützen und daher musste ich die ganze Wahrheit wissen.

„Wow“, sage ich anerkennend, als wir nun auch mit der zweiten Torte fertig sind. „Die Kinder im Krankenhaus werden aus dem Staunen nicht mehr raus kommen. Vermutlich bist du so was wie ihre gute Fee.“

Mimi lächelt zaghaft, als wäre sie mit dem Ergebnis nicht vollends zufrieden. „Findest du?“

„Allerdings“, sage ich, weil sie wirklich stolz auf sich sein kann. „Ich denke, das Fest wird ein riesen Erfolg.“

Ich versuche, ihr Mut zuzusprechen, aber ihre Gedanken hängen immer noch ganz woanders.

Okay, das reicht. Ich muss die Stimmung irgendwie wieder auflockern.

„Aber weißt du, was eine gute Fee unbedingt braucht?“, frage ich verheißungsvoll und Mimi sieht mich verwirrt an, als wüsste sie gar nicht worauf ich hinaus will.

Ich grinse. „Jede Menge Feenstaub.“ Ich nehme mir eine Hand voll blauen Tortenglitzer aus der Schale und werfe ihn Mimi ins Gesicht.

Erschrocken reißt sie den Mund auf. Ich pruste los.

„Oh, das hast du gerade nicht getan!“, röchelt sie, spuckt Glitzer aus und versucht, sich die Augen frei zu reiben, aber das Zeug klebt an ihr wie Honig.

„Du müsstest dich mal sehen, du bist wirklich eine hübsche Fee.“ Ich halte mir den Bauch vor Lachen und bemerke dabei nicht, wie Mimi ebenfalls in eine Schüssel greift und mir gleich darauf eine ganze Ladung Mehl ins Gesicht wirft. Aus dem Lachen wird ein Husten. Ich wedle wild mit den Händen vor meinem Gesicht herum, um den Mehlstaub irgendwie zu vertreiben, aber keine Chance.

„Das war fies“, röchle ich.

Okay, die Kleine will Krieg? Kann sie haben. Ich nehme die ganze Schüssel mit dem restlichen Glitzer und Kippe ihn über ihren Kopf aus. Mimi reißt die Augen auf, ehe sie mich böse anfunkelt. Kurz herrscht Stille, doch dann …

„Lauf!“

Keine Sekunde später sprinte ich los, als sie auch schon nach dem restlichen Mehl greift und mir hinterher jagt.

„Was hast du denn, Mimi? Magst du etwa kein blau?“, ärgere ich sie weiter, während wir um die Kochinsel laufen und ich Mimi hinter mir knurren höre.

„Du bist so was von kindisch, Tai. Bewirfst mich einfach mit Glitzer, was soll das?“

„Feenstaub, Mimi. Es ist Feenstaub!“

„Es ist dein Untergang!“ Sie wirft noch eine Ladung Mehl nach mir, trifft aber nur meine Schulter, weil ich gerade noch rechtzeitig zur Seite springe.

„Du willst dich mit mir anlegen?“, frage ich verheißungsvoll und Mimi lacht diabolisch auf.

„Das tue ich doch schon, seit ich in Japan gelandet bin.“

Wo sie recht hat …

„Okay, du hast es so gewollt“, grinse ich und greife nach der großen Schüssel mit der Schlagsahne. Mimi kommt abrupt zum Stehen und sieht mich mahnend an.

„Oh nein, das traust du dich nicht.“

„Sicher?“ Ich grinse schief und mache einen Schritt auf sie zu. Mimi weicht zurück, doch ich hebe bereits die Schüssel in die Höhe, bereit zu tun, was ich tun muss.

„Stopp!“, brüllt Mimi und kneift die Augen zusammen. „Du hast gewonnen, okay?“

„Ist das auch kein Trick?“ Ich halte die Schüssel immer noch über ihren Kopf.

„Ja, doch! Bitte tu das nicht.“

„Weißt du, Mimi“, sage ich zufrieden und stelle die Schüssel wieder ab. „Du kannst wirklich süß sein, wenn du mich so anflehst.“

Mimi zischt verächtlich und kommt ein Stück näher, bis sie ziemlich dicht vor mir steht.

„Weißt du Tai, ich finde auch etwas ziemlich süß an dir.“

Mein überhebliches Grinsen verschwindet. Ich schlucke schwer. Meint sie das ernst? Flirtet sie gerade mit mir?

„Ach ja?“, entgegne ich mit schwacher Stimme, weil meine Kehle sich mit einem mal ganz trocken anfühlt.

Mimi kommt noch ein Stück näher und lächelt mich zuckersüß an. Ihr Blick fixiert meinen. Sie sieht aus wie ein Engel, selbst mit dem ganzen Glitzer, und ich muss aufpassen, dass ich ihr nicht komplett verfalle.

„Und was findest du so süß?“, frage ich, woraufhin sie breit grinst.

„Die Sahne in deinem Gesicht.“

„Was …?“ Noch ehe ich den Gedanken laut aussprechen kann, greift sie in die Schüssel und klatscht mir eine ganze Ladung Sahne ins Gesicht.

Erschrocken kneife ich die Augen zusammen, während ich Mimi einfach nur lachen höre. Diese freche Göre!

„Oh, was hast du denn, Tai?“, lacht Mimi immer lauter und kriegt sich gar nicht mehr ein. „Magst du keine Sahne? Ich finde, du siehst zum anbeißen aus.“

Sie lacht so sehr, dass es mich beinahe mitreißt und ich ebenfalls darüber lachen muss, wenn ich mir vorstelle, wie ich gerade aussehe. Aber vorher werde ich mich dafür revanchieren.

„Na, warte“, lache ich, wische mir die Sahne aus dem Gesicht und packe sie mir. Mimi kreischt auf, während ich sie von hinten festhalte und versuche, ihr die Sahne ins Gesicht zu reiben. Sie lacht und windet sich, aber gegen mich hat sie keine Chance.

Gerade, als ich „Das hast du davon!“, rufe und es endlich schaffe, ihr eine Hand voll Sahne auf die Wange zu schmieren, klopft es an der Tür und wir verstummen beide.

Schockiert sehen wir nach vorne, wir haben anscheinend völlig vergessen, wo wir uns befinden und dass wir in diesem Haus nicht alleine sind. Ansgar steht in der Tür, sieht uns beide an, wie wir über und über mit Sahne, Glitzer und Mehl bekleckert sind und verzieht keine Miene. Stattdessen räuspert er sich einfach, als wäre es ihm unangenehm, uns ausgerechnet jetzt zu stören.

„Entschuldigen Sie, Herr Yagami“, sagt er ganz geschäftig. „Aber Ihre Schwester ist hier.“

Was? Kari?

Sie tritt hinter Ansgar hervor und zunächst ist sie verwirrt, Mimi und mich so zu sehen. Doch dann schleicht sich ein breites Grinsen auf ihre Lippen.

„Störe ich?“

„Ganz offensichtlich“, sagt Ansgar trocken, doch ich schüttle nur den Kopf und lasse schnell von Mimi ab. „Nein, gar nicht.“

Rollt Ansgar da gerade mit den Augen?

„Ich lasse Sie nun alleine. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe beim Saubermachen benötigen.“ Er dreht sich um und geht, während ich nur die Stirn runzle. Wie kann man so sehr einen Stock im Arsch haben?

Kari kommt auf uns zu und kann sich nun das Lachen nicht mehr verkneifen.

„Heilige Scheiße, wie seht ihr denn aus?“

Ich schnaufe. „Schön, dass dich das amüsiert.“

„Ich glaube, ich habe nicht ansatzweise so viel Spaß wie ihr“, grinst meine Schwester und sieht mich wissend an. Was soll dieser Blick?

„Kari …“

„Ich spüre hier eindeutig Vibes.“ Sie zeigt mit dem Finger auf Mimi und mich und selbst unter der Sahne kann ich erkennen, wie rot Mimi wird.

„Nein, so ist das nicht“, versucht sie sich zu rechtfertigen, aber ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht, wem sie hier gerade was vormachen will.

„Na, wenn du das sagst“, pfeift Kari und stellt eine riesen Box Muffins auf dem Küchentisch ab.

Ich wische mir mit einem Geschirrtuch übers Gesicht und schaue in die Box. „Ist das fürs Fest? Sind das Krümelmonster Muffins?“

„Du bist ein Schlitzohr, Tai. Gut erkannt“, zieht mich meine Schwester auf, während sie zu Mimi sieht. „Warum bist du von oben bis unten mit Glitzer eingestaubt?“

Ich grinse gehässig. „Das ist Feenstaub“, sage ich, gehe zu Mimi rüber, fahre mit dem Finger über ihre sahnige Wange und stecke ihn mir in den Mund. „Sie ist eine menschliche Torte.“

Mimi schlägt mir auf die Hand. „Lass den Quatsch. Das ist alles deine Schuld. Keine Ahnung, wie ich den Glitzer je wieder aus meinen Haaren kriegen soll.“

„Tja“, zucke ich mit den Schultern. „Da hilft wohl nur eins.“

„Sehe ich auch so“, stimmt Kari mir zu.

„Abschneiden“, sage ich.

„Ein Kostüm“, sagt sie.

Fragend sehe ich sie an. „Ein Kostüm?“

Kari nickt eifrig. „Ich sage ja nicht, dass du den Glitzer komplett drin lassen sollst, denn mal ehrlich, es ist schon ein wenig viel. Aber die Idee kam mir gestern. Lasst uns ein paar Kostüme für die Kinder besorgen, ich glaube, das würde sie riesig freuen für einen Tag mal jemand anderes sein zu können. Superhelden, Prinzessinnen, Feen …“ Sie grinst in Mimis Richtung, doch diese muss die Idee wohl erst mal sacken lassen.

„Wo sollen wir so schnell noch Kostüme auftreiben?“, gibt Mimi zu bedenken, aber Kari winkt nur ab. „Überlass das mir“, antwortet Kari breit grinsend. Typisch meine Schwester. Wenn sie sich in etwas reinhängt, dann richtig und das Fest scheint ihr mindestens genauso viel zu bedeuten wie Mimi.

„Okay, ich bin gespannt“, lacht Mimi.

„Du brauchst ja kein Kostüm mehr“, scherze ich und mustere sie von oben bis unten.

Mimi funkelt mich an. „Du …“

Doch weiter kommt sie nicht, denn schon wieder erklingen Schritte von draußen. Ein paar Sekunden später kommt Joe rein und bleibt wie angewurzelt stehen, als er uns sieht.

„Was ist denn hier passiert?“

Irgendwie sieht er in seinem sauberen, faltenfreien Anzug etwas deplatziert aus, während Mimi und ich mit Süßkram beschmiert sind und die Küche einem Schlachtfeld gleicht. Es wirkt fast schon grotesk.

Mimi öffnet den Mund, um etwas zu sagen. „Wir … ähm …“ Doch da kommt schon die nächste Person in die Küche gestürzt.

„Kari, wo bleibst du? Du hast gesagt, es dauert nur fünf Minuten.“ Es ist Takeru, der Freund meiner Schwester. Irritiert sieht er sich um. „Man Joe, ihr solltet ernsthaft darüber nachdenken, das Reinigungspersonal auszutauschen. Hier sieht’s ganz schlimm aus.“

Joe runzelt verwirrt die Stirn, verlangt aber zum Glück für den Moment keine Erklärung dafür. Was ist los mit ihm? Würde ich meine Verlobte so vorfinden, würde ich Fragen stellen.

„Na gut, was immer ihr hier auch treibt, ich wollte nur Takeru zu euch bringen. Kari, wir sehen uns bei deiner nächsten Untersuchung.“

„Wir sehen uns morgen, ich werde natürlich auch auf dem Fest sein“, meint Kari.

„Oh ja, stimmt. Dann bis morgen.“ Joe will auf dem Absatz kehrt machen, aber Mimi hält ihn zurück.

„Warte mal, Joe. Willst du dir nicht die Torten anschauen? Wir haben viele Stunden daran gebacken.“

Joe wirft einen flüchtigen Blick über die Schulter. „Ich sehe sie ja morgen. Ich habe jetzt noch einen Termin.“

Er stolziert aus der Küche und ich sehe, wie Mimi betrübt den Kopf hängen lässt. Wütend presse ich die Zähne aufeinander. Muss er sie so behandeln? So langsam kotzt mich sein Verhalten echt an.

Ich wische mir noch mal mit einem Tuch übers Gesicht und gehe ihm dann nach. „Ich bin gleich zurück.“
 

Mimi
 

„Okaaay“, sagt Takeru gedehnt. „Was war denn das für ein Auftritt?“

Ich puste die Luft aus und gehe rüber zur Kochinsel, um das Chaos zu beseitigen.

„Das liegt vermutlich an mir.“ Ich kenne Joe noch nicht lange, aber ich habe ihn noch nie so kalt erlebt. Nicht mir gegenüber. Es wird immer schwerer für mich in einem Haus zu leben, wo einfach jeder gegen mich ist. Dieses Gefühl ist so niederschmetternd.

„Du musst dann also Mimi sein. Hi, ich bin Takeru“, sagt Karis Freund und kommt zu mir rüber.

„Hallo, Takeru. Schön, dich endlich mal kennenzulernen, ich habe schon viel von dir gehört“, grinse ich und schiele zu Kari rüber, der die Röte ins Gesicht steigt.

„Ebenso“, meint Takeru. „Kari hat viel von dir erzählt.“

„Ich hoffe, nichts Schlechtes.“

„Keine Angst, meine Freundin ist schwer begeistert von dir, uns hast du schon mal auf deiner Seite.“

Ich lächle ihn dankbar an. Wie selbstverständlich er das Wort „uns“ verwendet. Als wären sie ein und dieselbe Person. Als würden sie immer zusammen halten und füreinander einstehen. Ich wünschte, ich hätte so jemanden in meinem Leben. Ich wünschte, Joe könnte das für mich sein, was Takeru für Kari ist.

„Danke, es tut gut zu wissen, dass man nicht allein ist. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt.“ Vor allem wenn eine gewisse Person gerade nicht bei mir ist.

„Du bist nicht alleine, Mimi“, sagt Kari mitfühlend, geht zu Takeru und legt einen Arm um ihn. „Wir stehen hinter dir, egal was war. Und Tai tut das auch. Ich glaube, er hat dich ziemlich gern.“

Kurz muss ich auflachen. „Es ist sein Job mich gern zu haben.“ Dass Tai mir gestanden hat, etwas zu empfinden, wenn er bei mir ist, verheimliche ich lieber. Das darf niemals jemand erfahren. Ich will nicht noch einen Skandal in dieser Familie.

„Achso, dann war es wohl auch sein Job dich mit Glitzer und Sahne zu bewerfen“, lacht Kari und erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich wie ein bunter Hund aussehen muss. Gott, ich brauche dringend eine Dusche.

„Ah, daher also der Aufzug“, meint Takeru, dem gerade ein Licht aufgegangen ist. „Dein Bruder hat eine merkwürdige Art seine Zuneigung zu zeigen“, witzelt er dann, woraufhin Kari ihn spielerisch in die Seite kneift.

„Lass die dummen Sprüche. Ich kenne meinen Bruder und weiß, was ich gesehen habe.“

So? Und was hat sie gesehen? Ich beiße mir auf die Zunge und stelle diese Frage besser nicht. Ich will die Antwort gar nicht wissen. Es würde alles nur noch komplizierter machen.

„Wie auch immer, wir müssen jetzt los, Schatz“, sagt Takeru und drückt Kari einen Kuss aufs Haar. Ganz beiläufig. So eine kleine Geste, die so viel aussagt. Ach, ich beneide die beiden.

„Stimmt, müssen wir. Wir müssen noch Kostüme besorgen.“

„Kostüme?“, fragt Takeru stutzig. „Haben wir heute Nacht noch was vor? Verkleiden wir uns und machen schmutzige Spielchen?“

Kari boxt ihm in die Seite. „Hättest du wohl gern.“

Ich pruste los, weil die beiden zusammen einfach urkomisch sind. Und süß. Genauso habe ich sie mir zusammen vorgestellt.

„Wir sehen uns morgen, Mimi“, sagt Kari und lächelt mich zuversichtlich an. „Das wird ganz toll.“

„Ja, bis morgen.“ Ich hoffe, sie hat recht. Es hängt so viel davon ab.
 

Tai
 

„Hey, warte mal, Joe!“, rufe ich, als ich ihn kurz vorm Haupteingang einhole. Er dreht sich zu mir um, sein Gesicht ist ausdruckslos. „Was gibt’s, Tai?“

„Sag mal, musste das eben sein?“, fahre ich ihn an.

„Was genau meinst du?“ Dieser genervte Tonfall.

„Mal ehrlich, hätte es dich umgebracht, dir diese Torten für 2 Minuten anzusehen und wertzuschätzen, was deine Verlobte heute gemacht hat?“

„Ich sagte doch, ich habe noch einen Termin.“

„Hast du nicht, ich kenne deinen Terminkalender in und auswendig, weil ich deine Termine mache.“ Will er mich verarschen?

Joe stöhnt genervt auf. „Was willst du von mir, Tai? Dass ich ihr vergebe? Dass ich von heute auf morgen alles vergesse, was sie meiner Familie zugemutet hat?“

„Nein“, entgegne ich wütend. „Aber sie nicht wie der letzte Dreck behandeln wäre ein Anfang.“

Joe sieht beschämt zur Seite. Ich weiß, dass er eigentlich nicht so ist. Er steht sich nur gerade selbst im Weg.

„Bitte Joe“, flehe ich daher. Ich kann es einfach nicht ertragen, wie er Mimi behandelt. „Kannst du nicht versuchen, über deinen Schatten zu springen? Sie ist wirklich nicht so, wie du denkst. Ich kenn sie inzwischen ganz gut und sie ist …“

„Ja, das sehe ich“, zischt Joe und ich runzle die Stirn. „Tai, ernsthaft, sieh dich doch an.“

Ich sehe an mir hinab. Worauf spielt er an? Auf die Sahne oder auf Mimi?

„Sie manipuliert dich“, offenbart mir Joe schließlich. Beinahe hätte ich losgelacht.

„Erkennst du das denn nicht? Sie hat uns alle manipuliert. Und mit dir ist sie anscheinend noch nicht fertig. Weil du der Einzige bist, der noch zu ihr hält.“

Fassungslos sehe ich ihn an. Wann hat er angefangen, so von Mimi zu denken? Kann man es ihm übel nehmen? Ja, Mimi hat einen Fehler gemacht, aber deshalb ist sie noch lange kein schlechter Mensch. Oder das durchtriebene Miststück, für das er sie anscheinend hält.

„Das ist unfair, Joe und das weißt du“, entgegne ich nicht weniger wütend. „Das sind die Worte deines Vaters, nicht deine.“

Wieder gibt Joe ein Zischen von sich und zeigt dann drohend mit dem Finger auf mich.

„Frag dich besser auf wessen Seite du stehst. Und für wen du eigentlich arbeitest.“

Dann dreht er sich um und geht, während ich mich frage, ob ich meinen Freund jemals schon so verletzt gesehen habe.

Kapitel 19

Mimi
 

Heute ist es soweit. Das Krankenhausfest beginnt und tatsächlich wurde ein Kostüm für mich abgegeben. Wie hat Kari das nur so schnell auftreiben können? Das Kostüm ist noch in einer weißen Hülle verborgen. Ich öffne den Reißverschluss und sehe blau. Ganz viel blau.

Wie passend, denn in meinen Haaren befindet sich immer noch blauer Glitzer. Ich habe ungelogen eine halbe Stunde unter der Dusche verbracht, um diesen Glitzer auszuspülen, aber das Zeug oder wie Tai es nennt, Feenstaub ist extrem hartnäckig.

Nachdem ich das lange Kleid aus der weißen Plastikhülle befreit habe, rätsel ich kurz was das für ein Kostüm darstellen soll? Cinderella? Und dann macht es 'klick". Ich bin Elsa aus Frozen.

Soll ich das wirklich anziehen? Es ist für die Kinder, Mimi, also hast du keine andere Wahl.

Ich ziehe den Bademantel aus und ziehe das eisblaue Kleid über. Es ist wirklich sehr Figurbetont geschnitten und hat einen langen Schlitz an der linken Seite. Die Ärmel des Kleides sind im Gegensatz zum Rest in einem ganz hellen, zarten Blauton. Ich muss zugeben, dass mir das Elsa-Kostüm gut steht. Das ganze Kleid glitzert. Wie war das? Keine Party ohne Glitzer? Also mehr Glitzer geht nicht und Frau Kido hat unrecht, der Meerjungfrauenstil würde mir wohl sehr gut stehen.

Ich nehme mir mein Smartphone in die Hand und schaue mir nochmal eben die Frisur von Elsa an. Ich flechte die Frisur nach und ja, ich glaube, man erkennt mich. Eine Elsa nur mit braunen Haaren und braunen Augen. Vielleicht kann ich Takeru fragen, ob er es anziehen mag, dann würden sogar die blonden Haare und blauen Augen passen. Bei dem Gedanken muss ich lachen. T.K in einem Elsa Kostüm.

Als ich fertig gestylt und das Endergebnis im Spiegel betrachte, gefalle ich mir wirklich sehr. Es erinnert mich ein bisschen an die frühere Mimi. Ich frage mich, ob Tai es wohl gefallen wird. Ich freue mich schon darauf, ihn nachher beim Fest wiederzusehen und Joe? Wird er überhaupt etwas dazu sagen?

Bin ich gar zu aufreizend angezogen?

Für eine Kido?

Für ein Kinderfest?

Kurz überlege ich, alles hinzuschmeißen und meinen langen Rock und Bluse überzuziehen und gegen das Elsa-Kostüm einzutauschen. In Grau. Wie hässlich.

Doch da klopft es schon an meiner Türe.

"Miss Tachikawa, ihr Wagen steht bereit." Ansgar grüßt mich wie immer freundlich, aber irgendwas lesen kann ich in seinem Gesicht nicht. Ich nicke und folge ihm. "Wo ist Joe? Ich dachte, wir wollten zusammen ins Krankenhaus fahren?" So haben wir es zumindest besprochen.

"Er hatte noch einen dringenden Termin im Krankenhaus und musste daher schon früher los", erklärt Ansgar mir.

Nicht sein ernst. Wie kommt das denn an, wenn die Verlobte des Arztes ein Fest für die Kinderstation plant und der wehrte Herr Doktor sich nicht mal die Mühe macht, gemeinsam mit seiner Verlobten auf das Fest zu gehen. Ist meine Anwesenheit denn überhaupt nicht mehr zu ertragen?

Ich verschränke die Arme beleidigt vor meiner Brust und schaue aus dem Fenster. Ich gebe mir doch wirklich alle mühe, meine Fehler wieder gutzumachen. Ich verstehe auch, dass Joe Zeit braucht, aber dennoch eine kleine Geste in meine Richtung, würde schon genügen.

Gleich werde ich im Krankenhaus ankommen und ich weiß, dass die Presse da sein wird. Also muss ich mich ganz alleine durch diese Massen begeben. Warum tut Joe mir das an? Am liebsten hätte ich Tai angerufen, aber ich kann ihn doch nicht jedesmal belästigen, nur weil ein paar Fotografen Fotos von mir machen wollen. Komm Mimi, dass schaffst du. Immerhin bist du schon aufgeflogen, also schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden.

Der Fahrer öffnet mir die Türe und wie erwartet schießen bereits die ersten Paparazzis Fotos von mir. Meine Güte, das ist ein Krankenhaus. Muss das denn sein? Lächle Mimi, zeig ihnen dein schönstes Lächeln. Alles andere interessiert hier eh keinen. Zeig ihnen nicht, dass du genervt von ihnen bist oder verletzt, weil dein eigener Verlobter, dich nicht unterstützt oder wertschätzt. "Danke, dass ihr alle gekommen seid. Wir hoffen, wir können den Kindern heute einen wunderschönen Tag bescheren." Ich winke und drehe mich sogar nochmal in meinem Elsa Kleid herum. Und Kaori würdest du es auch so machen?
 

Tai
 

Alle sind ganz nervös und vor allem die Kids sind unendlich aufgeregt. Gestern Abend wurden die beiden Torten, sowie die Krümmelmonster Muffins meiner Schwester bereits ins Krankenhaus gebracht und vor einer Stunde hat Kari die Kostüme auf Station bringen lassen. Ich weiß wirklich nicht, wie meine kleine Sis das möglich gemacht hat, aber die Kinder haben ihr die Kostüme nur so aus den Händen gerissen. Das Klavier steht bereits auf seinem Platz, direkt unter einem Pavillon, der extra aufgestellt wurde, falls das Wetter nicht mitmachen sollte, aber Regen ist zum Glück keiner gemeldet. Anfang Juni ist es einfach herrlich hier in Tokyo, noch nicht so schwül und erdrückend wie im August. Ich bin sehr gespannt, wie Mimi sich wohl am Klavier schlagen wird, aber ich glaube, dass sie großes Talent hat.

In der einen Ecke steht eine Fotobox, in der nächsten ein Schminktisch und dann noch verschiedene Spielparcours, wo jedes Kind etwas gewinnen kann. Gerade sind Kari und Takeru noch dabei die letzten Geschenktüten in die Körbe zu legen, als auch die Planerin des Events endlich die Dachterrasse betritt. Sofort geht mein Blick zu ihr. Mimi sieht einfach atemberaubend in dem blauen Kleid aus. Sie sieht mich ebenfalls direkt an und ich muss ihr lächeln einfach erwidern.

"Mach den Mund zu, Tai, sonst fliegt noch eine Fliege in deinen Mund", lacht meine Schwester und am liebsten würde ich ihr einen Krümmelmonstermuffin in den Mund stopfen, damit sie ihn hält. "Ach, du wieder. Sei doch leise."

"Wie passend, dein Kostüm", kommt Mimi auf mich zu. Kari hat mir ernsthaft ein Olafkostüm besorgt. Ich sehe so bescheuert darin aus und habe mich erst geweigert, es anzuziehen, aber dann hat sie die, wenn ich hier vor ein paar Jahren gelegen hätte, hätte ich mir so etwas auch gewünscht Karte ausgespielt und damit hatte sie mich dann gekriegt. "Was denn, ich finde es schön, dass wir alle als Frozen Figuren gehen." Kari hat sich als Anna verkleidet und Takeru st Christoph. Nur ich bin der Trottel in einem unvorteilhaften Schneemannkostüm. "Also ich finde ja, du siehst richtig niedlich aus. Total putzig."

Niedlich?

Putzig?

Zwei Adjektive die Mann ja gerne aus dem Mund seiner Traumfrau hört.

"Na super."

*Glaub mir, Tai, die Kinder werden dich lieben." Den Satz hat Kari vorhin schon gesagt, um mich zu überzeugen in dieses weiße etwas zu steigen.

"Dann zieh' du es doch an", knurre ich genervt.

"Und du ziehst dann das Anna Kostüm an?", fragt Kari grinsend.

"Selbst das wäre mir lieber …"

"Dann kann Takeru mein Elsa Kostüm anziehen. Er hat wenigstens die passende Haarfarbe", kichert Mimi.

"Was? Und du willst dann etwa Christoph sein?", fragt auch Takeru belustigt nach.

"Solange ich nicht Olaf sein muss, ist alles gut." Und jetzt lachen alle, alle außer mir natürlich, weil einfach jeder sehen kann, wie dämlich ich aussehe.

"Das reicht! Ich ziehe das Kostüm jetzt aus", schimpfe ich, doch in dem Moment werden auch schon die Türen der Dachterrasse geöffnet und plötzlich geht alles ganz schnell.
 

Mimi
 

Bestimmt 100 verkleidete Kinder und zehn Krankenschwestern betreten die Dachterrasse und schauen sich alles genau an. Sie strahlen richtig und es ist so schön, ihre leuchtenden Augen zu sehen. Jedoch auch Joe und die Presse haben die Dachterrasse betreten. Ein Reporter stellt mehrere Fragen an Joe und ganz Gentlemanlike beantwortet er diese. "Dr. Kido, wirklich beeindruckend was Sie hier auf die Beine gestellt haben."

"Oh, habt Dank, aber das Danke sollten Sie an meine bezaubernde Verlobte richten." Erst jetzt blickt Joe zu mir und nimmt mich an die Hand. Ich kann das einfach nicht ausstehen. Privat reden wir kein einziges Wort miteinander, aber sobald ein Fotograf oder ein Journalist in der Nähe ist, macht Joe einen auf verliebten Gockel. "Es war ganz alleine ihre Idee und ich könnte nicht stolzer sein."

Ist das so?

"Stimmt das?"

Ich nicke. "Ja, ich wollte den Kindern unbedingt eine Freude bereiten. Einen schönen, unbeschwerten Tag ohne das ihre Krankheit im Vordergrund steht. Ich finde, sie haben es verdient."

"Mimi hat sogar die köstlichen Torten selbst gebacken. Ich habe sogar gestern versucht, ein wenig zu helfen …"

Was hat er? Er hat sich nicht mal die lächerliche Zeit von zwei Minuten genommen, um sich die Torte anzusehen, die ich stundenlang mit TAI gebacken hab!

"Und wie hat er sich geschlagen?", will der Reporter von mir wissen, aber ich kann diese Frage nicht beantworten. "Na ja, nicht so gut, wenn ich ehrlich bin, aber dafür war unsere Essensschlacht danach sehr amüsant."

"Essensschlacht?", fragt der Reporter wieder irritiert nach.

"Na ja, meine reizende Verlobte hat mich mit Mehl übergossen und ich sie mit …" Er deutet auf meine Haare "mit blauem Glitzer. Deswegen auch das Kostüm."

Ich fass es einfach nicht. Macht Joe das gerade wirklich? Ich bin einfach nur noch angeekelt von diesem Verhalten.

"Ich hätte nicht gedacht, dass sie so ein Spaßvogel sind", richtet der Reporter an Joe.

"Ich auch nicht. Mimi bringt diese Seite in mir zum Vorschein." Joe zieht mich noch näher an sich und mir hat es die Sprache verschlagen. Diesmal hat er wohl keinen Spickzettel für mich geschrieben. Also lächle ich. Was soll ich auch sonst tun? Ich darf hier niemanden sagen oder zeigen was ich denke oder fühle. Also lächeln, Mimi. Für die Kinder. Sie verdienen es.
 

Als die Scharade endlich vorbei ist, beschäftige ich mich mit den Kindern. So viele tolle Kostüme. Ich sehe Schneewittchen, das Rotkäppchen und ein Indianermädchen. Bei den Jungs einen Ritter der gegen einen Drachen kämpft und auf einer Bank sitzend einen kleinen Jungen in einem Superhelden Kostüm. Moment ist das nicht? Yuto? Auf der einen Seite bin ich traurig, weil er noch immer im Krankenhaus ist, aber auf der anderen Seite freue ich mich sehr, in wiederzusehen. Ich gehe zu dem kleinen Jungen und setze mich neben ihm auf die Bank. "Endlich treffe ich Atomic Yuto", sage ich begeistert und sofort dreht der Junge seinen Kopf in meine Richtung. "Du hast mein Kostüm erkannt", freut sich Yuto.

"Na klar, er ist der größte Superheld aller Zeiten."

"Er kann nämlich alle Krankheiten besiegen" sagt Yuto aufgeregt.

"Sogar die, die man nicht sehen kann", erwidere ich grinsend.

"Du bist die Frau die bei mir im Zimmer war, oder? Mimi?"

Ich nicke und reiche ihm meine Hand, doch er umarmt mich stattdessen und hält mich ganz fest in seinen kleinen Armen. "Danke Mimi, für das Fest heute." Bei dieser kleinen Geste wird mir so warm ums Herz, dass sich kleine Tränen in meinen Augen sammeln. Ich löse die Umarmung und wische die Tränen schnell mit meinen Handballen weg. "Ach, das hab ich doch gerne gemacht und ich hatte auch viel Hilfe von meinen Freunden."

"Aber du hast es möglich gemacht."

"Ja, vielleicht schon. Warum liegst du hier im Krankenhaus?"

Yuto sieht mich an und muss scheinbar erst einmal überlegen, was er sagen soll. "Am Anfang hatten die Ärzte überhaupt keine Ahnung, was mir gefehlt hat. Ich hatte ständig hohes Fieber. Trotz Medikamente, aber es ging nicht runter und dann, als ich erst nicht mehr aufgewacht bin, haben sie herausgefunden was mir fehlt. Ich hatte eine Hirnhautentzündung. Es hat wirklich gedauert, bis ich wieder gesund war. Normalerweise hätte ich vor drei Tagen nach Hause gekonnt, aber ich wollte unbedingt zu dem Fest heute."

Mir wird ganz warm ums Herz. Yuto ist wieder gesund. Ich könnte nicht glücklicher sein und er ist wegen dem Fest noch hier geblieben. Wie süß kann ein Junge sein? "Ich musste ein bisschen schwindeln, weil sie das Bett brauchen, da hab ich gesagt, dass mir wieder schlecht ist. Ich weiß, dass man sowas nicht machen darf, aber ich wollte dich doch Wiedersehen."

Oh mein Gott. Wie süß. Ich würde ihm so gerne noch eine Freude bereiten, aber ich weiß nicht wie. Ich sehe mir meinen Lieblingsolaf an, der wirklich von allen Kindern umzingelt ist und bekomme eine Idee. "Sag mal Yuto, spielst du gerne Fußball?"

"Na klar."

"Siehst du den Olaf dahinten?" Yuto nickt und lacht. "Er sieht lustig und albern aus."

"Ja, das tut er, aber er gibt jedes Jahr für zwei Wochen in den Sommerferien ein Fußballcamp und wenn wir ihn ganz lieb fragen, würde er dir bestimmt noch einen Platz geben."

"Meinst du wirklich? Das wäre ja toll, wenn ich da mitspielen könnte." Yuto beginnt wieder richtig zu strahlen und es ist einfach ansteckend.

"Wir gehen gleich zusammen hin, okay?"

"Jaaaaaaa."

Gleich ergreift Yuto meine Hand und zerrt mich förmlich zu Tai.

"Olaaaaf?", ruft Yuto ganz laut und Tai der an jeder Hand und gefühlt an jedem Fuß ein Kind hat, schielt zu uns rüber. Wie unfassbar niedlich er mit einer Horde Kids aussieht. "Was kann ich für euch tun?"

"Darf ich auch in dein Fußballcamp? Bitte, bitte."

"Äh." Tai sieht etwas perplex aus. "Also, ich weiß gerade gar nicht, wie viele Anmeldungen reingegangen sind, aber wir bekommen sicher noch einen Platz für dich freigeschaufelt."

"Yuhuuu", freut sich Yuto und bedankt sich bei Tai und bei mir. "Fußballcamp?", fragt auch schon das nächste Kind nach. "Ich will auch."

"Ich auch."

Entschuldigend blicke ich zu Tai, während er versucht allen Kindern einen Platz zu geben und gar nicht so recht weiß, wie er das jetzt umsetzen soll. Ein Mädchen setzt sich auf seinen Schoß und sie fängt an zu singen "willst du einen Schneemann bauen …", während ein anderes Mädchen versucht, die Möhre abzuziehen. Tai ist wirklich sehr geduldig und hat echte Papa-Qualitäten. Das muss man ihm lassen.
 

Jim und Kaori tauchen ebenfalls auf. Sie sind natürlich nicht verkleidet, aber wahrscheinlich wussten sie auch nichts davon. Jim geht gleich zu Joe und sie unterhalten sich sehr diskret. Kaori sieht sich neugierig um und lächelt mich an, als sie mich sieht. Ich lächle zurück und entschuldige mich kurz bei Tai. "Hallo Mimi, du siehst ja toll aus und das Fest hier, wirklich beeindruckend."

"Danke, ich glaube den Kindern gefällt es auch."

"Oh ja, sie strahlen richtig und die Spiele kommen wohl auch gut an. Hast du schon gesungen?"

"Ähm, ne noch nicht. Die Kinder sollten erst mal alles angucken dürfen. Ich bin mir noch nicht so sicher, ob alle so lange durchhalten. Aber die Schwestern haben ein Auge drauf."

"Auf jeden Fall und fantastische Ärzte haben wir ja auch hier." Sie deutet auf Jim und Joe und ich weiß mittlerweile gar nicht mehr, was ich von Joe halten soll. Auch wenn er sicher ein toller Arzt ist, aber als Verlobter? "Ist das Tai?", fragt Kaori mich grinsend und deutet auf Tai im Olaf Kostüm.

"Ja, ist er." Obwohl er es hasst, macht er das Beste daraus. Ich finde das kann man ihm wirklich hoch anrechnen.

"Wie sieht du denn aus?" Jim ist wieder zu Kaori gestoßen und hat sich direkt vor Tai gestellt.

"Na, er ist Olaf und Mimi ist Elsa, die Eiskönigin", versucht Kaori ihren Mann aufzuklären.

"Wer von was? Na ja, mir egal. Jetzt sieht er so bescheuert aus, wie er sich oft gibt. Einfach zum Totlachen.”

"Tja, der Unterschied ist nur, ich kann das Kostüm gleich wieder ausziehen, aber du bist dann immer noch ein Idiot", wehrt Tai sich.

"Vorsicht Schneemann, nicht dass du noch ausrutscht."

Das kleine Mädchen, welches gerade noch auf dem Schoß von Tai saß, hat sich aufgestellt und die Wangen aufgeplustert.

"Hey Mister, dass ist doch ein Schneemann, der kann doch gar nicht ausrutschen. Außerdem verteilt er immer nur Liebe und Umarmungen. Vielleicht brauchst du auch nur eine Umarmung." Das Mädchen umarmt Jim und singt dann "Ich liebe Umarmungen." Jetzt kann ich mir das lachen nicht länger verkneifen und Tai, der sich kurz hat provozieren lassen, fährt auch direkt wieder runter. "Muss ich das verstehen?"

"Nein, komm, wir holen uns ein Stück Kuchen." Kaori und Jim verschwinden am Desserttisch und ich gehe ganz nah an Tais Ohr heran. "Nicht, dass das wichtig wäre, aber das, was sich unter dem Kostüm versteckt, habe ich nicht vergessen." Tai grinst und zieht eine Augenbraue in die Höhe. "Nur schade, dass du den Schneemann später nicht auspacken kannst."

Oh wie wahr, Tai. Wie wahr. "Tja, wie du ja weißt, manches überlasse ich gerne meinen Träumen." Ich zwinkere ihm zu und entferne mich dann von meinem Olaf. Nicht, dass wir noch zu flirten anfangen oder haben wir das etwa schon? Ach egal.
 

Jetzt ist es Zeit für meinen Song. Ich möchte mich gerade ans Piano setzen, als ein Mädchen meine Hand festhält.

"Warte Mimi, wann singst du endlich?", wollte das kleine Mädchen von mir wissen. "Ich wollte mich gerade ans Piano setzen."

"Kannst du bitte, bitte 'Let it go' von Frozen singen?"

"Äh, aber ich habe eigentlich ein anderes Lied einstudiert."

"Oh nein, du musst 'let it go' singen. Du bist doch Elsa und ich liiiiebe den Film und das Lied.

"Ja, Let it go', Let it go." Oh No. Alle Kinder wollen unbedingt, dass ich 'Let it go' singe, aber ich habe den Song gar nicht geübt. Den Text kenne ich zwar, aber die Noten vom Klavierspiel kann ich nicht auswendig und das ist nichts, was man mal eben so spielt. "Bitteeee", fleht jetzt sogar Yuto. "Du würdest das bestimmt ganz toll singen."

Hilfesuchend blicke ich zu Tai. Er stellt sich neben mich. "Was ist los?", fragt er mich flüsternd.

"Ich habe die Noten vom Stück nicht, ohne die kann ich den Song auf keinen Fall spielen." Zudem bin ich unendlich nervös, weil ich nicht einmal dieses Stück geprobt habe und es ist ja nicht so, als ob die Presse hier ist oder so und darüber einen fetten Artikel schreiben wird. "Wenn ich sie im Internet finde, würdest du es dann spielen?", erkundigt sich Tai.

"Ja, wahrscheinlich nicht besonders gut, aber wenn das der Wunsch der Kinder ist, dann werde ich mich bemühen, ihn zu erfüllen."

"Das finde ich toll, Prinzessin. Gib mir fünf Minuten." Und schon ist Tai weg. Als würde er in so kurzer Zeit, die Noten für das Stück auftreiben können. "Passt auf, ich spiele euch zuerst den Song vor, den ich zuerst einstudiert habe und im Anschluss singe ich 'let It go', einverstanden?"

"Jaaaaaa." Alle Kinder sind begeistert.

Joe kommt vors Klavier, nimmt sich das Mikrofon und eröffnet das kleine Konzert. "Meine lieben Kinder, Eltern, Kollegen und Schwestern. Heute findet unser erstes Krankenhausfest für die Kinder statt. Meine bezaubernde Verlobte Mimi hatte diese, wie ich finde, ganz hervorragende Idee. Vor vielen Jahren habe ich diese Dachterrasse als Spielplatz umbauen lassen und heute findet hier eine Feier statt. Ich freue mich, dass wir so unsere Patienten nicht nur medizinisch, sondern auch menschlich bestmöglich betreuen können." Die Rede finde ich tatsächlich schön, denn ich glaube wirklich, dass es Joe was bedeutet. "Daher danke Mimi, für diesen Vorschlag. Du bist etwas ganz besonderes und ich freue mich schon auf den Tag, wo ich dich ganz mein nennen darf." Oh Gott, warum klingt das eigentlich wie ne Drohung?

Lächeln Mimi, lächeln. Joe drückt mir einen Kuss auf die Wange und als ich mich gerade wegdrehen möchte, höre ich wie ein Fotograf: "Küss sie doch mal" ruft. Mir bleibt kurz das Herz stehen. Oh bitte nicht küssen. Joe hält meine Hand fest. Es schmerzt sogar ein wenig, aber ich verstehe, dass ich mich wieder ihm zuwenden muss. "Nichts lieber als das."

Was? Seit wann kann er das einfach so? Hier und vor allen? Zum Glück ist Tai nicht da. Ich stehe glaube ich kurz vor einer nächsten Panikattacke. Ich will Joe einfach nicht küssen. Nicht solange wir nicht mal alleine fünf Minuten in einem Raum aushalten können. Viel Zeit zum Nachdenken habe ich jedoch nicht. Joe hält mich fest in seinen Armen, zieht mich etwas näher an sich heran und legt seine Lippen kurz auf meine. Zum Glück nur ein paar Sekunden und zum Glück nur die Lippen, aber es fühlt sich einfach nur falsch an. Jemanden zu küssen ist etwas so intimes und Leidenschaftliches. Es sollte dich umwerfen, dir weiche Knie bescheren und den Atem rauben und dich nicht fühlen lassen, als würdest du erstarren und weglaufen wollen.

Ich lächle, was auch sonst, so habe ich es geübt, reiße mich aber auch ein Stück von ihm los. Über diesen Kuss werden wir noch reden. Ob er das nun will oder nicht. So lass ich nicht mit mir umgehen.

Ich setze mich ans Piano und da Tai noch auf der Suche nach den Noten ist, sehe ich Kari an. Ich brauche gerade ein Augenpaar, dass mir wirklich die Daumen drückt und sehe wie sie genau diese in die Luft hält. "Jetzt aber endlich singen", ruft eines der Kinder nach vorne und alle stimmen mit ein.
 

Ich atme einmal tief ein und aus und lege meine Finger ans Klavier. Dieses Stück beherrsche ich im Schlaf. A Thousand Miles von Vanessa Carlton. Ich habe es schon unzählge Male gespielt, aber noch nie vor Kindern.

Das Into beginnt und ich singe den ersten Verse: "Making my way downtown, Walking fast, faces pass and i'm homeboand …"
 

Und als ich den letzten Ton spiele und aus meiner Trance erwache, sehe ich glückliche Gesichter. Alle klatschen. Selbst Jim. Und Joe, er übertreibt sogar richtig, aber wohl weniger für mich, sondern mehr für die Fotografen. Doch dann sehe ich Tai. Er sieht mich einfach nur an, wirkt richtig stolz. Ich weiß nicht, wie viel er vom Stück mitbekommen hat, aber tatsächlich deutet er auf ein Blatt Papier. Er kommt zu mir rüber und reicht es mir. "Du bist wie so oft mein Retter."

"Immer wieder gern, Prinzessin." Ich sehe mir die Noten und die Tonleiter an. Und dabei auch noch singen? Ob ich das kann? So komplett ohne Übung?

"Du schaffst das schon. Das gerade, war echt der Wahninn. Glaub' an dich." Ich lächle meinen Olaf dankbar an, nehme die Noten und lege sie auf den Notenständer.
 

Ich spiele die ersten Noten, während ich die erste Strophe dazu singe.

"The Snow glows White on the Mountain tonight. Not a foodprint to be seen.

A Kingdom of isolation and it looks like i'm the Queen.'"

Okay, das fühlt sich gerade nicht mehr so an, als würde Elsa den Song singen, sondern Mimi.
 

"Don't let them in, don't let them see.

Be the good Girl you always have to be.

Conceal, don't feel, don't let them know.

Well now they know.'"

Wie sehr fühle ich gerade jedes einzelne Wort …

Es ist, als würde ich mich öffnen. Hier vor all diesen Kindern, vor all diesen Leuten.
 

Let it go, let it go, and i'll rise like the Break of Dawn. Let it go, let it go

The perfect Girl is Gone.'"

Ganz bewusst schaue ich dabei zu Joe. Vielleicht hört er mir ja so endlich mal zu.

Here i stand in the light of Day. Let the Storm rage on.

Ich schließe noch einmal meine Augen.

The cold never bothered me anywhere.'
 

Meine Finger verstummen, ich spüre das Blut in meinen Adern pulsieren und öffne meine Augen wieder. Die Kinder springen von ihren Stühlen auf und jubeln, während ich noch überall zittere. Mein Blick ist ganz verschwommen. Ich weiß nicht, ob ich jeden Ton richtig gesungen oder Note korrekt gespielt habe, aber es hat so unendlich gut getan. Nur eine Frage brennt sich in meinen Kopf ein: Werde ich mich jemals frei fühlen, wie Elsa es geschafft hat? Oder bleibt mein Goldener Käfig mit allen Regeln für immer bestehen?

Kapitel 20

Mimi
 

Das Fest übertrifft einfach alle meine Erwartungen. Mir war klar, dass die Kinder Spaß haben würden, aber viele können sich gar nicht losreißen, obwohl die Besuchszeit schon längst vorbei ist und die Schwestern gerade dabei sind, die Kinder zu überreden, endlich ins Bett zu gehen.

Ich lächle zufrieden, als ich Yuto beobachte, wie er seit Stunden schon Seifenblasen macht und ihnen dann hinterherläuft, wobei sein Superheldenumhang im Wind weht.

„Müsstest du nicht langsam im Bett sein, junger Mann?“, frage ich und er sieht erschrocken zu mir auf, als hätte ich ihn gerade bei etwas ertappt. Doch dann erhellt sich sein Gesicht.

„Ach, du bist es Mimi, äh, ich meine Elsa.“

Ich kichere und gehe in die Hocke, um mich besser mit ihm unterhalten zu können. „Hat dir das Fest gefallen?“

Er nickt eifrig. „Und wie! Vor allem das Lied, was du gesungen hast, das war so schön. Das würde ich gerne noch mal hören.“

Ich lächle ihn an und wuschle ihm durch die Haare. „Wer weiß, vielleicht kann ich das irgendwann noch mal einrichten. Oder du siehst dir einfach den Film an, wenn du wieder zu Hause bei Mama und Papa bist.“

Yuto strahlt. „Gute Idee, morgen holen sie mich ab.“

„Das ist schön, ich freue mich, dass du wieder nach Hause kannst.“

„Ich mich auch. Obwohl ich ein bisschen traurig bin, dass wir uns dann nicht mehr sehen. Aber der nette Olaf hat gesagt, dass du vielleicht auch mit ins Fußballcamp kommst.“

„So, hat er das?“

Yuto nickt, während ich ziemlich überrascht von dieser Neuigkeit bin. Mein Olaf führt doch da hoffentlich nichts im Schilde.

„Okay, wir werden sehen. So, nun ist aber Schlafenszeit“, sage ich genau im richtigen Moment. Eine Schwester kommt zu uns und nimmt Yuto an die Hand.

„Tschüss Mimi“, winkt der kleine Junge mir zu und strahlt übers ganze Gesicht.

„Tschüss, mein kleiner Superheld.“

Ich winke zurück und zucke im nächsten Moment zusammen, als jemand hinter mir auftaucht.

„Es gibt doch nichts Schöneres, als strahlende Kinderaugen.“ Es ist Kari und auch sie hat diesen glückseligen Gesichtsausdruck. Ich habe ganz vergessen, dass sie ja mal Erzieherin war, also muss sie Kinder genauso sehr lieben wie ich.

„Hast du schöne Fotos gemacht?“, frage ich sie und sie hält mir ihre Kamera hin, damit ich einen Blick darauf werfen kann.

„Ja, an die 500 Stück. Die sortiere ich natürlich noch aus und dann wollte ich gerne eine Collage daraus basteln, die auf der Kinderstation aufgehängt werden kann. Dann können sich die Kinder an diesen schönen Tag erinnern.“

Ich lächle zufrieden. „Was für eine schöne Idee, Kari. Danke, dass du mir bei dem Fest so unter die Arme gegriffen hast. Ohne dich wäre es nicht so perfekt geworden.“

„Ach, Mimi“, sagt Kari und sieht ein wenig verlegen aus. „Du hast doch alles hier auf die Beine gestellt. Ich habe nur geholfen.“

Wie bescheiden sie ist. Ganz anders als ihr Bruder. Bei dem Gedanken muss ich kichern.

„Was gibt’s denn hier zu lachen?“, höre ich Takeru fragen, der nun ebenfalls zu uns kommt, nachdem er schon mal den Müll eingesammelt und beim Aufräumen geholfen hat.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und schaue ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Weißt du, was zum Lachen ist? Dass Kari noch keinen Ring am Finger hat.“

Entsetzt wirbelt Kari zu mir herum und gibt mir einen Klaps gegen den Oberarm, während sie meinen Namen zischt. „Mimi, psst!“

„Wieso? Ich habe keine Ahnung, worauf er noch wartet.“

Kari drückt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und schüttelt verständnislos den Kopf. „Tut mir leid, hör einfach nicht auf sie“, sagt sie an Takeru gewandt.

„Oh doch, bitte hör auf mich“, widerspreche ich ihr und sehe ihren Freund nun herausfordernd an. „Es ist eine Schande, dass ihr noch nicht verheiratet seid. Oder zumindest verlobt. Wann willst du Kari endlich einen Antrag machen? Sie ist perfekt …“

„Mimi“, zischt Kari erneut.

„Und schön.“

„Mimi.“

„Und verdammt klug und großherzig.“

„Mimi!“

„Was?“

„Vielleicht wollte ich ihr ja genau heute einen Antrag machen“, ergreift nun endlich Takeru das Wort. Kari und ich verstummen auf der Stelle und schauen ihn mit großen, ungläubigen Augen an.

„Ist das dein Ernst?“, frage ich, aber da kratzt er sich auch schon unbeholfen am Hinterkopf.

„Nein, aber wenn es so gewesen wäre, hättest du mir gerade ganz schön die Tour vermasselt.“

Kari und ich atmen erleichtert auf.

„Jag mir nicht so einen Schrecken ein“, japst Kari und wirkt plötzlich ganz aufgeregt. Takeru legt einen Arm um sie und zieht sie an sich ran.

„Glaub mir, meine Schöne, wenn ich dir einen Antrag mache, dann wird es dich umhauen! Und es wird ganz unerwartet kommen. Wie aus dem nichts. Es wird dann passieren, wenn du es am wenigsten erwartest.“

Ich sehe, wie Kari schluckt und puterrot um die Nase wird, während ich einfach nur grinse. „Geht doch“, sage ich zufrieden und zwinkere Takeru zu. Er zwinkert zurück und es fühlt sich gerade wie ein geheimer Pakt an. Auch wenn Kari ein wenig an ihm gezweifelt hat, ob er ihr jemals einen Antrag machen wird, so weiß ich dennoch, dass es eines Tages geschehen wird. Und wenn es geschieht, dann aus Liebe.

Dieser Gedanke ist wunderschön. Genauso wie die beiden, die sich gerade fest umarmen und küssen. Ich komme einfach nicht umhin, sie für ihr Glück zu beneiden.

Da fällt mir gerade ein: wo ist eigentlich mein Verlobter? Mit dem habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.

„Wir machen uns dann so langsam auf den Weg“, sagt Kari nun und rüttelt mich wach. Ich nicke und sehe mich erschöpft um. „Danke, dass ihr beim Aufräumen geholfen habt. Den Rest übernehme ich.“

„Okay, Mimi“, meint Kari und umarmt mich sogar zum Abschied. „Es war mir eine Ehre mit dir dieses Fest zu organisieren. Ich hoffe, ich darf dir dann auch bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen.“

Ich grinse unsicher, will ihr die Illusion jedoch nicht kaputt machen. Ich glaube, bei den Hochzeitsvorbereitungen bin ich die Letzte, die was zu melden hat.

„Bis bald, Kari“, sage ich und drücke sie noch ein mal fest an mich. Am liebsten würde ich sie gar nicht gehen lassen. Dieser Tag hat mir so unglaublich gut getan. Wenn ich daran denke, gleich in die Villa zurückkehren zu müssen, würde ich am liebsten weglaufen.

Doch da kommt auch schon der einzige Grund, warum ich doch gern bleiben möchte.

„Da ist ja mein Olaf“, grinse ich Tai an, der freundschaftlich einen Arm um meine Schulter legt.

„Nenn mich nicht so. Soll ich dich nach Hause bringen?“

Ich nicke, kneife ihn dann jedoch in die Seite. „Aber erst, wenn du mir erzählst, warum du Yuto gesagt hast, ich würde mit ins Fußballcamp kommen? Da bringen mich ja wohl keine zehn Pferde hin.“

„Okay, das klärt ihr mal schön unter euch“, lacht Kari und nimmt Takeru bei der Hand. „Komm, wir gehen.“

„Zu Befehl, meine Königin.“

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich den beiden hinterher sehe.

„Sie sind beneidenswert, oder?“, sagt Tai, der wohl meinen Blick bemerkt hat.

Ich räuspere mich und wische seinen Arm von meiner Schulter. „Also, was ist nun mit dem Fußballcamp?“

Tai verdreht lachend die Augen. „Das war nur so eine Idee. Dank dir habe ich jetzt mehr Anmeldungen als ich annehmen kann. Aber die Kinder freuen sich so drauf, ich könnte ihnen nie im Leben absagen. Also dachte ich, wenn du das Ganze schon verbockt hast, kannst du es auch ausbaden und mitkommen. Ich schaffe das nicht alleine.“

„Ich kann kein Fußball spielen“, erwidere ich, als läge das nicht auf der Hand.

Tai lacht. „Das habe ich mir fast gedacht. Aber die Kinder müssen schließlich auch betreut werden. Es geht nicht nur ums Fußballtraining, es geht darum, dass sie Spaß haben und erfahren, was es heißt, ein Team zu sein. Es geht darum, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Ich denke, die Kinder würden davon profitieren, dich dabei zu haben. Und ganz nebenbei wäre es gute Werbung für dein Image, die Kidos legen schließlich viel Wert auf Wohltätigkeit.“

Es klingt gar nicht schlecht, was Tai sagt und ich lege den Kopf schief. „Okay, ich denke darüber nach. Und das Ganze hat auch nichts damit zu tun, dass du mich in deiner Nähe haben willst?“

Tai beginnt zu grinsen. „Auf keinen Fall, was denkst du nur?“

„Ist klar“, antworte ich amüsiert.

Tai hilft mir den Rest aufzuräumen und inzwischen haben es auch alle Kinder zurück auf ihre Zimmer geschafft. Jim und Kaori und Joes Mutter haben sich natürlich schon viel früher verabschiedet, sie sind gar nicht bis zum Schluss geblieben. Immerhin haben sie gewartet, bis die Presse Fotos von ihnen gemacht hat, was sonst.

„Alles erledigt“, schnauft Tai, als er den letzten Müllsack verschlossen hat. „Deine Limousine wartet unten. Ich würde sagen, für heute hast du Feierabend.“

„Du auch“, sage ich. „Danke, für deine Hilfe.“

„Hab ich doch gern gemacht, Prinzessin“, lächelt Tai und ich grinse schief.

„Ich werde gleich nach Hause fahren, aber vorher muss ich noch was erledigen“, sage ich und Tai nickt.

„Alles klar, ich warte unten auf dich.“

Zum Glück fragt er nicht weiter nach. Das wäre sonst ziemlich unangenehm geworden, vor allem, weil ich mir vorgenommen habe, ihn nicht mehr anzulügen. Tai hat vorhin von diesem Kuss nichts mitbekommen, aber ich will das unbedingt klären.

Ich fahre mit dem Fahrstuhl einige Etagen nach unten, bis ich in der ankomme, wo Joe sein Büro hat. Er meinte vorhin, er hätte noch etwas Dringendes zu erledigen und hat sich nicht mal die Mühe gemacht, bis zum Schluss zu bleiben. Von seiner Familie habe ich nichts anderes erwartet, sein Vater ist nicht mal aufgetaucht. Aber er hat mich heute enttäuscht und zwar maßlos. Sein ganzes Verhalten war einfach nur zum Kotzen und dieser Kuss, möge er auch noch so kurz gewesen sein, war die Krönung des Ganzen.

Ich bleibe vor seiner Bürotür stehen und klopfe an. Keine Sekunde später ruft Joe „Herein!“ und ich trete ein. Er sieht kurz zu mir auf, als ich die Tür hinter mir schließe.

„Ach, du bist es“, sagt er und klingt dabei völlig gleichgültig. Dann widmet er sich wieder seinen Papieren. „Ich dachte, die Party ist längst vorbei. Was machst du noch hier?“

Ich verschränke die Arme vor der Brust und trete dicht an seinen Schreibtisch ran.

„Mach dir wenigstens die Mühe und sieh mich an, wenn ich mit dir rede. Das ist das Mindeste an Respekt, was ich von meinem Verlobten erwarte.“

Joe lässt den Stift sinken und schnauft, als wäre er von meiner puren Anwesenheit genervt.

„Hör mal, Mimi, ich habe hier echt noch zu arbeiten. Tut mir leid, wenn ich dir gegenüber respektlos erscheine, aber das ist nun mal wichtig.“

„Keine Sorge, ich lasse dich sofort wieder in Ruhe“, antworte ich ebenso genervt. Er soll ruhig wissen, dass mir das hier auch keinen Spaß macht. „Sobald du mir erklärt hast, was das mit dem Kuss sollte.“

Jetzt runzelt er auch noch die Stirn und sieht fragend zu mir auf, als hätte er gar keine Ahnung wovon ich rede. Er will mich doch nur ärgern.

„Du meinst, das vorhin vor der Presse?“

„Ja, genau das meine ich!“

„Ich hätte nicht gedacht, dass es dir was ausmacht“, erwidert er völlig ungerührt.

„Ach, komm schon, Joe. Ist das dein Ernst? Dachtest du, so stelle ich mir unseren ersten Kuss vor? Indem du mich überfällst, vor allen Leuten?“

„Oh, man“, meint Joe jedoch nur und massiert sich den Nasenrücken. „Warum stellst du dich deswegen so an? Du bist hierher gekommen, um mich zu heiraten. Du hast sogar gelogen deswegen. Du gibst dein ganzes Leben für diese Ehe auf. Und diese kleine Sache stört dich plötzlich?“

Fassungslos sehe ich ihn an. Warum ist er so kalt?

„Mimi, ehrlich … tu mir einfach den Gefallen und mach hier keine Szene. Das steht dir nicht zu, nach allem, was du getan hast.“

Ich schlucke schwer und presse die Lippen aufeinander. Am liebsten würde ich ihn ohrfeigen. Aber wie war das? Ich soll hier keine Szene machen. Gut, dann anders.

„Ich weiß, dass ich dich mit meiner Lüge verletzt habe, Joe“, sage ich hinter zusammengebissenen Zähnen. „Und das tut mir leid, das kannst du mir glauben.“

Joe gibt ein verächtliches Zischen von sich, als hätten meine Worte keinerlei Bedeutung für ihn. „Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mich so vorzuführen. Ich bin immerhin deine Verlobte und wir werden heiraten. Du hast dieser arrangierten Ehe genauso zugestimmt wie ich. Also tu du mir den Gefallen und krieg dich wieder ein. Sonst werden die nächsten 50 Jahre sehr unschön für uns beide. Bis dass der Tod uns scheidet, oder irre ich mich da? Willst du mich wirklich bis an mein Lebensende dafür büßen lassen, dass ich so egoistisch war und meiner Familie helfen wollte? Du hättest dasselbe für deine getan. Nein, mehr noch. Du würdest für sie über Leichen gehen, wenn dein Vater es von dir verlangen würde.“ Meine Augen fixieren seine und funkeln ihn an.

„Also, frag dich einfach mal, ob du dir ein Urteil über mich erlauben kannst und ob du wirklich besser bist als ich.“

Joe öffnet den Mund, um noch etwas zu erwidern, aber ich drehe mich um und lasse ihn sitzen. „Wir sehen uns zu Hause.“

Die Tür fällt hinter mir zu und ich atme erleichtert aus. Das hat verdammt gut getan. Joe muss wissen, wen er hier heiratet und dass er mich so nicht behandeln kann.
 

Immer noch emotional aufgeladen gehe ich zum Fahrstuhl und fahre in die Tiefgarage. Die Limousine wartet, wie Tai gesagt hat, aber von ihm keine Spur. Auch nicht, als ich einsteige. Ich warte noch fünf Minuten im Wagen auf ihn, aber dann sage ich dem Fahrer, dass er losfahren kann. Er rollt an, kommt aber bereits weniger Meter später wieder abrupt zum Stoppen.

„Was ist denn nun los?“, frage ich mich und die Tür der Limousine wird aufgerissen. Ich erschrecke so heftig, dass ich einen kurzen Schrei ausstoße, bis ich Tai erkenne und erleichtert ausatme.

„Oh man, du bist es nur. Gott, hast du mich erschreckt.“

Tai, der immer noch sein Olaf-Kostüm trägt, wie ich mein Elsa-Kostüm, kommt rein, macht die Tür hinter sich zu und setzt sich mir gegenüber. Wir fahren weiter. Aber irgendetwas stimmt hier nicht, das sehe ich sofort. Stutzig sehe ich ihn an, denn sein Blick durchbohrt mich förmlich. Warum sieht er so wütend aus?

„Was ist los? Warum warst du zu spät? Ich dachte, du wartest …“

„Du hast ihn geküsst.“

Was? Geküsst? Meint er etwa Joe? Aber das hatte er doch gar nicht mitbekommen.

„Ja, ähm, also das war so …“, beginne ich, aber Tai schnaubt nur.

„Du hast ihn echt geküsst“, wiederholt er total ungläubig, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Dann hält er mir sein Smartphone unter die Nase. Ich sehe einen Artikel von heute, druckfrisch von der Presse vor wenigen Minuten rausgeschickt. Und ein Bild dazu. Eins, auf dem es so aussieht, als würden Joe und ich uns richtig küssen. Man, da hat wohl jemand genau im richtigen Moment abgedrückt.

„Ich kann das erklären.“

„Du hast ihn geküsst“, wiederholt Tai nun schon zum dritten Mal und zieht sein Handy wieder zurück.

„Ja, das sagtest du bereits. Sollte dich das nicht eigentlich freuen?“

Tai zieht verärgert die Augenbrauen zusammen. „Warum sollte mich das freuen?“

Ich zucke mit den Schultern. „Weil du derjenige warst, der Joe überzeugen konnte, die Verlobung nicht zu lösen.“

„Oh, Mimi.“ Tai erhebt sich von seinem Platz und rutscht vor mir auf die Knie. Dann nimmt er meine Hände in seine und sieht zu mir auf. „Hast du mir denn gar nicht zugehört?“

Was hat er nur? Warum sieht er mich so an? Seine Augen fixieren mich, halten mich fest, genauso wie seine Hände, als wollten sie mir irgendetwas sagen.

„Ich weiß, diese Vorstellung ist absurd, aber …“, beginnt er und schüttelt lachend den Kopf. „Fällt es dir denn so schwer, zu glauben, dass es mir etwas ausmachen könnte, wenn dich ein anderer küsst? Sogar, wenn es dein Verlobter ist?“

Ich muss schlucken. Mein Herz beginnt wie wild gegen meine Brust zu hämmern, während Tais Blicke mir unter die Haut gehen. Warum ist das nur so?

„Es war gar kein richtiger Kuss“, sage ich leise. „Es sieht auf dem Foto zwar so aus, aber er hat nicht mal zwei Sekunden gedauert und unsere Lippen haben sich nur ganz kurz berührt. Außerdem war das nicht meine Idee. Ich habe Joe deswegen eben schon zur Rede gestellt. Es war … völlig deplatziert.“

Tais Blick wird sanfter und er sieht irgendwie beruhigt aus. „Ich habe mir schon gedacht, dass das nicht von dir ausging.“

Ich grinse, weil mir die Vorstellung gefällt, dass er eifersüchtig auf diesen Kuss ist. Aber sollte er das auch?

„Du weißt aber schon, dass Joe mein Verlobter ist?“

„Ja, und ich weiß, dass es früher oder später ohnehin passieren wird“, offenbart er mir. Mein Magen dreht sich um. Wie kann er das einfach so sagen?

„Aber, wenn es so weit ist, dann will ich wenigstens, dass es für dich auch okay ist. Dass du es dann auch willst. Das ist alles, was ich mir für dich wünsche. Oder alles, was ich mir wünschen darf. Auch wenn die Wahrheit anders aussieht.“

Mein Grinsen erlischt und mein Blick senkt sich traurig. Er hat recht. Das wissen wir beide. Joe und ich werden schon bald verheiratet sein. Früher oder später wird es passieren. Tai weiß das. Ich habe nur keine Ahnung, wie er diese Vorstellung ertragen kann, ich ertrage es ja selbst kaum. Es wäre so viel einfacher, wenn ich nicht gerade dabei wäre, mein Herz an ihn zu verlieren.

Ich nicke zaghaft, mehr kann ich nicht dazu sagen. Ich bin völlig erstarrt.

Tai streicht mir eine verirrte Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, aus dem Gesicht und lächelt mich dann zuversichtlich an. „Reden wir nicht mehr darüber, okay? Es hat mich eben nur so … so aufgewühlt, das ist alles. Ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen.“

Ich schüttle den Kopf und erwidere sein Lächeln. „Hast du nicht.“

„Gut“, meint Tai beruhigend und begibt sich zurück auf seinen Platz, obwohl ich mir gewünscht hätte, dass er meine Hände noch etwas länger festhält.

„Da wir das geklärt hätten …“, sagt er plötzlich und zieht mit einem Ruck den Reißverschluss von seinem Kostüm runter. Ich reiße die Augen auf. Darunter kommt nackte Haut zum Vorschein und ehe ich mich versehe, fängt er auch schon an, es komplett auszuziehen.

„Tai“, rufe ich empört und halte mir die Hände vors Gesicht. „Was tust du denn da?“

„Na, was wohl? Ich ziehe mich aus, das siehst du doch. Na ja, oder auch nicht. Du hältst dir ja die Augen zu. Sagtest du vorhin nicht so was wie, du hast nicht vergessen, was unter dem Kostüm steckt? Na los, riskier einen Blick.“

Wie bitte? Was soll das? Macht er etwa Scherze?

„Das heißt doch aber nicht, dass du dich vor mir ausziehen sollst. Was soll das werden? Denkst du, wir treiben es jetzt hier? Nur, weil ich ein bisschen mit dir auf dem Fest geflirtet habe?“

Ich höre, wie Tai laut auflacht und riskiere einen Blick in seine Richtung. Inzwischen sitzt er bis auf die Boxershorts ausgezogen vor mir.

Oh man, ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht.

Verdammt, ist er heiß! Diese Haut, diese Muskeln, ich will ihn anfassen!

„Ich sehe, dass du mich ansiehst, Mimi“, sagt er deutlich amüsiert, also nehme ich die Hände ganz vom Gesicht weg.

„Du machst mich fertig, weißt du das?“

Tai grinst. „Ich hoffe, ich beschere dir wieder ein paar schlüpfrige Träume.“

Puh, also davon kannst du ausgehen.

„Und jetzt hör auf zu sabbern, du bist schließlich verlobt“, scherzt er einfach weiter, während ich fix und fertig bin. Wo soll ich denn bitte hinsehen? Er sitzt doch direkt vor mir!

Trotzdem wende ich den Blick ab, während ich höre, wie er unter seinem Sitz etwas hervorkramt. Ein paar Sekunden später ist die Luft rein.

„Gefahr vorbei, kannst wieder gucken“, sagt er und ich stelle fest, dass er nun eine Jeans und ein Shirt trägt. „Tut mir leid, aber ich hatte dieses Kostüm jetzt geschlagene sechs Stunden an. Ich habe es keine Minute länger darin ausgehalten. Der Stoff hat unfassbar gejuckt.“ Er beginnt sich an beiden Armen zu kratzen und ich muss lachen.

„Danke, dass du es für mich so lange ausgehalten hast.“

„Nein, danke, dass du dieses Fest für die Kinder veranstaltet hast. Es war grandios. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen, aber dein Piano Solo war wunderschön.“

Hitze steigt mir ins Gesicht und mein Herz beginnt wieder aufgeregt zu schlagen.

„Danke, Tai. Ich habe es sehr genossen, es war alles perfekt.“ Von dem ganzen Presserummel mal abgesehen.

Wir fahren auf das Anwesen der Kidos und halten direkt vor dem Eingang. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich jetzt wieder in der Realität angekommen bin. Dieses Haus erneut zu betreten fühlt sich an, als würde mir jemand eine Leine um den Hals legen.

„Ich werd‘ dann mal gehen“, sage ich niedergeschlagen und schlucke den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, einfach runter.

Tai nickt.

„Sehen wir uns morgen?“, frage ich.

Ich brauche zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer.

„Worauf du dich verlassen kannst, Prinzessin.“

Ich will gerade aussteigen, als Tai zur Seite greift und mein Handgelenk packt.

„Und Mimi? Träum was Schönes.“ Sein schiefes Grinsen ist nicht zu übersehen und mein Blick gleitet noch mal über seinen Körper, auch wenn er inzwischen komplett angezogen ist. „Worauf du dich verlassen kannst, mein Olaf.“
 

Eine Stunde später sitze ich noch unten am Pool und schreibe in mein Tagebuch. Ungläubig blättere ich einige Seiten zurück und schüttle lächelnd den Kopf. Unfassbar, wie sich alles entwickelt hat. In den letzten Wochen sind so viele schreckliche Dinge passiert, aber auch Gute und Schöne – der Tag heute gehört definitiv dazu.

Ich bin gerade in meinen Eintrag vertieft, als mich ein Räuspern aus meinen Gedanken reißt.

Ich hebe den Kopf und sehe, dass es Joe ist, der vor mir steht. Sofort klappe ich mein Buch zu. Ich will nicht, dass er auch nur eine Silbe von dem erhascht, was ich hier reinschreibe.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Ich runzle die Stirn. Hat ihm der kleine Streit von vorhin etwa noch nicht gereicht?

„Nimm’s mir nicht übel, Joe, aber heute war ein sehr langer, aufregender Tag für mich und ich habe keine Kraft mehr, um mich …“

„Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten“, unterbricht er mich und setzt sich nun doch zu mir an den Tisch. Innerlich verdrehe ich die Augen. Wenigstens heute hätte er mich mit seinen Vorwürfen in Ruhe lassen können.

Er reicht mir sein Smartphone über den Tisch und legt es auf mein geschlossenes Tagebuch.

„Du hast heute gute Presse gemacht. Die Leute sind von dem Artikel begeistert.“

Ich schiele auf den Bildschirm und sofort springt mir das Foto von unserem Kuss ins Auge.

„Kenne ich schon. Und weiter?“

Joe nimmt das Handy wieder an sich, als er merkt, dass ich nicht daran interessiert bin auch nur ein Wort dieses Artikels zu lesen. Ich habe das schließlich nicht für die gute Presse getan, sondern für die Kinder.

„Und …“, beginnt Joe zögerlich und weicht meinem Blick aus. „Und es tut mir leid. Das möchte ich dir gerne sagen. Tut mir leid, dass ich dich einfach so geküsst habe. Du hattest recht, das war irgendwie unpassend. Unser erster Kuss hätte nicht so sein dürfen. Und es tut mir leid, dass ich dich in den letzten Tagen so abweisend behandelt habe.“

Ja, tritt mich denn ein Pferd? Joe Kido sitzt gerade leibhaftig vor mir und entschuldigt sich? Was ist passiert? Hat man ihm im Krankenhaus einer Gehirnwäsche unterzogen?

Als er meinen skeptischen Blick bemerkt, seufzt er.

„Das kannst du mir glauben.“

„Fällt mir schwer.“

Joe nickt. „Das verstehe ich. Allerdings hast du recht. Wir können nicht ewig so weiter machen. Wir werden bald heiraten und die Verlobungsfeier steht unmittelbar vor der Tür. Wir müssen wenigstens versuchen, ein Team zu sein. Ich habe auch keine Lust, die nächsten 50 Jahre damit zuzubringen, dich zu hassen. Das widerstrebt mir. Als du hier ankamst, mochte ich dich sehr und vielleicht sogar etwas mehr als das. Es wäre schön, wenn das wieder so sein könnte.“

Das muss ich kurz sacken lassen. Meint er das ernst? So, wie er mich die letzten Tage behandelt hat, hätte ich nicht gedacht, dass er das Kriegsbeil so schnell begräbt.

„Ich kann verstehen, wenn du Zeit brauchst. Die brauche ich auch. Aber du bist bald eine Kido und wir behandeln unsere Frauen gut.“

Wir.

Wie ich anfange, dieses Wort zu hassen.

„Also, erfüllst du hier gerade wieder nur deine Pflicht?“

Joe seufzt erneut und schüttelt den Kopf. „Nein, so ist das nicht. Ich möchte nur, dass wir versuchen, uns noch eine Chance zu geben. Als Ehepaar. Für deine Familie und für meine.“

Ich atme tief durch und muss das alles erst mal verdauen. Trotzdem hat er recht. Es wäre einfacher für uns alle, wenn wir uns vertragen würden. Vermutlich würde ich mich wieder wohler in diesem Anwesen fühlen, wenn mich nicht mehr alle hassen würden.

„Okay“, nicke ich schließlich. „Du hast recht, ich bin einverstanden. Lassen wir es hinter uns.“

Joe atmet erleichtert aus und schafft es, dabei schwach zu lächeln. „Ich bin froh, dass du das sagst. Also dann, wir sehen uns morgen beim Frühstück, ja? Jim und Kaori werden auch da sein.“

„In Ordnung“, sage ich, als Joe endlich aufsteht.

„Ach ja, und noch etwas.“

Erwartungsvoll sehe ich ihn an.

„Mein Vater hat gesagt, dass er möchte, dass deine Eltern zur Verlobungsfeier erscheinen. Das gehört sich so, dass die Familien an diesem Tag zusammenkommen.“

Verwirrt ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „Aber wie soll das gehen? Mein Vater ist immer noch angeklagt und darf das Land nicht verlassen.“

„Ja, das hat mein Vater auch gesagt“, meint Joe. Ich reiße die Augen auf, als ich begreife, worauf er hinauswill. „Deshalb werden wir alle nach New York fliegen. Die Verlobungsfeier wird dort stattfinden.“

Mimi
 

Fünf Tage sind bereits seit dem Krankenhausfest vergangen und in weniger als einer Woche werde ich wieder in New York sein. New York, Baby. Ich fliege wieder zurück nach Hause. Ich werde meine Eltern endlich Wiedersehen. Freunde. Hoffentlich auch Sally. Sally, ist meine beste Freundin, die ich jetzt schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe. Sie hat überhaupt nicht verstanden, warum ich nach Tokyo gereist bin, um einen fremden Mann zu heiraten, aber ich konnte es ihr einfach nicht erklären und seitdem wartet sie auf eine Antwort von mir.

Ich habe nicht zu träumen gewagt, dass ich dieses Jahr überhaupt nochmal nach Amerika fliegen werde, aber den Umständen geschuldet, geht es nicht anders. Für mich jedoch das Beste, was seit langem passiert ist, wenn man das Krankenhausfest ausklammert. Tatsächlich hat die Presse nur in den höchsten Tönen das Engagement und die Umsetzung für das Krankenhausfest gelobt. Meine Umfragewerte sind extrem in die Höhe geschossen und plötzlich lieben mich alle wieder. Es ist doch wirklich bizarr, wie schnell man gehypt, aber auch wieder fallen gelassen wird. Genauso wie bei Familie Kido selbst. Joe und ich gehen mittlerweile wieder normaler miteinander um. Wir unterhalten uns wieder. Ich habe mir vorgenommen, nun immer ehrlich zu Joe zu sein. Er soll mich kennenlernen und nicht eine ausgedachte Version von mir. Nur so, können wir wirklich herausfinden, wie wir zueinander stehen und ob er es wirklich ein Leben lang mit mir aushält. Ich bin gerade dabei zur Dachterrasse zu gehen. Irgendwie ist das unser Platz geworden. Wir frühstücken fast jeden Tag draußen. Es sei denn, dass Wetter spielt mal nicht mit. "Guten Morgen", ich verbeuge mich wieder leicht vor ihm. Wahrscheinlich wird das wohl nie aufhören. Vor Tai habe ich mich noch nie verbeugt. Tai.

"Guten Morgen, Mimi. Wie hast du geschlafen?"

"Danke gut, ich hoffe du auch."

"Ja, danke." Ja, mit diesen komischen Höflichkeitsfloskeln beschäftigen wir uns jetzt schon eine Woche.

Wie geht es dir? Wie hast du geschlafen? Wie war dein Tag? Es geht richtig tief.

"Ich muss dir noch etwas sagen." Sofort blickt Joe mich an und ich erkenne fast ein bisschen Panik in seinem Gesichtsausdruck. "Keine Sorge, kein weiterer Skandal oder böses Geheimnis. Ich wollte dir nur sagen, dass ich Golf nicht sonderlich mag und Schach spielen auch nicht. Ich finde das auch nicht romantisch. Ich finde es eher langweilig. Tut mir leid. Wobei eigentlich auch nicht, so bin ich eben. Ich begleite dich zwar dennoch gerne bei deinen Hobbys, aber es wird wohl dein Hobby bleiben." Joe lächelt und nickt.

"So etwas in der Art hab ich mir schon gedacht. Wobei du fandest den Tag echt nicht romantisch?" No way. Joe muss nochmal dringend Nachhilfe in Sachen Romantik erhalten. "Nicht so richtig. Der Antrag war zwar wunderschön, aber beim Rest …" Ich zucke mit meinen Schultern. Immerhin will ich ihn ja nicht vor den Kopf stoßen. "Was magst du denn? Was sind deine Hobbys?", fragt Joe und er scheint ehrlich interessiert zu sein. Das ist doch schon mal was. "Musik, ja hin und wieder auch Mal klassische Musik, gerade wenn ich am Piano sitze, aber wenn ich einfach nur Musik hören will, dann höre ich je nach Gefühlslage einfach alles. Ich will die Wut rauslassen - Rock. Ich will abtanzen - House oder Hip Hop. Ich bin emotional - Pop. Ich gehe gerne auf Konzerte und ins Kino. Ins Museum weniger. Warst du schon mal auf einem Konzert?" Joe schüttelt seinen Kopf und ja, es ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was er mag, ob es ihm dennoch genügt? “Und Tanzen natürlich. Ich habe immer schon getanzt, ob Cheerleader oder im Tanzverein. Hauptsache Bewegung. Ja und gutes Essen. Wirklich, ich gehe übrigens auch gerne auswärts essen. Nicht, dass der Koch hier schlecht ist, aber mal rauskommen ist auch schön.” Und das Gefühl, wenigstens ein bisschen frei zu sein. "Okay … Du bist wohl so etwas wie eine klassische Abschlussballkönigin und ich eher so etwas wie ein Nerd." Ja, so kann man es wohl sagen. Werden wir jemals auch Gemeinsamkeiten haben? Irgendwas, was uns verbindet? "Du bist ganz schön Gegensätzlich, aber heißt es nicht: Gegensätze ziehen sich an? Wenn du mich dennoch beim Golfspielen begleitest, können wir sicher auch gemeinsam ins Kino oder Restaurant gehen. Immerhin bedeutet eine Ehe auch immer irgendwo Kompromisse einzugehen." Er blättert wieder in seiner Zeitung und scheinbar wertet er unser Gespräch als positiv. Ich gehe mit ihm Golfen und der Arme muss mit mir in ein Restaurant? Was ein Opfer.

"Tanz mit mir." Joe blickt wieder zu mir auf, schüttelt dann aber irritiert seinen Kopf. "Du weißt doch, dass ich zwei linke Füße habe."

"Aber wir werden bald öfters zusammen tanzen. Auf unserer Verlobung, auf der Gala, auf der Hochzeit und vorher zu üben, wäre doch sicher nicht verkehrt und Übung macht bekanntlich den Meister."

"Schon möglich, aber ich muss gleich los und wir haben auch gar keine Musik hier."

"Ach bitte, ein Tanz und hier …" ich hole mein Smartphone hervor "ist mehr als genug Musik drauf." Ich öffne meine SpootifyApp, stehe auf und halte Joe meine Hand hin. "Darf ich bitten?" Joe zögert, aber schließlich ergreift er meine Hand. Walzer Musik läuft im Hintergrund und er nimmt die klassische Tanzhaltung des Herren ein. Ich wollte gerade den Schritt zurücksetzen, doch Joe hat den Einsatz verpasst und tritt mir prompt auf den Fuß. "Tschuldige."

"Kein Problem. Ich zähle laut, dann ist es einfacher, ok?" Ich konzentriere mich auf die Musik und warte auf den Takt. "Fünf - sechs - sieben - acht." Er schafft den Einsatz und ich zähle extra laut weiter. Wir tanzen den Grundschritt und bewegen uns im Quadrat. Es sieht etwas abgehackt aus, aber wenigstens schafft er es, mir nicht mehr auf die Füße zu treten. Ich versuche ein bisschen mehr zu wagen und uns im Quadrat weiter zu drehen, doch Joe verpasst den Einsatz und tritt mir wieder auf den Fuß. "Tschuldige", murmelt er wieder. Oh man, aber gut, ich geb nicht auf. Das wird noch. "Es war doch gar nicht so schlecht für den Anfang."

"Joe, du musst mehr in die Knie gehen." Sofort legt sich ein breites Lächeln auf meine Lippen. Diese Stimme geht mir sofort unter die Haut. Ich muss meinen Kopf nicht drehen, um zu wissen, wer da gerade gekommen ist. "Und halte die Arme weiter nach oben." Tai korrigiert Joes Tanzhaltung und führt ihm den Herrenschritt vor. Joe konzentriert sich und bis Endes des Songs unterläuft ihm auch kein Fehler mehr. Die letzten Töne verstummen und Joe löst die Tanzhaltung auf. "Danke dir, Joe." Joe hätte es immerhin nicht machen müssen und ich hoffe so sehr, dass es ihm auch etwas gefallen hat Nicht gleich heute, aber vielleicht irgendwann? "Schon in Ordnung, aber ich habe gleich meinen ersten Termin und muss daher los."

"Kein Problem, wir sehen uns heute Abend." Ich verbeuge mich wieder leicht vor ihm und sehe ihm noch kurz nach. Er ist und bleibt irgendwie prüde.
 

"Wie kam es denn dazu?", fragt Tai neugierig nach.

"Na ja, ich habe beschlossen, nicht mehr zu lügen oder mich zu verstellen. Joe soll mich so kennenlernen, wie ich bin und entweder kann er damit leben oder nicht."

"Find ich gut, er wäre verrückt dich nicht zu mögen." Ich grinse Tai wieder an und boxe ihn gegen die Brust. Wir wollten doch nicht flirten oder ist er einfach nur nett?

"Wiederhole nochmal das Lied von eben." Ich schaue ihn perplex an und drücke nochmal auf die Starttaste. Tai nimmt meine Hände und bringt sie in Position. Ich lächle. Er will mit mir tanzen. Einfach so. "Ich habe eben auch einen Fehler bei dir beobachtet."

"Ist das so?"

"Ja und daher ist meine Pflicht, dich zu korrigieren."

"Natürlich." Tai setzt passend zur Musik ein, sofort drehen wir uns im Quadrat, er führt mehrere Drehungen ein, sogar eine, die wir noch nicht gemeinsam geübt haben, aber das ist auch nicht nötig. Wir harmonieren so perfekt zusammen, die Bewegungen sind so fließend, so natürlich. Er drückt meine rechte Hand und ich begreife sofort, dass ich mich drehen soll. Er holt mich wieder ab und wir beginnen von vorne. Das Lied ist zuende und er lässt meine Hände viel zu schnell wieder los. "Alle Fehler korrigiert", grinst Tai.

"Ach hör doch auf. Ich bin perfekt, hast du denn noch die Salsa drauf?", frage ich provokant nach und ziehe eine Augenbraue nach oben. "Tzz, willst du mich beleidigen? Du willst doch nur wieder sehen, wie ich meine Hüften kreisen lassen kann?", grinst Tai viel zu überheblich und beginnt bereits mit dem Salsa-Grundschritt. Okay, er kann es noch. "Ich bin ja auch eine gute Lehrerin." Tai lässt 'Despasito' laufen, greift wieder nach meinen Händen und wir beginnen erneut gemeinsam zu tanzen und zwar eine Salsa. Als wäre es nicht auch so schon hitzig genug zwischen uns. Ich spüre ihn viel zu nah bei mir und von seinem Bewegungen wird mir ganz schwindelig.

Der Tanz ist vorbei und Frau Kido und Kaori stehen auf einmal vor uns. Blitzschnell lässt Tai meine Hand wieder los und distanziert sich etwas, als ob die Beiden so dann nicht gesehen haben, wie wir gerade noch getanzt haben und in unserer eigenen Welt waren. Wann sind die eigentlich gekommen?

"Tai, ich könnte deine Hilfe bezüglich des Visums für uns alle gebrauchen", fragt Frau Kido. "Hättest du eben Zeit?"

"Selbstverständlich. Ich komme gleich mit." Frau Kido und Tai gehen in die Villa rein und ich bleibe mit Kaori auf der Dachterrasse zurück.

"Wir haben eben nochmal alle zusammen für die Gala geübt. Joe auch", plappere ich schnell drauf los und rechtfertige mich. Zumindest fühlt es sich so an. "Hmm", macht Kaori jedoch nur. Sie ist wirklich gut, keine Ahnung was sie denkt. "Du … Kaori. Ich habe gehört, du hattest mal was mit Tai." Ich bringe es gleich auf den Punkt. Vielleicht schaffe ich es ja so, sie mal auf der Reserve zu bekommen und tatsächlich sie wirkt überrascht. "Ich weiß nicht was du meinst." Ist das ihr Ernst? Meint sie wirklich, ich würde jetzt einfach so locker lassen? "Ich meine die heimliche Romanze …" weiter komme ich nicht, denn blitzschnell steht Kaori vor mir und hält mir den Mund zu. "Nicht hier!" Okay. Wovor hat sie denn nur so große Angst? Wir sind doch alleine und eigentlich verstehen wir uns doch gut. Ich bin sicher, dass Kaori manchmal auch einsam ist und eine Verbündete zu haben, wäre doch wirklich schön. Für uns beide. "Komm mit."
 

Kaori geht Richtung Garten und setzt sich dort auf eine Bank. Ich setze mich neben sie und warte bis sie bereit ist, es zu erzählen. "Du weißt schon, dass die Villa überall Kameras hat oder? Im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer, in den Fluren und komplett außen herum." Ähm, nein das wusste ich nicht.

"Du solltest also aufpassen, was du wo sagst. Tai kann dir gefährlich werden, Mimi."

"Wie meinst du das denn?", frage ich ganz unschuldig nach, doch Kaori lächelt nur wissend.

"Ich bin zwar mittlerweile eine Kido, aber ich bin deswegen nicht blind. Ich sehe doch, dass du und Tai euch gut versteht."

Oh Fuck. Tai und ich müssen viel vorsichtiger sein. Wobei bei was? Es ist ja nicht so, als ob ich Tai mit Joe betrügen würde. Mein Herz ist nur verwirrt. Es schlägt immer mehr für ihn und Joe ist irgendwie im Weg. Dabei sollte es natürlich nicht so sein. "Und scheinbar vertraut er dir, sonst hätte er dir nicht von uns erzählt."

"Ach weißt du, ich bin da ganz alleine drauf gekommen. Ich habe bei ihm nur nachgefragt."

"Wirklich?", fragt sie überrascht. "Aber wie …"

"Na, ich bin auch nicht blind", grinse ich und auch Kaori muss kichern.

"Dann liegt es bei den Kidos wohl in den Genen."

"Sie sehen nur, was für sie wichtig und von Interesse ist, der Rest ist nicht von Belangen für sie", schlussfolgere ich. Kaori nickt und stimmt mir zu.

"Wie war es damals für dich?" Ich würde so gerne ihre Version hören. "Es bleibt unter uns. Fest versprochen." Ich halte ihr sogar meinen kleinen Finger hin und überlege kurz, ob das nicht eigentlich eine Sache zwischen Tai und mir ist. Kaori sieht mich ebenfalls irritiert an, legt aber ihren kleinen Finger auf meinen. "Ich habe Tai zufällig kennengelernt. Ich habe dir ja erzählt, dass ich Architektur studiert habe und wie der Zufall es so will, war Tai auch an der Uni."

"Das raff ich jetzt nicht, Tai hat doch überhaupt nicht studiert, oder?"

"Tai ist wohl schon immer ziemlich rastlos gewesen und findet nicht so richtig seinen Platz im Leben. Er probiert ständig irgendwas aus. Beruflich, wie privat. Er hat zunächst Politikwissenschaft studiert." What? Eine vollkommen neue Info. "Ich war im achten Semester und er im vierten und ich glaube, danach hat er auch abgebrochen. War ihm wohl zu trocken und wie du ja weißt, ist er dann Stuntman geworden. Er hatte es allerdings auch schon zu Uni-Zeiten gemacht, als Nebenverdienst sozusagen."

"Okay."

"Na ja und einmal gesehen, ging er mir nicht mehr aus dem Kopf. Wir haben uns dann immer öfter in der Bibliothek der Uni gesehen. Erst saßen wir an den Tischen nebenan und dann an einem. Wir haben uns unterhalten, geflirtet und gingen miteinander aus. Ich habe ihm gesagt, dass ich keine ernsten Absichten habe und er hat so getan, als ginge es ihm genauso."

"Wusstest du da bereits, dass du Jim heiraten würdest?"

"Nein, dass wusste ich nicht. Nur, dass es nicht mehr ewig dauern würde."

"Verstehe."

"Na ja, natürlich wurde doch was ernstes draus und natürlich hab ich Gefühle entwickelt. Es ist nicht schwer, sich in Tai zu verlieben. Er gibt dir das Gefühl, als seist du die einzige Frau auf dieser Welt."

Oh, wie wahr. Sie war ihm also doch verfallen. "Und dann?"

"Und dann hat mein Vater mich angerufen und nur gesagt: Es ist soweit und dass sie einen phantastischen Mann für mich gefunden haben. Zwei Tage später habe ich Jim und seine Familie kennengelernt und wir haben uns verlobt." Wow. Einfach so, als wäre es das Normalste und Einfachste auf der Welt. "Und wie war das für dich?" Kaori spielt mit einem ihrer langen Haarsträhnen und zwirbelt sie um ihren Finger herum.

"Na ja, ich habe versucht, mich davor zu schützen, mir immer wieder zu sagen, dass ich nicht bei Tai bleiben werde, aber natürlich war es schwer. Ich war verliebt und dann war es vorbei und ich war verlobt mit Jim. Ich habe gemacht, was von mir verlangt wurde. Ich habe jegliche Erinnerung an Tai gelöscht und mich ganz auf Jim konzentriert. Kalter Entzug sozusagen. Tai war wie ein Flammeninferno und Jim eher wie ein sanftes Kerzenlicht im Herbst. Du bist zwar nicht ständig heiß." Kaori zwinkert mir zu "aber dafür verbrenne ich mich auch nicht ständig und dieses warme konstante Kerzenlicht gefällt mir auch sehr."

Eine gute Metapher. "Daher Mimi, sei vorsichtig. Verbrenne dich nicht." Sofort schüttle ich den Kopf, als wäre sie komplett auf dem Holzweg. Dabei liegt sie so verdammt richtig. "Wir sind nur Freunde."

"Sowie Joe und Tai, was das Ganze ja noch komplizierter macht. Jim hat nicht wirklich viele Freunde. Nur Bekannte, ich glaube da beneidet er Joe auch ein Stückweit drum. Daher würdet ihr Joe auch noch doppelt verletzen und ein verletzter Kido, ist immer auch ein gefährlicher Kido."

Ich nicke, dass habe ich bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen.

"Ja, Joe ist meine Zukunft", versuche ich mir selber wieder in Erinnerung zu rufen. Ich muss das lodernde Feuer, welches sich immer mehr wie ein Feuer in mir ausbreitet, löschen. Mit Wasser, mit Decken, mit allem was geht.

"Ich bin natürlich geschockt gewesen, als Tai hier plötzlich ständig auf der Matte stand. Ich habe kurz gedacht, er hat den Job nur meinetwegen angefangen, aber so ist es nicht. Außerdem würde ich Jim niemals verlassen und das weiß Tai auch. Mittlerweile hab ich mich in Jim verliebt." Hat sie das wirklich? Es wäre ihr zu wünschen und vielleicht kann ich das mit Joe ja auch haben. Eines Tages, irgendwann in der Zukunft. In ganz ferner Zukunft. "Freut mich für euch. Ich hoffe, ich kann das mit Joe auch haben. Eines Tages."

"Bestimmt. Dennoch war es damals nicht okay von mir Tai ohne jegliche Erklärung abzuservieren. Ich bin morgens aus seiner Wohnung, dann kam der Anruf und ich habe mich einfach nicht mehr bei ihm gemeldet. Das war fies und eine Entschuldigung ist längst überfällig. Ich habe es damals nur einfach nicht übers Herz gebracht und jetzt ist es mir lieber, die Vergangenheit da zu lassen, wo sie ist." Ich sehe wie Tai und ich immer mehr in unser Unglück stürzen und ich glaube, dass Kaori mich wirklich nur davor bewahren möchte. Aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll, wie ich aufhören kann, an ihn zu denken,

über ihn zu schreiben,

von ihm zu träumen.

Wenn mir doch nur das bleibt, ist es dann wirklich so verwerflich?

"Danke Kaori. Ich kann mir vorstellen, wie schwer es damals für dich gewesen sein muss. Für euch beide."

"Irgendwie war es schön, darüber mal zu reden und ja, war es. Ich denke heute haben wir Beide unseren Frieden damit geschlossen. Immerhin wusste ich, dass Tai niemals Single bleiben wird, dazu sieht er zu gut aus und ist auch einfach ein toller Kerl." Auch damit hat Kaori recht. Der Gedanke, dass Tai eine andere Freundin haben könnte, macht mich panisch, dabei hätte er es so verdient: Die Liebe, die gegenseitige unabkömmliche Liebe. Es ist egoistisch von mir, dass ich ihn nicht loslassen kann, aber der Gedanke, dass er sein Herz einer anderen schenkt, macht mich wütend, traurig und eifersüchtig zugleich. Nein, das will ich nicht. Dennoch sage ich: "Genau, Tai wird schnell wieder jemanden kennenlernen." Autsch, das tut weh. Was, wenn er bei unserer Hochzeit mit einem Date auftaucht. Oh Gott, das würde ich nicht aushalten, aber wie kann ich dann von Tai erwarten, dass er es aushält, wenn ich einen anderen heirate?

"Sollen wir mal wieder zurück?", fragt Kaori nach und ich nicke. Ich hänge noch viel zu sehr in meinen Gedanken fest.
 

Als wir zurück sind, sehe ich Tai, wie er telefoniert und ganz beschäftigt wirkt und gleich wird mir klar: Ich bin nicht stark genug, mich von ihm fernzuhalten. Es wäre soviel besser. Für ihn. Für mich. Für uns, aber gleichzeitig wehrt sich mein Innerstes dagegen. Es ist so, als würde ich nur existieren, weil Tai hier ist. Sein Lächeln, seine Augen, seine herzliche Art. Ich kann ihn nicht einfach so aufgeben. Ob Kaori das wirklich nie bereut hat? Sie hat sich einfach ihrem Schicksal gefügt, weil sie nie eine Wahl hatte und wie sieht das bei mir aus? Hab ich die? Nicht wirklich und trotzdem bleibt in mir ein Funken Hoffnung. Hoffnung darauf, dass mein Weg noch einige Abbiegungen bereithält und wenn ich irgendwann an dieser Kreuzung stehe, genau weiß in welche Richtung ich gehen muss.

Kapitel 22

Mimi
 

Ich bin so aufgeregt, dass ich seit Tagen nicht richtig geschlafen habe. Ich werde niemals das Geräusch vergessen, als ich meine Mutter anrief und ihr erzählt habe, dass die Verlobungsfeier in New York stattfinden wird. Erst japste sie nach Luft und dann fing sie an zu quieken, wie ein Meerschweinchen. Seitdem sind alle aus dem Häuschen, vor allem aber die Medien. Seit die Meldung rausging, dass die Verlobungsfeier nicht in Tokyo veranstaltet wird, sondern in New York, damit mein Vater dabei sein kann, werden die Kidos noch mehr als überaus gutherzig gefeiert. Außerdem unterstreicht diese Geste noch mal all zu deutlich, wie sehr sie hinter meinem Vater stehen und an seine Unschuld glauben – zumindest nach außen hin. Dass das nicht die Wahrheit ist, ist mir gerade herzlich egal, ich freue mich einfach nur, meine Eltern wieder zu sehen. Ich hatte gehofft, zu Hause in meinem eigenen Bett schlafen zu können. Aber ich bin bald eine verheiratete Frau, also muss ich natürlich bei meinem Verlobten bleiben und mit der ganzen Familie Kido in einem Fünf Sterne Hotel übernachten. Auch okay, solange eine bestimmte Person an meiner Seite sein wird.

Endlich sind wir am Flughafen angekommen. Es war schon grotesk genug, mit dem ganzen Kido Clan, Tai und Ansgar in einer einzigen Limousine zum Flughafen zu fahren – es herrschte eisige Stille. Aber jetzt stolzieren wir auch noch mit Security über den Flughafen, was ich total affig und übertrieben finde. Die Leute gaffen natürlich und zücken ihre Smartphones, sobald sie uns sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass manche von ihnen noch nicht mal unsere Namen kennen, aber immerhin sehen wir ziemlich wichtig aus, also wird schnell ein Foto gemacht.

Ich versuche das alles auszublenden, weil ich mir die Vorfreude nicht kaputt machen will. Vielleicht wird es ja in New York etwas ruhiger, dort interessiert man sich sicher nicht in diesem Ausmaß für uns.

Haruiko und seine Frau gehen voran, gefolgt von Jim und Kaori, gefolgt von Joe und mir, gefolgt von Tai und Ansgar – der natürlich bei so einer Reise nicht fehlen darf. Ich muss kichern, bei der Vorstellung, wie wir gerade aussehen. Wie ein Haufen Kindergartenkinder, die alle brav dem Papi hinterher dackeln.

„Was ist so lustig?“, fragt Joe, als wir einen gesonderten Bereich betreten, der für normale Passagiere nicht zugänglich ist.

„Ach nichts“, schwindle ich. „Ich bin nur ein wenig nervös, das ist alles.“

„Ja, kann ich mir vorstellen. Du hast deine Familie lange nicht gesehen. Ich bin sehr auf deine Eltern gespannt und freue mich, sie kennenzulernen.“

Ich nicke, als wir durch einen fast menschenleeren Bereich gehen und raus auf den Flugplatz treten, wo der Privatjet der Familie Kido für uns bereit steht. Gut, dass sie nicht wissen, wie ich das letzte Mal gereist bin.

Zwei Stewardessen und zwei Piloten warten darauf, uns mit einer Verbeugung zu empfangen. Wir steigen die Treppen nach oben und mit jeder Stufe steigt auch mein Herzschlag. In 13 Stunden werde ich endlich meine Eltern wiedersehen, ich kann es kaum erwarten.

„Es wird alles gut werden, Mimi“, höre ich Tai hinter mir sagen, während wir nacheinander das Flugzeug betreten. Ich muss lächeln. Er spürt als Einziger meine Aufregung. Als wären wir miteinander verbunden.

„Kannst du Gedanken lesen?“, frage ich, ohne mich umzudrehen.

„Nein, aber da du seit heute Morgen schon kreidebleich aussiehst, dachte ich mir, dass du vielleicht etwas nervös bist.“

Nervös trifft es nicht im Ansatz. In meinem Kopf kreist die ganze Zeit der Gedanke, wie wohl das erste Aufeinandertreffen sein wird. Wird der Prof. meinen Vater wie Luft behandeln? Was werden meine Eltern von Joe halten? Werden sich unsere Familien trotz des Skandals verstehen? Ist das überhaupt möglich, nach allem, was passiert ist oder wird die ganze Sache wieder das reinste Schauspiel?

Wie auch immer es werden wird, eins steht fest:

„Ich freue mich darauf, dir endlich meine Welt zeigen zu können“, sage ich leise, so dass nur Tai es hören kann.

„Ich kann es kaum erwarten, Prinzessin.“

Ich setze mich neben Joe auf die rechte Seite des Flugzeugs, er überlässt mir sogar den Fensterplatz. Tai und Ansgar sitzen auf der linken Seite und der Rest eine Reihe weiter. Es sind genügend Plätze für alle da und ich staune, wie unfassbar bequem dieser Sitz aus hellem Leder ist. Ich habe zwar schon einige Privatjets gesehen, aber dieser hier übertrifft meine Vorstellungen. Das Teil muss ein Vermögen gekostet haben, so luxuriös wie es von innen aussieht.

Kaum sitzen wir alle, kommt wenige Minuten später die Durchsage des Piloten, dass wir uns anschnallen sollen. Über einen Bildschirm an der Decke erklärt er uns die Flugstrecke. Wir legen einen Zwischenstopp in Paris ein, um aufzutanken, danach geht es direkt weiter nach New York. Noch 13 Stunden. Nur noch 13 Stunden.

Allein bei der Vorstellung bald wieder zu Hause zu sein, schlägt mein Herz wie verrückt. Das Flugzeug rollt an und ich kralle mich an der Armlehne fest. Ist es normal, dass mein Puls so schnell geht?

„Flugangst?“, fragt Joe und legt seine Hand auf meine.

„Hmm“, ist jedoch alles, was ich herausbringe. Eigentlich habe ich gar keine Flugangst. Aber warum dreht sich dann mein Magen um, als wir immer schneller werden und abheben?

Ich halte die Luft an und schließe die Augen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich die richtige Flughöhe erreicht haben und ein Zeichen aufleuchtet, dass wir uns abschnallen können. Sofort springe ich von meinem Sitz auf. „Bin gleich wieder da“, sage ich knapp und gehe geradewegs zu den Toiletten. Ich schließe hinter mir ab und stütze mich auf das dunkle Marmorwaschbecken. Verdammt, ist mir übel. Noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, drehe ich mich um und übergebe mich in die Kloschüssel. Es kommt nicht viel und schlagartig fällt mir ein, dass ich das Frühstück habe ausfallen lassen. Ich war so damit beschäftigt, die restlichen Sachen einzupacken, dass ich keine Zeit dafür hatte. Ich habe es einfach vergessen. Vermutlich ist mir deshalb so übel, dazu noch die ganze Aufregung. Da kann der Körper schon mal verrückt spielen.

Als ich fertig bin, drehe ich mich wieder zum Waschbecken und nehme mir eine der vielen, eingeschweißten Zahnbürsten aus dem Regal. Ich putze mir die Zähne und wasche mein Gesicht, aber ich fühle mich immer noch unwohl in meiner Haut. Vielleicht liegt es auch daran, weil ich hier mit diesen Menschen, in einem Flugzeug, in schwindelerregender Höhe gefangen bin. Mal ehrlich, was würde sie davon abhalten, mich einfach aus dem Flieger zu werfen? Vermutlich Tai. Er würde mich beschützen, weil er das immer tut.

Was denke ich denn da für einen Schwachsinn? Ich sollte definitiv was essen, mein Hirn kann ja gar nicht mehr richtig arbeiten.

Es klopft an die Tür. „Mimi? Ist alles in Ordnung?“ Es ist Kaori.

Ich öffne die Tür und sofort trifft mich ihr sorgenvoller Blick. „Ist alles okay bei dir?“

Ich nicke. „Ja, mir ist nur etwas flau im Magen, das ist alles.“ Nett von ihr, dass sie sich Sorgen macht.

Als ich wieder zurück auf meinen Platz gehe, sehe ich, wie Tai nun gegenüber von Joe sitzt und die beiden sich angeregt unterhalten. Tai hebt den Kopf, als er mich kommen sieht und auch er mustert mich auffallend.

Ich setze mich neben Joe, der munter weiter redet, während Tai’s Augen weiterhin auf mir ruhen.

„Jedenfalls hat mich daraufhin der Chefarzt der Chirurgie angesprochen, ob wir nicht …“

„Geht es dir gut?“, fragt Tai und fällt damit Joe voll ins Wort. Dieser unterbricht sofort seine Rede und sieht mich fragend an. Ich habe den Kopf abgestützt und starre aus dem Fenster.

„Ja, könnte nicht besser sein. Ich habe nur vergessen zu frühstücken.“

„Oh“, macht Joe, als würde ihm gerade ein Licht aufgehen. Ernsthaft? Hat er sich heute Morgen gar nicht gefragt, wo ich bin? „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Joe winkt eine Stewardess ran und ordert ein Menü, doch ich unterbreche ihn, ehe er ausgesprochen hat. „Haben Sie vielleicht einfach Ingwerkekse? Gegen die Übelkeit.“

Die junge Frau lächelt mich freundlich an. „Aber selbstverständlich, ich bringe Ihnen sofort welche.“

„Ist das wirklich alles, was du willst?“, fragt Joe skeptisch und ich nicke. Mir ist grad gar nicht wirklich nach Essen.

Kurz darauf bekomme ich meine Kekse und knabbere daran rum, während ein Film gegen die Langeweile eingelegt wird. Ich spüre, wie Tai mich von seinem Sitz aus beobachtet. Wie er immer wieder zu mir rüber schielt, um sich zu vergewissern, dass ich noch atme. Irgendwann, als Joe die Toilette aufsucht, kommt er zu mir rüber und setzt sich auf seinen Platz.

„Geht’s dir wirklich gut?“

Ich habe mich mit einer Decke tief in meinen Sitz zurückgelehnt und schaue nun zu ihm.

„Du musst es wirklich nicht übertreiben, mit deiner Fürsorge. Und ja, mir geht es gut.“ Stimmt zwar nicht ganz, aber bevor er noch das Flugzeug notlanden lässt, nur, weil ich eine kleine Magenverstimmung habe …

„Trotzdem süß, dass du dir Sorgen machst“, flüstere ich grinsend, aber er rollt nur mit den Augen.

„Mach keine Witze. Sag mir einfach, wenn es dir schlecht geht.“

Ich seufze und nicke. Dann verschwindet er wieder auf seinen Platz, genau in dem Moment, als Joe wieder kommt.

Er lehnt sich gemütlich zurück und schaut, wie ich, den Film weiter. „Möchtest du dich anlehnen?“, fragt er liebevoll. Ich zögere kurz, da es noch gar nicht so lange her ist, dass er mich quasi wie Luft behandelt hat. Doch dann erinnere ich mich wieder daran, dass wir ja von vorne anfangen wollten und gerade wirklich auf einem guten Weg sind, also lasse ich es zu und lehne meinen Kopf an seine Schulter.
 

Irgendwann landen wir in Paris, ich habe gar nicht die Stunden gezählt, aber inzwischen ist es fast dunkel. Uns steht noch eine weite Reise bevor und wir kommen gar nicht dazu, uns groß die Füße zu vertreten, denn kaum ist das Flugzeug aufgetankt, geht es auch schon weiter. Das Abendessen wird serviert und ich probiere ein paar Happen. Inzwischen geht es mir ein bisschen besser, allerdings leistet die Nervosität ganze Arbeit. Ich habe keine Ahnung, ob ich in meinem Leben jemals schon so aufgeregt war. Es ist nur die Verlobungsfeier. Was soll das erst werden, wenn ich vor den Traualtar trete?

Nach dem Essen lassen sich Joes Eltern bei uns blicken, Jim und Kaori kommen auch dazu und mir fällt auf, dass wir seit der Abreise alle so gut wie gar nicht miteinander geredet haben. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, also setze ich mich einfach ein wenig aufrechter hin.

„Ich möchte mit euch anstoßen“, verkündet Haruiko feierlich, während Ansgar mit einem Tablett, auf dem sieben Champagner Gläser stehen, zu uns kommt. Jeder nimmt sich eins, nur ich lehne ab. Für Alkohol ist mein Magen definitiv noch nicht bereit.

Haruiko erhebt sein Glas wie bei einer Rede und prostet dabei Joe und mir zu. „Auf euch, ihr beiden. Ich sehe einer glänzenden Zukunft für unsere Familie entgegen. Ich weiß, diese Verlobung stand eine Zeit lang unter einem schlechten Stern, aber inzwischen glaube ich, dass wir dies überwunden haben.“

Bitte?

Was ist denn mit dem los? Ist er high?

„Dieser Vorfall hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass die Familie zusammenhält.“

Ich starre ihn ungläubig an.

Ja. Zusammen gegen mich, das meinte er wohl. Irre ich mich oder waren nicht vor ein paar Wochen noch alle der Meinung, ich solle so schnell wie möglich verschwinden?

„Mimi?“

Oh Gott. Ich bin Mimi. Er sieht mich an. Was will er von mir?

„Ich hoffe, du weißt, welche Verantwortung nun auf deinen Schultern liegt. Du darfst dir ab heute nicht mehr den kleinsten Fehltritt erlauben.“

Klingt irgendwie wie eine Drohung.

Ich schlucke schwer. Ich soll also perfekt sein, das meint er doch damit. Und wenn nicht? Was dann? Werde ich für immer das schwarze Schaf in der Familie sein?

Er lächelt mich zwar an, aber ich sehe auch, wie seine Augen mich durchbohren.

„Ob diese Verbindung eine Chance hat, liegt nun allein in deinen Händen“, sagt Dr. Kido und alle nicken eifrig, wie kleine, dressierte Zirkusaffen.

Mir wird schlagartig wieder schlecht.

„Aber ich bin voller Zuversicht.“

Der lügt doch! Ich bin mir sicher, am liebsten würde er mir einen Arschtritt verpassen und mich aus dem Flieger kicken.

Diese Ansprache kommt mir mehr als hinterhältig vor, trotzdem nicke ich.

„Ich werde mein Bestes geben.“

„Da bin ich mir sicher.“

Danke. Bloß keinen Druck.

„Danke, dass du uns deinen Segen gibst, Vater“, sagt Joe und erhebt sein Glas.

Alle stoßen freudig an und kippen sich den Champagner runter, während sich mir einfach nur der Magen umdreht. Wie scheinheilig kann man eigentlich sein? Kein Wort von dem, was er gesagt hat, klingt aufrichtig.

„Stimmt etwas nicht?“, meint Frau Kido plötzlich und legt den Kopf schief. Irritiert sieht sie mich an, vermutlich weil ich stocksteif wie ein Felsbrocken auf meinem Sitz hocke.

„Oh, Liebes! Du siehst ja gar nicht gut aus. Bist ganz blass.“

Und mein Mund ist staubtrocken. „Es ist nichts.“ Schnell nehme ich einen Schluck Wasser, als sie mit einem Mal anfängt nach Luft zu ringen. Erschrocken reiße ich die Augen auf, weil ich schon denke, sie hat irgendeinen Anfall. Dabei greift sie sich einfach nur an die Brust und ein übertriebenes Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, das immer breiter wird.

„Oh mein Gott“, japst sie und alle werfen ihr fragende Blicke zu. „Mimi! Du bist schwanger!“
 

Noch im selben Moment klappt mir der Mund auf, so wie allen anderen Anwesenden. Was hat sie da eben gesagt?

Doch Frau Kido lässt sich gar nicht beirren. Stattdessen zeigt sie mit dem Finger auf mich. „Sieh dich doch an, Kind. Ich denke schon den ganzen Tag, wie blass du doch bist und Kaori hat vorhin gehört, wie du dich auf der Toilette übergeben hast. Du trinkst keinen Alkohol und du isst die ganze Zeit diese Ingwerkekse. Die habe ich auch immer gegessen, als ich in anderen Umständen war. Oh mein Gott“, keucht sie erneut und wedelt sich mit der Hand Luft zu, während mir vermutlich der letzte Rest Farbe aus dem Gesicht gewichen ist. „Ich wusste ja nicht, dass ihr euch schon so nah gekommen seid.“

Macht sie Witze?

„Mimi, stimmt das?“, will Kaori wissen, doch ich sehe sie nur völlig schockiert an.

„Ja Mimi … stimmt das?“, hakt nun auch Tai nach, der bis jetzt ruhig war, aber inzwischen sieht er gar nicht mehr so entspannt aus.

„Also, ich habe nur …“, versuche ich zu erklären, aber komme mal wieder nicht zu Wort.

„Meine Güte, ein uneheliches Kind. Das wäre der nächste Skandal“, stellt Joes Vater mit Entsetzen fest und muss sich erst mal setzen. „Das ist das Letzte, was unsere Familie jetzt gebrauchen kann. Joe, mein Sohn, ihr müsst mit der Verkündung der Schwangerschaft unbedingt bis nach der Hochzeit warten.“

„Oh man, Brüderchen, da hättet ihr wirklich ein bisschen besser aufpassen müssen. Aber ich stoße trotzdem auf euch an. Herzlichen Glückwunsch“, lacht Jim auf und prostet uns zu.

„Ja, herzlichen Glückwunsch“, nuschelt Tai, leert sein Glas Champagner in einem Zug und greift dann nach der noch vollen Flasche, die vor uns auf dem Tisch steht, um sich selbst nachzuschenken.

Ich kann nicht fassen, was hier grad passiert.

Joe, der wie vom Blitz getroffen da sitzt und ziemlich rot im Gesicht aussieht, ist sprachlos, während ich einfach nur ungläubig lache. „Okay, wo ist die versteckte Kamera?“, frage ich und sehe mich suchend um.

„Ach, ich freue mich ja so für euch beide. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es bei euch funkt“, meint Joes Mutter, die mir offensichtlich gar nicht zuhört und verdreht doch tatsächlich ganz verträumt die Augen.

„Das … das ist ein Missverständnis“, sagt Joe jedoch endlich und ich nicke eifrig.

„Genau, wir sind nicht … ich meine, ich bin nicht schwanger. Definitiv nicht.“ Und schon gar nicht von Joe, den ich noch nicht mal richtig geküsst habe. „Ich habe nur vergessen zu frühstücken und dazu noch die Aufregung … es ist lediglich eine kleine Magenverstimmung, nichts weiter.“

Haruiko, der bis eben noch seinen Kopf auf seine Hände abgestützt hat und ziemlich verzweifelt aussah, sieht nun überrascht zu uns auf. „Nicht schwanger?“

„Nein“, sage ich entschieden und sehe alle Anwesenden noch mal eindringlich an. „Ich bin nicht schwanger!“

„Richtig“, nickt Joe, der offensichtlich seine Sprache wiedergefunden hat. „Wir sind ja gerade erst dabei, uns wieder etwas anzunähern. Wie könnte Mimi da schwanger sein?“

Kaori nickt verstehend, während Joes Mutter nur ein enttäuschtes „Oh“ rausbringt und in sich zusammen sackt.

„Jetzt bin ich tatsächlich ein wenig erleichtert, mein Sohn“, äußert Joes Vater und Tai stimmt zu. „Ich auch.“

Der Prof. sieht ihn fragend an.

„Äh, wegen der Presse natürlich. Sie haben recht, das wäre der nächste Skandal gewesen.“

„Ganz recht“, bestätigt Haruiko und sieht uns beide ernst an. „Ein uneheliches Kind hat es in der Geschichte der Kido Familie noch nie gegeben, also werdet ihr jetzt nicht damit anfangen.“, mahnt er uns, als wären wir zwei Erstklässler.

Na ja, zumindest das sollte kein Problem sein. Joe ist nett. Wieder. Und wir verstehen uns ganz gut. Wieder. Aber mit ihm schlafen? Nein, das könnte ich jetzt noch nicht. Dafür sind wir uns noch zu fremd. Es ist nicht so, dass ich noch nie einen One-Night-Stand hatte, aber das hier ist etwas völlig anderes. Das hier ist Ernst.

„Darüber musst du dir keine Sorgen machen, Vater“, antwortet Joe und ich sehe ihn leicht irritiert an. Ich weiß grad nicht, ob ich ihm zustimmen oder beleidigt sein soll. So wie er es sagt, klingt es, als wäre es absolut undenkbar. Findet er mich gar nicht attraktiv? Letztendlich nicke ich jedoch, weil ich einfach nur froh bin, dieses sensible Thema nicht weiter mit seiner Familie ausdiskutieren zu müssen.

„Das sehe ich auch so.“

„Dann ist ja gut“, sagt der Prof. und auch Tai sieht nun deutlich entspannter aus. „Wo wir gerade beim Thema wären, wie sieht es denn mit eurer Familienplanung aus, Jim? Ich warte auf einen Erben.“ Er sieht Jim und Kaori fragend an, die ihm natürlich gleich Rede und Antwort stehen müssen und auch wenn sie mir grad leid tun, so bin ich doch erleichtert, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr auf mir ruht.
 

Nach dem Abendessen geht es zum Glück wieder ruhiger zu und ich muss mich mit niemandem mehr unterhalten. Joe ist sehr früh beim Lesen eingeschlafen, während ich noch wach bin und in die dunkle Nacht hinausschaue. Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und sehe, dass seine Brille, schief auf seiner Nase hängt. Ich nehme sie ihm ab, klappe auch das Buch zu, das er noch immer in seinen Händen hält und lege es zur Seite.

Dann kuschle ich mich wieder unter meine Decke, als jemand sich mir direkt gegenübersetzt.
 

Tai
 

„Hey“, sage ich und setze mich in den Sitz gegenüber von Mimi. „Kannst du nicht schlafen?“

Mimi schüttelt den Kopf. „Nicht so richtig. Und du?“

„Nein, ich auch nicht.“ Prüfend sehe ich mich im Passagierraum um. Alle schlafen bereits, außer wir beide.

„Wie geht’s deinem Magen?“

„Etwas besser. Aber ich bin immer noch sehr aufgeregt. In ein paar Stunden landen wir schon und ich frage mich, was dann passieren wird.“

„Was dann passieren wird?“, wiederhole ich. „Wir werden von einer Limousine abgeholt und checken dann ins Hotel ein. Einen Tag später beginnt die Anprobe für die Verlobungsfeier und dann …“ Ich rattere einfach Joes imaginären Terminkalender runter, aber Mimi winkt ab.

„Nein, nein, das meine ich nicht. Ich meine … also ich frage mich, wie sie ihn finden werden.“ Sie schielt zu Joe rüber und plötzlich wird mir klar, worauf sie hinaus will.

Nachdenklich lege ich den Kopf schief, während ich meinen schlafenden Freund betrachte. „Na ja, er ist ein netter Kerl. Er ist gebildet, kommt aus gutem Haus, hat tadellose Manieren. Und er ist Arzt. Gibt es irgendeinen Grund, warum ihn deine Eltern nicht mögen sollten?“

Daraufhin seufzt Mimi, schlägt ihre Decke zurück und kommt auf die andere Seite, um sich neben mich zu setzen. Vermutlich nur, damit wir uns besser unterhalten können. Aber ein kleiner Teil in mir hofft auch, dass sie meine Nähe sucht.

„Meine Mutter hat immer gesagt“, beginnt sie und lehnt sich ein Stück zu mir rüber. „Dass es ihr egal ist, wie reich mein zukünftiger Ehemann sein wird oder welchen Status er hat. Sie wünscht sich nur, dass er mich gut behandelt. Und Joe …“ Sie sieht zu ihm rüber und etwas unergründliches liegt in ihrem Blick. „ … war die letzten Wochen nicht sonderlich nett zu mir. Es war furchtbar für mich, dass er mich so herablassend behandelt hat. Das habe ich noch nicht vergessen. Auch wenn ich glaube, dass er ein gutes Herz hat, so weiß ich jetzt auch, dass ich in Zukunft besser aufpassen sollte.“

Ich verstehe was sie meint. Die Familie steht bei den Kidos an erster Stelle und Mimi hat diese oberste Regel verraten – ohne es zu wissen – aber sie hat es getan. Und dafür die Konsequenzen getragen.

„Tai?“

„Hmm?“

„Warum bist du mit ihm befreundet?“, flüstert sie und kommt noch ein Stückchen näher gerutscht, während sie mit dem Kopf auf Joe deutet. Ich sehe zu ihm rüber. „Was genau meinst du?“

„Ich meine, warum ausgerechnet ihr beide Freunde seid? Ihr seid so unfassbar verschieden, gegensätzlicher geht es fast gar nicht. Genauso wie er und ich. Ich habe das Gefühl, dass wir so absolut gar nichts gemeinsam haben und frage mich manchmal, wie das in einer Ehe funktionieren soll. Wie macht ihr beide das?“

Ich verstehe diese Frage, vor allem, weil ich mich bereits dasselbe gefragt habe.

Ich überlege kurz, ehe ich ihr eine Antwort gebe.

„Es ist nicht sonderlich schwer für mich, Joe zu mögen. Wir sind seit der Grundschule miteinander befreundet. Damals hat er mir immer bei den Hausaufgaben geholfen und im Gegenzug habe ich ihm beigestanden, wenn er von anderen Kindern geärgert wurde. So wie er jetzt ist, ist er wahrscheinlich schon auf die Welt gekommen.“

Mimi kichert. „Du meinst spießig?“

„Psst“, mache ich, lege einen Finger an die Lippen und sehe mich prüfend um, ob jemand von den anderen aufgewacht ist. Aber alle schlafen.

„Ja, irgendwie schon“, meine ich dann schulterzuckend. „Aber als Freunde ergänzen wir uns gut. Was er nicht kann, kann ich und umgekehrt. Auch wenn wir beide in zwei völlig verschiedenen Welten aufgewachsen sind, hat unsere Freundschaft die Jahre überdauert. Warum das so ist, habe ich nie hinterfragt.“ Nun sehe ich Mimi direkt an. „Und das solltest du auch nicht. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber, ob ihr zu verschieden seid. Eure Ehe wird auf anderen Säulen erbaut als auf Gemeinsamkeiten.“

Ich weiß, dass ich besser zu Mimi passen würde als er. Und so wie sie mich ansieht, weiß sie es auch. Aber weder sie, noch ich sagen das und schließlich schlucken wir beide unsere Gefühle runter.

Ich sehe mich noch mal kurz um. Dann nehme ich sie bei der Hand. „Komm mit“, flüstere ich und ziehe sie hoch.

„Was? Wohin denn?“

Berechtigte Frage, wir befinden uns in einem Privatjet über den Wolken, viele Möglichkeiten gibt es nicht. Dennoch führe ich sie an allen Schlafenden vorbei und gehe mit ihr in den Privacy Bereich. Leise schließe ich die Tür hinter uns, während Mimi etwas verloren dasteht.

„Hier gibt es ein Bett?“, fragt sie überrascht und ich folge ihrem Blick. Dieser Bereich ist eigentlich komplett überflüssig, weil sowieso alle Passagiersitze zu einem Bett umgebaut werden können. Trotzdem ist es der einzige Raum, in den man sich zurückziehen kann, wenn man doch mal ein wenig Ruhe benötigt.

„Ist aber ziemlich dunkel hier“, stellt Mimi fest und sieht sich in dem kleinen Raum um, der ganz in dunkelgrau gehalten ist. Lediglich ein paar Spots am Fußboden beleuchten den Weg, damit man weiß, wo man hintritt. Trotzdem erkenne ich ihr Gesicht sehr gut und sehe auch den erwartungsvollen Blick, mit dem sie zu mir aufsieht.

„Tai, was …?“

„Ich wollte nur noch mal was klären. Und es wäre vermutlich besser, wenn das niemand hört.“

„Okay“, sagt Mimi leicht irritiert. „Und was?

Ich hadere mit mir, denn ich weiß, ich habe eigentlich kein Recht dazu. Aber wenn ich sie nicht frage, platze ich vermutlich noch.

„Dieses Missverständnis von vorhin …“

Mimi verdreht sofort die Augen. „Ach, das.“

„Da lief nichts mit Joe, oder?“ Kaum ausgesprochen, beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich weiß, ich habe absolut kein Recht, das zu fragen. Sie muss sich vor mir nicht rechtfertigen. Trotzdem hat es sich vorhin so angefühlt, als wäre ich lieber aus dem Flugzeug gesprungen als zu erfahren, dass da was gelaufen sein könnte.

Mimi verschränkt die Arme vor der Brust und grinst. „Und wenn es so wäre?“

Unwillkürlich presse ich die Kiefer aufeinander. „Was soll das heißen, wenn es so wäre? Läuft da was zwischen euch oder nicht? Ist doch eine ganz einfache Frage.“ Klinge ich gerade leicht zickig oder bilde ich mir das ein? Na, Mimi lässt sich jedenfalls nicht aus der Ruhe bringen.

„Eine ganz einfache Frage, findest du?“

„Ja.“ Will sie mich schmoren lassen? Kann sie es nicht einfach beantworten?

„Warum willst du das wissen, Tai?“, entgegnet sie und bäumt sich vor mir auf. Sie will mich aus der Reserve locken und das klappt bis jetzt ganz gut, denn in mir brodelt es bereits, wenn ich nur daran denke.

„Vielleicht, weil mir der Gedanke nicht gefällt.“

Mimi schnaubt, grinst aber immer noch. „Dir gefällt der Gedanke nicht? Ist das dein Ernst?“

„Mach dich nicht darüber lustig.“

„Du bist ja richtig eifersüchtig, Tai.“

Mit einem Schritt bin ich bei ihr und packe sie an den Schultern. „Ich bin nicht eifersüchtig.“ Erschrocken sieht sie mich an. Dann schmunzelt sie wissend. „Klar, red dir das nur ein.“

Ihre Augen fixieren meine. Ein angenehmer Schauer jagt mir über den Rücken, während sie mich betrachtet und ihr Blick langsam nach unten zu meinen Lippen wandert.

„Du darfst nicht eifersüchtig sein, Tai“, sagt sie leise.

„Ich weiß“, antworte ich und lockere meinen Griff, nur, um mit den Händen ihre Arme hinab zu fahren und sie auf ihre Taille zu legen. „Aber wieso kann ich es dann nicht ertragen, wenn ich daran denke, dass er dich anfassen könnte? Dass du bald schon ganz und gar ihm gehörst?“

Mimis Grinsen erlischt, denn ihr wird gerade klar, dass das hier kein Scherz ist. Dass es mir ernst ist. Dass ich bei der bloßen Vorstellung davon, sie und Joe könnten einander näherkommen, verrückt werden könnte. Meine Finger krallen sich in ihre Haut und ich ziehe sie noch ein Stück näher zu mir heran. Sie legt ihre Hände auf meine Brust, wehrt sich aber nicht dagegen. Ihre Lippen sind inzwischen so nah, dass es mir immer schwerer fällt, sie nicht mit meinen zu berühren. Ich kämpfe regelrecht gegen das Verlangen an, sie zu küssen, aber ich spüre immer deutlicher, wie die Grenzen verwischen.

„Tai“, haucht sie erneut. „Du darfst das nicht.“

„Ich weiß“, sage ich wieder und habe eigentlich keine Ahnung mehr, ob sie meine Eifersucht meint oder dass ich sie auf keinen Fall küssen darf – denn genau das tue ich gleich. Ich spüre, wie ich allmählich die Kontrolle verliere, je länger sie mir nah ist. Ich sollte sie loslassen. Mich von ihr entfernen. Aber es geht einfach nicht. Mimi ist wie ein Magnet, der mich magisch anzieht und je mehr ich mich dagegen wehre, umso schlimmer wird es.

Ich senke meinen Kopf herab, so dass uns nur noch wenige Millimeter voneinander trennen und ich ihren aufgeregten Atem spüren kann. Ihre Finger krallen sich in den Stoff meines Hemdes, nicht bereit, mich loszulassen.

Ich glaube, es ist zu spät. Wir sind verloren.

„Mimi? Ich werde dich gleich küssen“, flüstere ich verheißungsvoll an ihren Lippen und höre, wie sie einen erstickten Laut von sich gibt, als sie die letzte, verbleibende Luft einzieht, die sich noch zwischen uns befindet. Ihre Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, genauso wie meine. Mein Herz rast.

Ich kann es nicht.

Ich schaffe es nicht, mich noch länger dagegen zu wehren, es ist einfach unmöglich. Wenn ich sie jetzt nicht küsse, dann …
 

In dem Moment, wo ich bereit bin, alle Mauern fallen zu lassen und mich zu ergeben, geht plötzlich ein starker Ruck durch das Flugzeug. Wir stürzen förmlich übereinander und landen auf dem Boden. Mimi stößt sich ihr Knie an der Bettkante und gibt einen schmerzerfüllten, kurzen Schrei von sich.

Fuck!

„Turbulenzen“, erkläre ich knapp und ziehe sie wieder auf die Beine. Verdammt! Wenn wir das so deutlich gespürt haben, werden die anderen es erst recht gespürt haben.

Ohne auch nur noch ein Wort darüber zu verlieren, was hier beinahe passiert wäre, öffne ich die Tür und wir stürzen aus der Kabine.

Frau Kido steht vor uns und sieht uns mit großen Augen an. „Herr Gott, wo wart ihr? Es gibt Turbulenzen, setzt euch schnell hin.“

Wir stürmen auseinander und eilen auf unsere Plätze, aber diese geringe Distanz zwischen uns ist nicht genug. Ich spüre noch immer ihre Hände auf meiner Brust, während ich mich anschnalle und versuche, mein aufgeregtes Herz wieder zu beruhigen. Es fühlt sich an, als wären ihre Lippen immer noch direkt vor mir. Kurz sehe ich zu Mimi rüber, die sich ebenfalls anschnallt, während Joe nun wach ist und wie alle anderen seinen Sitz in eine aufrechte Position bringt. Niemand hat etwas gemerkt. Gott sei Dank. Ich schaue aus dem Fenster und beiße die Zähne aufeinander. Verdammt, ich hätte sie fast geküsst. Und das Schlimme daran ist, dass es tief in mir drin einen Teil gibt, der es bereut, es nicht schon längst getan zu haben.
 

Wenige Stunden später landen wir. Wir alle haben wenig geschlafen und vermutlich den schlimmsten Jetlag unseres Lebens. Jetzt weiß ich, wie Mimi sich gefühlt haben muss, als sie nach Tokyo kam.

Alle packen ihre Sachen zusammen und sind dabei, das Flugzeug zu verlassen. Ich werde als letzter von Bord gehen. Mit Mimi habe ich seit letzter Nacht kein Wort mehr gewechselt. Ich habe es sogar vermieden, sie anzusehen und sie hat auch nicht noch mal meine Nähe gesucht. Es wäre für uns beide das Beste, wenn das, was hinter dieser verschlossenen Tür passiert ist, genau dort bleibt.

Joe ist mein Freund und ihr Verlobter und auch wenn ich es nicht ertragen kann, so werde ich es müssen. Meine Gefühle spielen in dieser Geschichte keine Rolle – ICH spiele in dieser Geschichte keine Rolle. Ich darf das Mimi nicht kaputt machen. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hat. Ich muss mich besser unter Kontrolle haben, viel besser, sonst …

„Taichi?“

Irritiert sehe ich von meinem Handgepäck auf, das ich gerade verräume. Alle anderen haben das Flugzeug bereits verlassen, nur Frau Kido steht neben mir und mustert mich auffällig.

„Äh, ja?“

„Kann ich kurz mit dir sprechen?“

Suchend sehe ich mich um, niemand ist mehr da, außer uns beiden. „Natürlich, wollen wir uns setzen?“

Sie hebt eine Hand. „Das ist nicht nötig, es dauert nicht lange.“

Ich nicke, als sie auch schon zum Punkt kommt.

„Ich will nur, dass du dich von Mimi distanzierst.“

Ich runzle die Stirn und tue ganz unwissend, während mir insgeheim das Herz in die Hose rutscht. Hat sie etwas gemerkt?

„Wenn Sie auf letzte Nacht anspielen … Mimi wollte sich gerne alleine etwas erholen, es ging ihr nicht gut und ich habe ihr nur gezeigt, wo sie etwas Ruhe findet …“

Doch Frau Kido schüttelt nur den Kopf. „Es ist nicht nötig, mich anzulügen. Wir kennen uns lange genug und ich denke, das gebietet der Anstand.“

Ich verstumme und beiße mir auf die Zunge. Plötzlich fühle ich mich schlecht.

„Ich habe Augen im Kopf, Tai. Und auch, wenn die Männer der Familie Kido schon immer nur das gesehen haben, was sie sehen wollen, ist es für mich nicht schwer zu erkennen, dass du Mimis Nähe suchst. Und ich meine damit nicht eure Lektionen und Tanzstunden, die du Joe zuliebe machst.“

Sie bringt Joe ins Spiel. Ein wunder Punkt.

„Bitte tu ihm das nicht an“, sagt sie nun und wirkt beinahe flehend. „Joe ist dein Freund. Er mag Mimi. Auch wenn er das in den letzten Wochen nicht so zeigen konnte. Er hat ihr einen Ring geschenkt. Die beiden werden heiraten, Tai.“

Betreten sehe ich zu Boden. Ein Weckruf an mein verfluchtes Gewissen. Als wüsste ich das nicht selbst.

„Ich bin mir der Tatsachen durchaus bewusst“, sage ich und Frau Kido nickt.

„Dann verstehst du ja sicher, warum es das Beste ist, dich von Mimi fernzuhalten. Ich möchte nur das Beste für meine Söhne und ich glaube nicht, dass es deine Absicht ist, dich Joes Glück in den Weg zu stellen. Nicht, wenn dir eure Freundschaft was bedeutet.“

Ich schlucke schwer, ehe ich ihr antworte. „Nein, das ist nicht meine Absicht.“

Das war es nie.

Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, jemals Gefühle für Mimi zu entwickeln. Das ist das Letzte, was ich wollte und doch ist es irgendwie passiert. Und inzwischen bin ich an einem Punkt, an dem es mir immer schwerer fällt, mich von ihr fernzuhalten. Das ist mir bewusst. Und Frau Kido scheint dies ebenfalls zu bemerken. Wenn es sogar ihr auffällt, wie lange wird es dauern, bis es auch die anderen bemerken?

„Gut, dann sind wir uns also einig?“

Ich nicke ergeben. „Sind wir. Machen Sie sich keine Sorgen darum.“

Keine Ahnung, ob ich selbst den Worten trauen kann, die aus meinem Mund kommen, aber Frau Kido tut es anscheinend.

„Danke, Tai“, sagt sie, legt eine Hand auf meine Schulter und verlässt dann das Flugzeug. Ich bleibe noch einen Moment regungslos stehen und frage mich, wem ich hier eigentlich gerade etwas vorgemacht habe – ihr oder mir selbst?

Mimi
 

Drei Stunden nachdem wir gelandet sind, sind wir im Four Season Hotel angekommen. Ich bin mehr als überrascht gewesen, als ich mitbekommen habe, dass Joe und ich uns ein Zimmer teilen. Ein Bett. Ich weiß nicht, ob ich das kann und will. Auch wenn Joe sogar angeboten hat, auf der Couch zu schlafen, aber sind wir nicht hier um unsere Verlobung zu feiern? Werden wir uns nicht zwangsweise näher kommen? Warum also nicht mal sehen, wie ein tatsächliches Zusammenleben mit Joe aussehen könnte? Irgendwann werde ich zu ihm ziehen und dann? Immer noch frage ich mich, wie Kaori das damals geschafft hat.

Meine Aufregung steigt wieder mit jeder Minute. Der ganze Flug war einfach zu viel für meine Nerven. “Alles okay, Mimi?” Joe steht vor mir und hat soeben sein letztes Hemd akkurat in dem Kleiderschrank aufgehangen, während mein Koffer immer noch unberührt an Ort und Stelle steht. Ich stand ewig unter der Dusche und musste dringend erstmal einen klaren Kopf bekommen.

Beinahe hätten wir uns verbrannt. Beinahe, hätte Tai mich geküsst und beinahe hätte ich es zugelassen, weil ein Teil von mir ihn anflehen wollte, mich endlich zu erlösen und ein anderer Teil, ihn am liebsten geohrfeigt hätte, weil wir das einfach nicht tun dürfen. “Ja, ich möchte nur endlich meine Eltern sehen.” Das ist nicht mal eine Lüge. Ich will sie sehen. Ich habe sie so vermisst in den letzten Wochen und weiß nicht, wann ich sie das nächste Mal wiedersehen werde. “Wir können sofort los. Mein Vater erwartet uns.”

Klar, tut er das. Oh Gott, warum muss er überhaupt dabei sein? Sie sind in New York City, macht Sightseeing oder so etwas, aber als würde Haruiko sich das entgehen lassen mein Vater nachher vorzuführen. Unten angekommen warten bereits alle auf uns. “Und wie gefällt euch euer Zimmer?”, fragt Frau Kido gleich nach und sieht uns ganz erwartungsvoll an. Wahrscheinlich weil das Zimmer unendlich romantisch geschmückt war, aber nur weil das Zimmer vor Romantik so protzt, verliebe ich mich nicht gleich in Joe. Zumal er direkt anfing zu niesen und alle Rosen sofort entfernen ließ. Ja, so romantisch ist er. “Es ist wirklich wundervoll.” Sie nickt eifrig und ich steige in die Limousine ein. Ich will einfach nur noch losfahren und meine Eltern sehen. Tai sitzt bereits in der Limousine und gleich treffen sich unsere Augen. In diesen paar Sekunden liegt so viel Sehnsucht, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte und doch sieht er dann wieder schnell aus dem Fenster und beachtet mich nicht mehr. Vorhin im Flugzeug waren wir uns noch so nah und jetzt? Jetzt ist es, als wäre eine Mauer zwischen uns. Auch die anderen steigen ein und wir fahren los. Mein Herz pocht und ich versuche ruhig und gleichmäßig zu atmen. Die Übelkeit nimmt wieder zu und ich muss mich unbedingt beruhigen. Es wird schon alles werden. Wir fahren circa eine halbe Stunde bis die Limousine zum Stehen kommt. Der Chauffeur öffnet die Wagentüre. "Mimi?", höre ich die Stimme meiner Mutter. Sofort reiße ich den Kopf um, dränge mich an allen vorbei, ich glaube sogar, ich bin Haruiko auf den Fuß getreten, aber das ist mir egal. Ich stürme aus der Limousine und laufe zu meiner Mutter. “Mama”, wimmere ich und falle in ihre Arme. Tränen sammeln sich in meinen Augen und am liebsten würde ich alles aus mir rauslassen, aber ich muss mich so unendlich zusammenreißen. Auch die anderen haben mittlerweile die Limousine verlassen und ich umarme meinen Vater. “Ach Mimi”, flüstert er mir ins Ohr. Ich löse die Umarmung zu meinem Vater und sehe wie meine Eltern sich bereits vor den Kidos verbeugen. Meine Mutter ist die erste, die das Wort erhebt und sich aufrichtet. “Wie schön, dass Sie den ganzen Weg auf sich genommen haben, damit wir bei der Verlobung unserer Tochter dabei sein können. Sie wissen nicht, was uns das bedeutet.”

“Es ist ja nicht so, als hätten wir eine Wahl gehabt”, knirscht Haruiko mit den Zähnen. “Wir bitten um Verzeihung und gleichzeitig möchten wir unseren herzlichen Dank ausdrücken, dafür, dass Sie meinem Mann geholfen haben.”

“Dem kann ich mich nur anschließen. Habt Dank”, spricht mein Vater weiter und verbeugt sich immer noch. Mein Vater hat sich noch vor niemanden so klein gemacht. Ich kenne das gar nicht von ihm.

“Es wäre sicher für alle besser gewesen, uns von Anfang die Wahrheit zu sagen und uns nicht so einen Ballast zu schicken. Das hätte uns ruinieren können.”

Ballast? Ich? Als wäre ich nur billige B-Ware. “Zum Glück konnte unser PR Agent noch alles ins rechte Licht rücken, sonst Keisuke, wäre das Gefängnis dein geringstes Problem gewesen.”

Woah. Es ist noch viel unangenehmer, als ich es mir je vorgestellt habe.

“Wir stehen tief in eurer Schuld”, sagt mein Vater ganz reumütig und ich stehe fassungslos daneben. “Korrekt. Jedoch sind wir auch bald eine Familie. Unsere Kinder werden heiraten und damit seit ihr zunächst begnadigt." Begnadigt! Ist er der verdammte Präsident oder was bildet er sich ein? Egal, ich darf mir nichts anmerken lassen. Denk an deine Fassade Mimi. Lächeln. “Und Mimi macht sich sehr gut in unserer Familie.” Er meinte wohl eher, dass die Presse im Moment ganz gut auf mich zu sprechen ist. “Sie ist unser ganzer Stolz.” Ach Papa. Wie lieb von dir.

“Na los, verlassen wir die Einfahrt und bitte, kommen Sie herein.” Meine Mutter bittet alle einzutreten. Ich lasse alle an mir vorbeigehen und warte auf Tai. Ich suche seinen Blick, doch er weicht mir aus und geht einfach an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich verstehe das nicht. Warum ist er plötzlich so kalt? Okay, wir haben vorhin im Flug beinahe die Grenze übertreten, aber es ist doch nicht dazu gekommen, warum können wir also nicht wieder Freunde sein? Warum behandelt er mich wie Luft oder wie am Anfang, als würde er mich nicht leiden können? Niedergeschlagen schließe ich die Haustüre und folge den anderen. Zum Glück kann sich unser Haus sehen lassen und man sieht, dass ich im Grunde auch aus gutem Hause komme. Na, vielleicht haben Joe und ich eine Gemeinsamkeit gefunden. “Sie haben ein wirklich schönes Haus”, sagt Frau Kido versöhnlich

“Oh, vielen Dank. Wir lieben es auch sehr.” Im Esszimmer haben meine Eltern den großen Tisch ausgezogen und feierlich geschmückt. Als alle Platz genommen haben, fällt mir auf, dass ein Platz noch frei ist. “Mama, ich glaube, ihr habt euch verzählt.”

“Nein, haben wir nicht. Ich habe noch einen kleinen Überraschungsgast für dich eingeladen.” Überraschungsgast? Jetzt bin ich aber neugierig. “Was? Aber wer?” Auch die Familie Kido sieht neugierig aus. Es klingelt an der Türe und ich drehe meinen Kopf gleich in die Richtung. “Öffne sie ruhig. Das müsste ohnehin sein Überraschungsgast sein”, meint mein Vater und ich gehe aufgeregt zu unserer Haustüre. Ich öffne sie und kreische gleich drauf los, als ich erkenne, wer hinter der Türe steht. "Sally." Sofort reiße ich meine beste Freundin an mich. “Hi Mimi, was machst du nur für Sachen.” Sally und ich sind schon seit acht Jahren beste Freundinnen. Wir haben uns an unserer alten High School kennengelernt, waren beide Cheerleader und haben schon eine ganze Menge miteinander erlebt. Zwischendurch hat sie mich auch in L.A besucht und ich sie in Seattle, wo sie Pädagogik studiert hat. “Was machst du denn hier?”, kreische ich immer noch ganz aufgeregt. “Na, ich kann es mir doch nicht nehmen lassen, deinen Verlobten kennenzulernen. Also wer ist das Sahneschnittchen?” Oh man, ich muss Sally unbedingt zügeln, so Sprüche kommen bei Familie Kido nicht so gut an. Auch wenn das ein ganz normales Gespräch zwischen uns Beiden ist. Sally ist einfach einmalig. Sie hat blonde Haare, blaue Augen, eine schlanke Figur und eine üppige Oberweite. Mit anderen Worten, sie ist wohl der amerikanische Traum vieler Männer und es fiel ihr auch nie schwer, Männer den Kopf zu verdrehen. Dennoch trägt sie ihr Herz am rechten Fleck und ist einfach eine gute Seele. “Ich stelle sie dir gleich alle vor.” Ich ziehe sie hinter mir her. “Hey, ich möchte euch gerne meine beste Freundin Sally vorstellen.” Die Familie Kido nickt und lächelt. Natürlich verbeugt sich Sally nicht, solche Sitten kennt sie schließlich nicht. “Also wer ist dein Verlobter für den du einfach das Land verlassen hast?” Gleich geht ihr Blick zu Tai und ich weiß nicht, was sie denkt, aber da erhebt sich Joe schon von selbst und hält entgegen seiner Erziehung Sally die Hand hin. “Joe, ich bin Mimis Verlobter und es freut mich, eine so gute Freundin von Mimi kennenzulernen.”

“Hört, hört, so förmlich, ist ja richtig niedlich.” Oh man, Sally, sei leise.

Sally umarmt ihn stattdessen und lässt sich auf den freien Platz neben mir nieder. Im Grunde bin ich ganz genauso wie sie. Hoffentlich niest sie gleich nicht. “Freut mich, dich kennenzulernen. Auch wenn es krass ist, dass meine beste Freundin deinetwegen das Land verlassen hat.”

“Na ja, es ist ja meine Entscheidung gewesen, aber erzähl wie geht es dir? Lebst du noch in Seattle?", funke ich dazwischen. Themenwechsel, ganz schnell.

“Oh man, ich hab dir so viel zu erzählen …”

Sally ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum an diesem Tisch keine peinliche Stille herrscht und während ich Sally mehr oder weniger aufmerksam zuhöre, driftet mein Blick immer mal wieder zu Tai, doch der hört lieber Sally zu und lacht sogar ständig auf, obwohl Sally nicht mal witzig ist. Oh nein, nicht noch einer der Sally verfallen ist. Auch alle anderen hören meiner besten Freundin aufmerksam zu, aber wahrscheinlich auch, weil sonst keiner was zu sagen hat. Zwischendurch mustert der Professor meinen Vater sehr genau, der wiederum sehr ruhig ist und sich scheinbar unwohl in seiner Haut fühlt. Verständlich. Joe und Jim sind wie immer höflich und Kaori ist viel zu tadellos, als dass man nur ansatzweise weiß, was sie gerade denkt. Frau Kido und meine Mutter stellen das Essen auf den Tisch und die Beiden scheinen sich tatsächlich gut zu verstehen. Was mich wirklich freut. Meine Mutter hat alles selbst zubereitet. Normalerweise hätte sie so ein Essen liefern lassen, aber wo kein Geld ist, musste etwas preisgünstigeres her. “Ich hoffe es schmeckt allen. Guten Appetit.”

“Ja, guten Appetit.” Ich bin so froh, wieder gewohntes Essen zu essen und nachdem ich fast einen ganzen Tag lang nichts gegessen habe, mir nur übel war und ich mich sogar übergeben musste, ist das gerade wie Balsam für meine Seele.
 

Nachdem Essen helfe ich meiner Mutter den Tisch abzuräumen. Auch Tai und Sally helfen. Ich versuche ein paar Mal was zu Tai zu sagen, aber er geht so schnell wieder weiter, dass ich einfach nur mit offenem Mund stehen bleibe. “Und Tai, welche Aufgabe genau erfüllst du hier?”, fragt Sally bei Tai direkt nach. Er bleibt vor ihr stehen, die Beiden schauen sich an. Ein Grinsen liegt auf Taichis Lippen und mein Herz hält das kaum aus. “Ich bin hier der, der alles am Laufen hält.”

“Klingt, als seist du ein Mann, den Frau besser an ihrer Seite haben sollte.” Oh nein, flirten die etwa miteinander?

“Da kannst du dich drauf verlassen”, grinst er und mustert sie auffällig. Tai checkt meine beste Freundin ab. Okay, mir wird wieder schlagartig schlecht. Ich verstehe nicht, warum Tai mir gegenüber so abweisend ist und Sally so viel Aufmerksamkeit schenkt. Natürlich ist mir klar, dass wir hier nicht vor allen flirten und uns nah kommen dürfen, aber wir können doch wohl noch miteinander reden, oder?
 

Joe kommt zu mir und stellt sich direkt vor die Beiden. “Hey, meine Eltern würden sich gerne verabschieden. Ich kann natürlich verstehen, wenn du noch bleiben möchtest.”

“Ja, zumindest noch ein bisschen. Ich habe sie lange nicht gesehen.”

“In Ordnung, wir bleiben noch ein wenig, aber der Rest kann ja schon zurück. Ich denke, alle sind ziemlich müde.”

“Du kannst ruhig auch schon fahren.”

“Nein, ich bleibe noch.”

Wie war das: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?

“Tai, die Limousine steht bereit.”

“Ich glaube, wenn ihr noch bleibt und Sally auch, würde ich auch noch etwas bleiben.” Joe lächelt Tai an, auf eine Art, die mir überhaupt nicht gefällt. Mir gefällt überhaupt gar nichts mehr hier.

Plötzlich zieht Sally mich zur Seite und kommt sehr nah an mich heran. “Also jetzt ernsthaft, geht es dir gut?” Nein. Was soll ich sagen?

“Na ja, du weißt ja sicher, dass ich nicht aus Liebe heirate, oder?”

“Ja, ich habe das alles von deinen Eltern erfahren, nachdem ich das von deinem Vater gehört habe. Warum hast du dich nicht gemeldet?” Es klingt ein wenig Vorwurf mit in ihrer Stimme und sie hat auch jedes Recht dazu. Ich hab mich gar nicht mehr bei ihr gemeldet. “Ich wusste nicht, wie. Ich wollte einfach meiner Familie helfen und du weißt ja, wie meine letzten Beziehungen waren, ich dachte mir, ein netter Arzt, ist doch gar nicht so schlecht.” Sally kauft mir das keine Sekunde ab und zieht eine Augenbraue misstrauisch nach oben. “Und wie gefällt dir Joe? Und Tai?” Sofort sehe ich sie ungläubig an. "Äh bitte?”

“Mimi, ich kenne dich und dein Beuteschema.” Sally kennt mich natürlich, aber ich muss sie einfach ablenken. Sie soll nicht auch noch mitbekommen, wie verkorkst alles bei mir ist.

“Joe ist sehr nett und höflich. Er ist großzügig und …” hat mich Wochenlang wie Abschaum behandelt … “behandelt mich gut.” Wieder.

“Okay, klingt ein bisschen so, als hättest du es auswendig gelernt und Tai?”

“Tai und ich sind Freunde. Er ist Joes Freund und Assistent.”

“Und ist er Single?” Warum will sie das wissen? Sie soll ihre Finger von ihm lassen. “Ja, nein, also nicht so richtig.”

“Hä? Versteh ich nicht. Er sieht ja mega gut aus. Er wirkt nicht, als hätte er eine Freundin.” Was soll das denn heißen? Als könnte man so etwas mit einem Blick sehen. “Das bleibt unter uns, weil die Kidos das nicht wissen.” Sofort nickt Sally und ich weiß, dass ich mich auf sie verlassen kann. “Tai und Kaori waren mal ein Paar.”

“Kaori ist doch das Model, was die ganze Zeit den Mund nicht aufkriegt oder?”

“Sally … Sie ist wirklich nett und hat mir sehr geholfen, aber ja, ist sie.”

“Und weiter?”

“Und na ja, Tai ist noch nicht über sie hinweg und deshalb hat auch keine eine Chance bei ihm.” Oh man, warum mache ich das nur? Es ist so bescheuert, aber wenn Tai wie alle anderen Männer auch, auf Sallys Annährungsversuche reinfällt, dann halte ich das nicht aus. Das ertrag ich nicht. Auch wenn ich überhaupt kein Recht dazu habe. “Achso”, grinst Sally und ich weiß genau, was das zu bedeuten hat. “Bitte Sally, lass ihn einfach.”

“Ach Mimi, keine Sorge …” Kurz atme ich erleichtert aus. “Ich will ihn ja nicht heiraten, sondern nur etwas Spaß haben.”

Ich könnte ausrasten. Würde Tai sich darauf einlassen? Oh Gott, ich kann mir das nicht mal vorstellen.
 

Tai
 

Ich weiß, dass Mimi heute mehrmals versucht hat, Kontakt zu mir aufzubauen, aber ich darf es aktuell einfach nicht zulassen. Ich stehe unter ständiger Beobachtung, ausgerechnet von der Mutter meines Freundes. Es fällt mir selber schwer, sie so zu behandeln. Auf Abstand zu gehen, obwohl ich sie doch nur festhalten will, aber es geht nicht anders. Sie ist nicht meine Freundin. Sie ist die Verlobte von Joe und meine Gefühle dürfen einfach nicht ständig alles kaputt machen. Mimi wird das sicher verstehen. Was bleibt uns auch sonst übrig? Sally, Mimis Freundin ist einfach perfekt als Alibi. Sie ist tatsächlich ganz hübsch, aber an Mimi reicht sie nicht ran. So kann ich zumindest vor den Kidos zeigen, dass Mimi mich als Frau nicht interessiert.

Nachdem der Rest des Kido Clans zurück ins Hotel gefahren ist, schaue ich mich in Mimis Haus ein wenig um. Überall hängen Bilder von Mimi. Aus ihrer Kindheit, als sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, selbst als Cheerleader sehe ich ein Bild. Sie war einfach immer schon eine Augenweide. Mimis Eltern erzählen Joe wie es mit Mimi als Tochter ist und auch da höre ich mit einem Ohr mit. Sie lieben sie wirklich sehr, auch wenn sie als Teenager ganz schön rebelliert hat, dass fällt mir nicht schwer zu glauben. Bei dem Gedanken, wie Mimi hier Türen knallt, die Musik aufdreht und nachts aus dem Fenster abhaut, lässt mich schmunzeln. Wieder ein Stückchen mehr, als ihrer Vergangenheit. "Und Tai, warum genau arbeitest du als Assistent?" Ich blicke wieder zu Sally und schenke ihr wieder meine Aufmerksamkeit. Immerhin sollen ja alle denken, ich würde mich für sie interessieren. Also erzähle ich von meinem Hauptjob als Stuntman und warum ich ebenfalls als Assistent arbeite.

"Eine Weltreise? Wow, ja das ist doch wirklich mal ein Traum für den es sich lohnt, so hart zu arbeiten."

"Ja, es wäre natürlich noch schöner, die Weltreise zu zweit, anstatt alleine zu machen, aber na ja …" Mit Mimi wäre eine Weltreise, doch ein unglaubliches Abenteuer, ob sie auch bereit wäre zu campen? "Klar, aber ich denke auch, dass es eine ganz schöne Beziehungsprobe sein kann. Man hängt ja auch ständig aufeinander."

"Ja, aber wenn es die Richtige ist, dann wird auch das klappen, da bin sicher."

"Muss sicher hart sein …" murmelt Sally und sieht mich irgendwie an, als hätte sie Mitleid. "Was meinst du?"

"Na ja, eine Frau die du magst, ständig mit jemand anderem zu sehen …"

Jetzt bin ich mehr als überrascht, hat sich Mimi Sally anvertraut? Kurz sehe ich zu ihr rüber. Sie sieht zu mir, ich merke, dass sie mich die ganze Zeit beobachtet und schaue direkt wieder zu Sally. "Man muss mit Dingen abschließen und das tue ich." Was soll ich sonst antworten? Sally tratscht viel zu viel und redet ohne groß darüber nachzudenken. Besser, wenn sie auch glaubt, dass ich keine Gefühle für Mimi habe. "Das ist die richtige Einstellung, Tai." Sally boxt mich gegen die Brust und ich lache auf. Wenn das alles so einfach wäre, würde ich mich nicht die ganze Zeit so mies fühlen. Noch immer spüre ich Mimis Atem an meinem Mund.

"Tai? Sally? möchtet ihr auch noch etwas?" Satoe, Mimis Mutter hält uns nochmal das Dessert vor. Ich nicke, während Sally ablehnt. "Also es schmeckt so köstlich, wenn ich niemanden etwas wegesse, dann sehr gerne."

"War klar, dass du das sagst", lacht Joe.

"Achso, ist Tai ein Essensliebhaber?"

"Das kann man so sagen."

Ich setze mich wieder an den Tisch, direkt gegenüber von Mimi, die selber auch nichts mehr anrührt. "Mich freut es sehr und es ist so viel, bevor ich es wegwerfen muss."

"Oh nein, also das wäre eine Schande", sage ich, während ich einen großen Löffel Tiramisu in den Mund schiebe.

"Mimi kocht und backt auch für ihr Leben gerne …"

"Mama." Es scheint Mimi unangenehm zu sein, dass ihre Mutter so von ihr schwärmt, dabei finde ich das wirklich süß.

"Das habe ich schon festgestellt. Mimi hat für das Kinderfest im Krankenhaus selber gebacken und alle fanden es köstlich."

Mimi rutscht die ganze Zeit hin und her. Warum fühlt sie sich denn so unwohl?

"Und wie läuft es mit der japanischen Kultur?", fragt Mimis Vater nach. Joe sieht zu mir und deutet mit dem Löffel auf mich.

"Er hat sie die ganze Zeit unterrichtet."

Ich nicke und schlucke runter. "Sie hat sich wirklich sehr angestrengt, wenn man bedenkt, wie die erste Begegnung war und wie sie sich jetzt verhält." Und so erzählen wir wie Mimis erster Eindruck war und nach diesem Auftritt grenzt es wirklich an ein Wunder, dass sie noch hier ist oder besser gesagt wir jetzt hier.
 

Nach einem schönen Abend verabschieden auch wir uns von Mimis Eltern. In zwei Tagen wird die große offizielle Verlobungsfeier sein. Keine Ahnung was ich da machen soll. Es ist einfach falsch, dass sie bei Joe ist, aber spätestens seit der Begegnung zwischen Haruiko und Keisuke ist klar geworden, dass Mimi gar keine andere Wahl mehr hat. Sie ist der Preis, den Mimis Eltern jetzt zahlen müssen. Wie bitter.

Morgen werden wir alle erstmal unseren Jetlag ausschlafen. Mimi, Joe und ich teilen uns ein Taxi und fahren zurück ins Four Season Hotel. New York schläft wirklich nie, aber meine Lider sind mehr als schwer, auch Joe schläft während der Fahrt immer mal wieder ein. Mimi hingehen hat den Blick immer noch starr auf mich gerichtet. Ich öffne mein rechtes Auge halb, weil ich spüre, wie sie mich anstarrt. "Was ist?", sage ich daher nur. Natürlich weiß ich ganz genau, was ist, ich bin ja nicht bescheuert. Joe richtet sich auf und schaut zu Mimi. "War was?"

"Wir sind jetzt da", antwortet Mimi nur.

"Endlich."

Ich steige als erstes aus, dann Joe und zum Schluss Mimi. Sie verharrt an der Tür, sieht zu mir. Wir stehen wieder mal viel zu nah beieinander. Am liebsten würde ich meine Hand an ihr Gesicht legen und ihr sagen: dass alles gut wird, aber leider weiß ich nicht, ob das stimmt. So setze ich mich in Bewegung, schließe die Türe, während Joe das Taxi bezahlt.

Wir steigen in den Fahrstuhl und fahren in das 38. Stockwerk. Wir sind alle auf diesem Stockwerk unter gekommen und es ist doch sehr bizarr, dass mein Zimmer ausgerechnet neben Mimi und Joes liegt. Ich schaue noch einmal zu ihr rüber, auch sie sieht zu mir, während Joe die Karte durch das Türschloss zieht. Sie lächelt mir zu und auch ich öffne die Türe. Ein kurzer Blick zu Mimi und dann sehe ich sie nicht mehr. Mich nervt schon der bloße Gedanke, dass Mimi jetzt mit Joe in einem Bett liegt. Ob sie sich dabei näher kommen?

Ich putze mir so schnell in kann die Zähne und will endlich ins Bett fallen, da leuchtet mein Smartphone auf und ich erkenne, dass Mimi mir eine WhatsApp geschrieben hat.
 

<Warum hast du dich heute wieder wie ein Arsch verhalten? Und lass deine Finger von Sally.<
 

Unwillkürlich muss ich Grinsen. Ach höchstinteressant, gefällt es Mimi etwa nicht, dass ich mit ihrer besten Freundin flirte?

Kurz überlege ich was ich antworte, denn ehrlich gesagt, bin ich viel zu müde um jetzt mit Mimi zu diskutieren.
 

<Ich verhalte mich nicht wie ein Arsch!<
 

Ich hasse es einfach, wenn sie mich so nennt und das weiß sie auch ganz genau.
 

<Nach allem was war und beinahe passiert wäre, wäre es besser, wenn wir uns aus dem Weg gehen. Ich muss auch mich schützen, Mimi. Du liegst gerade neben deinem Verlobten. Gute Nacht.<
 

Es klang sehr viel härter, als beabsichtigt, aber habe ich erwähnt, dass ich viel zu müde bin, um jetzt mit Mimi zu diskutieren.
 

<Und ob du ein Arsch bist. Schlechte Nacht und schlechte Träume und ich wünsche dir morgen den Jetlag deines Lebens.<
 

Diese Frau macht mich verrückt. Ich halte meine Hände vors Gesicht und schreie kurz auf. Es tut mir wirklich leid, dass Mimi sich jetzt schlecht fühlt, aber es geht mir auch nicht besser und es stimmt, was ich ihr geschrieben habe: Ich muss mich auch schützen, denn ich weiß sonst nicht wie ich das Überleben soll. Nicht noch einmal.

Kapitel 24

Mimi
 

Als ich aufwache, muss ich mich erst mal kurz orientieren. Ach ja, ich bin im Four Seasons, in New York. Wir sind gestern hier gelandet, haben meine Eltern getroffen und Sally und dann bin ich neben meinem Verlobten im Bett eingeschlafen.

Sofort drehe ich mich um.

Joe liegt neben mir im Bett und … liest er da etwa die New York Times? Ernsthaft?

„Oh, guten Morgen, Mimi“, sagt er, als er bemerkt, dass ich wach bin.

„Guten Morgen“, sage ich und ziehe die Decke noch ein Stück höher. „Warum bist du schon wach?“

„Schon? Es ist fast Mittag. Wir hatten alle einen ziemlichen Jetlag.“

Schon Mittag? Ich greife nach meinem Handy und checke die Uhr. Tatsächlich, schon fast 12 Uhr. Aber was viel wichtiger ist: warum habe ich keine Nachricht auf meinem Handy? Wieso hat Tai nicht geschrieben? Will er die Sache denn gar nicht klären? Was ist mit ihm los? Und was sollte das bitte heißen, er muss sich selbst schützen? Etwa vor mir? Vor uns? Er war doch derjenige, der mich beinahe geküsst hätte, oder irre ich mich da? Und jetzt sieht er mich kaum noch an.

„Alles okay bei dir?“, höre ich Joe fragen, als ich mehrere Sekunden lang mit bösem Blick auf mein Display starre.

„Klar.“ Ich lege das Handy weg und widme mich wieder Joe. Tai kann mich mal kreuzweise.

„Wie gehts dir? Hast du gut geschlafen?“, erkundige ich mich. Joe faltet die Zeitung zusammen und legt sie zur Seite, ehe er mich ansieht.

„Wie ein Baby.“

Ich muss kichern. „Ich auch.“ Zunächst war es ungewohnt für mich plötzlich neben Joe im Bett zu liegen. Aber ich war so müde, dass ich es einfach hingenommen habe und nachdem ich Tai in Gedanken gleich mehrmals verflucht habe, sofort eingeschlafen bin.

„Möchtest du duschen?“, fragt Joe und ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Ist das eine Anspielung?

Sofort korrigiert er sich. „Äh, ich meine alleine. Wir müssen es ja nicht gleich übertreiben.“

Jetzt bin ich aber erleichtert. Kurz hatte ich Panik.

„Ja, gerne.“

„Gut, ich gehe nach dir duschen. Wir treffen Jim, Kaori und Tai unten im Restaurant zum Mittagessen. Meine Eltern treffen sich heute mit der Presse, um zu klären, wie viele Reporter bei der Feier anwesend sein dürfen und so weiter.“

„Okay“, antworte ich, stehe auf und nehme ein paar Sachen mit ins angrenzende Badezimmer. Als ich so hinter mir abschließe, frage ich mich, warum ich das eigentlich tue. Joe ist viel zu gut erzogen, als dass er einfach so hier rein kommen würde, während ich unter der Dusche stehe. Fast macht es mich ein bisschen traurig. Wo bleibt die Aufregung? Wo bleibt die Leidenschaft? Das Verlangen? Die Anziehungskraft?

Ich vermute mal, dass Tai sofort mit mir unter die Dusche gekommen wäre. Nicht, dass ich mir das je vorgestellt hätte.

Joe hingegen … er scheint sich nichts daraus zu machen, mich auch körperlich zu erobern. Man möchte meinen, wenn zwei Menschen, die miteinander verlobt sind, die ganze Nacht lang zusammen in einem Bett liegen, könnten sie die Finger nicht voneinander lassen. Stattdessen lagen wir nebeneinander wie zwei Geschwister, während ich mit den Gedanken eine Tür weiter war.
 

Nachdem wir uns geduscht und angezogen haben, fahren wir mit dem Fahrstuhl nach unten.

„Es war wirklich nett deine Eltern gestern kennenzulernen“, sagt Joe. Zumindest darüber freue ich mich ein bisschen.

„Ja, es war anfangs etwas komisch, aber ich denke, sie mögen dich.“

„Ich mag sie auch. Tut mir leid, dass mein Vater deinem Vater gegenüber so taktlos war. Er ist wohl immer noch ziemlich wütend.“

Betrübt senke ich den Blick. Es war hart für mich, meinen Vater so gebrochen zu sehen und hat mir noch mal vor Augen geführt, dass ich keine Wahl mehr habe. Auch wenn mein Herz inzwischen etwas ganz anderes will.

„Und was ist mit dir?“, frage ich vorsichtig nach. „Bist du auch noch wütend?“

Joe dreht den Kopf in meine Richtung und sieht mich direkt an. Ein schwaches Lächeln legt sich auf seine Lippen.

„Nein. Lass uns nie wieder darüber reden. Ich will das mit uns hinkriegen.“ Er greift nach meiner Hand und hält sie fest.

„Ich auch“, erwidere ich.

Ich bin erleichtert, dass er das gesagt hat. Aber vor allem bin ich froh darüber, dass er wieder normal mit mir umgeht.

Ich warte darauf, dass Joe meine Hand los lässt, aber das tut er nicht. Stattdessen verlassen wir händchenhaltend den Fahrstuhl und schlendern zum Restaurant. Fühlt sich schon ein wenig befremdlich an, aber ich sollte mich wohl besser an solche Dinge gewöhnen.

Kaori und Jim, die bereits auf uns warten, werfen uns sofort eindeutige Blicke zu, als wir an ihren Tisch kommen.

„Oho, seht an, seht an“, meint Jim und wackelt mit den Augenbrauen, während Joe meine Hand loslässt und mir den Stuhl zurückzieht, damit ich mich setzen kann.

Kaori grinst einfach nur in sich rein und tupft sich vornehm den Mund ab.

„Ihr seid ja zwei richtige Turteltäubchen“, stichelt Jim weiter, doch Joe schenkt ihm keine große Beachtung.

„Lass das, bitte“, sagt er und setzt sich neben mich.

„Wie hat euch die Suite gefallen?“, erkundigt sich Jim, während sofort ein Kellner herbei eilt und uns frisches Wasser einschenkt. „Unsere war mit Rosen geschmückt, es war sehr romantisch und hat uns in die richtige Stimmung versetzt. Nicht wahr, Liebes?“ Jim nimmt Kaoris Hand und haucht ihr einen Kuss darauf, während sie peinlich berührt die Augen verdreht.

„Ach, Jim. Das will doch keiner wissen.“

Richtig. Kopfkino aus.

„Unser Zimmer hatte auch Rosen, aber …“ Joe sieht zu mir rüber und wahrscheinlich wird ihm gerade erst klar, dass es hätte auch für uns romantisch sein können. Wobei, wenn er lieber mit der New York Times im Bett liegt als mit mir, hätten die vielen Rosen auch nichts mehr gerettet.

„Wir haben sie entfernen lassen. Ich bin allergisch gegen Rosen“, werfe ich ein und lasse es ganz selbstverständlich klingen. Kann man überhaupt gegen Rosen allergisch sein? Egal. Joe jedenfalls lächelt mich dankbar an, weil er jetzt vor seinem Bruder nicht dumm da stehen muss.

„Wo ist eigentlich Tai?“, fragt er dann und wechselt somit gekonnt das Thema. Ich verschlucke mich fast an meinem Wasser. Sein Name löst gerade ein flaues Gefühl in meinem Magen aus. Vor allem, wenn ich an gestern denke, an ihn und Sally und wie sie miteinander geflirtet haben.

Jim zuckt die Schultern. „Hat wohl verschlafen.“

„So?“, meint Joe und wirft einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. Dann versucht er ihn auf dem Handy zu erreichen, aber Tai hebt nicht ab. „Sieht ihm gar nicht ähnlich. Vielleicht sollte ich ihn holen gehen.“

„Lass nur“, fahre ich sofort dazwischen und erhebe mich von meinem Platz. „Ich mach das schon. Ich habe oben eh noch etwas vergessen, was ich gern holen wollte. Bin gleich zurück.“

Joe nickt mir zu und ich gehe zurück zu den Fahrstühlen. Wenn ich ihn jetzt im Bett mit Sally erwische, ist er tot.
 

Oben angekommen treffe ich jedoch erst mal nur Ansgar an, der gerade die Tür zu Tai’s Zimmer schließen will.

„Oh Ansgar, warte“, halte ich ihn auf. Er hält tatsächlich inne und sieht mich fragend an.

„Miss Tachikawa.“

„Ist Taichi da drin?“

„Ja, aber Herr Yagami schläft noch. Ich habe lediglich schnell die Handtücher ausgetauscht.“

Ach ja, fast vergessen. Die Kidos sind sehr eigen, wenn es um Personal geht. Sie vertrauen keinen Fremden, auch nicht jenen, die fürs Hotel arbeiten. Deshalb haben sie darauf bestanden, dass Ansgar mitkommt und sich ausschließlich um unser persönliches Wohl kümmert. Er ist auch der Einzige, der Zugang zu sämtlichen Zimmern hat. Welch Glück für mich.

„Dürfte ich kurz rein?“

Ansgar sieht mich irritiert an.

„Keine Sorge, ich wecke Tai nicht auf. Er hat lediglich etwas bei sich, was mir gehört und was ich dringend brauche.“

Wenn er jetzt fragt, was das sein soll, bin ich aufgeschmissen. Aber zum Glück tut er das nicht, sondern drückt die Tür einfach wieder auf, damit ich eintreten kann.

„Bitteschön.“

„Danke, Sie können ruhig schon gehen. Ich ziehe dann einfach hinter mir zu, wenn ich es habe.“

Als die Tür geschlossen ist, sehe ich mich prüfend in Tai’s Suite um. Sie sieht genauso aus wie unsere. Ich steuere direkt den Schlafbereich an.

„Tai, wo zum Teufel bleibst …“

Abrupt bleibe ich stehen.

Tai liegt vor mir im Bett, auf den Bauch gedreht und umklammert schlafend sein Kissen. Seine Decke ist verrutscht und entblößt seinen nackten Rücken. Seine Haare sind ganz durcheinander, noch wilder als sonst und ich komme nicht umhin, ihn einfach für ein paar Sekunden zu betrachten. Er ist so schön.

Ich trete näher ans Bett ran und lasse mich seufzend darauf nieder. Tai schläft ziemlich tief und bemerkt gar nicht, dass ich da bin. Verzweifelt schaue ich zu Boden, ehe ich mich nach vorne beuge und mein Gesicht in meine Hände vergrabe.

„Verdammt, was mache ich hier eigentlich?“, murmle ich. Eigentlich wollte ich ihn zur Rede stellen und ihn anschreien und meiner Wut Luft machen, weil er mich gestern so gemieden hat. Das war unerträglich für mich. Es fühlt sich schon unerträglich an, wenn wir uns mal einen Tag nicht sehen, er nicht um mir ist. Aber ihn in meiner Nähe zu haben und nicht von ihm beachtet zu werden, halte ich nicht aus.

Als er mit Sally geflirtet hat … ich dachte, es zerreißt mich. Wie soll ich das zukünftig ertragen? Wie soll ich Joe heiraten und dabei zusehen, wie Tai sich zwangsläufig immer weiter von mir entfernt und irgendwann eine Andere liebt? Wird unsere Beziehung irgendwann genauso oberflächlich wie bei ihm und Kaori? Werden wir so tun, als wäre da nie was gewesen?

Ich kann das nicht.

Ich kann das alles nicht.

Ich muss mir beide Hände auf den Mund pressen, um das Schluchzen zu unterdrücken, dass sich plötzlich einen Weg an die Oberfläche bahnt. Ich versuche, mich zusammen zu reißen, aber es geht nicht. Ich fühle mich wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Es vergehen sicher geschlagene zehn Minuten, bis ich mich wieder unter Kontrolle gebracht habe und die Tränen langsam versiegen. Ich wische mir mit den Händen übers Gesicht und stehe auf, um ins Bad zu gehen. Tai’s Badezimmer sieht genauso aus wie unseres. Ich wasche mir schnell das Gesicht und beschließe, gleich noch mal nach nebenan zu gehen, um frisches Make Up aufzulegen.

Das kalte Wasser tut gut und verschafft mir einen kurzen Moment zum Durchatmen. Kurz sehe ich in den Spiegel, meine Augen sind gerötet, aber das kann auch vom Jetlag kommen. Dann greife ich nach Tai’s Zahnputzbecher, befülle ihn mit eiskaltem Wasser und gehe zurück ins Schlafzimmer. Tai muss irgendwelche Pillen geschluckt haben, oder warum schläft er so tief? Egal, Zeit, zurück in die Realität zu kommen – mir hat das kalte Wasser ja auch gut getan. Außerdem haben wir noch eine Rechnung offen und damit meine ich nicht nur die Sache von gestern.

Ohne mit der Wimper zu zucken kippe ich Tai das Wasser über den Kopf.

Er reißt sofort schreiend die Augen auf und sieht sich panisch um.

„Was zur Hölle …“, entfährt es ihm, als er mich vor seinem Bett stehen sieht und realisiert, wo er sich befindet.

Er funkelt mich wütend an. „Was soll das?“

„Steh auf“, sage ich jedoch nur und stelle den Becher auf seinen Nachttisch. „Joe wartet.“

Dann drehe ich mich um und verlasse sein Zimmer, ehe er noch was zu mir sagen kann. Ich schaffe es einfach nicht, jetzt mit ihm darüber zu reden, was mir durch den Kopf geht. Ich weiß, ich würde wieder vor ihm zusammenbrechen und wie war das? Er muss sich selbst schützen. Und ich mich auch.
 

Tai erscheint tatsächlich doch noch zum Essen, als wir schon längst beim Nachtisch sind. Er sucht sich den Platz neben Jim aus, was recht ungewöhnlich ist, allerdings ist es auch der Platz, der am weitesten von mir entfernt ist.

„Du siehst ja immer noch ziemlich müde aus“, stellt Joe fest, als er Tai ansieht. Dieser bestellt sich gerade einen starken Kaffee.

„Oh, glaub mir, ich bin wach“, antwortet ihr und lässt es sich nicht nehmen, mir einen eindeutigen Blick zuzuwerfen. Ich sehe sofort woanders hin. Alles in mir tobt, wenn er mich ansieht und das ertrage ich gerade nicht.

„Willst du gar nichts essen?“, erkundigt sich Joe.

Tai schüttelt den Kopf. „Keine Zeit, wir machen gleich etwas Sightseeing, bevor es zur Anprobe geht.“

„Sightseeing?“, hakt Kaori erstaunt nach. „Haben wir denn für so was Zeit?“

Entspannt lehnt Tai sich in seinem Stuhl zurück, als auch schon sein Kaffee kommt. „Genau zwei Stunden. Ich dachte, die nutzen wir, wenn wir schon mal da sind. Danach ist, wie gesagt, die Anprobe für morgen und wir gehen noch mal den ganzen Ablauf durch, bis ins kleinste Detail.“

Würg. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke.

„Wie aufregend“, klatscht Kaori in die Hände und sieht mich erwartungsvoll an, weil sie vermutlich denkt, ich bin genauso aufgeregt wie sie. Ich ringe mich zu einem Lächeln durch.

„Und wo gehen wir hin?“, frage ich, obwohl es mir gerade wirklich schwerfällt, überhaupt mit Tai zu reden. Vor allem nach meinem kleinen Zusammenbruch vorhin.

Tai sieht mich direkt an, aber sein Blick ist unergründlich. Unnahbar. Ich hasse das.

„Wir sehen uns die Freiheitsstatue an. Keine Sorge, wir haben VIP Tickets und müssen uns nicht erst drei Stunden in die Schlange stellen. Danach haben wir noch Zeit für eine kleine Runde durch den Central Park.“

Der Central Park, wie schön. „Wow, dort bin ich früher häufiger mit Sally joggen gegangen oder wir haben uns dort zum Picknick getroffen“, sage ich und schwelge in Erinnerungen. Das ist gefühlt ein halbes Leben lang her.

„Gut, dass du sie erwähnst. Ich habe sie eingeladen, uns zu begleiten“, meint Tai daraufhin. Überrascht hebe ich meinen Kopf. Oder sollte ich besser sagen: schockiert?

„Du hast Sally eingeladen?“

„Ich dachte, das würde dich freuen.“

„Woher hast du ihre Nummer?“

„Oh, da hat wohl jemand ein Auge auf die hübsche Blondine geworfen“, stichelt Jim, während ich drauf und dran bin über den Tisch zu springen. Ach, halt doch einfach deine Klappe, Jim.

„Hmm, kann ich verstehen“, nickt plötzlich auch Joe neben mir. Bitte?

„Ja, sie sieht wirklich gut aus“, sagt nun auch noch Kaori. Okay, wo bin ich hier gelandet? Ist das der Sally-Fanclub, oder was?

„Woher hast du ihre Nummer?“, frage ich mit Nachdruck. Klinge ich zu bissig?

„Ich habe ihre Nummer nicht“, erwidert Tai deutlich gelassener als ich. „Ich habe sie gestern gefragt, ob sie mitkommen möchte. Und sie hat sofort ja gesagt.“

Oh, natürlich hat sie das.

Wie auf Kommando höre ich auch schon die Stimme meiner besten Freundin, die ein mal quer durch den Raum ruft.

„Mimi, hallo!“

Na, super.
 

Ich weiß nicht, was mich mehr stört: die Tatsache, dass ich ein absolutes Biest bin, die ihre beste Freundin aus egoistischen Gründen loswerden will oder dass sich Sally die ganze Zeit an Tai ran schmeißt.

Seit wir aufgebrochen sind, klebt sie förmlich an ihm dran. Lacht über seine Witze. Und er über ihre. Sie verstehen sich blendend. Und ich gönne es ihnen nicht. Nicht eine Sekunde.

Als wir die Freiheitsstatue besichtigt haben, haben sie zusammen Fotos von sich geschossen, als hätten sie hier ein Date. Ich hätte schreien können. Aber wie soll ich ihr das klarmachen, wenn sie doch glaubt, dass ich nur Interesse an Joe habe – wenn das doch ALLE glauben? Ich kann ihr unmöglich die Wahrheit sagen. Gerade überlege ich einfach nur, wie ich das überstehen soll, während wir durch den Central Park spazieren und sich alle angeregt unterhalten. Jim und Joe sind schon länger in ein tiefgründiges Gespräch über irgendwas vertieft – ich habe nicht genau hingehört, worum es geht – und Tai redet die ganze Zeit nur mit Sally, während Kaori viele Fotos schießt und ich hinter allen anderen her trotte, wie das fünfte Rad am Wagen.

„Hey“, reißt mich Kaoris Stimme plötzlich aus meinen Gedanken, die soeben neben mir aufgetaucht ist.

„Oh, ähm … hast du schöne Fotos geschossen?“, frage ich sie, obwohl mir gerade gar nicht nach Small Talk ist.

Sie nickt begeistert. „Habe ich. Die Aussicht auf der Freiheitsstatue war wirklich der Wahnsinn.“ Dann mustert sie mich mit einem auffallenden Blick. „Nur du sahst irgendwie nicht so begeistert aus.“

Ich zucke mit den Schultern. „Habe das alles schon hundert Mal gesehen“, sage ich belanglos.

„Verstehe. Bist du aufgeregt wegen morgen?“

Morgen? Dieser Tag könnte mich gerade nicht weniger interessieren.

„Jaah, total.“

„Ging mir auch so, damals, als ich und Jim uns offiziell verlobt haben. Ich konnte den ganzen Tag davor nichts essen, weil ich so nervös war. Immerhin werden alle Augen auf euch gerichtet sein.“

Ich komme nicht dazu, noch irgendwas darauf zu antworten, denn plötzlich lässt Sally sich etwas zurückfallen, während Tai nach vorne zu Jim und Joe geht.

„Oh, man“, sagt sie, als sie sich zu uns gesellt und sich bei mir einhakt. „Der ist vielleicht süß. Und heiß“, beginnt sie zu schwärmen, sieht jedoch dann gleich ganz erschrocken zu Kaori, die neben ihr herläuft. „Oh, tut mir leid. War das taktlos?“

Kaori sieht sie leicht verwirrt an. „Nein, wieso?“

„Ach, nur so“, winkt Sally schnell ab. „Wie sieht es denn bei dir und Joe aus?“, fragt sie mich plötzlich. „Seid ihr euch schon nähergekommen? Ihr teilt euch doch ein Zimmer, oder?“

Nun zieht auch Kaori interessiert die Augenbraue nach oben und schielt zu mir rüber.

„Ähm, also, noch nicht so richtig.“

„Sie haben heute Morgen Händchen gehalten“, verrät Kaori und fängt an zu kichern, weil sie es offensichtlich ganz süß findet.

„Wirklich? Ist nicht wahr!“ Sally tut ganz erstaunt, doch ich verdrehe nur die Augen.

„Ja, aber das ist doch nichts Besonderes.“

„Ich würde meinen kleinen Finger dafür opfern, um mit Tai Händchen zu halten.“

„Sally.“

„Und meinen ganzen Arm für ein bisschen mehr.“

„Sally!“ Oh man, wenn Sally sich einmal ihr Ziel ausgesucht hat …

„Tut mir leid, er ist einfach so heiß“, schwärmt sie schon wieder, sieht dann jedoch gleich wieder zu Kaori. „Entschuldige.“

Diese lächelt nun leicht irritiert und zeigt dann auf ihren Mann. „Ich werde mal zu Jim gehen.“

Sie beschleunigt ihr Tempo, bis sie die Jungs eingeholt hat. Ich überlege gerade, wie ich Sally am besten beibringen soll, dass Tai tabu ist und wie um alles in der Welt ich das rechtfertigen kann, da kommen auch schon Tai und Joe auf uns zu.

„Mimi, wollen wir ein Stück zusammen gehen?“, fragt Joe mich und ich sehe hilfesuchend zu meiner besten Freundin, die mir jedoch ermutigend zuzwinkert. Sie hat das mit dem Händchenhalten in den völlig falschen Hals bekommen und glaubt, sie müsste uns jetzt etwas Exklusivzeit verschaffen. „Oh, geh nur. Ich komm schon klar“, meint sie und grinst Tai an. Er schenkt ihr ein Lächeln, während er mich keines Blickes würdigt. Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen. Was, zum Teufel, ist in ihn gefahren? Warum tut er das?

Ich hake mich bei Joe ein, weil ich wohl keine andere Wahl habe, während Tai und Sally hinter uns gehen. Joe beginnt irgendwas zu erzählen, aber ich höre nicht zu. Stattdessen strenge ich mich an, jedes Wort von Tai und Sally aufzuschnappen.

„Ich finde es toll von dir, dass du so locker mit der Situation umgehen kannst“, sagt sie.

„Was genau meinst du?“, fragt Tai irritiert.

„Na … ach, egal. Nicht so wichtig.“ Sally spielt offensichtlich auf Kaori an, was Tai natürlich nicht versteht, denn er weiß nicht, dass ich es ihr erzählt habe.

„Sally, hättest du Lust morgen bei der Verlobungsfeier dabei zu sein? Als meine Begleitung?“

Wie bitte? Abrupt bleibe ich stehen, was Joe ins Straucheln bringt.

„Stimmt was nicht, Mimi?“

„Oh mein Gott, ja!“, höre ich Sally hinter mir kreischen, als hätte sie gerade einen Heiratsantrag bekommen. Dann kommt sie auch schon zu mir gerannt und fällt mir um den Hals. „Hast du das gehört, Mimi? Ich bin bei deiner Verlobungsfeier dabei.“

„Wow“, krächze ich, weil sie mich so heftig umarmt. „Das ist ja fantastisch.“ Ich werfe Tai einen bitterbösen Blick zu, der jedoch nur zufrieden lächelt. Mistkerl.
 

Eine Stunde später finden wir uns bei der Anprobe für die Verlobungsfeier wieder, die natürlich im Hotel stattfindet.

Diesmal hat Kaori die komplette Garderobe zusammengestellt und es geht heute nur noch um den Feinschliff. Die Männer haben es einfach, sie tragen alle selbstverständlich einen Smoking. Aber auch an diesen muss hier und da noch ein wenig was geändert werden.

Ich betrachte mich in meinem Kleid im Spiegel. Ich trage ein rosafarbenes Kleid, was am ganzen Stoff mit kleinen Pailletten und Perlen bestickt ist. Es hat halblange, durchsichtige Ärmel und einen V-Ausschnitt, sowohl vorne als auch hinten. Der Stoff ist leicht und schwingt bei jeder Bewegung mit, es wird ganz fantastisch aussehen, wenn ich darin tanze.

„Wie findest du es?“, fragt Kaori, die zu mir gekommen ist. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid, was wirklich elegant aussieht.

„Es ist umwerfend“, schwärme ich und drehe mich ein mal im Kreis. Kaori hat wirklich Geschmack.

„Muss noch irgendetwas geändert werden?“

„Hmm, vielleicht an der Taille ein klein wenig enger“, sage ich nachdenklich.

„Okay, ich sage der Schneiderin Bescheid, dass, wenn sie bei Tai fertig ist, sie zu dir kommen und deine Maße nehmen soll.“

Ich nicke und Kaori geht wieder zu Jim, der ebenfalls zufrieden mit seinem Smoking zu sein scheint. Joe und seine Eltern haben sich schon verabschiedet, weil bei Ihnen die Anprobe nicht all zu lang gedauert hat und sie noch einiges zu besprechen haben wegen morgen. Ich wende mich von meinem Spiegelbild ab und sehe zu Tai, der ein paar Meter weiter steht und beide Arme ausgestreckt hat, damit die Schneiderin die Länge der Ärmel vermessen kann.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, unschlüssig, was ich nun tun soll. Aber dann gebe ich mir einen Ruck.

„Tai“, spreche ich ihn an. Dicht vor ihm bleibe ich stehen, damit uns Jim und Kaori nicht hören können. Ich weiß, es ist riskant, das hier zu klären, aber ich weiß nicht, ob ich ihn in nächster Zeit noch mal alleine antreffen werde. „Warum hast du das gemacht?“, frage ich leise und ohne Umschweife.

„Was gemacht?“

„Sally gefragt, ob sie deine Begleitung ist.“

Nun wendet er den Blick wieder von mir ab und sieht stattdessen in den Spiegel vor sich. „Sie ist deine Freundin und du freust dich sicher, sie dabei zu haben.“

Ich beiße die Zähne aufeinander. Will er mich gerade für dumm verkaufen?

„Trotzdem hast du doch wohl genau mitbekommen, dass sie auf dich steht, oder?“

„Und?“

„Was und?“, zische ich und sehe mich kurz um, aber Kaori und Jim sind viel zu sehr mit ihrer Abendgarderobe beschäftigt. „Willst du … willst du etwas von ihr? Ist es das?“

Mein Herz schlägt aufgeregt gegen meine Brust, als Tai mich erneut ansieht und sein Blick so ganz anders ist, als ich es normalerweise von ihm kenne. Als wäre es ihm total egal, wie ich mich fühle.

„Ich denke nicht, dass dich das interessieren sollte, Mimi.“

Ich halte seinen Blick fest, versuche zu verstehen, was mit ihm los ist. Wird es ab jetzt tatsächlich immer so sein zwischen uns? Professionelle Distanz? Ist das alles?

„Weißt du was? Tut es auch nicht“, erwidere ich trotzig und werfe die Haare zurück. „Es interessiert mich nicht. Du interessierst mich nicht.“

„Oh, also bin ich dir plötzlich egal?“, entgegnet Tai provokant. Meine Antwort ist ein vielsagender Blick, dann wende ich mich ab. Er braucht nicht denken, dass er mich vorführen kann. Wenn er Sally will, dann bitte, soll er sie nehmen.

Ich gehe zurück zu meinem Spiegel und betrachte noch ein mal dieses wunderschöne Kleid, was plötzlich so falsch an mir aussieht. Findet er sie attraktiver als mich, ist es das?

Mein Handy vibriert auf dem kleinen Glastisch, der neben dem Spiegel steht und ich greife danach. Ich hoffe, dass es eine Nachricht von meiner Mutter ist. Ich brauche dringend jemanden, mit dem ich reden kann. Aber es ist eine WhatsApp von Sally.

„Ich hoffe die Anprobe läuft gut. Sieht Tai gut aus? Er hat mich vorhin auf ein Date eingeladen. Heute Abend! Drück mir die Daumen!“

Ich schlucke schwer, während ich die Nachricht gleich noch mal lese. Und noch mal. Und noch mal. Dann sehe ich unauffällig zu Tai rüber. Er und Sally? Wirklich? Oh, fuck!

Kapitel 25

Mimi
 

Nach der Anprobe habe ich mir meine normalen Sachen übergezogen und wir sitzen alle zusammen beim Abendessen im Hoteleigenen Restaurant. Alle außer Tai. Er meinte nur total laut und total übertrieben, dass er jetzt auf ein Date mit Sally geht und dass sie nicht auf ihn warten bräuchten und während Jim und Joe Tai auch noch viel Spaß wünschen und ihn abklatschen, ernsthaft sind wir noch auf der High School oder was?, bekomme ich keinen einzige bisschen runter. Sie haben ein verdammtes Date. Ein Date. Lustlos stochere ich in meinem überteuertem Essen herum und muss die ganze Zeit daran denken, dass meine beste Freundin jetzt ein unfassbar schönen Abend mit meinem Traummann hat. Wie gerne würde ich mit Tai auf ein Date gehen. Eine unauffällige Geste hier, ein Lächeln da. Vielleicht sogar der erste Kuss? Tai ist sicher wahnsinnig charmant und vielleicht kommen sie sich wirklich näher. Sally ist immerhin unendlich attraktiv. Ich will und kann mir das nicht vorstellen.

"Mimi, alles in Ordnung? Schmeckt es dir nicht?", fragt Kaori nach und deutet auf meinen unangerührten Teller. "Ich habe nicht soviel Hunger."

"Wird dir wieder schlecht?", hakt jetzt auch Joe nach, der die ganze Zeit mit Jim über irgendwelche Sparmaßnahmen für die Krankenhäuser diskutiert.

"Nein, wirklich, habe nur keinen Appetit."

"Die Aufregung steigt sicher wegen morgen? Ich kann das wirklich gut nachfühlen."

"Ja, das wird es sein." Kurz muss ich überlegen, worauf Kaori hinaus wollte, aber dann fiel es mir wieder ein: Morgen ist ja MEINE offizielle Verlobungsfeier.

"Mach dir keine Sorgen, es wird schon morgen alles perfekt werden", versucht auch Joe mich aufzumuntern und ich nicke nur schwach.

"Ich glaube, ich gehe schon mal hoch. Ich bin irgendwie immer noch müde und morgen ist ein aufregender Tag."

"Mach das. Ich komme gleich nach." Ich nicke und verabschiede mich von den anderen. "Lass dir ruhig Zeit." Ich bin eigentlich ganz froh, wenn ich jetzt eine Zeit lang alleine bin und mich nicht ständig erklären muss, warum ich so mies drauf bin. Ein Tag vor meiner Verlobungsfeier, wo ich unter normalen Umständen die ganze Zeit strahlen sollte, weil ich so glücklich bin, stattdessen bin ich noch nie so traurig in meinem Leben gewesen. Wie konnte das alles nur passieren? Warum hab ich mich in Tai … verdammt, warum hab ich mich in ihn verliebt? Die ganze Zeit versuche ich alles, um es mir nicht einzugestehen, aber es bringt einfach nichts, sich länger was vorzumachen. Ich bin verliebt in ihn und nicht in Joe, der mein Verlobter ist. Wie verkorkst kann ein Mensch sein?
 

Verzweifelt lass ich mich aufs Bett fallen. Ich kann jetzt unmöglich in mein Tagebuch schreiben. Joe darf nicht mal wissen, dass es das gibt. Also bleibt es verschlossen in meinem Koffer liegen. Ich lasse Musik über Spotify laufen und gehe Richtung Mini-Bar. Wollen wir doch mal schauen, ob hier was drin ist, was meine Laune steigen lässt. Champagner, Sekt, Bier. Der Champagner sieht scheiße teuer aus. Perfekt. Ich nehme mir die Flasche, löse die Agraffe und lasse den Korken ruhig aus der Flasche gleiten. Ja, hier liegen meine Talente. Wer braucht schon Gläser? Ich setze die Champagnerflasche direkt an meinem Mund an und trinke mehrere Schlücke daraus. Das prickelnde Getränk und das Brennen, welches gerade meinen Hals runterläuft, ist genau das, was ich brauche, um mich besser zu fühlen. Ich drehe die Musik laut auf, wie passend, dass gerade Adele mit 'Someone like you', läuft. Ich fühle es gerade so hart, noch einmal trinke ich einen großen Schluck, dann nehme ich die Champagnerflasche als Mikrofon und schmettere den Refrain: "Never Mind, i'll find someone like youu-uuuhh", wahrscheinlich treffe ich hier gerade keinen einzigen Ton, aber hier geht es auch nicht um Perfektion. Ich springe aufs Bett und strecke den anderen Arm weit aus. "I wish nothing but the best for you, too." Ich lasse mich auf meine Knie fallen und lege beide Hände um den Flaschenhals: "Don't forget me, i beg, i remember you said. Sometimes it lasts in Love, but Sometimes it hurt's instead."

Ich rutsche vom Bett herunter, trinke einen weiteren Schluck und trälle zum letzten mal "Sometimes it lasts in Love, but Sometimes it hurt's instead."

Ich erhebe und verbeuge mich. "Danke." Mein imaginäres Publikum ist vollkommen aus dem Haus und trotz aller Mühe muss ich schon wieder an Tai und Sally denken.

Die und ihr blödes Date. Was sie wohl gerade machen und wie es so läuft?

"Oh Tai, danke für den schönen Abend heute", äffe ich Sally nach und stelle mir vor, wie sie sich gerade präsentiert. Nächster Schluck. "Kein Thema Babe, so ein Hübsche wie du, kann man doch abends nicht alleine lassen … Kicher, Kicher." Keine Ahnung, ob Tai Babe sagen würde, aber egal. "Ach du Charmeur, der Abend ist viel zu schön, um ihn jetzt schon enden zu lassen." Ich tue so, als würde ich mir den Finger in den Hals stecken, weil das einfach alles zum kotzen ist. "Sehe ich genauso", sage ich mit tiefer Stimme. Nächster Schluck. Verdammt gut, dieses teure Zeug.

"Dann lass uns den Abend doch gemeinsam ausklingen", sage ich ganz sinnlich. Kurz kommt mir in den Sinn, wie nah Tai und ich im Flugzeug in der Kabine standen und seine Lippen meinen so verflucht nah waren. Ach egal, nächster Schluck.

"Komm doch einfach mit zu mir", knurre ich und blicke ganz verklärt drein.

Ja, genauso wird es ablaufen. Die beiden sind sicher schon am rummachen oder so. Diesen Schmerz in meinem Herzen muss ich sofort mit einem weiteren Schluck teuerem Champagner überdecken. Auf einmal höre ich Gekicher auf dem Flur.

Tai. Sally. Lachen. Scheiße.

Sofort laufe ich zur Türe und schaue durch den Spion. Ich muss mein Smartphone ausmachen, damit ich die Beiden besser hören kann. "Du bist ja wo witzig", kichert Sally, hab ich Recht oder hab ich Recht gehabt? Perfekte Parodie. Blöde Göre. Wo ist mein Champagner? Ich brauche mehr. "Ich glaube du hast vorhin etwas zu viel getrunken", antwortet Tai. Er wirkt nicht so beschwipst, wie meine angetrunkene Freundin. Ja Sally und Alkohol ist ein Thema für sich. Sie verträgt nämlich überhaupt gar nichts.

"Ach, das bisschen", lallt Sally und fällt in Tais Arme, der sie hochhebt und in sein Zimmer trägt. Mist, jetzt sehe ich nichts mehr. Dieser verdammte Casanova. Sofort gehe ich ans andere Ende des Zimmers und drücke mein Ohr gegen die Wand. Verdammt, die Wände sind einfach viel zu dick. Man hört ja gar nichts.

Was ist das? Ich glaube, die haben …

"Mimi?", höre ich Joe sagen.

"Psst."

"Was machst du da?"

"Psst." Moment, fragt mein Verlobter mich gerade, warum ich hier wie ne Blöde an der Wand klebe?

Verlegen drehe ich mich zu Joe um und überlege, wie ich das erklären kann.

"Ich glaube, da ist eine Maus in der Wand?"

"Eine Maus?", fragt Joe ungläubig und ich nicke wie wild. Klar, Mimi, was besseres ist dir nicht eingefallen? Moment, habe ich da gerade was aus dem anderen Zimmer gehört? Ein Gepolter? Sofort hänge ich mit meinem Ohr wieder an der Wand. "Doch wirklich, Joe, ich höre sie ganz deutlich."

Joe stellt sich neben mir und lauscht ebenfalls an der Wand. Nur dass er nach einer nicht existierenden Maus horscht und ich nach möglichen Sexgeräuschen. "Da."

"Das klingt nicht wie eine Maus", merkt Joe an. Mein Verlobter, ein ganz kluger Mann.

"Klingt eher so, als hätte Tai was umgeworfen." Oh man, vor lauter Leidenschaft oder was? "Mimi, hast du die ganze Flasche Champagner alleine getrunken?"

"Äh, ja." Wow, sie ist echt komplett leer. Wie schade. "War wohl doch keine Maus", kichere ich verlegen und ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr.

"Ne, eher zu viel Champagner", murmelt Joe, hebt die leere Flasche vom Boden auf und stellt sie auf den Tisch.

"Ich bin wohl doch noch aufgeregt wegen morgen, aber jetzt lege ich mich schlafen, damit ich morgen fit bin." Ich blicke kurz auf meine Uhr. Es ist fast Mitternacht. Ich will gerade an Joe vorbei gehen, da hält er meine Hand fest und bringt mich dazu, vor ihm stehen zu bleiben. "Mimi, ich weiß vor zwei Monaten kannten wir uns noch gar nicht. Wir wussten nicht einmal, dass der jeweils andere existiert und jetzt heiraten wir bald." Er nimmt jetzt auch noch meine andere Hand und hält sie fest, während er mit gesenktem Kopf zu mir schaut. Es scheint, als wäre es ihm wichtig, mir das zu sagen. "Mir ist klar, dass wir hier nicht von der großen Liebe sprechen können und auch, dass wir uns beide das vielleicht ein wenig anders vorgestellt haben. Aber wenn ich Jim und Kaori zusammen sehe und denke, wo sie vor zwei Jahren standen und wo sie jetzt sind … dann wünsche ich mir für uns, dass wir dort auch in zwei Jahren stehen." Ich schlucke schwer und ich würde mir ehrlich gesagt nichts lieber wünschen, als mich in Joe zu verlieben. Wie einfach wäre dann alles? Wie ein kleines Happy End für die kleine Mimi, aber Liebe kann man nicht erzwingen und das Herz will, was es will. "Ich würde es mir für uns auch wünschen, Joe." Er zieht mich näher zu sich und umarmt mich. Er hält mich richtig fest und ich will einfach nur, dass er mich wieder loslässt. Joe lockert die Umarmung und ich lächle ihm zu. "Wir schaffen das." Ich weiß nicht, warum ich das sage, vielleicht spricht der Alkohol aus mir, vielleicht verspüre ich aber auch wirklich den tiefen Wunsch in mir, dass es mit uns klappt. Mit traurigen Augen schaue ich zur Wand zurück, hinter der Tai sich wahrscheinlich gerade mit meiner besten Freundin vergnügt. Wir sind verdammt. "Gute Nacht, Joe."
 

Was ein Vormittag. Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht gleich die ganze Flasche Champagner leer zu trinken, aber verdammt es war echt lecker und ich habe es einfach gebraucht. Die Quittung kam heute morgen. So einen Brummschädel hatte ich lange nicht mehr gehabt. Mein Frühstück bestand aus einer Wasserflasche und zwei Kopfschmerztabletten und mittags habe ich es dann endlich geschafft, unter die Dusche zu steigen. Jetzt stehe ich hier im Badezimmer und mache mich fertig für die Verlobungsfeier, die im Worcester, ein Privatbereich auswärts des Hotels stattfindet. Die Familie Kido hat, nachdem sie mehrere Fotos von der Location gesehen hatte, zugestimmt. So gehört es zwar zum Hotel, ist aber trotzdem ein wenig abgelegen.

Die Schneiderin hat ganze Arbeit geleistet. Gestern bei der Anprobe saß das Kleid schon super, aber heute passt es auch an der Taille perfekt. Als am frühen Morgen eine Stylistin hier am Hotelzimmer klopfte, habe ich sie kurzerhand wieder weggeschickt. Familie Kido weiß doch, dass ich Stylistin bin und ja vielleicht ist es nett gemeint, dass ich mich einfach nur entspannen soll, aber es ist doch mein Tag und ich weiß genau welchen Look ich heute möchte und vor allem welche Farben mir am besten stehen. Zu mal ich sowieso immer sehr eigen bin und am liebsten meine eigenen Produkte benutze.

Jetzt betrachte ich mich im Spiegel. Mein Make-Up ist romantisch, verspielt, aber dennoch elegant. Dünner Lidstrich, Mascara, Rouge, rosafarbener Lippenstift.

Den Augenmerk habe ich aber auf meine Frisur gelegt. Eine prachtvolle Lockenmähne, vorne geflochtet und die Partei breit auseinander gelegt und jede Partie darunter wird dann schmaler, bis zu den Haarspitzen. I like it.

Nur eine Sache stört mich, mein Strahlen fehlt.

Ich bin gespannt, wie Joe reagieren wird und Tai. Er hat mich die letzten Tage so gut wie gar nicht beachtet. Heute habe ich nicht mal mein Hotelzimmer verlassen. Ich wollte einfach nicht hören, wie heiß sein Abend gestern mit Sally war. Obwohl ich ein paar Mal versucht habe, Sally anzurufen. Sie ging jedoch nicht ans Telefon. Wenn Tai mich nachher so sieht und es dann noch schafft, mich zu meiden, dann hat er wirklich jegliches Interesse verloren.

Ich drehe mich vor dem großen Spiegel noch einmal um und bin bereit. Na ja, eigentlich bin ich das nicht, aber ich bin fertig und es ist ja heute zum Glück nicht meine Hochzeit. Nur die Verlobungsfeier und verlobt sind wir ja eh schon. Es klopft an der Türe und ich schaue wieder durch den Spion und erkenne Ansgar. Dafür, dass Ansgar sonst immer sehr emotionslos ist, wird er jetzt doch tatsächlich etwas rot. "Miss Tachikawa, sie sehen bezaubernd aus."

"Danke Ansgar."

"Unten im Foyer warten alle auf Sie, also wenn sie fertig sind, begleite ich sie gerne nach unten."

"Mit dem größten Vergnügen."
 

Ich betrete den Fahrstuhl. Himmel, bin ich nervös. Ich habe das Gefühl mein Herz hüpft gleich aus meinem Brustkorb raus. Die Türen öffnen sich und wie angekündigt stehen die meisten im Foyer und warten auf mich. Frau Kido, Kaori, Jim und Joe. Ich gebe es zu, ich liebe es schon ein wenig, wenn ich im Mittelpunkt stehe.

"Mimi, liebes. Du bist wunderschön", strahlt Frau Kido und umarmt mich als erstes.

"Wirklich, sehr schön", spricht auch Kaori weiter.

"Danke." Wie gut, dass ich schon Rouge auf den Wangen habe, so sieht niemand, wie rot ich gerade anlaufe. Igendwie fällt es mir schwer, mit Komplimenten umzugehen. Auch wenn ich sie gerne höre. "Joe, jetzt hol endlich deine Verlobte ab", sagt Frau Kido an ihren Sohn gerichtet, doch Joe ist in einer Starre und braucht gerade einen Moment um sich zu sammeln. "Äh, ja, äh, natürlich", stottert er ein wenig unbeholfen und hält mir seinen Arm hin. Ich hake mich bei ihm unter und er führt mich zur Limousine. Wir fahren zur Location und ich bin wirklich gespannt, wie es da jetzt aussieht.
 

Natürlich werden wir, wie nicht anders zu erwarten, von der Presse erwartet. Händchenhaltend verlassen wir die Limousine. Ich weiß nicht, wie viele Paparazzis hier stehen, aber es sind ne Menge Leute. Überall Blitzlicht und unzählige Fragen. Ein paar beantworten wir, die meisten lassen wir jedoch unkommentiert. Ich lächle, ich winke und frage mich immer noch, wann das je aufhören wird?

Der Eingangsbereich der Location ist schon wahnsinnig beeindruckend. Die Fliesen sind aus weißem Marmor, riesige goldene Kronleuchter strahlen von der Decke herab, das Gelände ist ebenfalls golden, während die Treppen selbst aus einem warmen dunklen Braunton bestehen und weiter oben ist ein separater Bereich der exklusiv für uns reserviert ist. Mit einer Dachterrasse und Blick über den ganzen Big Apple, oh man, ich liebe diese Stadt. Von hier oben sehen selbst große Wolkenkratzer ganz klein aus. Haruiko, meine Eltern und Sally habe ich bereits hier oben angetroffen und meine Eltern weinen beide um die Wette, als sie mich gesehen und in Empfang genommen haben. "Und wie gefällt es dir?", fragt meine Mutter immer noch ganz gerührt nach. "Es sieht phantastisch aus." Nur einen hab ich noch nirgendwo entdeckt. Ist Tai etwa nicht gekommen? Ich gehe ein Stück über die große Terrasse und dann steht er da. Er sieht in die Ferne, schaut sich die unglaubliche Skyline an und dreht dann seinen Kopf zu mir. Sein Blick fesselt mich und diesmal schafft er es nicht, seine Augen von mir abzuwenden. Nein, er sieht genau zu mir. Ich sehe, wie er mich von unten bis oben abcheckt und dann meinen Blick standhält.

Und Tai sieht mich mit einem Blick an, den ich noch nie bei einem anderen Menschen gesehen habe. Zumindest hat mich noch nie jemand so angesehen. So ein weicher, liebevoller Blick - voller Zuneigung und ein Lächeln, so unbeschreiblich schön. Ich bin ihm also nicht egal. Ich beginne zu strahlen, weil mir wirklich ein Stein vom Herzen fällt. Auch wenn er immer noch ein Idiot ist und ich sauer auf ihn bin.
 

Tai.
 

Ich brauche einen Moment Ruhe und Zeit für mich. Hier auf der Dachterrasse mit diesem unglaublichen Ausblick bekomme ich genau diesen Frieden. Zumindest für den Moment. Mein Blick wandert in die Ferne. Ich bin ehrlich gesagt nervös, dabei weiß ich gar nicht wieso. Sally wird sicher gleich wieder bei mir sein und Mimi müsste auch jeden Moment kommen.

Sally, unser Date gestern war irgendwie schräg. Ich habe versucht viele Fragen zu stellen. Zu Mimi, zu ihr, wie sie sich die Zeit vertrieben haben und was sie so gemacht haben. Sally hat auch viel erzählt, aber sie war so nervös und begann zu trinken. Scheinbar verträgt sie nicht viel, denn bald war sie nur noch am Kichern und eine normale Unterhaltung unmöglich. Ich habe sie dann mit zu mir genommen, weil das Hotel erstens nicht weit weg war und zweitens sie so niemals hätte nach Hause gehen können. In meinem Hotelzimmer hat sie dann ein paar Mal versucht, mich anzubaggern, aber ich habe ihr gesagt, dass ich kein Interesse habe und sie jetzt schlafen soll. Mit einer betrunkenen Frau würde ich niemals schlafen. Dennoch war sie am nächsten Morgen wieder ganz zurückhaltend und hat sich mehrmals entschuldigt. Wir sind dann zum Frühstück runter und natürlich hat jeder sein Übriges gedacht. Ich bin mehr als erleichtert gewesen, dass Mimi nicht da war. Sie kam wohl nicht aus dem Bett und jetzt steht sie da. Wie immer geht mein Blick wie automatisch zu ihr. Sie zieht mich einfach in ihren Bann. Ich kann meine Augen gar nicht von ihr nehmen und bin froh, dass gerade niemand hier ist und ich sie einfach nur anschauen kann. Sie lächelt, ich erwidere es und möchte ihr sagen, wie hübsch sie aussieht, doch dann wird sie auch schon gerufen und ist weg.

Sally kommt mit zwei Getränken zu mir und reicht mir ein Bier. "Für dich nur Cola", scherze ich und deute auf das schwarze Getränk in ihrer Hand. "Ja, besser ist das. Ich vertrage einfach keinen Alkohol."

"Ach ist das so?", grinse ich und Sally gibt mir einen Klaps gegen die Schulter.

"Außerdem ist heute Mimis Abend, den will ich ihr nicht kaputt machen. Hast du sie gesehen? Sie sieht wunderschön aus."

"Ja, finde ich auch", sage ich und beginne leicht zu schwärmen. Sally sieht mich ein wenig ungläubig an und ich schüttle schnell den Kopf. "Ich glaube, wir sollten rein. Es geht wahrscheinlich gleich los." Sally und ich betreten wieder den großen Saal. "Wer sind all die Leute?", fragt Sally und ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, obwohl ich wahrscheinlich an jeden einzelnen eine Einladungskarte geschickt habe. "Irgendwelche reichen und wichtigen Menschen. Zumindest wenn man sich in diesen Kreisen bewegt." Anwälte, Ärzte und Politiker. Die Presse, die von allem Fotos machen. Mimi und Joe stehen mit dem Professor bei irgendwelchen Leuten und Mimi versucht nicht allzu gelangweilt auszusehen. Ich würde gerne mit ihr reden, aber es scheint unmöglich, denn Mimi wird herumgereicht, wie ein Wanderpokal und dazu werden die Beiden die ganze Zeit beschenkt. Hauptsächlich Geld. Wenn sie jetzt schon so absahnen, wie wird es dann erst bei den eigentlich Hochzeit sein? Alleine schon der Gedanke, dass Mimi bald heiraten wird, nervt mich total. Umso mehr ich in den letzten Tagen versucht habe, ihr aus dem Weg zu gehen, umso schlimmer ist es geworden. Wenn so ein Leben ohne Mimi aussieht, ist das nichts worauf ich mich freuen kann. Auch die Ablenkung durch Sally hat nichts daran geändert. Frau Kido hat mich natürlich auch viel beobachtet und dass ich hier seit Ankunft die ganze Zeit mit Sally unterwegs bin, gefällt ihr natürlich sehr. Soll sie ruhig auch weiter denken, dass ich auf Sally stehe. Die Frau muss ich irgendwie in Schacht halten. "Oder wie siehst du das, Tai?" Tai? Das bin ich. Mist, was wollte Sally wissen? "Ähm, sorry, es ist so laut, ich habe dich nicht verstanden."

Sally verschenkt die Arme ineinander und sieht mich auf einmal mit einem Blick an, den ich bisher von ihr noch nicht kenne. "Ich hab nicht wirklich eine Chance bei dir, oder?" Okay, das ist direkt, dann sollte ich genauso ehrlich sein. "Nein, nicht wirklich."

"Weil du bereits auf eine gewisse Person ein Auge geworfen hast?" Ich antworte nicht und zucke nur leicht mit den Schultern. "Die Person ist aber nicht Kaori oder?" Etwas überrascht sehe ich Sally an.

"Wie kommst du denn darauf? Nein, auf keinen Fall."

"Mimi hat das gemeint."

"Hat sie das?" Sofort wandert mein Blick wieder zu ihr. Dieses kleine Biest.

"Tai, läuft da was zwischen euch?" Ich schüttle den Kopf. Offenbar weiß Sally nicht alles. "Du siehst doch, wer ihr Verlobter ist."

"Ja, aber von Anfang hat Mimi irgendwie komisch auf dich reagiert und sie meinte, ich solle die Finger von dir lassen, weil du Gefühle für Kaori hast."

Ich grinse in mich rein. Mimi stellt also Besitzansprüche an mich. Interessant.

"Und du hast gestern fast nur Fragen zu Mimi gestellt und du siehst sie auch jetzt ständig an, obwohl ich hier mit dir stehe und deine Begleitung bin. Was ziemlich unhöflich ist." Fuck. Mein Plan hat wohl einige Schwachstellen und offenbar geht er nicht auf. Ich führe sie erstmal zum Buffet, weil hier gerade nicht soviel los ist. "Sorry, du hast Recht."

"Was soll das alles?", fragt Sally nach und sieht mich ein wenig säuerlich an.

Berechtigte Frage. "Ich mag Mimi, etwas mehr als gut für uns beide ist und ich glaube, es geht ihr nicht anders, aber sie ist verlobt und auf kurz oder lang können wir nur verlieren." Sally sieht nachdenklich aus. Oh man, wie mies von mir, sie so auszunutzen. Das hätte ich ihr vielleicht von Anfang sagen sollen. "Sally, es tut mir leid, wenn …"

"Passt schon. Mir tut es gerade eher leid, dass ich mich an dich rangeschmissen habe. Hoffentlich ist Mimi nicht sauer auf mich."

Oh man, ich habe doch hoffentlich keine Freundschaft in Gefahr gebracht? Etwas unbeholfen kratze ich mich am Hinterkopf.

"So schätze ich sie nicht ein. Ich meine, wir sind hier gerade auf ihrer Verlobungsfeier."

"Mimi, muss schrecklich einsam gewesen sein. Ich will euch irgendwie helfen." Sally sieht von Mimi zu mir und ich frage mich wirklich, wie so etwas aussehen könnte. "Es gibt leider keinen Ausweg."

"Hat Mimi denn gesagt, dass sie etwas für dich empfindet?"

"Na ja, durch die Blume schon, aber im gleichen Atemzug gibt sie mir auch immer klar zu verstehen, dass sie keine Wahl hat." Mit vollen Tellern setzen wir uns an den Tisch und ich beginne wie selbstverständlich zu essen. Haruiko erhebt sich und fängt mit seiner Rede an. Okay, wohl zu früh angefangen mit dem Essen. Ich lasse die Stäbchen wieder unauffällig sinken. "Heute begrüßen wir sie alle recht herzlich zur Verlobungsfeier unsere Sohnes Joe und unserer reizenden bald Schwiegertochter Mimi Tachikawa. Wir freuen uns, dass sie alle den Weg zu uns gefunden haben und lassen den Abend nun gemütlich ausklingen. Lasst es euch schmecken und danach freuen wir uns noch auf den gemeinsamen Tanz des Paares. Zum Wohl." Ich erhebe mein Glas und kippe es weg. Ja, zum Wohl. Wieder schaue ich zu Mimi, die gerade mit Joe anstößt. Sally fuchtelt mit ihrem Glas vor meiner Nase herum und ich stoße lächelnd mit ihr an. Ich bin doch ganz froh, dass sie meine Begleitung ist. So ganz alleine zwischen all den ach so glücklichen Pärchen zu sitzen, muss auch nicht sein. Ich lass mein Glas wieder auffüllen und trinke es gemeinsam mit Sally aus. "Den nächsten lässt du aber bitte stehen."

"Machst du dir etwa Sorgen um mich?", lacht Sally.

"Na ja, du hast es selber gesagt: Du verträgst nicht so viel Alkohol."

"Keine Sorge, nur zum anstoßen. Aber ich hoffe du tanzt nachher trotzdem noch mit mir."

"Ja klar, nach dem Essen." Ich habe echt Hunger und muss sagen, zumindest hat sich der Trip kulinarisch gelohnt.

"Ihr gebt ja echt ein hübsches Paar ab", meint Frau Kido und hält ihr Glas hoch, weil sie gegenüber von uns sitzt und zu weit entfernt ist, um direkt mit uns anzustoßen. Ich halte die Show natürlich aufrecht und bitte Sally um den nächsten Tanz. Ich antworte Frau Kido nicht weiter und verlasse mit Sally den Platz.

Auch das Paar des Abends macht sich bereit, um den Tanz zu eröffnen. “Tai, du solltest nicht aufgeben. Noch ist nichts verloren.” Hat Sally Recht? Besteht noch Hoffnung für Mimi und mich?

"Frau Kido, hat mich gebeten, auf Abstand zu gehen. Sie hat wohl was gemerkt."

"Verstehe", murmelt Sally und lacht gerade übertrieben laut, als hätte ich den Witz des Jahres erzählt. "War der Schluck schon zu viel?", frage ich sicherheitshalber nach.

Sally rollt mit ihren Augen. "Nein, du Idiot, aber dann soll sie weiter glauben, dass wir uns näher kommen. Ich muss nur unbedingt gleich mit Mimi reden."

"Ja, ich auch."

"Du musst vor allem um sie kämpfen."

Langsame Musik wird gespielt und natürlich passt der Langsame Walzer dazu. Mimi kann den Tanz perfekt, Joe sollte es hinbekommen. Hoffe ich.

Noch stehen Sally und ich am Rand, denn alle schauen gespannt zu, wie Mimi und Joe die Tanzfläche eröffnen. Kurz geht ihr Blick zu mir, doch wendet ihn dann schnell wieder ab. Ich sehe gleich, dass Mimi versucht zu führen, doch Joe verpasst den Einsatz trotzdem. "Oje", spricht Sally aus.

"Der beste Tänzer ist er wohl nicht."

"Nein, aber er kann es besser. Eigentlich." Mimi schafft es, ihn wieder einigermaßen auf Kurs zu bringen, aber trotzdem tritt er ihr zweimal auf die Füße. Nachdem der Song dann endlich beendet war, sehe ich ein wenig Erleichterung in Mimis Gesicht. "Komm, wir zeigen ihnen, wie es geht", lacht Sally und ja, die Show können sie gerne haben.

Tatsächlich lässt sich Sally, ähnlich gut wie Mimi führen und wir tanzen wirklich sehr akzeptabel zusammen. Die Presse fotografiert uns ebenso, aber wahrscheinlich weil die Kido Männer alle nicht so die begnadeten Tänzer sind.

"Und kannst du mir auch verraten, wie ich um sie kämpfen soll, wenn die Familie Kido sie nicht gehen lassen will?"

"Mimi ist jemand, die es bisher gewohnt ist, alles zu bekommen, was sie will. Nur in der Liebe hatte sie bislang kein Glück. Es hat sich allerdings auch noch nie ein Mann wirklich bemüht, Mimi zu erobern. Eigentlich ist sie eine hoffnungslose Romantikerin und wartet nur auf den Prinzen, der auf dem weißen Pferd angeritten kommt."

"Tja, nur könnten die Konsequenzen wirklich hart sein. Für Mimi. Für mich. Für ihren Vater."

"Jetzt unter uns, aber Keisuke ist es doch selber Schuld. Warum soll Mimi dafür büßen? Rette sie, Tai. Du hast doch eh nichts zu verlieren, oder?"

Nein, das habe ich wirklich nicht. Ich dachte, ich könnte mich damit zufrieden geben, einfach ihr Freund zu sein, aber wenn ich ehrlich bin, kann ich das nicht. Ich will nicht nur ihr Freund sein, ich will verdammt nochmal ihr Mann sein und sie soll meine Frau sein. Ich will sie nicht teilen. Ich will alles für sie sein. Sally hat Recht: Ich muss um Mimi kämpfen. Vielleicht ist es egoistisch von mir, weil Mimi ihren Vater niemals ausliefern lassen würde, aber verdammt nochmal, es ist auch ihr Leben und sie verdient es glücklich zu sein. Sie soll wissen, dass sie immer noch eine Wahl hat und auch wenn meine Chancen nicht die besten sind: Aufgeben ist keine Option.

Kapitel 26

Mimi
 

Seit zwei Stunden habe ich es aufgegeben, mir die Namen der Leute merken zu wollen, die mir im Fünf-Minuten-Takt vorgestellt werden. Sie sehen alle gleich aus, stellen dieselben, langweiligen Fragen, tragen alle denselben, langweiligen Smoking.

Wie gerne würde ich grad einfach mal eine Pause machen und zu meinen Eltern gehen. Ich freue mich, dass sie dabei sind, aber was bringt es mir, wenn ich gar keine Gelegenheit habe, mit ihnen zu sprechen?

Okay. Einfach durchhalten. Irgendwann muss ich ja wohl mal alle 300 Gäste durch haben, oder?

„Mr. Jaxon, darf ich Ihnen meinen Sohn und seine reizende Verlobte vorstellen?“, wiederholt Dr. Kido zum gefühlt hundertsten Mal seine Ansprache, während ich mich verbeuge und lächle. Ich habe das Gefühl, mein Lächeln ist mittlerweile eingefroren. Ich hätte nie gedacht, dass es derart anstrengend ist, so in der Öffentlichkeit zu stehen.

Wir fangen dasselbe langweilige Gespräch an, was wir schon zuvor mit zig anderen Leuten geführt haben, während Joe die ganze Zeit über meine Hand hält. Ich bin gerade dabei, Joe zuzuhören, wie er sich angeblich unsterblich in mich verliebt hat, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippt.

Ich drehe mich leicht um. Es ist Sally, die mich angrinst.

„Nicht jetzt, Sally“, zische ich leise, weil ich auf keinen Fall unhöflich gegenüber diesem … äh, keine Ahnung, was er noch mal war … ein Politiker? Ein Arzt? Der Bürgermeister? Oh man, ich sehe nicht mehr durch.

„Ich dachte, du könntest eine kleine Ablenkung gebrauchen“, flüstert Sally an meinem Ohr.

Zu gern, aber ich komme hier ja leider nicht weg. Außerdem …

„Geh zu Tai, wenn du Ablenkung brauchst“, sage ich zickiger als beabsichtigt, aber irgendwie bin ich doch immer noch gekränkt, dass sie die letzte Nacht mit ihm verbracht hat.

„Ach, Tai“, murmelt Sally in einem Ton, als wäre er längst Schnee von gestern. Typisch. Ein Mal abgeschleppt und schon wird er ihr langweilig. „Der steht nicht auf mich und ich jetzt auch nicht mehr auf ihn. Du hättest mir ruhig sagen können, dass er tabu für mich ist, weil du …“

Ach. Du. Scheiße!

„Sally“, fahre ich sie zischend an. „Halt den Mund!“

Joe sieht mich fragend von der Seite an, woraufhin ich unsicher kichere.

„Tut mir leid, Liebster. Ein kleiner Notfall. Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet?“ Ich verneige mich besonders tief vor den Herrschaften, die mich alle eigenartig ansehen und schnappe mir dann Sally. „Komm mit!“

Ich nehme sie an der Hand und gehe mit ihr raus auf die Dachterrasse. Selbst hier tummeln sich inzwischen allerhand Leute und Fotografen. Verdammt! Wieso kann man hier nicht mal irgendwo ungestört reden?

Ich ziehe sie wieder weg von der Dachterrasse, was Sally wohl ziemlich witzig findet.

„Kannst du dich mal entscheiden?“, kichert sie, aber ich habe keine Zeit für so etwas.

Ich beschließe, den einzigen Ort anzusteuern, der mir einfällt – die Damentoilette.

Wir müssen mehrere Treppen nach oben, doch je höher wir steigen, desto weniger Leute treffen wir an. In der Damentoilette lasse ich Sally’s Hand endlich los und stoße dann jede einzelne Kabinentür auf, um mich zu vergewissern, dass wir alleine sind. Als ich niemanden entdecken kann, atme ich auf.

„Man Mimi, du kommst mir vor wie eine Geheimagentin“, scherzt Sally, aber ich verschränke nur die Arme vor der Brust.

„Ich habe keine Zeit für Witze. Also, rede weiter.“

„Wie bitte?“

„Du wolltest eben etwas sagen, über Tai und dich und mich. Hier kannst du sprechen. Es hört uns keiner zu.“

„So ist das also?“, fragt Sally und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Dabei mustert sie mich auffallend. „Niemand darf es erfahren?“

Ich hebe das Kinn deutlich an. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

Ein Grinsen zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. „Das von euch beiden.“

Was soll das? Will sie mich provozieren?

„Es gibt kein >uns beide<. Tai und ich sind nur …“

„Ich habe nicht gesagt, dass es um ihn geht.“

Mist. Wütend beiße ich mir auf die Zunge.

Als ich nichts sage, stößt Sally ein kurzes Lachen aus. „Entschuldige, was wolltest du sagen? Dass ihr nur Freunde seid? Ist es das?“

Freunde? Nachdem, was er letzte Nacht mit ihr in seinem Hotelzimmer getrieben hat?

„Freunde, so weit würde ich nicht gehen. Er ist Joe’s Assistent. Mehr nicht. Keine Ahnung, was du da glaubst, gesehen zu haben, aber du kannst ihn haben. Ehrlich. Es interessiert mich nicht. Vögelt von mir aus so viel rum wie ihr wollt, geht auf so viele Dates wie ihr wollt. Es ist mir egal.“

So. Gesagt ist gesagt. Das musste raus, denn ich kann die Vorstellung, wie Tai und Sally zusammen in einem Bett liegen leider nicht mehr ertragen.

Für mich ist das Gespräch beendet, also lasse ich sie stehen und gehe an ihr vorbei zur Tür, doch ehe ich die Klinke runter drücken kann, sagt Sally: „Weißt du eigentlich, wie er dich ansieht?“

Ich halte in meiner Bewegung inne und schlucke schwer.

„Er sieht dich an, als wärst du die einzige Frau im Raum. Egal, wie viele Menschen um ihn drum rum sind, er hat nur Augen für dich. Weil er hoffnungslos in dich verliebt ist. So, wie du in ihn.“

Bei diesen Worten fängt mein Herz an, schneller zu schlagen. Bis es sich schmerzhaft zusammenzieht.

„Hoffnungslos“, wiederhole ich Sallys Worte. Ich lege eine Hand an die Stirn und schüttle den Kopf, ehe ich mich zu ihr umdrehe.

„Hoffnungslos verliebt sagst du. Ja, das trifft es ziemlich gut.“

Nun sehe ich ihr Lächeln. Sie legt den Kopf schief und kommt auf mich zu.

„Mimi“, sagt sie und legt beide Hände an meine Arme, als wolle sie mich wachrütteln. „Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte es doch verstanden, wirklich. Niemals hätte ich dich dafür verurteilt. Das Herz will, was es will, richtig?“

Es klingt so einfach, wenn sie es sagt. Als wäre gar nichts dabei. Und doch hängt so viel davon ab.

„Mein Herz nicht“, sage ich überzeugt. „Ich darf das nicht wollen. Siehst du das?“ Ich halte eine Hand in die Höhe und zeige auf meinen Verlobungsring. „Ich werde Joe heiraten.“

Plötzlich stößt Sally ein Lachen aus, weshalb ich sie perplex anschaue.

„Oh, bitte“, sagt sie. „Wer will denn den spießigen Arzt heiraten, wenn er die Sexbombe Tai haben kann?“

Sexbombe?

„Nicht witzig“, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen und jetzt bemerkt es auch Sally.

„Versteh‘ schon“, sagt sie und senkt den Blick. „Aber, um mal eins klarzustellen: wir haben gar nicht miteinander geschlafen. Er hat den ganzen Abend nur von dir geredet und mich über dich ausgefragt. Selbst, als ich völlig betrunken und zu allem bereit auf seinem Bett lag, hat er mich nicht angerührt. Ernsthaft, wegen ihm bekomme ich noch Minderwertigkeitskomplexe.“

Fassungslos sehe ich meine Freundin an. Ist das wahr? Tai und sie haben nicht …?

„Also, glaub mir, wenn ich dir sage, dieser Typ hat nur Augen für dich. Und ich komme mir wie eine Idiotin vor, dass ich das nicht eher geschnallt habe. Es tut mir leid, Mimi.“

Oh, man. Womit habe ich das verdient? Ich war so dumm, dumm, dumm.

„Nein. Mir tut es leid. Ich hätte dir mehr vertrauen müssen.“

Sally nickt und ich sehe ihr sofort an, dass sie nicht böse deswegen ist, weil ich ihr nichts gesagt habe.

„Du kannst mir immer vertrauen.“

Wir fallen uns in die Arme und verharren für einen Moment so. Es tut so gut zu wissen, dass sie auf meiner Seite ist. Endlich konnte ich das erste mal ehrlich zu jemandem sein. Wie unfassbar erleichternd.

„Also, was willst du nun tun?“, fragt Sally mich, als wir unsere Umarmung lösen.

Unsicher zucke ich mit den Schultern. „Der Plan steht. Ich werde …“

„Joe heiraten. Ja, ja. Langweilig. Das ist nicht wirklich ein Happy End.“

„Es ist das einzige Happy End, dass ich kriege.“

Traurig, aber wahr.

Sally schüttelt entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Das geht nicht.“

„Ach, Sally“, sage ich und schenke ihr ein trauriges Lächeln. Es ist ja süß von ihr, dass sie an die Liebe glaubt, aber ich tue das nicht und das weiß sie. Außerdem muss ich meine Familie retten. „Tai und ich werden keine Zukunft haben. Das weiß ich. Und er weiß es auch.“

„Bist du dir da sicher?“ Jetzt grinst sie schon wieder so, als wüsste sie etwas, dass ich nicht weiß.

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe, während sie in die Hände klatscht.

„Ich habe einen Plan.“

Jetzt kommt’s. „Und der wäre?“

Sally grinst mich vielsagend an. Ich schlucke. Hätte ich doch nur nicht gefragt.

„Du musst unbedingt mit Tai sprechen.“

Ich lache auf. „Und wie soll ich das anstellen? Hier sind hunderte von Leute und die Fotografen und Reporter. Jemand könnte es bemerken. Im Hotel sind wir nie allein. Selbst im Flugzeug nicht.“

„Ach, Mimi“, meint Sally jedoch nur grinsend und hebt belehrend einen Zeigefinger in die Höhe. „Dabei ist es so einfach.“

Hat sie mir eben nicht zugehört?

„Glaub mir, nirgendwo kann man so unbemerkt verschwinden, wie in einer großen Menge. Man muss es nur richtig anstellen.“
 

Als ich nur wenige Minuten später zurück zur Feier komme, flattert mein Herz ganz aufgeregt. Sally hat recht, ich muss unbedingt mit Tai sprechen. Sofort suchen meine Augen nach ihm, aber ich kann ihn nirgendwo entdecken. Dafür kommt Joe geradewegs auf mich zu. „Mimi, wo warst du? Du hast was von einem Notfall gesagt.“ Oh, habe ich das?

Er greift besorgt nach meiner Hand. Herr Gott, warum muss er immer alles so wörtlich nehmen?

„Ja, ähm, ich war auf der Damentoilette, weil … weil …“

„Ach so, verstehe“, nickt er ganz verständnisvoll. „Wie ärgerlich, dass du ausgerechnet heute deine Periode kriegen musst.“

Meine Periode? Ja, na klar.

„Ja, tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat.“ Aber danke, für die Ausrede. Bei allem anderen hätte er sicher nachgebohrt.

„Möchtest du tanzen?“, fragt Joe gleich darauf und ich wünschte gerade wirklich, ich wäre einfach auf der Toilette geblieben.

„Ich …“

„Mimi?“ Mama! Die Rettung!

„Mimi, hast du kurz Zeit?“ Meine Mutter kommt auf uns zu und hat ihr schönstes Lächeln aufgelegt. „Joe, mein Lieber, ist es in Ordnung, wenn ich deine Verlobte für einen Moment entführe?“

Joe nickt verständnisvoll. „Aber natürlich, ihr hattet heute noch gar keine Zeit, miteinander zu reden. Mimi, bitte komm nachher zu mir, wenn du soweit bist. Ich möchte dir noch einige Leute vorstellen.“ Joe haucht mir einen Kuss auf die Hand und sofort sehe ich aus dem Seitenwinkel ein grelles Blitzlicht, was mir verrät, dass wieder jemand genau im richtigen Moment abgedrückt hat. Dann mischt er sich wieder unter die Gäste.

Meine Mutter hakt sich bei mir unter und wir gehen ein Stück über die festlich geschmückte Dachterrasse.

„Mimi, mein Schatz, du wirkst etwas verkrampft. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, natürlich, es ist nur …“ Plötzlich stockt mein Atem, denn mein Blick trifft auf seinen. Tai. Er steht einige Meter entfernt und unterhält sich angeregt mit Sally und einigen anderen Gästen, die ich nicht kenne.

„Es ist nur …“ Ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Und er nicht von mir. So ist es immer, wenn er mit im Raum ist. Es ist, als würde er mich anziehen. Wieso verspüre ich gerade den starken Drang zu ihm zu gehen und ihn zu umarmen?

„Mimi?“, reißt meine Mutter mich aus meinen Gedanken und endlich schaffe ich es, wegzusehen.

„Ja?“

„Mimi, ist alles in Ordnung?“ Sorge schwingt in ihrer Stimme mit.

Ich setze ein Lächeln auf. „Ja, es ist alles bestens, es ist …“ Ich seufze. „Nein, ist es nicht. Es ist schrecklich, Mama.“

Sofort zieht meine Mutter die Augenbrauen zusammen und sieht mich mitleidig an. „Fühlst du dich denn gar nicht wohl hier?“

Ich schüttle betreten den Kopf. „Das ist es nicht. Hier ist alles perfekt. Ich meine, sieh dich doch um.“ Ich lasse den Blick schweifen. Über die Gäste. Die vielen Lichter. Dem feinen Essen. Die schönen Kleider. „Hier ist alles, was sich ein Mädchen nur wünschen würde. Es ist die perfekte Feier, das perfekte Leben.“

„Aber nicht perfekt für dich“, ergänzt meine Mutter und ich nicke.

„Es tut mir leid. Ich fühle mich schlecht, weil es so aussieht, als wüsste ich das alles nicht zu schätzen. Ich weiß, dass es viele Frauen gibt, die sich genau das wünschen.“

Es ist so. Es fällt mir schwer, diese Worte auszusprechen. Aber seit ich mich Sally ein Stück weit anvertraut habe, weiß ich, dass ich denen, die ich liebe und die mich lieben, nichts vormachen muss. Das ist gar nicht nötig. Sie sehen auch so, wie es in mir drin aussieht.

Mama legt mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Ich verstehe. Ich habe es mir schon gedacht. Du hast dir eine schwere Bürde aufgehalst.“

„Wie meinst du das, du hast es dir gedacht?“

Meine Mutter lächelt wissend. „Denkst du, ich kenne meine eigene Tochter nicht?“

Ihr Gesichtsausdruck verrät mir bereits, dass sie es weiß. Sie weiß es. Und sie ist nicht sauer deswegen. Nicht mal enttäuscht. Stattdessen lächelt sie einfach nur.

„Ich habe gesehen, wie du Tai ansiehst. Und ich habe gesehen, wie du Joe ansiehst.“

„Es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag. Joe ist, ich meine, er kann sehr nett sein. Und er ist höflich und aufopfernd und intelligent. Na ja, seine Vorzüge muss ich dir ja nicht aufzählen.“

Wir gehen noch ein Stück und spazieren einfach über die Dachterrasse. Es ist sicherer, in Bewegung zu bleiben. Es soll schließlich niemand unser Gespräch mit anhören. Aber es scheint so, als wären alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

„Aber es funkt einfach nicht bei uns, Mama. Ich wünsche es mir so sehr, aber mein Herz will etwas anderes.“

„Oder jemand anderen“, fügt Mama noch hinzu. „Ich habe mitbekommen, wie du bei uns zu Hause ständig zu Tai und Sally gesehen hast. Du wolltest nicht, dass sie sich anfreunden und wir wissen alle, wie charmant Sally sein kann.“

Allerdings. Aber dieses Thema ist ja zum Glück vom Tisch. Ich war noch nie auf irgendjemanden oder irgendetwas eifersüchtig in meinem Leben. Aber als ich dachte, Sally würde mir Tai wegnehmen, bin ich fast umgekommen vor Neid und Eifersucht. Hätte ich genauso reagiert, wenn sie sich an Joe rangeschmissen hätte? Wohl kaum.

„Was mache ich denn jetzt, Mama?“, seufze ich. Meine Mutter bleibt stehen und greift nach meiner Hand, um sie zu drücken.

„Du weißt, ich habe nie von dir verlangt, das zu tun. Wenn du willst, kannst du immer noch aussteigen. Du musst ihn nicht heiraten.“

Klingt verlockend, aber …

„Und Papa? Er würde ins Gefängnis gehen, das weißt du.“

Nun verschwindet das zuversichtliche Lächeln, auf den Lippen meiner Mutter, dass sie mir eben noch geschenkt hat. Mit einem Mal wirkt sie traurig. Als würde es sie innerlich zerreißen. Wie gut ich dieses Gefühl kenne.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mimi“, gesteht meine Mutter betrübt. „Ich will dich nicht dazu zwingen, aber deinen Vater verlieren will ich auch nicht. Ich … ich denke, ich möchte einfach nur, dass du auf dein Herz hörst. Was auch immer es dir sagt. Tu einfach das, was du für das Richtige hältst.“

Wieso will ich gerade gerne glauben, dass das Richtige zu tun, nur einen Schritt weit entfernt ist?

Es wäre so einfach.

Ein Satz.

Eine Entscheidung.

Mehr bräuchte es nicht.

„Keine Sorge, Mama“, versichere ich ihr. „Ich weiß, was das Richtige ist.“
 

Die Stunden vergehen wie im Flug. Inzwischen ist es dunkel geworden und die Leute wirken ausgelassen. Die Musik ist gut, wenn auch etwas spießig, aber alle haben Spaß. Inzwischen ist es kurz vor Mitternacht und wir sind gerade dabei, uns alle auf der großen Dachterrasse zu versammeln. Gleich soll uns zu Ehren ein großes Feuerwerk stattfinden. Die perfekte Ablenkung. Hunderte von Menschen, die wie gebannt in ein und dieselbe Richtung schauen werden.

Wie automatisch suchen meine Augen nach Tai. Er steht bei Jim und Kaori, während Joe und ich bei unseren Eltern stehen. Es kann nicht mehr lange dauern.

Ich drehe den Kopf zur Seite und fange Sallys Blick auf, die mir zunickt. Dann stolpert sie gegen Kaori. Leider so heftig, dass sich Kaoris ganzer Rotwein über ihr schönes Kleid ergießt.

„Oh, nein!“, höre ich sie rufen, während Kaori natürlich untröstlich ist und sich bei Sally entschuldigt. Diese jedoch winkt nur ab und bittet Tai, sie rein zu begleiten, um den Fleck rauszuwaschen – was natürlich nicht besonders gut funktionieren wird und sehr lange dauert.

Ich grinse in mich hinein. Tai und Sally sind schon mal von der Bildfläche verschwunden. Bis hierhin hat ihr Plan gut funktioniert. Wenn ich ebenfalls gleich rein gehe, wird das hoffentlich niemand mit Tai in Verbindung bringen. Der ist ja mit Sally beschäftigt.

Ich warte noch ein paar Minuten, lausche den Gesprächen von Joe und unseren Eltern und nicke ab und zu ganz geschäftig, dabei habe ich gar keine Ahnung, über was sie gerade reden. In meinen Gedanken ist nur noch Tai.

Kurz bevor das Feuerwerk startet und die meisten schon ganz gespannt in den Himmel sehen, lege ich plötzlich eine Hand auf den Bauch und seufze gerade so laut, dass nur Joe es hören kann.

„Was hast du?“, flüstert er gleich besorgt.

„Nichts weiter, nur leichte Schmerzen.“ Immerhin habe ich ja gerade meine Periode. Hat er selbst gesagt. „Ich glaube, ich muss dringend zur Toilette.“

„Jetzt?“ Joe klingt nicht begeistert. „Ich wollte mir mit dir das Feuerwerk ansehen.“

„Ich auch, aber es kann nicht warten. Ich bin sicher gleich zurück“, sage ich versöhnlich und gebe ihm sogar keinen kurzen Kuss auf die Wange. Dann tauche ich in der Menge unter und gehe nach drinnen.

Ich gehe die Stufen nach oben zu den Toiletten. Ein paar Leute kommen mir noch entgegen und lächeln mir freundlich zu. Doch oben angekommen, ist niemand mehr. Alle sind beim Feuerwerk.

Als ich die Tür zur Toilette aufstoße, muss ich kurz schmunzeln, weil Tai und Sally tatsächlich an einen der Marmorwaschbecken stehen und versuchen, den Fleck raus zu waschen.

„Streng dich ein bisschen mehr an, das Kleid war teuer“, zickt Sally rum, woraufhin Tai die Augen verdreht und mehr Seife ins Waschbecken kippt. Sally hat ihr Kleid ausgezogen, nun hängt es halb über den Rand des Waschbeckens, während sie im Trägerkleid, welches sie darunter trug, da steht.

„Der Fleck geht sowieso nicht wieder raus“, meckert Tai und ist schon sichtlich genervt von ihr.

„Dann kaufst du mir ein Neues. Ich hab das schließlich nur für euch getan. Das war ein Designer-Kleid.“

Ich lache auf und gehe auf die beiden zu. „Ich kaufe dir ein Neues, Sally.“

Beide heben den Kopf und zumindest Sallys Miene erhellt sich.

„Da bist du ja.“

„Und, hat jemand was gemerkt?“, hakt Tai sofort misstrauisch nach. Ich schüttle den Kopf. „Nein, niemand.“

Sally klopft sich selbst auf die Schulter. „Bin ich genial?“

Lachend verdrehe ich die Augen. „Bist du.“

„Na schön, gib mir mein Kleid zurück“, sagt Sally und zieht es Tai unter der Nase weg. Sie packt es sich unter den Arm und geht zur Tür. „Ich hab gehört, im Untergeschoss gibt es eine Waschküche. Ich werde da mal hingehen. Lasst euch nicht stören. Soll heißen: schließt bitte hinter mir ab“, zwinkert sie uns zu und tut so, als würden wir gleich übereinander herfallen. Dabei wollen wir nur reden – was längst überfällig ist.

„Danke, Sally“, lächle ich sie dankend an und schließe auch gleich hinter ihr ab, als sie die Toilette verlässt. Stille legt sich über uns, während ich immer noch mit dem Rücken zu Tai stehe. Als ich mich umdrehe, hat er sein Sakko ausgezogen und auf den Rand des Waschbeckens abgelegt. Mit den Händen in den Hosentaschen vergraben, steht er da und sieht mich an. Mustert jeden Zentimeter von mir, als müsste er sich alles ganz genau einprägen. Als sein Blick meinen einfängt, beginnt er zu lächeln.

„Ich wollte dir schon den ganzen Abend sagen, wie schön du bist.“

Hitze steigt mir in die Wangen und schon jetzt beginnt mein Herz wie wild zu schlagen. Oh Gott. Meine Knie zittern.

„Danke“, sage ich und gehe ein kleines Stück auf ihn zu. „Du siehst auch nicht schlecht aus.“

Es ist das erste Mal, seit unserem beinahe Kuss im Flugzeug, dass wir uns so gegenüberstehen. Das erste Mal unter vier Augen.

„Mimi? Es tut mir leid“, beginnt Tai das Gespräch und wirkt nun deutlich ernster.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und grinse. „Was denn? Dass du dich an meine beste Freundin rangeschmissen hast?“

Tai fährt sich seufzend durch die Haare. „Sie hat sich an mich rangeschmissen und ich habe die Gelegenheit erkannt und genutzt.“

Nun verengen sich meine Augen zu zwei schmalen Schlitzen. „Was meinst du damit?“

„Frau Kido … sie hat mich gleich nach dem Flug angesprochen, dass ich mich von dir fern halten soll. Sie hat wohl irgendwas gemerkt und Sally war das perfekte Alibi.“

Innerlich atme ich erleichtert auf. Deshalb hat er mich nach dem Flug so gemieden? Es lag also nicht an mir oder an unserem beinahe Kuss oder daran, dass er kein Interesse mehr hat.

Es tut so gut, das aus seinem Mund zu hören. Aber Tai schüttelt nur den Kopf. „Egal, lass uns nicht über sie reden.“

„Über Frau Kido oder über Sally?“

Tai’s Mundwinkel zucken. „Warst du eifersüchtig?“

Ich hebe das Kinn an und grinse. „Hättest du wohl gern.“

„Ach, stimmt ja“, sagt Tai nun mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen und kommt auf mich zu. „Wie war das? Es interessiert dich nicht. Ich interessiere dich nicht. Ich bin dir total egal, richtig?“

Ja.

Nein.

Doch, das solltest du. Du solltest mir egal sein.

Dicht vor mir bleibt Tai stehen. Ich versuche, ihn nicht anzusehen, aber mein Herz schlägt inzwischen so schnell, dass ich es kaum noch ignorieren kann. Er berührt mich nicht ein mal und trotzdem spüre ich diese unfassbare Anziehungskraft zwischen uns, der ich mich nicht mehr entziehen kann. Verdammt! Wir sind hier zusammen in einem Raum eingesperrt. Niemand, außer uns ist hier. Niemand weiß, was hinter dieser Tür passiert. Niemand.

Gerade, als ich mir dieser Gefahr bewusst werde, ist es längst zu spät. Ich höre, wie draußen mehrere Raketen in die Luft schießen und am Himmel explodieren.

„Du hast die Wahl, Mimi. Wenn ich dir nichts bedeute, dann dreh dich einfach um und geh zurück zu deinem Verlobten.“ Tai’s Stimme ist sanft, trotzdem höre ich auch die Hoffnung, die darin mitschwingt.

„Wenn ich dir wirklich nichts bedeute, dann …“

„Du Idiot“, unterbreche ich ihn schroff. Dann gehe ich auf die Zehenspitzen, umfasse sein Gesicht mit beiden Händen und überbrücke endlich die letzten Zentimeter zwischen uns. „Natürlich bedeutest du mir was!“ Meine Lippen landen auf seinen und ich weiß, dass ich neben der Erlösung, die ich gerade empfinde, eben ein für alle mal die Grenze überschritten habe und in den Abgrund stürze. Für ihn gehe ich so weit, wie ich niemals gehen wollte. Und doch fühlt es sich so an, wie das Beste, was ich je getan habe.
 

For you,

I would cross the line
 

They say:

She's gone too far this time.“

Mimi
 

Tai erwidert den Kuss natürlich sofort. Seine Hände liegen auf meiner Hüfte, während seine Zunge meine zunächst sanft, dann immer leidenschaftlicher herausfordert.

Himmel, nochmal kann der Typ küssen. Seine Hände wandern nach oben und erkunden meinen Körper, bis er schließlich beide Hände an mein Gesicht legt. Schweratmend lösen wir unsere Verbindung. Zunächst traue ich mich gar nicht, meine Augen zu öffnen, weil ich so große Angst habe, dass das alles nur ein Traum ist oder dass Tai mir gleich wieder Wasser ins Gesicht schüttet, aber dann riskiere ich doch ein Blick und ein sanftes Lächeln empfängt mich. "Miss Tachikawa, was war das denn?", grinst Tai mich an.

"Etwas, was schon lange überfällig war", hauche ich und ziehe ihn am Kragen wieder zu mir. Ich muss ihn einfach wieder küssen. Wie gut das ist und wie richtig sich das anfühlt. 1000 Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch, während meine Körpertemperatur immer mehr ansteigt. Nein, das ist ganz sicher kein Traum. Hitze breitet sich in meinem Körper aus und offenbar nicht nur in meinem. Tai drängt mich weiter nach hinten, bis ich die Türe an meinem Rücken spüren kann und er jeden Zentimeter, der sich zwischen uns befindet, überbrückt.

Tais Hände beginnen meinen Körper erneut zu erkunden. Mein Hintern, die Taille, Herrgott nochmal mein Busen. Ich lege meine Arme um seinen Hals, ziehe ihn näher zu mir und stöhne seinen Namen. Plötzlich spüre ich seine deutliche Erregung zwischen meinen Beinen und dann lässt er abrupt von mir ab. Er dreht sich weg und atmet schwer. Auch mein Atem geht viel zu schnell, während mein Brustkorb sich aufgeregt auf und abbewegt. "Wa-warum hörst du auf?", stotterte ich und versuche noch irgendwie einen vernünftigen Satz zu bilden. Tai fährt sich wie wild durch die Haare, geht dann zu den Waschbecken, öffnet die Wasserhähne und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht. "Ich … so können wir das nicht machen", murmelt er. Ich verstehe nicht ganz, auf was er hinaus will. "Tai?" Er schaut wieder zu mir, während Wasserperlen von seinem Gesicht runter tropfen. Mein Gott, ist der Mann heiß. "Ich hab mich für dich entschieden." Tai sieht mich immer noch ganz irritiert an und versucht zu begreifen, was ich ihm sagen will. "Ich … ich habe mich in dich verliebt, Tai. Ich werde die Verlobung zu Joe beenden."

"Was? Bist du sicher?"

"Hey, soll ich es mir etwa nochmal anders überlegen?" Jetzt verschränke ich die Arme beleidigt übereinander und ziehe einen Schmollmund. Ich dachte, er wäre wegen dieser Nachricht vollkommen aus dem Häuschen. Tai wischt sich einmal mit einem Tuch über sein Gesicht, lächelt mich an und kommt zu mir rüber. "Ich habe mir die ganze Zeit nichts sehnlicher gewünscht, als das, aber jetzt so plötzlich? Was ist mit deinem Vater?"

Tai greift nach meinen Händen, löst somit meine Verschränkung der Arme auf und ich lege meine Hände wieder allzu gerne auf seiner Brust ab. Wie ich es liebe, ihn so zu berühren. Sein Geruch gemixt mit seinem Parfüm macht mich ganz willenlos. "Ich habe vorhin ein langes Gespräch mit meiner Mutter gehabt. Sie hat gleich gesehen, dass mit mir irgendwas nicht stimmt. Ich fühle mich immer noch schlecht dabei, meinem Vater das anzutun, aber ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um ihm anders zu helfen."

"Mimi … Ich bin tief beeindruckt."

"Ich ertrage es nicht länger, eine Kido zu sein. Tja, du hattest wohl von Anfang Recht." Tai wischt mit seinem Daumen über meine Wange. Ich habe nicht mal gemerkt, dass eine Träne heruntergekullert ist. "Du bist die stärkste und tapferste Frau, die ich je kennengelernt habe und ich habe dich von Anfang an unterschätzt. In dir steckt ein Löwin und die gehört ganz sicher nicht in einen Käfig." Ich nicke und fühle mich das erste Mal seit langem wieder richtig befreit. Was für ein Gefühl.

Diesmal küsst Tai mich und ich weiß jetzt schon nicht mehr, wie ich ohne diese Küsse hätte weiter leben sollen. "Ich habe mir überlegt, dass ich nicht wieder mit zurück nach Tokyo fliege, sondern hier in New York bleibe. Ich suche mir einen Job als Visagistin oder vielleicht auch noch einen weiteren und meine Mutter meint, sie würden auch das Haus verkaufen."

“Klingt nach einem Plan.” Ich nicke still, da ich Angst habe, dass dieses Geständnis uns beide wieder trennen könnte. Immerhin arbeitet und lebt Tai in Japan.

“Dann bleibe ich auch hier”, sagt er bestimmend und ich hebe meinen Kopf, um ihn wieder anzusehen.

“Wie? Aber? Einfach so?”

“Prinzessin, wenn du dich meinetwegen von Joe trennst und dein Luxusleben aufgibst, um mit mir zusammen zu sein, ist es ja wohl das Mindeste, dass ich hier bei dir bleibe. Was hält mich in Tokyo, wenn du hier bist.” Ich kann gar nicht glauben, was ich da höre.

“Das würdest du für mich tun?” Tai grinst mich wieder so breit an, dass ich ihn am liebsten aufessen würde, weil er dann immer so süß und sexy zugleich ist.

“Klar, außerdem würden die Kidos mich ohnehin direkt feuern. Als Stuntman kann ich mich hier sicher auch bewerben und vielleicht setze ich auch mein Studium fort. Keine Ahnung, darüber mache ich mir später Gedanken. Hauptsache wir können endlich zusammen sein.” Ich juble, während Tai gleich seinen Finger an seinen Mund hält. “Psst, das Feuerwerk ist sicher gleich zu Ende und sie werden nach dir suchen.”

“Oh, ja, das stimmt.”

“Wann willst du es Joe sagen?”

“Wenn du mich so fragst, sofort.” Am liebsten würde ich diesen blöden Ring, die nächste Toilette runterspülen, damit ich auch symbolisch endlich frei bin.

“Vielleicht solltest du noch warten, bis ihr alleine seid. Hier vor all den Leuten sicher nicht die beste Idee.” Wahrscheinlich hat er Recht, wie so oft, aber ich würde jetzt viel lieber einfach mit Tai verschwinden, als nochmal zu diesen Leuten zu gehen und diese scheinheilige Welt länger aufrecht zu erhalten. Auch wenn ich selber für eine gewisse Zeit nicht besser war.

“Ich will nicht mehr mit ihm aufs Zimmer zurück. Joe liest übrigens auch die New York Times im Bett”, grunze ich und verdrehe die Augen. So viel Leidenschaft steckt in diesem Mann. Tai lacht sich natürlich kaputt und schüttelt dabei seinen Kopf. “Echt der Hammer.”

“Schön, dass dich das so amüsiert.” Ich muss selber darüber lachen, weil ich das immer noch nicht glauben kann. Joe ist wirklich lieb, aber auch sehr spießig.

“Okay, wenn dieser ganzer Zirkus hier vorbei ist, werde ich mit ihm reden. Auch wenn es mir leid tut, Joe zu verletzen. Er will wirklich an uns glauben oder jetzt wieder.”

“Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich werde auch Joe alles erklären müssen, um meine Sichtweise zu erklären. Wenn er mir dann überhaupt noch zuhören will.”

Tai verliert immerhin seinen engsten Freund und alles nur wegen mir. Schon kommen wieder Schuldgefühle in mir hoch.

“Hey, schaue nicht so. Wir haben uns eben ineinander verliebt, so etwas passiert, aber ich werde dich nicht mehr hergeben. Ich glaube an uns, Mimi.” Ich lächle ihn ebenfalls hoffnungsvoll an und glaube genauso an uns. Wir küssen uns zum letzten Mal an diesem Abend. Auch wenn ich diesen Kuss gar nicht enden lassen möchte, so bleibt mir zunächst keine andere Wahl. Ich muss erst nochmal in meine ungeliebte Rolle schlüpfen. “Melde dich direkt nach dem Gespräch, okay? Ich warte auf dich.” Ich nicke an seiner Stirn und atme nochmal tief durch. Noch einmal Miss Kido in spe' sein und dann endlich frei. Was für ein Gefühl, aber ich bin bereit für diesen letzten Kampf. “Ich gehe schon mal vor und in fünf Minuten kannst du ja nachkommen.”

“Klar, warum sollte ich auch nicht noch fünf Minuten alleine auf der Damentoilette verweilen.”

“Na ja, du kannst dir ja wieder Wasser ins Gesicht spritzen, um wieder klar zu kommen”, zwinkere ich Tai zu und er nickt nur ergeben. “Warte mal ab. Du wirst mich noch anflehen, dich zu erlösen.”

Ich grinse verheißungsvoll. “Kann's kaum erwarten.” Ich will gerade die Damentoilette verlassen, als Tai nochmal meinen Namen ruft.

“Und Mimi?”

“Ja?”

“Ich habe mich auch in dich verliebt.”
 

Noch vollkommen beflügelt und breit grinsend verlasse ich die obere Etage, um wieder zur Dachterrasse zu gelangen. Tatsächlich ist das Feuerwerk noch im Gange, aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Ich entdecke hinter dem reichhaltigen Büffet meine Eltern. Davor sind überall Säulen aufgebaut, hinter denen man sich relativ gut verstecken kann. Dennoch entgeht mir nicht, wie sie sich angeregt unterhalten. Ich gehe mit leisen und kleinen Schritten auf sie zu und bleibe hinter einer Säule stehen. “Keisuke, was sollen wir jetzt tun?”, schluchzt meine Mutter und gleich legt sich wieder ein dunkler Schatten über mein Gesicht. Mein Herz fühlt sich wieder um einiges schwerer an. Voller Schuld. “Das weiß ich nicht genau, aber wir werden das schon hinkriegen. Ich bin eigentlich froh, dass Mimi das nicht durchziehen will”, murmelt mein Vater nachdenklich. Meine Mutter sieht zu ihm auf. “Wirklich?”

“Ja, sie soll nicht für meine Fehler aufkommen müssen. Ich hätte das nie erlauben dürfen. Ich habe vergessen, wie Haruiko sein kann.”

“Du meinst furchteinflößend?” Mein Vater nickt stumm und hält meine Mutter wieder fest.

“Mama? Papa?” Meine Eltern sehen zu mir und ich trete näher an sie heran. “Komm her, liebes.” Meine Mutter breitet ihre Arme aus und ich lasse mich von ihnen in eine Umarmung ziehen. “Papa, ich werde hier bleiben. Ich werde nicht wieder nach Tokyo zurückkehren.”

“Was? Wirklich?”, fragt meine Mutter nach.

“Ja, ich werde die Verlobung heute noch auflösen. Ich kann einfach keine Kido mehr sein. Nicht einen Tag länger. Ich werde mir hier Jobs suchen und alles an Geld sparen. Ich werde alles tun, Papa, um euch zu helfen. Ich verspreche es.”

“Ach Mimi, womit haben wir so eine tolle Tochter nur verdient?”

“Na ja, ich habe ja auch die besten Eltern der Welt.”

“Entschuldige, dass wir dich dahin geschickt haben”, murmelt mein Vater betrübt und wirkt wirklich sehr niedergeschlagen. “Ich finde schon, dass die Reise wichtig für mich war. Ich habe viel gelernt und mitgenommen. Vor allem aber habe ich gelernt, dass Geld alleine nicht glücklich macht. Es bedeutet nichts, wenn man niemanden hat.”

“Und genau das habe ich vergessen, Mimi.” Mein Vater sieht mich traurig an. “Die Gier ist mir immer mehr zu Kopf gestiegen und bald schon hatte ich vergessen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Euch zu verlieren, ist viel schlimmer, als alles Geld der Welt.” Ich bin gerade richtig stolz auf meinen Vater. Ich wusste immer schon, dass egal was in meinem Leben passiert, ich mich immer auf meine Eltern verlassen kann und heute haben sie mir wieder bewiesen, warum Familie das wichtigste ist. Ich bin stolz ihre Tochter zu sein und daran wird sich auch nichts ändern. “Das Feuerwerk ist gleich zuende. Sie erreichen gerade den Höhepunkt”, merkt mein Vater an und er hat Recht. Goldene Palmen schießen in die Höhe. Eine Rakete jagt die andere und der dunkle Nachthimmel leuchtet in hunderten Farben. “Okay, das muss ich genauer sehen. Kommt mit.” Meine Mutter zieht meinen Vater mit sich, aber ich bleibe stehen. “Ich muss erst zu Joe. Wir sehen uns morgen.” Meine Eltern lächeln mich an und verabschieden sich. Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen. Ich muss zu meinem noch Verlobten und er ist auf der anderen Seite der Dachterrasse.
 

Ich will gerade wieder zurück zur Dachterrasse gehen, als sich plötzlich mit aller Gewalt eine Hand auf meinen Mund presst, während sich der andere Arm der unbekannten Person um meinen Körper schlingt, der von einem schwarzen Smoking getragen wird. Sofort versuche ich mich zu wehren, stemme mich dagegen, aber ich habe keine Chance. Ich weiß noch immer nicht, wer mich hier weg zerrt, aber ich bekomme Panik. Wir verlassen den Saal. Eine Türe öffnet sich und ich werde in eine Art Vorratsraum geschubst. “Aua.” Ich falle auf den Boden und blicke sofort nach oben. Der Professor hat mich so grob angepackt und mich in den Raum gezerrt. Sein Blick ist eiskalt. So hat er mich schon einmal angesehen, als ich wegen der Geldwäscherei meines Vaters aufgeflogen bin. “Was denkst du eigentlich, wer du bist”, spuckt er die Worte nur so heraus. Mit einem Mal wird mir Speiübel. Hat er mich mit Tai gesehen oder das Gespräch von meinen Eltern mitbekommen?

“E-es tut mir leid”, stammle ich und bleibe am Boden liegen. Warum bin ich hier in diesem Raum? Niemand würde mich hier hören und selbst wenn uns einer gesehen hätte, würde sich niemand Haruiko in den Weg stellen.

“Steh auf!”, fordert er auf, aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst und will hier einfach nur weg. Ich schüttle den Kopf, obwohl es wahrscheinlich nicht sonderlich klug ist, dem Professor gegenüber ungehorsam zu sein. Er sieht es wohl ähnlich, denn er packt mich am Hals und schmettert mich gegen die Wand. Noch immer hält er meinen Hals mit einer Hand fest und drückt viel zu feste zu. Ich bekomme buchstäblich keine Luft mehr und weiß nicht, was ich tun soll. Doch dann lässt er endlich meinen Hals los und ich japse nach Luft. Hilfe.

“Du willst ernsthaft meinem Sohn den Laufpass geben? Hier? Auf eurer Verlobungsfeier? Glaubst du wirklich, dass ich gestatte, dass du meinen Sohn so vorführst?” Er hat das Gespräch also tatsächlich mitbekommen? Verdammt. Da habe ich einmal nicht aufgepasst. “Ich… es tut…”

“Ach du elende Schlampe. Halt deinen Mund.” Er schlägt mit der flachen Hand auf die Wand, die direkt neben meinem Kopf ist, sofort schließe ich die Augen.

“Erst kommst du wie eine Elefant in unserer Villa reingestolpert. Machst einen auf: Es wäre mir eine Ehre, Blabla, obwohl du von Anfang an, nur hinter unserem Geld her warst. Dann hole ich den Versager von Vater aus dem Gefängnis. Wir geben dir eine zweite Chance, feiern sogar die Verlobung hier in New York und als Dank, willst du uns schon wieder ruinieren?” Tränen brennen in meinen Augen, aber ich kann nichts sagen. Noch immer ist seine andere Hand um meinen Hals geschlungen. Nur dass er mir gerade noch minimal Luft zum Atmen lässt. “Nein”, flüstere ich schmerzlich. Ich wollte der Familie Kido doch niemals schaden und es ist auch nicht meine Absicht gewesen, Joe zu schikanieren. Ich hatte doch gar keine Ahnung auf was ich mich hier eingelassen hatte. Haruiko lässt meinem Hals endlich ganz los, während ich meinen Hals abtaste, der höllisch weh tut. Er nimmt seine Brille ab, haucht gegen seine Brillengläser, holt aus seiner Sakkotasche ein Seidentuch heraus und säubert damit in aller Seelenruhe seine Brille. “Ich werde dir jetzt sagen, wie das Ganze hier weiter laufen wird: Du wirst Joe heiraten und glücklich bis ans Lebensende eine Kido sein.” Nein, das werde ich ganz sicher nicht. Meine Eltern sind auf meiner Seite und Tai. Mehr brauche ich nicht. Der Professor setzt seine Brille wieder auf und sieht mich voller Hass an. Ich darf einfach nicht aufgeben.

“Ich … ich bin untröstlich wegen alledem. Ich habe das nie gewollt, wirklich. Ihr könnt mich gerne als die böse verkaufen, als die Hochstaplerin und das …"

“Nachdem wir der Presse verkauft haben, wie unsterblich verliebt ihr seid? Und plötzlich war alles nur erstunken und erlogen? Soweit kommt es noch, dass wir wegen DIR unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.”

“Ich kann das mit der arrangierten Ehe nicht …”, wimmere ich, obwohl ich es wirklich versucht habe.

“Erinnerst du dich noch, dass ich bei der Begrüßung mit Keisuke erwähnte, dass das Gefängnis noch sein geringstes Problem sei?” Ich nicke. Natürlich kann ich mich daran erinnern.

“Ich denke, der Tod wäre schlimmer, oder?”

Ungläubig schaue ich zu Haruiko, das meint er doch nicht ernst. So etwas würde er doch niemals machen, oder? “Wenn du meinen Sohn nicht heiratest, werde ich dich zerstören und denk ja nicht, dass du vor mir davon laufen kannst. Ich werde dich überall finden. Du wirst nirgendwo einen Job bekommen und ich werde dir jeden einzelnen Menschen nehmen, der dir etwas bedeutet. Du bist einsam? Das ist nichts, zu dem was es bedeuten könnte, nichts zu haben und niemanden mehr zu haben. Keine Freundschaft. Es wird dir nichts bleiben. Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.” Ich schlucke einen schweren Kloß im Hals runter, aber besser wird es dadurch auch nicht. Das darf doch alles nicht wahr sein. Es gibt einfach keinen Ausweg für mich. Diese Erkenntnis trifft mich härter, als alles was ich bisher erlebt habe. Selbst in L.A, wo ich auch voller Angst war, als ich in diesem Hotelzimmer gewesen bin, habe ich schnell wieder die Kontrolle über mein Leben zurückgewonnen, aber das hier ... "

“Es ist gut gewesen, dir weiterhin zu Misstrauen, aber ich denke, du bist nicht dumm, oder irre ich mich da?” Mir hat es jegliche Sprache verschlagen. Ich kann nicht mal mehr einen klaren Gedanken fassen. Das alles ist einfach viel zu viel für mich. “Also sind wir uns einig?” Ich nicke stumm, denn mehr bringe ich nicht über meine Lippen. Haruiko grinst siegessicher und lässt endlich von mir ab. Wie ich ihn hasse. “Ich wusste doch, dass du nicht so dumm sein kannst. Ich werde dann mal zurück gehen und dich entschuldigen. Wir sehen uns morgen.” Mit diesen Worten verlässt der Professor den Vorratsraum. Ich lasse mich langsam an der Wand nieder, ziehe meine Knie hoch, lege meine Arme drauf und weine. Mein Hals schmerzt immer noch, aber das ist nichts zum Vergleich, wie sehr mein Herz leidet. Warum? Warum kann ich nicht einfach glücklich sein. Tai. Wir können nicht zusammen sein. Es bricht mir mein Herz und die Tränen hören nicht auf, zu laufen. Bisher ist alles noch auf meinen Wunsch her so gelaufen. Zumindest dachte ich das, als läge es in meiner Hand und ich könnte es jederzeit beenden, wenn ich es will. Es lag jedoch nie in meiner Hand. Seit dem Moment, wo ich in die Villa gekommen bin und der Professor mich abgesegnet hat, seitdem ist überhaupt gar nichts mehr meine Entscheidung und das war es auch nie.
 

Ich weiß nicht wie lange ich hier noch drin bin und wie ich mittlerweile aussehe, aber irgendwann raffe ich mich auf. Ich versuche irgendwie mit meinen Händen mein Gesicht wiederherzustellen, aber ohne Spiegel oder irgendwelche Kosmetiktücher ein Ding der Unmöglichkeit. Ich drücke die Türklinke hinunter und sehe mich um. Der Saal ist bedeutend leerer geworden. Ich sehe vielleicht noch rund 30 Gäste. Wahrscheinlich sind die meisten nachdem Feuerwerk gegangen. Es ist schließlich das Highlight des Abends gewesen. Ob Tai hier noch irgendwo ist? Wie gerne würde ich mich in seine Arme werfen, aber das darf ich nie wieder. “Mimi?” Ich drehe meinen Kopf und sehe Joe. Er mustert mich besorgt und kommt gleich auf mich zu. “Dein Hals, dein Gesicht, was ist passiert?” Dein Vater hat mich fast zu Tode gewürgt, aber sonst ist nichts weiter passiert. “Ähm, es tut mir leid, ich habe das Feuerwerk verpasst.” Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich sonst sagen soll, denn ich habe keine Kraft zu lügen.

“Ja, ich fand das sehr schade, aber wo warst du denn? Auf den Toiletten hat Kaori dich nirgendwo gefunden. Auch Sally nicht oder Tai.”

Tai.

“Ich … Ich bin es so leid. Ich bin so kaputt und gebrochen. Ich bin müde, erschöpft und vollkommen hinüber. Ich möchte einfach nur aufs Zimmer. Kannst du mich bitte hier wegbringen?” Joe versteht natürlich kein Wort von dem, was ich sage, aber er nickt. Er zieht sein Jakko aus und legt es über meine Schulter. Dann zieht er mich in eine Umarmung und über seine Schulter hinweg sehe ich Tai. Sofort sieht er mich besorgt und fragend zugleich an. Ich kann nicht zu ihm. Ich kann nicht in seine Arme, obwohl ich nichts lieber will, als das. Tränen laufen wieder über meine Wangen und ich sehe ihn nur noch verschwommen. Ich schüttle langsam meinen Kopf. Er scheint zu verstehen, was ich ihm damit sagen will, denn auch er fasst sich mit seinem Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel und schließt fassungslos seine Augen. Ich breche ihm gerade das Herz. Ich tue ihm das Gleiche an, was Kaori damals getan hat und ich kann nichts dagegen tun. Ich fühle mich wie der schlimmste Mensch der Welt. Tai dreht sich langsam um und geht in eine andere Richtung. Diesen Ausdruck in seinen Augen, werde ich wohl niemals vergessen. Diesen Schmerz und den Verrat. Es tut mir so leid, Tai, du ahnst ja gar nicht wie sehr.

Ich hoffe, dass er mir eines Tages verzeihen kann. Und dass ich mir selbst verzeihen kann.

Kapitel 28

Tai
 

Als ich die Augen öffne, wünsche ich mir sofort, es wäre nur ein Traum gewesen.

Ich sehe noch immer ihr Gesicht vor mir. Sie hat geweint. Es hat mir das Herz gebrochen, als sie den Kopf geschüttelt hat und mir klar wurde, was das zu bedeuten hat. Wir können nicht zusammen sein. Sie hat es Joe nicht gesagt. Aber warum nicht?

Ich rolle mich auf die Seite und greife nach meinem Handy.

Nachdem ich gestern allein zurück ins Hotel gefahren bin, habe ich ihr unzählige Nachrichten geschrieben. Sie hat keine einzige davon beantwortet. Seufzend fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht. Was ist nur passiert? Wie konnte sie innerhalb von ein paar Minuten ihre Meinung ändern? Sie war so entschlossen. Sie hat gesagt, sie hätte sich für mich entschieden. Das allein war schon mehr als ich jemals zu träumen gewagt hätte. Dann dieser Kuss.

Der Kuss … ich habe nie etwas Perfekteres erlebt. Es hat sich so leicht und natürlich angefühlt, als hätten wir uns endlich gefunden. Als hätten wir nie etwas anderes getan, als uns zu küssen.

Ich habe schon viele Frauen geküsst. Aber gegen diese Art von Kuss bin ich machtlos. Er bringt meine innere Mauer zu Fall und lässt mich naiv daran glauben, dass es so etwas wie echte Liebe doch noch gibt. Mimi verändert mich. Das ist schön und erschreckend zugleich. Denn dadurch mache ich mich verwundbar.

Wie verwundbar, habe ich gestern Abend gespürt.

Auch wenn sie gerade auf meine Nachrichten nicht antwortet, werde ich das nicht einfach so hinnehmen. Sie kann mich nicht küssen, meine Welt aus den Angeln heben und dann einfach so einen Rückzieher machen.

Entschlossen schlage ich die Bettdecke zurück und springe auf die Beine. Was auch immer sie gestern dazu bewegt hat, Joe nicht zu verlassen – was auch immer sie zum Weinen gebracht hat – ich finde es heraus.

Ich gehe ins Bad und steige unter die Dusche. Unser Flug zurück nach Tokyo geht in ein paar Stunden und Mimi wollte nicht mit an Bord gehen. Ich vermute, dass alles irgendwie etwas mit ihrem Vater zu tun hat. Nach wie vor. Ich verteile das Shampoo auf meinem Kopf und beginne es einzumassieren.

Ich kenne Keisuke nicht besonders gut, oder besser gesagt, ich kenne ihn gar nicht. Aber vielleicht hat er Mimi unter Druck gesetzt. Vielleicht ist er dem Freispruch schon so nahe, dass er nicht will, dass sie einen Rückzieher macht. Mimi ist ein guter Mensch, sie ist eine gute Tochter, die Beste, die man sich wünschen kann. Vielleicht hat sie sich breitschlagen lassen.

Als ich fertig bin mit duschen, ziehe ich mich an. Heute endlich etwas Lässiges, ich kann diesen Smoking nicht mehr sehen.

Ich kann Mimi nicht aufgeben, ich muss um sie kämpfen. Aber vor allem muss ich mit ihr reden. Egal, was es ist, ich bin sicher, wir schaffen das zusammen.

Als ich mein Hotelzimmer verlassen möchte und die Tür öffne, werde ich fast von Sally überrannt.

„Hey!“ Überrascht taumle ich zurück, während sie sich an mir vorbei in mein Zimmer drückt.

„Schließ die Tür“, sagt sie verheißungsvoll, anstatt mich zu begrüßen. Ich tue was sie sagt und schaue sie dann fragend an.

„Dir auch einen guten Morgen. Was machst du hier?“

Sally sieht unruhig aus, fast schon panisch.

„Sie haben mich weggeschickt. Ich darf nicht zu ihr“, sagt sie hastig und beginnt auf ihrem Fingernagel rum zu kauen. Sie macht mich ganz nervös mit ihrem hin und her gehen.

„Wen meinst du? Mimi?“ Ich gehe zu ihr und halte sie an den Schultern fest, damit sie endlich mal stehen bleibt und mich ansieht. „Kannst du bitte ruhig bleiben? Wer hat dich weggeschickt?“

Ich sehe die Sorge, die sich in ihrem Gesicht abzeichnet und weiß sofort, dass etwas passiert sein muss. „Die Polizei.“

Meine Augen weiten sich erschrocken. „Was? Die Polizei?“

Sally nickt. „Ja, sie sind gerade bei Joe und Mimi und ich wollte zu ihr, aber …“

Ich lasse sie nicht ausreden, weil ich sofort auf dem Absatz kehrt mache, die Tür aufreiße und hinaus auf den Flur stürme. Ich will nach nebenan und da die Zimmertür offen steht, gehe ich einfach rein.

Jedoch bleibe ich schockiert stehen, als ich zwei Beamte vom New York Police Department vor mir sehe. Sie stehen vor der Couch und befragen jemanden. Vor ihnen sitzt Mimi, die den Kopf gesenkt hat. Die Haare fallen ihr ins Gesicht und sie sieht mich nicht. Joe sitzt neben ihr, eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Hinter ihnen stehen seine Eltern. Alle sehen furchtbar ernst aus. Aber was mich am meisten schockiert ist Mimis Gesichtsausdruck, als sie den Kopf hebt und unsere Blicke sich kreuzen.

Oh Gott, Mimi. Was ist mit dir geschehen?

Ihr Gesicht ist blass, ihre Augen sind gerötet, ihr Blick wirkt ausdruckslos und leer. Als wäre sie eine leere Hülle. Oder als hätte sie gerade etwas sehr traumatisches erlebt.

Ich will auf sie zustürmen, sie in den Arm nehmen und sie halten. Ich will mit ihr reden. Aber gerade, als ich einen Schritt auf sie zugehen möchte, schiebt sich Kaori in mein Blickfeld.

„Tai, du darfst hier nicht sein.“

„Was soll das, Kaori? Was ist hier los?“

„Das kann ich dir nicht sagen, du musst gehen.“

Wie bitte?

Sie legt beide Hände auf meine Brust und versucht, mich aus dem Zimmer zu schieben. Keine Chance. Ich gehe nicht weg.

„Tai, bitte“, sagt sie flehend, aber ich sehe nur an ihr vorbei in Richtung Mimi, die meinen Blick inzwischen meidet. Die Beamten stellen ihr Fragen, die ich nicht verstehe, ich sehe nur, wie sie immer wieder den Kopf schüttelt.

„Lass mich vorbei, Kaori“, fordere ich und will mich an ihr vorbei drücken, aber Kaori stellt sich mir in den Weg.

„Tai, geh!“, fordert sie mit Nachdruck und ich sehe sie irritiert an. Was, zum Henker, wird hier gespielt? „Du gehörst nicht zur Familie und die Polizei hat gesagt, nur Familienangehörige dürfen jetzt anwesend sein.“

Familienangehörige. Dass ich nicht lache. Die Kidos sind nicht ihre Familie.

Ich beiße mir auf die Zunge und balle die Hände zu Fäusten. Unfassbar, was geht hier ab?

Jede Faser meines Körpers wehrt sich zwar dagegen, aber ich lasse es zu, dass Kaori mich zurück in den Flur schiebt. Ich sehe noch ein mal zu Mimi, ehe sie mir die Tür vor der Nase zuknallt.

So habe ich sie noch nie gesehen. Nicht ein mal, als der Skandal mit ihrem Vater aufgeflogen ist und sie in meinen Armen fast daran gestorben wäre. Damals war sie verzweifelt und so wirkte sie auch jetzt. Aber da war noch etwas in ihrem Blick, was ich nicht richtig deuten konnte. Sie wirkte so … verstört.

In mir regt sich etwas. Warum habe ich plötzlich das Gefühl, sie vor den Menschen in diesem Raum beschützen zu müssen?

Wenn Kaori denkt, sie kann mich von ihr fernhalten, dann irrt sie sich.
 

Mimi
 

Ich kann nicht sagen, wie ich mich fühle. Ich konzentriere mich zu sehr darauf, nicht die Nerven zu verlieren. Mein Gesicht ist wie versteinert, denn wenn ich auch nur den Hauch einer Emotion zulasse, wird alles aus mir herausbrechen. Und das wäre keine gute Idee. Nicht, wenn Haruiko direkt hinter mir steht wie ein Unheilsgott.

Die Polizei befragt mich bereits seit einer halben Stunde und ich nicke nur oder schüttle den Kopf. Joe, mein Verlobter, war so in Sorge, dass er sie gleich heute Morgen angerufen hat. Er denkt, ich wurde auf der Feier von einem Unbekannten überfallen und bedrängt, weil ich ihm das erzählt habe. Joe war der Erste, der mich gestern Abend so vorgefunden hat – weinend, verletzt, gebrochen.

Natürlich musste ich ihm etwas erzählen. Aber auch, nachdem ich ihn mehrmals darum gebeten hatte, es nicht zu tun, hat er darauf bestanden, die Polizei zu informieren und eine Anzeige gegen Unbekannt zu machen. Was würde er wohl sagen, wenn er die Wahrheit wüsste?

„Und Sie konnten weder sein Gesicht, noch irgendetwas anderes Markantes an ihm erkennen? Nichts Auffälliges?“, bohrt der Beamte weiter, während sein Kollege fleißig mitschreibt.

Ich schüttle den Kopf und sage: „Nein, es war zu dunkel.“

„Ich denke, Sie haben meiner Schwiegertochter lange genug Löcher in den Bauch gefragt. Sie sehen ja, wie es ihr geht, sie weiß nicht mehr als das, was sie Ihnen erzählt hat“, mischt sich Haruiko nun ein. Ich beiße mir auf die Zunge. Allein seine Stimme hinter mir erzeugt in mir den Drang aufzuspringen und wegzulaufen. Hätte ich geahnt, was er für ein Monster ist, hätte ich mich niemals auch nur in die Nähe seiner Familie begeben. Jetzt bin ich gezwungen, in diese einzuheiraten und dieses Schicksal für den Rest meines Lebens zu ertragen. Sonst wird er mir und den Menschen, die ich liebe, wehtun – das hat er mehr als deutlich gemacht. Was würde er wohl mit Tai machen, wenn er wüsste, dass wir ineinander verliebt sind? Dass ich wegen ihm Joe verlassen wollte? Würde er ihn aus dem Weg räumen, ohne mit der Wimper zu zucken?

Allein beim Gedanken daran, was Tai passieren könnte, kriege ich dermaßen Panik, dass mir die Tränen in die Augen schießen, was meine Vorstellung so ziemlich abrundet.

„Oh, Mimi“, sagt Kaori und kommt auf mich zugestürmt. „Es ist zu viel für sie.“ Schützend hält sie mich im Arm und gibt Joe das Zeichen, dass es nun genug ist.

Der Beamte, der mir die vielen Fragen gestellt hat, räuspert sich. „Ich denke, wir haben alles, was wir brauchen. Da Sie den Täter jedoch nicht genauer beschreiben konnten, wird es für uns schwierig werden, ihn zu finden.“

Ich nicke nur noch schwach und lasse mich von Kaori trösten, während Joe die Beamten zur Tür begleitet.

„Wir melden uns, sobald wir was haben.“

Joe verabschiedet sich und schließt die Tür hinter ihnen.

„Ich werde das Hotel verklagen“, verkündet sein Vater lauthals. „Es ist unverzeihlich, dass sich ein Fremder, der nicht zur Feier eingeladen war, einfach so in das Hotel schleichen und unsere Schwiegertochter bedrohen konnte. Es wäre Aufgabe des Sicherheitsdienstes gewesen, das zu verhindern.“ Ich wage es nicht meinen Kopf zu heben und ihn anzusehen. Stattdessen höre ich mir weiter seine Lügen an.

„Ich kann nicht fassen, dass so etwas passiert ist“, sagt Joe und reibt sich den Nasenrücken.

Und ich kann nicht fassen, dass derjenige, der hinter mir steht, mir das angetan hat.

„Da hast du recht, mein Sohn“, sagt Frau Kido kopfschüttelnd und sieht ziemlich mitgenommen aus. „Ich denke, es wird Zeit wieder nach Hause zu fliegen. Es ist schade, dass diese Reise so enden muss.“

Bei dem Gedanken daran, in nicht einmal 24 Stunden wieder zurück in Tokyo zu sein, wird mir übel. Gestern Abend hatte ich noch den Plan hier zu bleiben. Mit Tai. Und jetzt soll ich freiwillig in das Gefängnis zurückkehren, aus dem ich gerade erst ausgebrochen bin.

„Kann … kann ich mich noch von meinen Eltern verabschieden? Ich hatte gestern leider keine Gelegenheit mehr dazu.“

Haruiko tritt vor mich und streicht über seine Krawatte, während er seinen kalten Blick auf mich richtet. „Das ist leider nicht möglich. Unser Flieger geht bald, aber keine Sorge. Ich habe deinen geliebten Eltern bereits mitgeteilt, dass etwas dazwischen gekommen ist und du leider keine Zeit mehr hast, dich persönlich von ihnen zu verabschieden.“

Mir stockt der Atem und ich schlucke. Was hat er getan? Was hat er ihnen erzählt? Gestern Abend noch habe ich ihnen gesagt, dass ich in New York bleiben werde. Dass ich keine Kido werde.

Wie soll ich das ihnen erklären?

Aber so wie Dr. Kido schaut, muss ich mir darüber keine weiteren Gedanken machen. Er hat alles geregelt.

Ich hasse ihn.

„Wärt ihr so freundlich und würdet mich noch einen Moment allein lassen? Ich muss mich noch ein wenig sammeln.“

Haruiko und seine Frau sind einverstanden und meinen, dass wir uns in einer Stunde in der Limousine treffen, um zum Flughafen zu fahren. Auch Kaori verabschiedet sich vorerst und geht wieder zu Jim, der in ihrer Suite auf sie wartet. Nur Joe bleibt noch stehen und sieht mich unsicher an.

„Geht es dir gut?“

Ob es mir gut geht. Am liebsten würde ich schreien. Doch stattdessen nicke ich nur und verziehe keine Miene. „Ich denke schon. Du hast die Polizei gehört, sie werden tun, was sie können.“

Joe sieht mich zwar ungläubig an, so als würde er kein Wort glauben, was aus meinem Mund kommt, sagt jedoch nichts. Ich sehe, dass er sich Sorgen macht. Ich würde ihm so gerne alles sagen. Aber das geht nicht.

„Ich, ähm …“, sagt er plötzlich und kratzt sich unbeholfen am Hinterkopf. „Ich habe dir vorhin etwas besorgt. Na ja, eigentlich war es Ansgar. Er hat einen guten Geschmack und ich hoffe, es gefällt dir.“ Er geht zu seiner gepackten Reisetasche und zieht ein rotes Seidentuch aus der Seitentasche. Er kommt zu mir und sieht mich fragend an. „Darf ich?“

„Ja“, antworte ich und nehme meine Haare zurück, damit er es mir umlegen kann. Er wickelt es zwei mal um meinen Hals und macht dann einen lockeren Knoten in den Stoff. „Ich dachte mir, dass es dir unangenehm sein könnte, wenn alle Leute deine Verletzungen sehen.“

Seine Stimme klingt ganz ruhig und vermutlich versucht er genau das – mich zu beruhigen. Aber er sieht nicht, wie ich innerlich kurz davor bin, die Nerven zu verlieren.

„Danke“, bringe ich gerade so heraus, während ich das Tuch noch mal etwas zurecht rücke. „Lieb von dir.“

Joe lässt die Hände sinken und sieht dann etwas unentschlossen zu unserem Reisegepäck, welches startklar vor der Tür steht und gleich von Ansgar abgeholt wird.

„Ich kann unten noch einen Kaffee trinken gehen, wenn du noch kurz allein sein möchtest. Es wäre mir zwar lieber, du würdest nicht …“

„Ja“, sage ich schnell. „Ich will gern noch etwas allein sein.“

„In Ordnung“, entgegnet Joe verständnisvoll und geht zur Tür. „Dann bis gleich. Wenn du mich brauchst, ruf einfach an.“ Er legt die Hand auf den Türgriff und dreht sich noch ein mal zu mir um. „Und Mimi? Tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte.“

Ich gebe ihm keine Antwort darauf, weshalb er nun endlich geht. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hat, stoße ich hörbar die Luft aus, als hätte ich sie die ganze Zeit angehalten. Mit einem Mal fällt die Anspannung von mir ab. Und mit ihr auch alles andere. Mein Pokerface fällt zu Boden und zeitgleich bricht es aus mir heraus. Ich fange heftig an zu atmen, weil mein Puls immer höher klettert, meine Atmung immer schneller, immer kürzer geht. Panik gepaart mit Verzweiflung überkommt mich und ich stürze zum Fenster, um es aufzureißen. Ich schnappe nach Luft, während mir bereits die Tränen übers Gesicht laufen. Ich presse mir beide Hände auf den Mund, um nicht so laut zu schluchzen und schließe die Augen.

Mama, Papa, es tut mir leid. Aber ich muss euch beschützen.

Tai. Es tut mir leid, dass wir nicht zusammen sein können. Es bricht mir das Herz.

Und Joe. Es tut mir so leid, dass ich dich schon wieder anlügen muss.

Ich habe das Gefühl in letzter Zeit mehr Lügen als Wahrheiten erzählt zu haben und ich frage mich, ob mein Leben ab jetzt immer so aussieht. Ob es mich verändern wird. Aber das hat es ja schon. Ich habe nie an die Liebe geglaubt, aber nun habe ich auch alles andere aufgegeben, woran ich je geglaubt habe. Und jetzt habe ich sogar Tai aufgegeben und mich selbst. Es wird nie wieder so sein wie vorher.
 

Tai
 

Unruhig sitze ich auf der Bettkante von meinem Hotelzimmer und wippe nervös mit meinem Bein. Wo bleibt sie nur? Nachdem die Polizei und alle anderen gegangen waren, wollte Sally nur kurz rüber zu Mimi und sich verabschieden – und sie natürlich ausfragen, was los war. Deshalb habe ich auch gesagt, Sally soll vorerst alleine zu Mimi gehen, vielleicht vertraut sie sich ihr ja an. Aber jetzt ist sie schon seit einer halben Stunde verschwunden und so langsam mache ich mir Sorgen. Gerade, als ich es kaum noch aushalte, klopft es an meiner Tür. Sofort springe ich auf und öffne sie. Sally drückt sich an mir vorbei.

„Ich erkenne sie nicht wieder“, spricht sie sofort drauf los. Ich schließe die Tür, damit uns niemand hört.

„Sie wollte mir nichts sagen. Gar nichts. Jedenfalls nicht die Wahrheit, das habe ich ihr angesehen.“

„Was hat sie denn gesagt?“, frage ich, weiß aber jetzt schon, dass es uns kein Stück weiterbringen wird. Sally stößt ein trockenes Lachen aus, während sie im Raum auf und ab geht, um sich selbst zu beruhigen.

„Sie hat mir eine total irre Story aufgetischt. Dass sie, nachdem sie mit dir auf der Toilette war, überfallen wurde.“

„Überfallen?“

„Ja, auf der Feier. Direkt danach.“

„Was?“ Ungläubig sehe ich sie an.

„Ja, genauso habe ich auch geguckt. Angeblich war es ein Unbekannter und sie konnte auch nichts erkennen, sie weiß angeblich nicht mal, wie er ausgesehen hat. Er hat sich auf die Party geschlichen und sie in eine Besenkammer gezerrt oder so. Dort hat er sie bedroht, aber sonst nichts. Sonst nichts? Was ist das für eine Geschichte?“

Ich stutze etwas. „Ein Unbekannter hätte sich niemals einfach so auf die Feier schleichen können. Alle Aus- und Eingänge wurden bewacht, ich habe das Sicherheitspersonal persönlich beauftragt.“

Da stimmt doch was nicht. Und Sally sieht das offenbar ganz genauso. Sie bleibt stehen und sieht mich verheißungsvoll an. „Tai, ich kenne Mimi schon so lange und ich sehe, wenn sie lügt. Ich wollte sie nicht weiter bedrängen, aber … vielleicht bekommst du ja etwas aus ihr raus.“

Ich nicke verbissen. Ich kann es zwar nicht versprechen, aber ich werde es versuchen.
 

Nachdem Sally sich auch von mir verabschiedet hat und mit einem ziemlich schlechten Gefühl gegangen ist, warte ich noch circa fünfzehn Minuten, bis schließlich auch Mimi ihr Zimmer verlässt. Ich tue so, als wäre auch ich jetzt erst startklar und öffne die Tür. Ich weiß, dass alle bereits unten sind und warten und Ansgar alles Gepäck schon in die Limousine gebracht hat. Wir sind die Einzigen, die noch zurückgeblieben sind und das ist gut so. Ich muss sie unbedingt alleine erwischen.

Als ich auf den Flur trete und mit einem lauten Ruck meine Zimmertür schließe, erschrickt Mimi, die gerade auf dem Weg zu den Fahrstühlen ist.

„Tai …“, flüstert sie, als sie mich sieht. Ich gehe auf sie zu und versuche in ihrem Gesicht zu lesen, wie sie sich fühlt.

„Sally hat mir erzählt, was passiert ist“, komme ich gleich zur Sache, aber Mimi weicht meinem Blick aus und schaut stattdessen auf ihr Smartphone. Es vibriert, doch sie drückt den Anrufer schnell weg.

„Wer war das?“, frage ich.

„Meine Mutter“, antwortet sie viel zu kühl. „Sie versucht schon den ganzen Vormittag, mich zu erreichen. Aber ich kann jetzt nicht mit ihr sprechen.“

Sie kann nicht mal mit ihrer Mutter darüber reden? Mimi, was ist nur passiert?

„Warum hast du nicht auf meine Nachrichten geantwortet?“, frage ich sie, doch Mimi schenkt mir nur einen kurzen, nichtssagenden Blick, dreht sich um und geht weiter zu den Fahrstühlen.

„Ich wusste nicht, was ich dir sagen sollte.“ Vor den Fahrstühlen bleibt sie stehen und betätigt den Knopf. Ich stelle mich neben sie.

„Du wusstest nicht ‚was‘ oder du wusstest nicht ‚wie‘?“

„Beides.“

Innerlich seufze ich. Bilde ich mir das ein, oder ist sie plötzlich ganz anders als gestern Abend? Erinnere ich mich richtig? Wir haben uns doch gestern geküsst oder habe ich mir das eingebildet?

Ich will unseren Moment von gestern zurück. Ich will diesen Kuss zurück. Aber ich weiß nicht, wie wir da hinkommen, wenn plötzlich wieder diese Mauer zwischen uns steht.

Wir betreten den Fahrstuhl, als sich die Türen mit einem Signalton öffnen. Ein paar andere Gäste kommen den Flur entlanggelaufen, steigen jedoch nicht mit ein. Es wirkt so, als würde Mimi Abstand zu mir wahren wollen, denn sie stellt sich bewusst dicht an die Wand und weit weg von mir. Na ja, so weit wie es eben in einem Fahrstuhl geht. Gott, ich halte das keine Sekunde länger aus.

Die Fahrstuhltüren schließen sich und kaum sind wir abgeschirmt von jeglichen Blicken, überbrücke ich diesen beschissenen Abstand zwischen uns und dränge sie gegen die Fahrstuhlwand. Mimi schnappt erschrocken nach Luft, während meine eine Hand neben ihrem Kopf an der Wand landet und meine andere nach dem Stopp-Schalter greift. Der Fahrstuhl kommt mit einem Ruck zum Stehen.

So. Zeit zu reden.

„Tai, was soll das?“, fragt Mimi sichtlich verwirrt und streckt ihren Arm nach den Knöpfen aus, doch ich halte ihr Handgelenk fest.

„Wieso kannst du es mir nicht sagen?“, frage ich mit weicher Stimme. Mimi weicht meinem Blick aus – schon wieder. Sie beißt sich auf die Unterlippe, antwortet jedoch nicht. Ich seufze. „Ich weiß, dass das nicht stimmt, was du Sally erzählt hast“, offenbare ich ihr und sehe, wie sie mich überrascht ansieht. Sie muss mir die Wahrheit sagen – jetzt. Wir haben hier drin nicht ewig Zeit. Deshalb wähle ich die nächsten Worte mit Bedacht, auch wenn sie mir das Herz brechen.

„Wir können nicht zusammen sein, oder?“

Ich sehe, wie sich sofort ein Schatten über ihre Augen legt und ihr Blick traurig wird. Sie schüttelt den Kopf und Tränen glitzern in ihren Augenwinkeln.

„Aber warum nicht, Mimi?“ Ich komme ihr noch ein Stück näher. Meine Hand gleitet an der Wand hinab und landet auf ihrer Hüfte, meine Stirn sinkt gegen ihre, während wir beide die Augen schließen. „Warum nicht? Du warst dir so sicher. Wir waren uns so sicher.“

„Ich weiß“, sagt Mimi nun mit tränenerstickter Stimme und ich merke sofort, dass sie weint. Ihre Hände krallen sich in mein Hemd. Ich öffne die Augen wieder und sehe ihre Tränen. Sofort zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen.

„Es geht einfach nicht, Tai. Bitte frag mich nicht, warum. Es ist nur zu deinem Besten. Ich will dich nur beschützen.“

Verzweifelt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „Ich will aber nicht beschützt werden“, sage ich entschlossen. „Ich will mit dir zusammen sein.“

„Das will ich auch, aber … aber es geht nicht.“

Wirklich? Sie will es auch? Immer noch? Also habe ich es mir doch nicht nur eingebildet. Was wir uns gestern Abend gesagt haben war echt. Dieser Kuss war echt. Und dann hat sie irgendwas von ihrem Plan abgebracht. Ich muss wissen, was.

„Mimi“, hauche ich, nehme ihr Gesicht in beide Hände und küsse sie. Sofort explodiert ein Feuerwerk in mir. Ich empfinde so viel für diese Frau, dass es für mich unmöglich erscheint, sie nicht mehr zu küssen. Nicht, nachdem ich gestern endlich erfahren habe, wie sich so ein Kuss mit ihr anfühlen kann. Wenn sie mir jetzt gleich sagt, dass sie bei Joe bleibt, weiß ich nicht, wie ich das schaffen soll.

Mimi erwidert meinen Kuss. Sie stößt mich nicht von sich, stattdessen klammert sie sich an mich, als würde sie ertrinken. Ich schmecke Salz auf meinen Lippen und löse mich von ihr, um ihr mit dem Daumen die Tränen von den Wangen zu wischen. Gestern war sie eine Löwin – eine Kämpferin. Heute wirkt sie so gebrochen, so verzweifelt, so zerrissen. Ich kann sicher vieles ertragen, aber nicht das.

„Sag mir, was passiert ist“, wispere ich und sehe sie flehend an. Ich sehe, wie sie mit sich kämpft, doch schließlich nimmt sie beide Hände von meiner Brust und greift nach ihrem Halstuch, um es zu lösen. Ich fahre zusammen, als ich sehe, was sich darunter verbirgt.

Also stimmt es doch? Sie wurde überfallen? Aber von wem?

„Das war Haruiko“, beantwortet sie mir meine unausgesprochene Frage. Für ein paar Sekunden muss ich mir den Namen auf der Zunge zergehen lassen. Dann schlage ich mit der Faust gegen die Fahrstuhlwand.

„Ist das dein Ernst? Er hat dir das angetan?“ Während ich tobe vor Wut und sofort am liebsten alles kurz und klein schlagen würde, bewahrt Mimi die Fassung und bindet sich das Tuch schnell wieder um.

„Er hat mich bedroht. Er war es. Er hat mitbekommen, wie ich zu meinen Eltern gesagt habe, dass ich Joe nicht heiraten werde und in New York bleibe. Zum Glück habe ich nichts von dir erzählt, aber alles andere hat er mit angehört. Er droht damit, mir alles zu nehmen, was ich liebe, wenn ich nicht bei ihnen bleibe und Joe heirate. Er hat Angst sein Gesicht zu verlieren. Die Glaubwürdigkeit seiner ganzen Familie stünde auf dem Spiel und …“

„Und?“, presse ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Mimi schluckt schwer.

„Und er sagt, der Tod wäre für meinen Vater schlimmer als ins Gefängnis zu gehen.“

Ich reiße die Augen auf.

Das darf nicht wahr sein!

Ich kann kaum glauben, was Mimi mir da erzählt, aber ihre Verletzungen sprechen für sich. Doch, ich glaube ihr jedes Wort.

Der Fahrstuhl macht einen unerwarteten Ruck und setzt sich wieder in Bewegung. Offensichtlich hat jemand den Fehler bemerkt und geistesgegenwärtig den Fahrstuhl wieder zum Laufen gebracht.

„Verdammt!“, presse ich hervor und fahre mir durchs Haar. Das erklärt einfach alles. Warum Mimi sagt, wir können nicht zusammen sein. Und warum sie wieder mit zurück nach Tokyo fliegen muss. Warum sie Sally und der Polizei und sogar Joe diese wilde, unglaubwürdige Geschichte aufgetischt hat.

„Ich bring ihn um“, sage ich wütend und stelle mir bereits vor, wie ich gleich dem Prof. gegenübertrete und so lange auf ihn einprügle, bis er Mimi kein Haar mehr krümmen kann.

„Tai, nein“, sagt Mimi mit Nachdruck und drückt meinen Arm. „Wir können nichts tun. Ich verstehe, wie wütend du bist. Ich bin es auch. Aber ich weiß, wann ich verloren habe. Leider hatte ich das schon an dem Tag, als ich einen Fuß über die Schwelle ihres Hauses gesetzt habe, nur war mir das bis jetzt nicht bewusst. Egal, was wir tun, er wird mich nicht gehen lassen. Ich muss Joe heiraten. Tai … ich …“ Ihre Stimme beginnt wieder zu brechen und sie atmet kurz tief durch, ehe sie weiterspricht. „Ich will dich nicht verlieren. Nicht auf diese Weise. Lieber liebe ich dich aus der Ferne, als dass ich an deinem Grab stehe. Oder am Grab meines Vaters. Oder an dem von meiner Mutter. Das würde ich nicht verkraften.“ Wieder laufen ihr Tränen über die Wange, doch sie wischt sie sich schnell weg, während ich sie in eine feste Umarmung ziehe und sie sich für einen Moment fallen lässt.

Ich drücke ihr einen Kuss aufs Haar und flüstere dann: „Hör auf zu weinen, Mimi. Sei stark, lass dir nichts anmerken. Wenn er denkt, dass du schwach bist, denkt er, er kann alles mit dir machen. Aber das stimmt nicht. Vertrau mir, ich finde eine Lösung.“

Mimi kommt nicht mehr dazu, zu antworten, denn der Fahrstuhl kommt im Erdgeschoss zum Stehen. Wenn sich die Türen gleich öffnen, dürfen sie nichts merken. Wir müssen verdammt noch mal in diese Limousine steigen und so tun, als wäre nichts geschehen.

„Du schaffst das“, spreche ich ihr noch ein mal Mut zu, als sich auch schon die Fahrstuhltüren öffnen und wir uns voneinander entfernen. Wir steigen aus und gehen gemeinsam durch die große Eingangshalle.

Ich weiß noch nicht, wie, aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Mimi für dieses Monster ihr Leben wegwirft. Egal, ob ich mit ihr zusammen sein kann, oder nicht. Ich war selten in meinem Leben so entschlossen wie in diesem Moment, denn für mich steht eins fest – Dr. Haruiko Kido wird dafür bezahlen, was er ihr angetan hat.

Tai
 

Drei Tage sind vergangen seit wir wieder in Tokyo gelandet sind. Mimi und meine Kommunikation findet aktuell nur über das Smartphone statt und selbst da nur sehr eingeschränkt. Ich hasse es. Seit unserem Kuss will ich nichts anderes, als es immer und immer wieder zu tun. Ihre vollen und wunderschönen Lippen auf meinen, aber im Moment ist es zu riskant. Was mir zwar gerade unendlich schwer fällt, aber unsere Glaubwürdigkeit weiter unterstreicht und im Moment ist es das Wichtigste, dass sie nicht auffällt. Aktuell telefonieren wir jeden Abend miteinander. Mimi hatte in den letzten zwei Tagen Lektionen mit Kaori in Sachen Damenhaften Benehmen. Meine Güte, dass sie diese Show immer noch über sich ergehen lassen muss, ärgert mich immens. Ich bin jedoch auch nicht untätig gewesen. Ich habe es Mimi versprochen: Ich werde Dr. Haruiko Kido das Handwerk legen. Ich weiß noch nicht genau wie, aber ich werde nicht aufgeben. Ein Mann wie der Professor, der so viel Macht und so viel Geld hat, der eine junge Frau derart bedroht und sogar handgreiflich wird, macht das alles doch niemals zum ersten Mal. Dieser Mann hat Leichen im Keller und diese muss ich finden. Nur so können wir ihn angreifen und verwundbar machen. Da ich als Joes persönlicher Assistent und PR Sprecher der Familie eine ganze Menge Akteneinsicht habe, habe ich mir zuerst die Liste aller Mitarbeiter geben lassen. Ob Putzkraft, Hausmädchen, Nannys, Nachhilfelehrer, Köche, Gärtner, die Liste der Angestellten ist lang. Die Liste der ehemaligen Angelstellen ist jedoch um Welten länger. Manche waren Jahrzehnte angestellt, andere jedoch nur wenige Monate oder sogar Wochen, da werde ich schon stutzig und was mir besonders auffällt, dass vor circa 17 Jahren fast alle Angestellten auf einmal entlassen wurden. Warum? Bei vielen fehlen vertrauliche Angaben, was mich noch misstrauischer macht. Alle verdächtigen Namen habe ich mit einem gelben Textmarker versehen. Ich suche im Internet nach Telefonnummern und Adressen und manche finde ich sogar. Volltreffer. Ich weiß jedoch auch, dass ich auf der Hut sein muss, denn mein Gegner ist mächtig. Dr. Haruiko Kido hat erstens seinen eigenen Assistenten und wer weiß wer noch alles für ihn arbeitet, denn an manche Akten komme ich einfach nicht heran. Sie sind passwortgeschützt und stehen scheinbar unter besonderer Beobachtung. Ich habe schon überlegt, einen guten Freund zu fragen, ob er diese Passwörter für mich hacken kann. Es wäre sicher ein Leichtes für ihn, aber es geht nicht. Izzy ist ebenfalls mit Joe befreundet und ich will ihn da auf keinen Fall mit reinziehen und eventuell in Gefahr bringen. Nein, das muss ich alleine machen. Ich möchte gerade eine verdächtige Nummer anrufen, als es an meiner Haustür klingelt. Wer stört mich denn jetzt?

Ich gehe Richtung Haustür, während zwar das Smartphone an meinem Ohr klingelt, aber niemand dran geht. Verdammt. Ich habe nicht mal nachgefragt, wer da unten an der Tür steht, einfach aufgedrückt und bin sehr verwundert, als meine Schwester vor mir steht und mich wütend anguckt.

“Hi, du siehst irgendwie sauer aus, alles ok?”, frage ich nach und gehe davon aus, dass sie Streit mit ihrem Freund hat. Wobei sie das selten haben. “Warum meldest du dich seit zwei Wochen nicht bei mir? Keine Nachricht wird beantwortet, ich werde nicht zurückgerufen. Bist du sauer auf mich?”, fragt Kari aufgebracht nach und gleich bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe die letzten Tage nur Akten gewälzt und die Arbeiten für die Familie Kido erledigt. Ich habe selten meine Wohnung verlassen, um jede freie Minute zu nutzen. Ich muss endlich einen Trumpf im Ärmel haben. Ich muss Mimi Hoffnung schenken. Sie darf uns einfach nicht aufgeben. “Entschuldige Kari, ich versinke einfach nur in Arbeit.” Sie legt ihre Arme übereinander und zieht eine Augenbraue hoch. “Ich kenne dich, Tai. Du kannst mir überhaupt nichts vormachen. Du meidest mich immer dann, wenn irgendwas los ist und du nicht darüber reden kannst oder willst.” Hab ich schon mal erwähnt, dass meine kleine Schwester unendlich nervtötend ist?

“So ist es diesmal nicht”, rechtfertige ich mich schwach. Kari läuft durch meine kleine Wohnung, sieht sich die Liste an und nimmt sie in die Hand. Ich nehme sie ihr prompt wieder weg. “Ist unwichtig”, murmle ich. “Ich habe die Bilder von der Verlobungsfeier gesehen. Mimi sah wirklich zauberhaft aus und Joe hat auf den Fotos ebenfalls sehr gestrahlt.”

“Mag sein.” Selbstverständlich kenne ich alle Fotos und jeden Artikel, aber ich schaue sie mir nicht gerne an. Immerhin ist nichts Wahres an den Fotos oder den Artikeln zu lesen. Sie unterstreicht nur dieses miese falsche Spiel, welches hier schon viel zu lange gespielt wird.

“Magst du Mimi?” Verdammt, warum muss Kari mir diese Frage stellen?

“Mehr als am Anfang.”

“Ach Tai, hör jetzt endlich auf damit. Ich habe Mimi mittlerweile kennengelernt, ich habe euch auf dem Krankenhausfest zusammen gesehen. Ich hab euch beim backen gesehen. Ihr seid irgendwie … keine Ahnung … so vertraut miteinander.”

Meine nervige kleine Schwester. Warum kennt sie mich nur so gut? Es wäre wahrscheinlich klüger, sie in manche Dinge einzuweihen. Erstens, weil sie nicht locker lässt und zweitens habe ich Angst, dass sie sonst selber noch anfängt herumzuschnüffeln und dadurch unbewusst alles schlimmer macht.

“Ja, ich bin in Mimi verliebt und sie auch in mich”, gebe ich mich geschlagen, doch anstatt dass sich meine Schwester für mich freut, schüttelt sie nur ungläubig ihren Kopf. “Oh man, Tai, das darf doch nicht wahr sein, dass wird niemals gut für dich enden. Du weißt doch, dass Mimi verlobt ist. Verlobt.”

“Ja, ich weiß das selber.” Meine Stimme wird lauter, aber Kari kann nicht verstehen, was alles zwischen Mimi und mir vorgefallen ist und ich kann ihr das auch nicht alles erzählen. Es geht einfach nicht. Noch nicht.

“Und das mit Joe Kido!”

“Auch das weiß ich.”

“Und du weißt, dass ein Kido, der verlobt ist, auch heiraten wird, egal welche Gefühle wo eine Rolle spielen." Kari spielt natürlich die Kaori Karte aus. Ich lege meine beiden Hände auf die Schultern meiner Schwester ab und sage so sanft wie kann: “Hör mir bitte gut zu, weil ich es nur einmal sagen werde: Die Geschichte mit Kaori damals, war eine ganz andere.”

“Ach wirklich?” Kari ist alles andere als überzeugt. “Ja.” Mehr kann ich meiner Schwester aktuell nicht erzählen, auch wenn ich weiß, dass sie das nicht zufrieden stimmt und sie sich nur Sorgen um mich macht. “Tai, du wirst am Ende deinen Job los sein und ein gebrochenes Herz haben.” Das hab ich schon längst. Noch ist jedoch nichts verloren. Noch kann ich um Mimi kämpfen und das werde ich auch. “Mimi will nicht Joe, sie will mich. Wir können aber noch nicht zusammen sein. Mehr kann ich dir nicht zu diesem Thema sagen. Außer, vertrau mir und misch dich da bitte nicht ein.”

“Tzz, jetzt ernsthaft?”

“Ja, wenn ich könnte, würde ich dir alles erzählen, aber es geht nicht. Du musst mir vertrauen, ich weiß was ich tue, auch wenn es für dich vielleicht gerade nicht den Anschein macht.” Auch wenn ich Kari ansehen kann, dass sie sich mit dieser Aussage immer noch nicht wirklich zufrieden gibt, lässt sie das Thema ruhen und nickt mit ihrem Kopf.

Wahrscheinlich weiß sie, dass sie mehr aus mir nicht herausbekommen wird.

“Na fein, aber pass bitte auf dich auf.”

Ich wuschel ihr durch die Haare, was meine Schwester sofort mit einem Schrei verhindert. “Boah Tai, lass das.” Ich lache jedoch nur und sehe dann, dass die Telefonnummer von vorhin, mich gerade zurückruft. “Oh Sis, die Arbeit ruft. Du musst jetzt gehen!” Vielleicht eine erste Spur? Ich schiebe meine Schwester einfach zur Türe, öffne sie und drücke sie raus. “Sorry”, sage ich ihr noch nach, ehe ich die Türe zuwerfe. Ich höre noch, wie meine Schwester vor meiner Wohnungstüre schimpft und gegen meine Türe schlägt. Es tut mir echt leid, aber das ist wichtig. Ich ignoriere sie jedoch, da meine Konzentration schon ganz auf mein Smartphone gerichtet ist. “Mrs. Nakamura”, begrüße ich die ehemalige Nachhilfelehrerin freundlich. Nach fünf Minuten telefonieren, merke ich jedoch, dass sie damals von sich aus gekündigt hatte, weil sie selber Nachwuchs bekommen habe und die Zeit mit ihrer Familie verbringen wollte. Okay, hier ist also nichts auffälliges zu finden. Ich streiche ihren Namen auf meiner Liste durch und will gerade die nächste Nummer wählen, als ich eine WhatsApp Nachricht von Mimi erhalte. Sofort erhellt sich mein Gesicht. Mimi ist nicht unter ihrem normalen Namen eingespeichert, sondern unter dem Namen; Prinzessin, ein Pseudonym und irgendwie ist es ein Insider zwischen Mimi und mir geworden.
 

[Hi du, was machst du? Ich stehe hier seit drei Stunden in einem Laden und probiere unzählige Kleider für die Gala an. Es ist Sterbenslangweilig und du fehlst mir so.]
 

Sofort schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Drei Tage ohne sie zu sehen, halt ich fast nicht aus, aber morgen früh bin ich mit Joe verabredet, dann sehe ich sie endlich wieder und wir können hoffentlich auch ein wenig ungestört miteinander reden.
 

[Bin fleißig, weißt du doch. Morgen früh sehen wir uns wieder und ich kann es kaum erwarten. Ich hoffe, du findest noch ein Kleid, welches dir auch gefällt. Du wirst sicher wunderschön darin aussehen.

I miss you.]
 

Ich würde ihr morgen schon gerne Antworten geben, aber es ist klar, dass das nicht so leicht wird. Ich habe es hier immerhin mit dem Endgegner zu tun und die Nadel im Heuhaufen zu finden, braucht leider seine Zeit.
 

Mimi
 

Ich schmunzle, als ich die Nachricht von Tai lese. Ich schaue mich nochmal im Spiegel an und nein, dieses blaue Kleid ist es auch nicht. Ich sehe weiter hinten noch ein Mintgrünes Coutre Kleid, welches ich als nächstes teste. Kaori scheint hingegen gerade fündig geworden zu sein. “Ja, das ist perfekt”, strahlt sie und dreht sich um ihre eigene Achse. Wir sind heute bei einem sehr bekannten japanischen Designer eingeladen und dürfen uns zwei Kleider für die Wohltätigkeitsveranstaltung ausleihen. Dafür werden wir natürlich sagen, woher wir diese schönen Kleider haben und den Designer bei Social Media verlinken. Kaoris Kleid ist schwarz/gold, auf der einen Seite ist es am Oberkörper golden, bis zum Bund und dann Schwarz und auf der anderen Seite ist schwarz und auf der gegenüberliegenden Bahn golden, sodass es überkreuzt. Es steht ihr wirklich gut und schmeichelt ihrer Figur, aber sie ist so oder so eine Schönheit, egal was sie trägt. Ich schlüpfe zum gefühlt hundertsten Kleid und blicke in den großen Spiegel. Es gefällt mir von allen am besten. Es hat zwar einen V-Ausschnitt, aber ich beschließe es dennoch zu nehmen. Es ist schlicht, elegant und nicht zu aufreizend. Für die Wohltätigkeitsgala einfach perfekt. Meine Wunden am Hals sind mittlerweile verblasst und ich bin froh, nicht mehr ständig ein Halstuch tragen zu müssen und seit meine Verletzung optisch nicht mehr zu sehen ist, spricht mich auch niemand mehr deswegen an. Haruiko habe ich seit unserer Ankunft in Tokyo nicht mehr gesehen und ich bin wirklich froh darüber, denn sein Gesicht ist das Letzte welches ich sehen will. Mir fällt es schon schwer genug, mit diesem Menschen unten einem Dach zu leben und ich überlege Joe zu fragen, ob wir nicht zu ihm ziehen können. Ich habe die Wohnung von ihm noch nie gesehen und sollten wir nicht schon aus PR Gründen am besten zusammen leben? Ich will einfach nur aus dieser Villa raus, um mich wenigstens ein bisschen wohler zu fühlen. “Mimi, das Kleid sieht super schön an dir aus”, spricht Kaori, als sie mich in dem grünen Kleid sieht und holt mich somit aus meinen Gedanken. “Danke, ich werde es nehmen. Deines sieht auch wunderschön aus.”

“Oh, danke.” Ein Angestellter kommt gleich zu uns geeilt und beglückwünscht uns zu unseren Kleidern. Natürlich schleimt er sich weiter ohne Ende ein und ich bin ehrlich gesagt genervt von diesem Getue. Kaori hingegen scheint die Aufmerksamkeit zu genießen und kauft sich sogar noch ein paar Schuhe extra. Ich sehe mich nochmal im Spiegel an, was Tai wohl zu meiner Wahl sagen würde? Ich beschließe, ein Selfie von meinem Mintgrünen Kleid zu machen und dieses Foto an Tai zu schicken.
 

[Doch noch fündig geworden.]
 

Seine Antwort lässt nicht lange auf sich warten, ein Emoji, der sabbert. Ich muss laut lachen und winke nur schnell ab, als Kaori mich fragend ansieht. “Ich ziehe mich dann mal um. Gehen wir dann noch etwas Essen?” Ich hoffe es, denn ich will einfach noch nicht wieder in meinen goldenen Käfig zurück. “Ja, sehr gerne”, antwortet Kaori und ich lächle dankbar.
 

Als wir fertig mit shoppen sind, beschließen wir in der Stadt noch ins Familien-Restaurant zu gehen, doch wie könnte es anders sein, ist die Aufmerksamkeit ganz auf unserer Seite. Leider. Die ersten Paparazzis haben sich bereits vor der Boutique versammelt. Kaori schaltet sofort um, lächelt, winkt wie die Queen und bedankt sich. Ich tue einfach das gleiche wie sie und fühle mich wie eine fremdgesteuerte Puppe. Wie souverän sie immer alles meistert. Nachdem wir es irgendwie in das Auto geschafft haben, fährt uns der Fahrer ins Restaurant, in dem ich schon ein paar Mal mit Tai essen war. Das Familien-Restaurant der Kidos. Für mich ist es aber nicht das Familien Restaurant der Kidos, sondern das Restaurant wo Tai und ich zum ersten Mal gemeinsam essen waren.
 

Wir bestellen uns eine Misosuppe und Kaori hat wieder diesen mitleidigen Blick und starrt auf meinen Hals, so hat sie mich die letzten Tage ständig angesehen. “Kaori, du musst mich nicht ständig so ansehen.”

“Es ist einfach nur schrecklich, was dir passiert ist.”

“Ja, ist es. Es zeigt eben wieder einmal wie grausam diese Welt ist.” Vor allem, wie verlogen Menschen sein können.

"Geht es dir denn schon etwas besser?"

"Schon. Die erste Nacht konnte ich trotz Jetlag überhaupt nicht schlafen, aber dann wurde es besser." Es hat geholfen, dass Tai Stundenlang mit mir am Telefon geredet hat. Er hat solange mit mir geredet, bis ich eingeschlafen bin. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. "Jetzt erzähl aber lieber mal was von dir." Hier muss mal ganz dringend ein Themenwechsel her. Außerdem würde ich wirklich gerne mehr über Kaori erfahren. In den letzten zwei Tagen habe ich zwar viel Zeit mit ihr verbracht, aber viel aus ihr herausbekommen habe ich nicht.

"Ach, bei mir gibt es nichts spannendes."

Jetzt werde ich doch glatt neugierig. Irgendwas sagt mir, dass es da wohl ne Menge gibt und bei einem Thema wird sie immer irgendwie anders. “Ich finde Haruiko hat euch ganz schön unter Druck gesetzt, was die Familienplanung anbelangt, oder kommt mir das nur so vor?” Ich muss ein wenig vorsichtig sein, wie ich was formuliere, denn ich weiß nicht, ob sie den Professor vielleicht sogar mag. Immerhin ist sie die perfekte Schwiegertochter.

Kaori schweigt jedoch und es scheint als wäre da doch ein Thema, welches ihr zu schaffen macht. "Na ja, ich sollte eigentlich im zweiten Ehejahr schwanger werden …" druckst Kaori herum und sieht ziemlich traurig aus.

“Sagt wer?”

“Der Ehevertrag!” Sofort verschlucke ich mich an meinem Getränk. Himmel, das darf nicht wahr sein. Es gibt einen Ehevertrag? indem dann auch noch steht, wann sie Kinder zu bekommen hat? "Wie bitte?" Oh Gott, bekomme ich auch so einen Vertrag?

Bitte nicht, aber nur logisch. Eine so einflussreiche und wohlhabende Familie macht selbstverständlich nichts ohne Ehevertrag. "Ja, es ist ganz klar geregelt. Hochzeit. Zwei Jahre später erstes Kind und weitere drei Jahre später zweites Kind. Im ungünstigen Fall, dass beide ein Mädchen werden, sollte ein drittes zur Option gestellt werden."

Okay, hier muss irgendwo die versteckte Kamera sein, denn das kann nicht ihr ernst sein. Im ungünstigen Fall? So langsam halte ich den Kido Clan für eine ganz furchtbare Sekte. “Kaori, warum kannst du das nur so gut?”

“Ich verstehe die Frage nicht.” Kaori sieht mich ganz verwirrt an. Welche Gehirnwäsche hat diese Frau nur bekommen? “Findest du einen Vertrag, wo so heftig über deinen Körper entscheiden wird, denn richtig? Sollte es nicht eure Entscheidung sein, wann und ob ihr überhaupt Kinder wollt?”

“Ähm, also, tja … Es interessiert niemanden wirklich, was ich will und ich weiß eigentlich auch gar nicht, was ich will. Ich weiß nur, was von mir erwartet wird und dass mich das furchtbar unter Druck setzt, weil wir jetzt schon seit fünf Monaten versuchen ein Baby zu machen, aber irgendwie klappt es nicht. Fünf Monate sind zwar nicht lange, aber na ja, was wenn es nie klappt?” Oh man, mir wird gerade schlagartig bewusst, dass Kaori auch nichts weiter als eine Marionette ist. Sie hatte nie ein Wahl. Von klein auf an nicht. Sie musste ihr ganzes Leben lang nur irgendwelche Erwartungen erfüllen. “Ich finde es furchtbar, dass es dich so fertig macht, aber vielleicht ist der Grund warum es nicht klappt, der, weil du vielleicht noch gar nicht soweit bist?” Es ist zwar nur eine Theorie, aber ich glaube, mein Körper würde komplett dicht machen. Oh Gott, einen weiteren Kido Sprössling in die Welt setzen. Mich schüttelt es.

“Ich finde die Vorstellung Mutter zu werden, sehr schön. Ich meine, ich bin 29 Jahre alt, es wird wirklich höchste Zeit. Es wäre wieder eine Aufgabe, die ich erfüllen könnte. Wieder etwas Abwechslung in meinem Leben.”

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll und ob das überhaupt der richtige Ansatz für ein Kind ist, aber ihre Entscheidung. In dieser Hinsicht denke ich ganz anders. Zumindest noch, aber vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis mir alles egal sein wird. “Dann wird es sicher bald klappen. Manchmal braucht es nur ein wenig Zeit.”

“Ja, nur ist es wirklich mit jedem Monat schwerer. Nächste Woche habe ich einen Termin bei irgendeinem Kollegen von Jim, der darauf spezialisiert ist und mich untersuchen wird. Ich bin total nervös deswegen.” Ich lege meine Hand auf ihre und versuche ihr Mut zuzusprechen.

“Mach dir keine so großen Sorgen. Ich bin sicher, dass alles gut bei dir sein wird.”

“Danke.” Wenn das ihr Wunsch ist, wünsche ich ihr wirklich, dass er in Erfüllung geht. Auch wenn die ganze Art und Weise einfach nur ekelhaft ist.

“Was steht denn sonst noch so in dem Ehevertrag drin?”

“Weißt du das nicht?” Kaori sieht mich ganz überrascht an. “Ach ja stimmt, der Vertrag wird erst nach der offiziellen Verlobungsfeier ausgehändigt”, korrigiert sie sich selber.

“Ich weiß nicht, ob wir beide denselben Vertrag bekommen. Es steht etwas zu den einzelnen Ehejahren drin und wie viel Anspruch du auf das Vermögen hast. Dann stehen noch einige Unterpunkte: Hast du deinen Partner betrogen, bekommst du zum Beispiel nichts. Allerdings steht nichts drin, was passiert, wenn der Mann untreu ist. So als dürfte er das ruhig.” Wow, das alles ist echt der Gipfel der Grausamkeit. Ich bin fassungslos. “Das Vermögen wird unter drei Jahre zum Beispiel nicht mal angerechnet und dann rechnet es sich prozentual nach den Ehejahren ab.”

Mein Plan ist von Anfang an für die Katz gewesen. Ich hätte niemals einfach so die Schulden für meinen Vater bezahlen können. Ich wäre nicht einmal an das Geld herangekommen. Wie naiv ich gewesen bin oder auch einfach nur extrem dumm. “Ah okay. Ich bin gespannt, wann Joe mit dem Ehevertrag um die Ecke kommt.”

Falls er das überhaupt mit mir besprichst und nicht Haruiko wieder zum Einsatz kommt. “Ich denke nach der Wohltätigkeitsveranstaltung. Sie haben ja gefühlt nie Zeit.”

“Das stimmt wohl. Hast du den Ehevertrag selber mal von einem Anwalt prüfen lassen?” Ich würde so einen Vertrag niemals unterschreiben. Schon gar nicht blind. Ich kann mir nicht mal vorstellen in zwei Jahren mit Joe eine Familie zu gründen. Ich will es mir nicht mal vorstellen. Ich will mir eine Zukunft mit Tai aufbauen. Ich wünsche mir, dass es noch irgendeine Chance für uns gibt und halte mich gerade an jeden Strohhalm. “Nein, meine Eltern haben ihn abgesegnet. Das hat mir gereicht.” Haben sie das? Einfach gesagt, okay, bekomme dann und dann Kinder und bekomme bloß Jungs, ist ok für uns. Wie Kaoris Kindheit wohl so war? Wahrscheinlich sehr strukturiert und wenig kindlich. So ganz anders wie meine.

“Wo leben deine Eltern?”

“Mittlerweile außerhalb der Stadt. Ich sehe sie aber regelmäßig.”

“Immerhin, das wird bei meinen Eltern schwer werden.” Dazu kommt, dass mein Vater wahrscheinlich nächstes Jahr ins Gefängnis geht und meine Mutter das Haus verlieren wird und ich sitze hier fest und kann ihnen nicht nicht mal helfen. Normalweise müsste ich jetzt stundenlang weinen, aber scheinbar stumpfe ich allmählich immer mehr ab, denn irgendwie macht mir all das immer weniger aus. Ich funktioniere, weil nur das von mir erwartet wird und ich nur so überleben kann. “Sicher, darfst du deine Eltern wieder in New York besuchen. Du kannst es ja in den Ehevertrag mit aufnehmen.”

“Ja, ich denke die Details werde ich dann mit Joe besprechen.” Wird sicher eine ganz spaßige Sache.

Nachdem ich das Essen irgendwie herunter gewürgt habe, bin ich erleichtert, als wir uns auf den Heimweg machen. Ich brauche jetzt ein warmes Bad, mein Tagebuch und will dann nur noch Tais Stimme hören. Morgen sehe ich ihn endlich wieder. Ich weiß gar nicht, wie ich mich dann zurückhalten soll. “Vielen Dank, Mimi. Ich fand den Tag heute wirklich schön. Es tut gut, wieder eine richtige Freundin zu haben. So etwas hatte ich lange nicht mehr.”

“Lass mich raten, seit zwei Jahren nicht mehr?” Kaori schüttelt nur verlegen ihren Kopf.

“Sogar noch länger her, wenn überhaupt.”

Unglaublich wie unsere angebliche Familie uns Frauen kontrolliert. Keine Arbeit, keine Freunde. Kinder bekommen und hübsch aussehen. Fertig. Mehr Inhalt bestimmt unser Leben nicht mehr. Tai, kannst du mich bitte ein letztes Mal retten und wenn du schon einmal dabei bist, Kaori vielleicht auch?

Kapitel 30

Mimi
 

Seufzend lege ich auf, nachdem ich eine Stunde lang mit meinen Eltern telefoniert habe. Ich habe dieses Gespräch so lange wie möglich hinausgezögert, zumindest so lange, bis meine Wunden verheilt waren. Vermutlich, weil es mir so leichter gefallen ist, sie anzulügen und so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.

Mama, Papa, ich habe mich einfach nur umentschieden, das ist alles. Natürlich haben sie mir kein Wort geglaubt, aber ich bin bei meiner Version geblieben: Joe hat mir seine Liebe gestanden und ich habe gemerkt, dass ich Gefühle für ihn entwickelt habe und wollte uns noch eine Chance geben – natürlich mit der Option, jederzeit doch noch die Verlobung zu lösen. Dass ich die nicht habe, habe ich ihnen verschwiegen.

Nachdenklich kaue ich auf meinem Kaugummi herum, während ich aus dem Fenster in meinem Zimmer starre. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich erst gar nicht mitbekomme, dass mein Handy erneut klingelt. Ich gehe davon aus, dass es mein Vater ist, weil ich ihn zuletzt gesprochen habe und hebe einfach ab.

„Daddy, ich hab dir doch schon gesagt, dass ich …“

„Daddy? Okay, etwas ungewohnt für mich, aber wenn du drauf stehst, bin ich gerne dein Daddy.“ Sein anzügliches Grinsen kann ich förmlich vor mir sehen.

Ich lache. „Hallo, Tai. Und nein, bitte sei nicht mein Daddy.“

Tai lacht ebenfalls, dann sagt er „Hallo, Prinzessin“ ins Telefon und sofort weitet sich mein Herz. Ich muss wieder seufzen, aber diesmal ist es ein angenehmes Seufzen.

„Es tut so gut, deine Stimme zu hören.“ Im Hintergrund höre ich ein Rauschen. „Fährst du gerade?“

„Ja, ich bin auf dem Weg zu euch und kann es kaum erwarten, dich zu sehen.“

Wie sehr er mir damit aus der Seele spricht. Ich gehe zum Bett und lasse mich darauf nieder.

„Geht mir genauso. Aber warum rufst du an, wenn wir uns gleich sehen?“

Kurz schweigt Tai, dann sagt er: „Ich wollte dich nur vorwarnen. Joe hat mich gebeten, den Vertrag für die Eheschließung aufzusetzen. Es ist derselbe, den Kaori und Jim haben. Er wird dich heute bitten, ihn zu unterschreiben. Und du wirst keine andere Wahl haben, als es zu tun.“

Ich schlucke schwer. Ich dachte, dafür hätte ich noch Zeit, aber offenbar hat Joe es eilig. Oder vielleicht war es sein Vater, der ihn dazu gedrängt hat.

„Hast du schon etwas rausgefunden?“, frage ich und kann den Funken Hoffnung nicht verbergen, der in meiner Stimme mitschwingt. Ich vertraue Tai. Er hat gesagt, er findet eine Lösung, aber ich weiß auch, dass uns so langsam die Zeit davon rennt. Zu blöd, dass ich den ganzen Tag mit albernen, unwichtigen Dingen beschäftigt bin und ihn nicht bei seiner Recherche unterstützen kann.

„Ich habe eine Spur, aber … sie ist bis jetzt nicht aussagekräftig. Es ist schwierig, an die Leichen eines mächtigen Mannes heran zu kommen. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er welche hat.“

Ich nicke stumm, auch wenn Tai es nicht sehen kann. Verdammt! Ob Joe vielleicht etwas wüsste? Vermutlich nicht und selbst wenn, er würde niemals seine Familie verraten.

„Ich würde gerne irgendetwas tun, um dir zu helfen. Vielleicht könnte ich mich bei Joe unbeliebt machen. Ich meine, so unbeliebt, dass er seinen Vater bittet, die Verlobung aufzulösen.“

Tai lacht, dabei habe ich das ernst gemeint.

„Das würde Joe niemals tun.“

„Wieso nicht? Er würde definitiv eine Bessere finden, eine, die richtig zu ihm passt und mit der er golfen und Schach spielen kann.“

„Ja, vermutlich hast du recht. Nein, du hast sogar ganz sicher recht. Aber er wird nicht von seinem Plan abweichen. Oder von dem seines Vaters. Da ist er durch und durch Kido, das würde er niemals machen, egal, wie sehr du ihn ärgerst.“

Ich schürze die Lippen. „Wollen wir doch mal sehen.“

„Mimi, ich bitte dich“, sagt Tai jedoch mit Nachdruck. „Verhalte dich einfach unauffällig, bis ich etwas gefunden habe. Der Professor hat dich eh schon im Visier.“

Ja, das weiß ich auch. Aber dennoch …

Ich würde das gerne mit Tai ausdiskutieren, aber da klopft es an meiner Tür. „Warte kurz“, sage ich zu Tai und stehe auf.

Als ich öffne, steht Joe vor mir. Ich schalte sofort. „Okay, Daddy, ich muss auflegen.“

„Oh ja, bin ich jetzt doch dein Daddy? Warst du ein ungezogenes Mäd- …“

Ich lege auf. Dieser Spinner.

„Hey, was gibt’s? Wir treffen uns doch gleich zum Frühstück.“

Joe sieht mich leicht verlegen an. „Ich wollte dir vorher noch etwas geben.“

Ich sehe auf seine Hände. In der einen hält er einen dicken Umschlag und in der anderen … „Sind das etwa Algen?“ Ungläubig zeige ich darauf und runzle dabei die Stirn, was Joe nur noch nervöser macht. Mit dem Handrücken schiebt er sich schnell die Brille zurecht, ehe er mir die schöne Verpackung mit den getrockneten Algen gibt. Ich glaube, ich habe noch nie so glamourös verpackte Algen gesehen. „Okay“, sage ich offen und ehrlich. „Ich bin verwirrt.“

„Das ist ein Geschenk“, sagt er schließlich. „Nachträglich zur Verlobung. Es symbolisiert Freude und Vergnügen, auch in zukünftigen Tagen.“

Ja. Klar. Freude und Vergnügen.

Das sind so ziemlich die letzten beiden Wörter, die mir unter diesem Dach in den Sinn kommen würden, aber gut.

„Das ist eine nette Geste, ich danke dir“, sage ich und verbeuge mich höflich. „Ich habe allerdings gar kein Geschenk für dich.“

„Das macht gar nichts. Du wusstest ja nicht, dass ich dir was schenke“, entgegnet Joe gelassen. Ob ich ihm einfach die Algen zurück schenken kann? Würde das auffallen?

„Und was ist das?“, frage ich nun neugierig, obwohl ich die Antwort schon kenne. Ich deute mit den Augen auf den Umschlag.

„Ach ja“, meint Joe, als hätte er es beinahe vergessen und drückt ihn mir in die Hand. „Unser Ehevertrag.“

Soeben habe ich beschlossen, mich dumm zu stellen. „Wir machen einen Ehevertrag? Vertraust du mir so wenig?“

Ja, er kann ruhig wissen, was ich davon halte.

„Darum geht es nicht“, schüttelt Joe den Kopf. „Alle Kido Familienmitglieder haben einen. Wir machen das so, um uns im Fall der Fälle selbst zu schützen.“

Pfft. Fast hätte ich gelacht. Und wer schützt uns? Mich und Kaori?

Ich kaue nachdenklich auf meinem Kaugummi herum, was Joe leicht irritiert, verschränke dann die Arme vor der Brust und sehe ihn prüfend an. „Ganz ehrlich, Joe, ich weiß nicht, ob ich das unterschreiben möchte.“

Irgendwie habe ich erwartet, dass ihn mein Widerstand mehr aus der Ruhe bringt, doch er hebt nur die Schultern. „Da wirst du keine Wahl haben. Kein Ehevertrag, keine Hochzeit.“

Ach! So einfach ist das?

Kurz stelle ich mir vor, wie ich den Vertrag vor seinen Augen in der Luft zerreiße und erhobenen Hauptes aus diesem Gefängnis raus marschiere. Aber dann rufe ich mir die Worte des Professors in den Sinn und überdenke meine bockige Art.

„Ich werde ihn mir durchlesen“, sage ich und Joe nickt.

„Tu das. Die Details besprechen wir gleich beim Frühstück.“

Ich schließe die Tür und lege die Algen auf meiner Kommode ab, ehe ich den Umschlag öffne. Es sind locker 50 Seiten. Wie krank ist das bitte?

Doch bevor ich ihn lese, rufe ich Tai an, der immer noch im Auto sitzt.

„Hi, meine Schöne. Ich dachte schon, du hast mich einfach weggedrückt, aber wahrscheinlich war nur die Verbindung schlecht.“ Ich höre ihn frech grinsen und verdrehe die Augen. „Hör auf, mich aufzuziehen, Joe war grad hier.“

Sofort wird Tai wieder ernst. „Lass mich raten: du sollst dir den Ehevertrag durchlesen.“

„Ist das zu fassen?“, beschwere ich mich und mache eine ausfallende Geste. „Wie können sie denken, dass ich das einfach so tue?“

Tai seufzt. „Du wirst keine Wahl habe.“ Genau die Worte, die Joe auch zu mir gesagt hat. Ich verziehe das Gesicht. „Ich hasse es.“

„Ich weiß“, sagt Tai einfühlsam. „Aber wenn es dich aufheitert, ich habe dir zu Liebe eine kleine extra Klausel mit eingefügt. Na ja, nur für den Fall, dass du doch … dass ihr doch …“

„Hör auf, so was darfst du nicht mal denken“, unterbreche ich ihn. „Du weißt, dass ich dich will. Ich will Joe nicht heiraten.“

„Ich weiß, Prinzessin. Aber wir sollten auf alles vorbereitet sein. Außerdem musst du mitspielen, momentan geht es nicht anders.“

Frustriert schnaube ich ins Telefon. „Und was ist das für eine Klausel?“

„Blättere mal auf Seite 28, Absatz 3, Punkt 10.“

Ich setze mich aufs Bett, lege den Vertrag auf meinen Schoß und tue, was er gesagt hat. Dann lese ich laut vor:
 

„Mimi Kido steht es zu, zwei Mal im Jahr einen beruflichen Auftrag als Visagistin für kleinere oder größere Filmprojekte anzunehmen. Für die Zeit der Abwesenheit verzichtet sie auf Ihr Recht allein Hausfrau und Mutter zu sein und darf sich ganz ihrem beruflichen Erfolg widmen. Joe Kido, ihr Ehemann, ist damit einverstanden.“
 

Mir stockt der Atem. „Tai … aber … wie hast du … wie geht das?“

„Glaub mir, es war nicht leicht, aber Joe hat meiner Idee zugestimmt, wenn du insgesamt nicht länger als 4 Wochen am Stück weg bist und deine Pflichten als Ehefrau und Mutter nicht vernachlässigst. Glaube, er lehnt sich für dich ziemlich weit aus dem Fenster.“

Wow. Ich bin sprachlos. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber Tai hat unrecht. Er war derjenige, der sich für mich weit aus dem Fenster gelehnt hat.

„Danke, Tai“, sage ich und könnte heulen. Das bedeutet mir unfassbar viel.

„Kein Problem. Ich hoffe ja immer noch, dass es nicht so weit kommt.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Ich auch.“

„Okay, wir sehen uns gleich, Prinzessin.“

Wir verabschieden uns und ich fange an, den Vertrag zu lesen. Kaori hat nicht untertrieben. Und dann kommt mir ein Gedanke und ehe ich es mir anders überlegen kann, gehe ich zu meinem Nachttisch, hole einen Stift und fange an auf dem fein säuberlichen Vordruck rum zu schreiben. Wollen wir doch mal sehen, was ich noch alles rausholen kann oder ob Joe mich dann nicht freiwillig in den Wind schießt.
 

Viel zu spät komme ich auf die Terrasse, wo Joe, Tai, Jim und Kaori bereits frühstücken. Erst bemerkt mich keiner, doch als Kaori ihren Kopf hebt und mich sieht, fällt ihr die Gabel aus der Hand.

„Mimi“, bringt sie nur heraus. Alle anderen unterbrechen ihre Gespräche und sehen mich ebenfalls an. Ich habe den langen Rock und die hochgeknöpfte Bluse gegen kurze Jeans Shorts und einem Shirt getauscht.

Gott, fühlt sich das gut an!

„Äh …“, ist alles, was Joe raus bekommt, während Jim und Kaori mich einfach nur schockiert anstarren, als hätte ich den Verstand verloren. Vielleicht habe ich das auch. Mein Blick geht zu Tai, der die Augenbrauen überrascht hochzieht, sich jedoch ein kleines Grinsen nicht verkneifen kann.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, entschuldige ich mich, verzichte aber auf die obligatorische Verbeugung und setze mich an den Tisch. Den Ehevertrag lege ich neben mir ab. „Es hat ein wenig länger gedauert, den Ehevertrag zu lesen und zu überarbeiten.“

„Zu … überarbeiten?“, fragt Joe irritiert nach. Kaori, die neben mir sitzt, sieht mich fassungslos an.

„Mehr oder weniger.“ Ich schlage mir den Teller mit Rührei voll und Toast und Obst, ich werde heute alles durcheinander essen, einfach so, weil ich Lust dazu habe. „Gibt’s hier Ketchup?“, frage ich und sehe mich suchend nach Ansgar um, der ein paar Meter entfernt von uns steht und schon sehnsüchtig auf neue Anweisungen wartet. „Ansgar, bringen Sie mir bitte eine Flasche Ketchup.“

Der hauseigene Diener der Kidos sieht mich unsicher an. „Es könnte sein, dass wir keinen im Haus haben, Miss Tachikawa.“

Ich winke ab. „Halb so wild, setzen Sie es auf die Einkaufsliste.“

Ansgar runzelt zwar die Stirn, nickt jedoch.

„Ähm, Mimi“, sagt Joe und beugt sich leicht über den Tisch. „Geht es dir gut?“

Ich nicke eifrig, während ich mir eine Unmenge an Rührei in den Mund schiebe. „Ging mir nie besser. Hier.“ Ich reiche ihm den Vertrag rüber. Joe nimmt ihn an sich und fängt sofort an zu stutzen, als er die ersten Seiten durchblättert.

„Du hast ziemlich viel durchgestrichen“, stellt er nüchtern fest und ich nicke wieder.

„Und noch was hinzugefügt“, entgegne ich.

„Hinzugefügt?“ Joe sieht zu mir auf, während Kaori neben mir Schnappatmung bekommt. „Mimi! Du hast den Ehevertrag geändert?“

Aus ihrem Mund klingt das wie ein Verbrechen. Jim legt sein Besteck klappernd nieder und lehnt sich zurück. „Großartig. Na, das wird unserem Vater ja gefallen.“

Ich funkle ihn über den Tisch hinweg an, kaue dann auf und schlucke das Essen runter, so wie meine Abneigung. Dann fokussiere ich mich wieder auf Joe. „Um ehrlich zu sein, sind die Änderungen nicht verhandelbar.“ Ich schaue ihn durchdringend an, damit er merkt, wie ernst es mir ist. Dann schenke ich ihm ein Lächeln. „Aber du darfst es dir gerne durchlesen.“ Na, wie fühlt sich das an, wenn jemand anderes plötzlich über dein Leben bestimmen will, Joe?

Unter dem Tisch berührt Tai meinen Knöchel mit dem Fuß. Er sieht mich an, als wolle er sagen „Was tut du da nur, Mimi?“

Aber ich lasse mich nicht beirren.

Joe beginnt ein paar Zeilen zu lesen, runzelt die Stirn, räuspert sich, blättert um, zieht eine Augenbraue in die Höhe, rückt seine Brille gerade, blättert wieder um …

Ich habe das Gefühl, dass gerade alle gespannt die Luft anhalten und darauf warten, dass er was sagt – außer mir, ich genieße in aller Seelenruhe mein Frühstück.

Plötzlich lacht Joe ganz trocken. „Absatz 23, Punkt 5: Meiner Ehefrau Mimi steht es zu, sich innerhalb unseres Heims frei zu bewegen. Es ist ihr gestattet, die Kleidung zu tragen, die sie mag und in der sie sich wohl fühlt. Bei allen öffentlichen Veranstaltungen gilt natürlich weiterhin die klassische Kleiderordnung.“ Er sieht zu mir auf. „Was dein heutiges Outfit erklären würde.“

Ich zucke belanglos mit den Schultern und schiebe mir eine Erdbeere in den Mund. „Keine Sorge, heute Abend auf dem Ball zeige ich mich wieder von meiner besten Seite.“

Joe nickt zwar, aber ich habe keine Ahnung, ob er mir damit signalisieren möchte, dass er einverstanden ist oder dass er es lediglich zur Kenntnis genommen hat. Er blättert um und liest weiter, dann hebt er überrascht die Augenbrauen. „Du willst deinen Namen behalten?“

„Was? Das geht nicht“, entrüstet sich Jim sofort und sieht ziemlich angefressen aus. „Alle Frauen, die in die Familie einheiraten, nehmen den Namen Kido an.“

„Mache ich auch“, sage ich und lehne mich entspannt zurück. „Es soll ein Doppelname werden: Tachikawa-Kido.“

Kaori muss einen großen Schluck Wasser trinken, um das zu verdauen, wohingegen Joe immer noch recht entspannt aussieht.

„Joe! Das kannst du ihr nicht erlauben, Vater wird …“

„Ich allein bestimme, was ich meiner Ehefrau zugestehe“, fällt ihm Joe bestimmend ins Wort und kurz muss ich mir doch glatt eingestehen, dass ich so viel Rückgrat nicht von ihm erwartet hätte. Tai sitzt die ganze Zeit angespannt neben mir und sagt kein Wort. Wie gerne würde ich jetzt einfach seine Hand halten.

„Gut, wie du meinst“, knirscht Jim zwar mit den Zähnen, aber gibt sich fürs Erste geschlagen. Ich glaube, er würde mir jetzt liebend gern den Hals umdrehen.

„Und was ist das?“, fragt Joe irritiert und hält das Blatt näher an sein Gesicht, als würde er nicht richtig lesen. „Du bist mit der Kinderklausel nicht einverstanden?“

Ich nicke. Hat er ernsthaft gedacht, ich mache mich zur Zuchtstute? „Ich finde diesen Punkt äußerst übergriffig“, sage ich ehrlich. „Nach zwei Jahren das erste Kind, dann nach weiteren drei das zweite Kind und falls es nur Mädchen werden, noch ein drittes, mit der Option auf einen Jungen? Ernsthaft? Wieso gehen wir nicht gleich ins Labor und lassen uns ein Baby ranzüchten?“

Joe sieht mich fragend an, als würde er nicht verstehen, worauf ich hinaus will. „Aber was ist daran so verkehrt? Es ist gut, eine Vorstellung zu haben, was die Kinderplanung angeht.“

Ich nicke. „Da stimme ich dir zu. Aber meine Kinderplanung sieht so aus: ich bekomme ein Kind, Punkt. Genau eins. Nicht zwei und auch nicht drei. Und es ist mir egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Ich bin selbst Einzelkind und verstehe nicht, was falsch daran sein soll.“

„Aber sagtest du nicht …?“, fragt Joe irritiert nach und ich weiß genau, worauf er anspielt.

„Dass ich fünf Kinder haben möchte? Ja. Das war gelogen.“

„Wie so manches“, zischt Jim verächtlich, aber ich beachte ihn gar nicht. Kaori sieht mich nur mit großen Augen an, als könne sie es nicht fassen, was sich hier gerade abspielt und als Joe dann auch noch nickt, kippt sie beinahe vom Stuhl.

„In Ordnung“, lenkt Joe endlich ein. „Ein Kind reicht mir auch völlig. Aber über einen Punkt müssen wir noch sprechen“, verkündet Joe schließlich, als er die restlichen Anmerkungen überflogen hat. „Das Begleichen der Schulden von deinem Vater.“

Wusste ich doch, dass er bei diesem Punkt nicht so einfach zustimmen wird, das hatte ich erwartet. Aber da ich allein durch die Heirat nicht an Joes Vermögen ran komme, verpflichte ich ihn mit dieser Klausel dazu, zumindest die Schulden meines Vaters zu begleichen, sobald wir verheiratet sind.

„Von wie viel Geld sprechen wir?“

„Joe, ernsthaft, das kannst du nicht …“, versucht Jim es erneut, doch Joe hebt nur die Hand als Zeichen, dass er sich raushalten soll.

„Genau weiß ich das noch nicht, weil inzwischen einige Anklagepunkte dazu gekommen sind. Aber die Summe der Schulden wird auf 15 Millionen Dollar geschätzt.“

Kaori verschluckt sich an ihrem Wasser, während Jim zu wüten anfängt. „Du kleines Biest“, schimpft er auf mich ein. „Wieso sollte Joe den Kopf dafür hinhalten?“

„Er muss nicht den Kopf dafür hinhalten, nur sein Geld“, erwidere ich selbstsicher. Und wenn es ihm nicht passt, steht es ihm frei, die Verlobung aufzulösen. Natürlich wäre ich am Boden zerstört, aber was soll man machen?

„Jim, Liebling, beruhige dich bitte“, versucht Kaori ihren Ehemann zu beschwichtigen, doch der ist bereits von seinem Stuhl aufgesprungen. „Diesen Schwachsinn höre ich mir nicht länger an“, sagt er und wirft seine Serviette auf den Tisch. „Kaori, wir gehen. Joe, lass dich weiter von diesem Gör an der Nase rum führen, aber am Ende sammelst du die Scherben allein auf.“

Kaori, ganz die brave Ehefrau, steht auf, entschuldigt sich mit einer tiefen Verbeugung und eilt ihrem Mann nach.

„Jim hat recht, Mimi“, sagt Joe schließlich. „Deine Forderungen sind ziemlich hoch.“

Ich lehne mich nach vorne und lege die Arme überkreuzt auf dem Tisch ab. „Das ist mir bewusst, aber wie ich schon sagte – nicht verhandelbar.“ Dann wiederhole ich Joes Worte von vorhin und schlage ihn mit seinen eigenen Waffen.

„Kein Ehevertrag …“

„Keine Hochzeit“, beendet er meinen Satz. Dann lacht er kopfschüttelnd und überreicht den Vertrag an Tai. „Überarbeite das in Mimis Sinn.“

Völlig entgeistert starre ich ihn an, als er sich von seinem Platz erhebt. „Wie? Echt jetzt?“

„Offensichtlich habe ich keine Wahl“, entgegnet Joe ruhig. Wow, der ist ja heute so gar nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich hatte mir ein wenig mehr Drama erhofft. Das war fast schon zu leicht.

Tai nickt und meint, dass er den endgültigen Vertrag in ein paar Tagen überarbeitet hat und zusätzlich noch von einem Anwalt auf seine Richtigkeit prüfen lassen wird, ehe wir ihn zum Unterschreiben zurück erhalten. Joe verbeugt sich und ich starre ihm hinterher, als er sich auf den Weg in sein Büro macht.

„Ich kann das grad nicht glauben“, sage ich immer noch fassungslos, woraufhin Tai zischt. „Ich auch nicht. Was hast du dir nur dabei gedacht?“

Ich grinse ihn schief an. „Wieso? Es ist doch ganz gut gelaufen für mich.“

Tai massiert sich seufzend die Schläfe. „Ist das deine Auffassung von: verhalte dich unauffällig?“

Ich zucke mit den Schultern und beginne zu kichern, weil ich das eben eindeutig als einen Erfolg verbuche.

„Hör auf, zu lachen“, ermahnt mich Tai plötzlich viel zu streng. „Meinst du allen Ernstes, ein Kido würde dafür keine Gegenleistung verlangen? Er hat es nicht direkt gesagt, aber so läuft das in dieser Familie. Hier kriegst du nichts aus reiner Nettigkeit geschenkt.“

Ich starre ihn an. Lasse seine Worte kurz auf mich wirken. Plötzlich fühle ich mich schlecht.

„Ich will doch nur …“, flüstert Tai und greift unter dem Tisch nach meiner Hand. „Ich will nur, dass dir nichts passiert. Lehne dich bei dieser Familie nicht zu weit aus dem Fenster, Mimi.“

Ach, Tai. Ich versuche die Tränen zu unterdrücken, weil ich inzwischen gar nicht mehr weiß, was ich ohne ihn machen sollte. Seine warmen Augen ruhen auf meinen und es fühlt sich irgendwie magisch an. Als hätten wir eine Verbindung, die niemand spüren kann, außer uns. So muss es sich anfühlen, wenn man sein Herz an eine einzige Person verliert. Ich würde mich immer wieder für dich entscheiden, Tai. Ich würde mich immer wieder in dich verlieben.
 

Noch ganz in Gedanken versunken, bemerken wir gar nicht, wie Frau Kido auf die Terrasse zu uns kommt.

Sie bleibt für einen kurzen Moment stehen und sieht uns an. Tai wendet sich sofort von mir ab und lässt meine Hand unter dem Tisch los. Ich hasse es, dass wir uns vor anderen so distanzieren müssen.

„Tai, mein Lieber, ich bräuchte da deine Hilfe mit einigen Akten. Wärst du so lieb und würdest kurz rein kommen?“

Tai springt sofort von seinem Stuhl auf und klemmt sich den Vertrag unter den Arm. „Natürlich.“

Er verabschiedet sich nicht mal von mir, nur, um den Schein zu wahren. Die Euphorie meines Erfolges von eben ist schlagartig verschwunden, denn das alles ist einfach nichts wert, wenn ich Tai nicht an meiner Seite haben kann. Wenn er noch nicht voll und ganz zu mir gehört.
 

Am Abend mache ich mich für die Wohltätigkeitsgala fertig. Ich dusche und ziehe mein mintgrünes Kleid an, lege Make Up auf und mache mir mit einem Lockenstab ein paar Locken in die Haare. Dann flechte ich mir an der Seite einen lockeren Zopf und binde ihn hinten in einer eleganten Frisur mit ein.

Einige sanfte Wellen lasse ich noch nach vorne fallen, damit der Look für mich perfekt ist. Zufrieden lächle ich in den Spiegel. Ich hoffe, dass es Tai gefällt.

Als ich das Bad verlasse, werfe ich einen Blick auf die Uhr und stelle fest, dass ich noch etwas Zeit habe. Also verzichte ich darauf, jetzt schon High Heels anzuziehen und nehme stattdessen mein Tagebuch, um mich auf die Fensterbank zu setzen. Definitiv mein Lieblingsplatz in diesem Haus. Ich ziehe die Beine an und lege das aufgeschlagene Buch darauf, um zu schreiben. Ich muss gar nicht lang überlegen, die Wörter sprudeln nur so aus mir heraus. Ich schreibe ein kurzes Gedicht und seufze verliebt, als ich fertig bin. Für mich ist das immer noch die beste Art, um meine vielen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ich lächle glücklich, als es an meiner Tür klopft.

„Ist offen“, rufe ich und keine Sekunde später betritt Tai den Raum. Überrascht drehe ich den Kopf in seine Richtung. „Tai?“

„Hallo, Prinzessin“, begrüßt er mich, nachdem er die Tür geschlossen hat. Für einen Moment starre ich ihn einfach nur an. Er sieht umwerfend aus. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd. Seine Haare sind wild wie immer, aber seine ganze Erscheinung zieht mich in seinen Bann. Wie kann dieser Mann nur so unverschämt attraktiv sein?

„Joe hat mich gebeten, dich abzuholen. Seine Eltern sind schon mal vorgefahren“, sagt er und kommt auf mich zu. „Aber ich denke, wir haben noch fünf Minuten für uns.“

Ich strahle ihn an, weil ich über jede Minute, in der ich mit ihm alleine sein kann, dankbar bin. Dann klopfe ich vor mich auf die Fensterbank.

„Setz dich zu mir, ich will dir etwas vorlesen.“

Tai folgt meiner Bitte und setzt sich mir gegenüber, zieht ein Bein an, um seinen Arm darauf abzustützen, das andere lässt er auf dem Boden stehen. Neugierig sieht er mich an. „Aus deinem Tagebuch?“

Ich nicke. „Jep. Ich möchte, dass du es hörst.“

Tai hebt die Hand und kreuzt Zeige- und Mittelfinger miteinander, während er die Augen zusammenpresst. „Bitte einen Sex-Traum, bitte einen Sex-Traum.“

Ich lache laut auf und schlage ihm gegen den Oberarm. „Sei nicht albern! Das war nur ein mal.“

„Zu schade“, entgegnet er schmollend, grinst dann jedoch erwartungsvoll. „Okay, ich bin bereit.“

Lächelnd schüttle ich den Kopf, ehe ich Luft hole und ihm meine Zeilen vorlese …

Something about you

Do you feel the way I do?

There's magic in the room

Tell me, do you feel it too?

Tell me, what we gonna do?

Are you feeling the rush?

If so, then I think I know what's going on

And are we falling in love?

Say yes or no

Yes or no

Yes or no

Are you thinking 'bout us?

If so, then I think I know what's going on

And are we falling in love?

Say yes or no

Yes or no

Yes or no“
 

Als ich fertig bin, sehe ich zu Tai auf, der die ganze Zeit still war und mir zugehört hat. Unverwandt sieht er mich an, während ich mit den Schultern zucke. „Es ist nur ein kurzes Gedicht“, sage ich. Im nächsten Moment macht Tai eine schnelle Bewegung und beugt sich zu mir nach vorne. Er legt die Hand in meinen Nacken, zieht mich zu sich und küsst mich. Der Kuss kommt so unerwartet, dass ich kurz wie erstarrt bin, doch dann schlinge ich beide Arme um seinen Hals und erwidere seinen hungrigen Kuss. Das Tagebuch rutscht mir vom Schoß und fällt dumpf zu Boden.

Tai löst sich schwer atmend von meinen Lippen und presst seine Stirn gegen meine, während seine Hand immer noch in meinem Nacken liegt.

„Ja! Tausend mal Ja! Ich würde immer Ja zu dir sagen. Zu uns. Und ja, ich fühle das, was du fühlst und manchmal macht es mir verdammt viel Angst“, flüstert er an meinen Lippen, so sanft, so ruhig. Ich nicke stumm, weil ich weiß, was er meint. Mir geht es genauso. „Es macht mir Angst, dass ich mich so sehr in dich verliebt habe. Das bedeutet, dass du die einzige Person bist, die mir wirklich weh tun kann.“ Nun öffnet er die Augen und sucht meinen Blick. „Und trotzdem, ja, ich würde dir mein Herz immer wieder schenken, Mimi. Ich würde mich immer wieder in dich verlieben. Ich bin dir hoffnungslos und unwiderruflich verfallen.“

Bei diesen Worten schlägt mir das Herz bis zum Hals und ich habe das Gefühl, dass jegliche Luft aus meinen Lungen verschwunden ist. Tai legt erneut seine Lippen auf meine und für einen winzigen Moment erlauben wir uns, uns in diesem Kuss zu verlieren. Einfach alles andere auszublenden. Zu vergessen, wo wir sind. Es ist unfassbar, dass er solche Gefühle in mir auslöst, mein Herz zum Stolpern bringt und mir eine Gänsehaut beschert, wenn er mich nur ansieht.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in ihn verlieben würde, aber es ist geschehen und es gibt kein Zurück mehr. Tai ist alles, was ich will. Alles, was ich brauche.

Als wir uns endgültig voneinander lösen und ich ihn ansehe, seine warmen Augen, seine weichen Lippen, muss ich lächeln.

„Ich könnte die ganze Nacht mit dir hier auf dieser Fensterbank sitzen und dich küssen“, gestehe ich, woraufhin Tai’s Mundwinkel in die Höhe wandern. „Glaub mir, Prinzessin, das könnte ich auch. Und noch so viel mehr.“ Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem verschmitzten Grinsen und mir wird augenblicklich heiß.

Herr Gott, was würde ich dafür geben, um diese Nacht mit ihm zu verbringen?

„Wir müssen los“, sagt Tai jedoch plötzlich und jegliche Romantik schwindet dahin, vor allem, wenn ich daran denke, gleich Joes Vater auf dem Ball gegenüber zu treten.

Tai, der meine ernsten Gedanken wohl bemerkt hat, greift nach meiner Hand. Die andere Hand legt er an meine Wange. „Hey, Mimi, ich weiß, das wird heute Abend schwer für dich. Aber du schaffst das, du bist stark. Und ich schwöre, dass ich dich keine Sekunde aus den Augen lassen werde. Auch wenn ich nicht immer an deiner Seite sein kann, kannst du dir sicher sein, dass ich auf dich aufpassen werde. Haruiko wird dir nicht mehr zu nahe kommen, das verspreche ich dir.“

Ich nicke dankbar und hebe Tai’s Hand an meine Lippen. „Ich bin so froh, dass du heute Abend bei mir bist.“

Tai lächelt. „Ich werde immer bei dir sein.“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 32

Mimi
 

Ich sehe in Kari’s angespanntes Gesicht. Sie sitzt mir in der Limousine gegenüber, den Blick starr auf mich gerichtet. Nachdem Tai sich überlegt hat, wie wir am besten verkaufen, dass ich die ganze Nacht lang weg war und erst am frühen Morgen in meinem Ballkleid nach Hause komme, kam er auf die Idee, mich zu Kari zu bringen. Von dort aus habe ich dann den Chauffeur angerufen und mich abholen lassen. So kann ich glaubhaft behaupten, ich wäre nach dem Ball noch bei Kari gewesen und dort eingeschlafen. Und, dass sie mich, gezwungenermaßen, jetzt nach Hause begleitet, unterstreicht meine Geschichte noch mal.

Trotzdem. Lust hatte sie dazu keine. Was man ihr ansieht.

„Das ist unangenehm“, sage ich zu ihr und meine damit nicht nur die Tatsache, dass sie weiß, dass ich mit ihrem Bruder geschlafen habe. Sondern vor allem diese Situation jetzt. „Du starrst mich an wie ein Jäger, der gleich ein Kaninchen erlegt.“

Ich glaube, sie holt gleich ihr Gewehr raus. Kari holt tief Luft und schnaubt geräuschvoll. Mir wäre es lieber, sie würde mich anschreien. Tut sie aber nicht.

„Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“

Ich senke den Kopf und fummle peinlich berührt am Stoff meines Kleides herum. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das etwas Dummes getan hat und nun Ärger bekommt.

„Mimi! Wenn das rauskommt! Ihr seid tot – beide!“

„Möglich …“, sage ich kleinlaut. „Aber …“

„Bitte“, unterbricht Kari mich und hebt die Hand. „Sprich es nicht aus. Sag nicht, dass ihr euch liebt, denn wir wissen alle, dass das nicht sein darf. Mimi, ernsthaft, es gibt einen Grund, warum Kaori damals die Beziehung zu Tai sofort aufgegeben hat: weil die Konsequenzen noch schlimmer wären, als eine arrangierte Ehe auszuschlagen.“

Verdammt. Sie hat schon irgendwie recht, mit dem, was sie sagt. Trotzdem bereue ich nicht eine einzige Minute. Soll sie mich doch dafür verurteilen. Und Joe. Und alle anderen Kidos. Soll mich doch die ganze Welt verurteilen, es interessiert mich nicht! Diese Nacht war … magisch. Und ich bereue keine einzige Sekunde davon, keinen einzigen Kuss, keine einzige Berührung. Im Gegenteil, ich wünschte mir, wir könnten das wiederholen.

Ich erröte bei der Erinnerung an letzte Nacht, was Kari wohl bemerkt.

„Gott, du bist ja ganz liebestrunken.“

Ich schaue zur Decke. „Was würdest du denn an meiner Stelle tun?“

„Ich?“, fragt Kari und ich erwarte schon die nächste Standpauke. „Ich würde wahrscheinlich ganz genau das Gleiche machen wie du.“

Nun schaue ich sie überrascht an. „Aber du sagtest doch eben …“

„Dass ihr beide tot seid, wenn das raus kommt, richtig. Wir wissen, dass das unvernünftig von euch war. Aber … wenn ich in deiner Haut wäre …“ Sie überlegt einen Moment, als müsste sie noch mal kurz in sich gehen, ehe sie einen endgültigen Entschluss fasst. „Doch. Wenn es Takeru wäre … ich könnte mich unmöglich von ihm fernhalten. Das würde gar nicht gehen.“

Ihre Offenheit überrascht mich. Damit habe ich nicht gerechnet.

„Ich bin froh, dass du das verstehst“, sage ich und sie lacht gequält auf.

„Natürlich verstehe ich dich, Mimi. Ich verstehe euch beide. Ihr habt anscheinend wirklich so etwas wie eine Verbindung zueinander und das habe ich von Anfang an gespürt. Aber das heißt nicht, dass es nicht furchtbar dumm war, sich direkt ins Feuer zu stürzen.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe, während wir die Einfahrt zum Kido Anwesen hoch fahren. Es ist längst hell, 8.15 Uhr, und in der Villa herrscht vermutlich reges Treiben. Ich kann nur hoffen, dass der Herr des Hauses mich nicht sofort empfängt.

Kari hat recht – wir haben uns direkt ins Feuer gestürzt. Wenn wir uns jetzt daran verbrennen, ist es unsere eigene Schuld. Aber das war’s wert.

„Er bedeutet mir unfassbar viel, Kari“, sage ich, weil ich das unbedingt noch loswerden muss, bevor ich aussteige. „Ich habe noch nie so für einen Mann empfunden, wie für Taichi.“

„Du meinst, du warst noch nie verliebt?“ Kari zieht eine Augenbraue in die Höhe, während die Limousine zum Stehen kommt. Ich schaue aus dem Fenster und sehe bereits Ansgar auf uns zu kommen.

„Doch, ich war schon mal verliebt. Aber mit Tai ist es anders. Es ist … intensiver. Es fühlt sich besonders an.“

Als ich mich wieder zu Kari drehe, sehe ich sie überraschenderweise lächeln. „Ich weiß, was du meinst. Bitte seid trotzdem vorsichtig. Ich will mir nicht ausmalen, was passiert, wenn Joe davon erfährt.“

Ich nicke. Will ich mir auch nicht ausmalen. „Tut mir leid, dass wir dich da mit reingezogenen haben.“

Sie rollt mit den Augen, grinst aber gleichzeitig, als Ansgar die Tür öffnet. „Miss Tachikawa, wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet.“

Natürlich. Was sonst? Ich steige aus und sehe, wie Haruiko durch den Eingangsbereich geht. Er ist also zu Hause. Schnell beuge ich mich noch mal zu Kari.

„Hey, Kari, wenn du schon mal hier bist … hast du nicht Lust, mit mir zu frühstücken? Joe hat ja heute leider keine Zeit, um mir Gesellschaft zu leisten.“ Zum Glück willigt Kari sofort ein und ich atme erleichtert auf. Gerade habe ich wirklich keine Lust, mit diesen Menschen alleine zu sein. Ich müsste zwar eigentlich eine Mütze Schlaf nachholen, aber das kann ich auch noch später machen.
 

Tai
 

Unfassbar, dass ich gerade ernsthaft in einem Café sitze und immer noch wach bin. Ich trinke gerade meinen dritten Espresso, um mich irgendwie auf den Beinen zu halten. Inzwischen ist es nach 15.00 Uhr und ich hatte nach der letzten Nacht noch keine Gelegenheit, ein Auge zu zu tun.

Die letzte Nacht …

Gott, das war unglaublich. Ich hätte nie gedacht, dass Mimi und ich in jeder Hinsicht perfekt zueinander passen. Wenn ich daran denke, wie sich ihr nackter Körper an meinen geschmiegt hat, kribbelt es in meinem Bauch. Ich spüre noch immer ihre Lippen auf meiner Haut, die jeden Quadratzentimeter meines Körpers erkundet haben. Ich habe es noch nie so sehr genossen, mit einer Frau zu schlafen, wie mit Mimi. Wir können wild sein und ich kann sie zum Schreien bringen, aber wir können auch zärtlich sein und uns einfach stundenlang lieben, als gäbe es nur uns beide auf der Welt. Als hätte sonst nichts mehr eine Bedeutung. Wie sehr wünsche ich mir diese gemeinsamen Stunden mit ihr zurück.

Umso mehr hoffe ich, dass ich heute endlich erfolgreich bin.

Für Mimi. Für uns.

Ich greife mir fahrig ins Haar und überfliege noch mal die Daten, die ich mühsam zusammengetragen habe.

Es gibt eine Frau, 49 Jahre alt, sie heißt Ayaka Yano, ist nicht verheiratet, hat ein Kind und war früher als Dienstmädchen im Hause Kido angestellt.

Um genau zu sein, vor 17 Jahren. Ich halte gerade ihren Lebenslauf in den Händen, den ich zum Teil aus alten Akten, aber zum Teil auch selbst recherchiert habe. Im Prinzip ist nichts Merkwürdiges oder Auffälliges daran. Sie hat mit 18 die Schule beendet und dann direkt bei den Kidos als Hausmädchen angefangen. Eine Ausbildung oder ein Studium hat sie nicht gemacht. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, hat ihre Mutter bereits bei den Kidos als Köchin gearbeitet, weshalb sie dort schon einen Fuß in der Tür hatte.

Ich verstehe zwar nicht so ganz, warum sie sich nicht die Mühe gemacht und eine Ausbildung angefangen hat, aber ich weiß auch, dass die Kidos nicht unbedingt schlechtes Geld zahlen. Sie hatte sicher einen guten Verdient, der ihr zum Leben reichte.

Ihre Mutter hörte nach zwei Jahren auf, dort zu arbeiten, während sie selbst insgesamt 14 Jahre dort angestellt war. Das ist eine lange Zeit.

Dann hat sie von heute auf morgen gekündigt und in einem Hotel angefangen. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Was mich jedoch stutzen ließ, ist die Tatsache, dass sie kurz nach ihrer Kündigung bei den Kidos ein Haus kaufte. Ich habe ihre Adresse gegoogelt und mir ihr Haus bei Google Maps angesehen, sie wohnt dort immer noch. Es ist eine wunderschöne Villa, viel zu groß für eine alleinstehende Frau und ihr Kind und vor allem viel zu teuer. Wie, um alles in der Welt, konnte sie sich das leisten? Glücksspiel? Erbe? Oder steckt da mehr dahinter? Eventuell Schweigegeld?

Sie hat genau zu dem Zeitpunkt gekündigt, zu dem auch das ganze andere Personal ausgetauscht wurde. Zufall?

Ich denke nicht.

Ich habe Frau Yano eine E-Mail geschrieben und sie hat eingewilligt, sich persönlich mit mir zu treffen. Ich bin sehr gespannt, was sie mir erzählen wird und kann es kaum abwarten. Ich hoffe so sehr, dass das endlich eine Spur ist.

Als hinter mir die Ladentür aufgeht, tritt gleich darauf eine Frau an meinen Tisch. Ich habe ihr gesagt, dass ich eine blaue Jacke trage und braune Haare habe und offenbar bin ich der Einzige, der hier so aussieht.

„Sind Sie Taichi?“

Ich sehe zu ihr auf. Sie trägt einen Hut und eine Sonnenbrille, schwarze Kleidung. Himmel, kommt sie gerade von einer Beerdigung?

„Frau Yano? Ja, ich bin Taichi Yagami. Bitte, setzen Sie sich doch.“ Die Frau nimmt mir gegenüber Platz, sieht sich dabei mehrmals nach allen Seiten um. Ich stutze ein wenig. „Werden Sie verfolgt?“

„Das kann man nie wissen“, sagt sie geheimnisvoll und ich fange an zu denken, dass sie vermutlich einen Knall hat. Vielleicht ist sie paranoid. „Und bitte, nennen Sie mich Ayaka.“ Jetzt nimmt sie endlich ihre Sonnenbrille ab und zwei dunkelbraune Augen, um die sich schon einige Fältchen gebildet haben, schauen mich an.

„Sie sind ziemlich mutig, dass sie sich mit mir in der Öffentlichkeit treffen wollten. Haben Sie denn gar keine Angst?“, fragt sie.

Angst? Wieso sollte ich Angst haben?

„Ich dachte, Sie würden niemals kommen, wenn ich Ihnen vorschlage, sich mit mir in einer dunklen, verlassenen Gasse zu treffen.“

Sie lacht trocken auf. „Glauben Sie mir, eine dunkle, verlassene Gasse wäre mir gerade lieber.“ Danach winkt sie den Kellner zu sich und bestellt einen grünen Tee.

Diese Frau ist mehr als nur merkwürdig. Oder ist sie einfach nur verängstigt?

„Warum haben Sie zugestimmt, sich mit mir zu treffen, wenn Sie solche Angst haben?“, hake ich nach. Sie sieht mich ziemlich ausdruckslos an, aber irgendwie auch fast so, als wäre ich derjenige, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Versteht sie meine Frage nicht?

„Ich wollte Sie warnen.“

„Mich warnen? Wovor?“

„Sie spielen mit dem Feuer, mein Lieber.“

Mit dem Feuer? Meint sie Haruiko Kido? Weiß sie, dass es um ihn geht?

Ihr Tee wird gebracht und sie beginnt, ihn sorgfältig umzurühren, während sie mich über den Tisch hinweg mit ihren Blicken durchbohrt.

„Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie es zu tun haben? Sie arbeiten doch auch für die Familie Kido, so wie ich das verstanden habe, oder?“ Ich nicke kurz. „Dann wissen Sie doch vermutlich auch, dass Dr. Kido seine eigenen Leute hat, die ihm Informationen zutragen, nicht? In welcher Position arbeiten Sie für ihn?“

Halt, Moment. Ich dachte, ich stelle hier die Fragen. „Ich arbeite eigentlich gar nicht speziell für ihn, sondern für seinen jüngsten Sohn, Joe Kido. Er ist ein enger Freund von mir.“

„So?“ Erstaunen legt sich auf ihr Gesicht. „Der kleine Joe? Ich kann mich noch gut an ihn erinnern. Er war immer so ein lieber, stiller Junge. Ich habe gehört, er ist auch Arzt geworden, wie sein Vater. Und genauso wie Jim, sein älterer Bruder. Den konnte ich hingegen noch nie leiden. Er war immer so arrogant und von oben herab mit den Leuten.“

Innerlich muss ich grinsen. Da haben wir doch tatsächlich was gemeinsam.

„Erzählen Sie mir von sich, Ayaka? Wie kam es, dass sie damals bei den Kidos aufgehört haben als Dienstmädchen zu arbeiten? Ich habe Ihren Lebenslauf aus alten Akten herausgesucht. Sie haben lange da gearbeitet und dann plötzlich nicht mehr.“

Sie rührt ihren Tee um und nimmt einen Schluck davon. „Ich gebe keine Informationen preis“, sagt sie und setzt die Tasse wieder ab.

„Warum sind Sie dann gekommen?“

„Um Sie zu warnen, das sagte ich doch schon.“

„Das hätten sie auch am Telefon oder per Mail machen können. Aber Sie sind hier. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mir was mitzuteilen haben.“

Sie wendet den Blick ab und sieht aus dem Fenster. „Meine persönlichen Interessen gehen Sie nichts an. Ich handle in eigener Sache. Es gibt da jemanden, den ich beschützen muss und für den es besser ist, keine Fragen zu stellen.“

Ich falte die Hände auf dem Tisch und sehe sie eindringlich an. „Geht mir genauso. Auch ich möchte jemanden beschützen. Daher brauche ich Ihre Hilfe.“

Jetzt sieht sie mich interessiert an. „Sie möchten jemanden beschützen?“

Ich nicke. „Meine Freundin. Sie …“ Ich überlege, wie viel ich ihr anvertrauen kann, entscheide mich jedoch dann gegen die ganze Wahrheit. „Sie bedeutet mir sehr viel und sie hat Ärger mit den Kidos.“

Ihre Mundwinkel zucken belustigt, als hätte ich einen Witz gemacht. „Dann sollte sie so schnell wie möglich das Land verlassen. Alaska soll um diese Jahreszeit sehr schön sein.“

Alaska. Will sie mich verarschen? Sie verschwendet meine Zeit.

„Bitte helfen Sie mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie nichts wissen“, flehe ich sie förmlich an. „Alle anderen, die ich kontaktiert habe, haben sich nicht zurückgemeldet oder gesagt, ich solle sie in Ruhe lassen.“

Ayaka schüttelt den Kopf und verdreht dabei die Augen. „Das wundert mich gar nicht.“ Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Tee, während sie mich über ihre Tasse hinweg ansieht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mehr weiß als sie zugibt. Vielleicht muss ich in die Offensive gehen. „Haben Sie ihr großes Haus von Ihrem Schweigegeld gekauft?“

„Ich habe kein Schweigegeld bekommen“, antwortet sie in aller Seelenruhe. Also, entweder ist sie eine verdammt gute Lügnerin oder ich tappe hier wirklich im Dunkeln. Allerdings hat mich mein Gefühl noch nie betrogen. Diese Frau weiß was, da bin ich mir ganz sicher.

„Woher haben Sie dann das Geld gehabt, um sich so ein prunkvolles Anwesen leisten zu können?“, bohre ich weiter.

„Ich habe geerbt.“

„Haben Sie nicht, ich kenne Ihren Stammbaum. Niemand aus Ihrer Familie war jemals reich.“

„Dann haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht“, meint Ayaka zwar anerkennend, tut aber gleichzeitig auch nichts, um Ihre Lüge zu vertuschen.

„Was ist mit den anderen Mitarbeitern? Haben die Schweigegeld bekommen? Wieso hat die ganze Belegschaft vor 17 Jahren gekündigt?“ Mein Blick ruht verbissen auf ihr, als wäre sie eine Nuss, die ich knacken müsste. Eine verdammt harte Nuss. Aber diese Frau lässt sich einfach nicht in die Karten gucken.

„Sie stellen zu viele Fragen, Taichi Yagami. Glauben Sie mir, das wird nicht gut ausgehen“, sagt sie schließlich und zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Ich weiß nicht, welchen Ärger Ihre Freundin mit den Kidos hat, aber Sie tun ihr einen Gefallen, wenn Sie nicht weiter bohren. Und mir würden Sie auch einen tun.“

Sie trinkt den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse und zieht dann ein paar Scheine aus ihrer Handtasche, um sie auf den Tisch zu legen. Sie will gehen. Ich beiße die Zähne zusammen. „Ich bin nicht hier, um Ihnen einen Gefallen zu tun.“

Sie steht auf, tritt neben den Tisch und sieht von oben auf mich herab. „Dann tue ich Ihnen jetzt einen. Ich sage Ihnen nur so viel: Sie öffnen die Büchse der Pandora, wenn sie weiter im Dreck wühlen. Hören Sie auf Fragen zu stellen und lassen Sie die Vergangenheit ruhen. So ist es für alle das Beste.“

Ich öffne den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ich habe keine Chance. Ayaka verlässt das Café genauso schnell wie sie gekommen ist und lässt mich unwissend zurück.

„Verdammt“, fluche ich und beiße mir in die Faust, um nicht auszuflippen. Wieso habe ich das Gefühl, dass ich ganz nah an der Wahrheit dran war und jetzt doch wieder mit leeren Händen zu Mimi zurückkehren muss?

Wenn Ayaka nichts sagt, dann wird es niemand tun.

Verflucht, dieser Mann kann doch nicht so erhaben sein. Niemand ist unantastbar, auch ein Dr. Kido nicht.
 

Mimi
 

Dieser Tag nimmt einfach kein Ende. Nachdem ich mit Kari gefrühstückt hatte, wollte ich mich eigentlich hinlegen und den fehlenden Schlaf nachholen, aber Frau Kido hat mich gleich nach dem Essen zu sich zitiert. Ausgerechnet heute kam sie auf die Idee, mich an ihrem Tagesablauf teilhaben zu lassen, da das ja außerordentlich wichtig ist. Sie hat mich damit so überfallen, dass ich unmöglich nein sagen konnte. Und um ehrlich zu sein, hat es mich schon länger interessiert, was sie den ganzen Tag so treibt. Als ich es jedoch erfahren habe, wünschte ich mir, ich hätte es nicht gewusst. Sie sagt, diese Aufgaben sind äußerst wichtig für die ganze Familie und dass ohne ihre Planung und Organisation hier gar nichts läuft. Sobald ich verheiratet bin wird mein Leben ähnlich aussehen. Joe und ich werden zwar nicht so ein großes Anwesen haben, aber es wird meine Aufgabe sein, mich um alles zu kümmern.

Und wenn ich alles sage, dann meine ich auch ALLES.

Frau Kido ist Personalmanagerin, Planerin, Innenarchitektin … alles, was Haus und Hof betrifft organisiert sie. Wo welches Bild hängt, wie oft die Bettlaken gewechselt werden, welche Feste gefeiert werden, wann das Personal kommt und geht.

Es ist sterbenslangweilig.

Nachdem ich ihr den ganzen Tag über bei ihrer „Arbeit“ über die Schulter sehen musste, ist es inzwischen Abend geworden und wir sind zum amüsanteren Teil übergegangen – dachte ich. Zu guter Letzt wollte sie mich in die Familienrezepte einweihen, also stehen wir seit zwei Stunden in der Küche und kochen allerhand Kram, den ich nicht kenne. Ich stelle mich furchtbar dämlich an, versuche jedoch, es mir nicht anmerken zu lassen.

„Du musst es in dünne Scheiben schneiden, Kindchen“, erklärt sie mir zum wiederholten Male, während ich dabei bin Gemüse zu schneiden. Auf meiner Stirn glitzern Schweißperlen.

„So?“, sage ich und versuche, sie mit meiner Arbeit zufrieden zu stellen, doch sie schenkt mir nur ein gequältes Lächeln.

„Vielleicht muss ich erst mal mit den Rezepten vertraut werden, bevor ich mich ans Kochen wage“, sage ich und schiele in den Topf neben mir, aus dem Dampf aufsteigt. Diese Brühe da drin hat irgendwie eine ziemlich ungesunde Farbe, ich weiß nicht, ob das so sein muss. Riecht auch ein bisschen komisch.

„Hat dir deine Mutter nie das Kochen beigebracht?“, fragt sie neugierig und es klingt beinahe wie ein Vorwurf. Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich hatte … ähm, andere Interessen.“ Jungs, zum Beispiel.

„Aha“, macht sie und kostet die Brühe, die seit einer Stunde auf dem Herd köchelt. Sie verzieht das Gesicht. „Nun ja, dafür kannst du gut tanzen. Wir kriegen das schon noch hin. Es ist Tradition, dass die Ehefrau während der jährlichen Feiertage das Kochen übernimmt.“

Feiertage. Oh Gott, wie viele Feiertage gibt es wohl in Japan? Wahrscheinlich eher nicht so viele.

„Das kriege ich schon hin“, sage ich total optimistisch. Sonst wird halt bei Mc Donalds bestellt.

Ansgar steckt den Kopf zur Tür rein. „Mrs. Kido, es tut mir leid, wenn ich Sie stören muss, aber da ist ein dringender Anruf für Sie.“

Ja! Meine Rettung!

„Das macht gar nichts“, erwidert Frau Kido und wischt sich ihre Hände an einem Küchentuch ab. „Wir sind für heute fertig.“ Oh, dem Himmel sei Dank!

„Mimi, wir machen morgen weiter. Für heute ist es genug. Du hast dich wacker geschlagen.“ Ich grinse unsicher, ehe sie den Raum verlässt und ich seufzend in mich zusammensacke, als auch schon die nächste Person die Küche betritt – oder besser gesagt, sind es zwei Personen. Tai und Joe.

Oh mein Gott.

Verdammt. Ich werde sofort rot, als Tais und mein Blick sich kreuzen. Bilder von letzter Nacht schießen mir in den Kopf, aber ich versuche, sie schleunigst zu verdrängen.

„Mimi“, sagt Joe und kommt um die Arbeitsplatte herum, um neugierig in den Topf zu gucken. „Ich habe gehört, du und meine Mutter hatten einen aufregenden Tag.“

„Kann man so sagen.“

Tai bleibt gegenüber von der Kochinsel stehen und hält Sicherheitsabstand zu mir. Er schafft es tatsächlich mich anzusehen, als hätten wir nicht die ganze Nacht lang Sex gehabt. Man, wie macht er das nur?

„Darf ich mal kosten?“, fragt Joe und nimmt sich bereits einen Löffel, um die Brühe zu probieren, verzieht jedoch das Gesicht genauso wie seine Mutter eben. „Wow, da ist eine Menge Salz dran. Warst du verliebt beim Kochen?“

Ich fange an zu kichern, als wäre der Witz lustig gewesen und als ich zu Tai sehe, zucken auch seine Mundwinkel belustigt.

„Ich muss wohl noch ein wenig üben“, gestehe ich. Joe klopft mir auf die Schulter, als wäre ich ein alter Kumpel. „Mach dir nichts draus. Das lernst du noch.“

Ich schenke ihm ein genervtes Grinsen, während sein Pieper losgeht. Sofort greift er danach und sieht darauf. „Sag nicht, du musst wieder die ganze Nacht lang weg“, sage ich.

Ich wäre ja untröstlich.

Aber Joe schüttelt den Kopf. „Nein, ich denke nicht, dass es so lange dauern wird. Aber ich muss definitiv hin. Tut mir leid. Morgen frühstücken wir wieder gemeinsam, versprochen.“ Er beugt sich nach vorne und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Am liebsten hätte ich die Hand genommen und ihn mir weggewischt, da ist er schon zur Tür raus. Irgendwie tut es mir leid, dass er absolut keine Ahnung hat, was hier abgeht.

„Zum Glück hat er dich nicht vor meinen Augen auf den Mund geküsst“, sagt Tai und sieht mich ernst an. Es muss schwer für ihn sein, mit anzusehen, wie einer seiner besten Freunde dabei ist, sich in die Frau zu verlieben, die er liebt. Das verstehe ich. Und ich werde es so gut es geht vermeiden, dass Joe mich noch mal vor Tai küsst.

Trotzdem seufze ich. „Ich fühle mich mies, weil wir Joe nichts sagen können.“ Ich habe bewusst nicht das Wort „betrügen“ benutzt, da Kaori mir ja schon gesagt hat, dass dieses Haus Augen und Ohren hat.

Tai steht auf und geht zur Tür, um sie zu schließen. Er will mit mir allein sein. Sofort flammt das Feuer in mir auf, was wir letzte Nacht entfacht haben. So ist es immer, wenn wir alleine in einem Raum sind. Es knistert. Vor allem, wenn er mich mit diesem Blick und diesem Grinsen mustert.

„Ich weiß, was du meinst“, sagt er jedoch nur und kommt dann um die Kochinsel zu mir herum. „Und du kannst also nicht kochen, ja?“

„Nope“, sage ich und werfe das Messer endgültig hin. Ich gebe auf.

Tai schielt in den Topf rein. „Was sollte das denn werden?“

„Ramen?“

Jetzt zieht er die Augenbrauen zusammen und sieht mich extrem verwirrt an. „Ramen? Einfache Ramen?“

Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, was am Ende dabei rauskommen sollte. Ich habe schließlich nur Anweisungen befolgt.

„Oh man, mach mal Platz da“, höre ich ihn rausposaunen und sogleich schiebt er mich zur Seite.

„Hey! Denkst du etwa, du kannst es besser?“

Tais Lippen verziehen sich zu einem triumphierenden Grinsen. „Setz dich, sieh zu und lerne.“

Kopfschüttelnd lache ich und gehe auf die andere Seite der Kochinsel, um mich zu setzen und ihm dabei zuzusehen, was er da tut. Ich muss zugeben, ich bin erstaunt. Tai schneidet das Gemüse und setzt eine neue Brühe auf und ich muss gestehen, je länger ich ihm dabei zu sehe, umso mehr frage ich mich, was dieser Typ eigentlich nicht kann.

„Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst“, meine ich nach einer Weile, während er ganz konzentriert bei der Arbeit ist.

„Oh, Mimi Tachikawa, ich habe viele Talente“, tönt er grinsend, was mich zum Schmunzeln bringt.

„Allerdings. Hast du heute was erreichen können?“ Wieder wähle ich meine Worte mit Bedacht, falls uns jemand abhört. Vorhin hat er mir geschrieben, er hätte sich mit einem ehemaligen Dienstmädchen der Kidos getroffen und ich brenne darauf, zu erfahren, was sie ihm erzählt hat.

„Nicht so viel wie ich wollte. Es ist … kompliziert“, gesteht er mir und ich sehe die Anspannung in seinem Gesicht. Verflucht. Warum ist das nur so schwierig? Die Zeit rennt und rennt und wir haben immer noch nichts gegen Haruiko Kido in der Hand.

„Willst du mal probieren?“, reißt mich Tai nun aus meinen ernsten Gedanken. Ich nicke und komme zu ihm herum. Tai hält mir einen Löffel mit Brühe hin und ich schlürfe ein bisschen davon. Dann verdrehe ich verträumt die Augen. „Oh Gott, du hast nicht untertrieben. Das schmeckt ja fantastisch. Woher kannst du so gut kochen, Tai?“

Er freut sich offenbar über mein Kompliment, denn er lächelt zufrieden. „Meine Mutter hat es mir beigebracht. Ist nicht schlecht, oder?“

„Nicht schlecht?“, meine ich und reiße ihm den Löffel aus der Hand, um gleich noch mal zu probieren. „Ich würde sterben dafür.“

Ich höre Tais Lachen und es geht mir direkt unter die Haut und erwärmt mein Herz. Warum kann es nicht einfach immer so sein? So unbeschwert, so leicht? Das wünsche ich mir von ganzem Herzen.

„Du solltest das wirklich üben, Mimi. Jeder Japaner kann Ramen kochen“, merkt Tai an und es erinnert mich sofort an Frau Kido. Keine Ahnung, warum hier jeder Wert auf so was legt? Ich kann immerhin ganz super toll Tiefkühlpizza aufwärmen.

„Was soll ich sagen? Ich kann nun mal nicht kochen und ich will es auch gar nicht können. Meine Qualitäten liegen definitiv woanders.“

„Das weiß ich inzwischen auch.“ Tai grinst mich anzüglich an und tritt hinter mich. Plötzlich liegen seine Hände auf meinen Schultern und fahren langsam meine Arme hinunter, was mir eine Gänsehaut beschert. Nun legt er eine Hand an meine Hüfte, mit der anderen streicht er mein Haar zur Seite. Er haucht mir einen Kuss in die Halsbeuge. Ich schließe die Augen, beinahe hätte ich aufgestöhnt.

„Tai“, flüstere ich, während er mich weiter küsst. „Nicht hier. Es kann sein, dass hier Kameras sind.“

„Hier sind keine“, antwortet er leise und ich spüre, wie seine Hand langsam nach vorne zu meinem Hosenbund wandert. „Die Küche ist einer der wenigen Räume im Haus, die nicht unter Beobachtung stehen.“

Puh, okay. Es hat also auch seine Vorteile, wenn man die Kidos seit Jahren kennt und für sie arbeitet. Er öffnet den Knopf meiner Hose und ich spüre, wie mein Puls erwartungsvoll in die Höhe schießt und sich ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch ausbreitet. Genüsslich schließe ich die Augen, als er meinen Nacken weiter mit Küssen übersäht und seine Hand in meinen Slip gleiten lässt.

„Und wenn die Küche stattdessen verwanzt ist? Wir könnten abgehört werden“, flüstere ich und versuche einen Seufzer zu unterdrücken, als er anfängt seine Finger in meinem Slip kreisen zu lassen. Seine Lippen berühren sanft mein Ohr und knabbern daran, ehe er wispert: „Dann musst du wohl ganz leise sein.“

Mimi
 

Mein Wecker klingelt und ich bin wirklich mehr als müde. Dennoch kann ich nicht anders, als mit einem fetten Grinsen im Gesicht aufzuwachen. Tai, der Typ ist echt nicht von dieser Welt. Da hat er mich doch allen ernstes in der Küche der Kidos verführt. Mit hochrotem Kopf denke ich an die letzten 48 Stunden zurück. Gestern bin ich viel zu fertig gewesen und nur noch ins Bett gefallen. Jetzt strecke ich mich durch und blicke auf mein Tagebuch. Oh, du wirst dich wundern. Ich verlasse mein Bett, nehme meinen Lieblingsstift und setze mich mit meinem Tagebuch auf die Fensterbank. Wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages eine Biografie schreiben, denn dann sind meine Tagebucheinträge Goldwert.

Als ich fertig bin, gehe ich duschen und mache mich fertig für den Tag. In meinen Klamotten fühle ich mich gleich wohler. Da ich weiß, dass Haruiko immer um acht Uhr die Villa verlässt, gehe ich vorher auch nicht runter. Mich wundert es ehrlich gesagt, dass er mich noch nicht auf den veränderten Ehevertrag angesprochen hat. So eine Gelegenheit lässt er sich doch sonst nicht entgehen, aber ich beschwere mich nicht. Vielleicht ist das auch nur die bekannte Ruhe vor dem Sturm.

Gleich erwartet mich wieder mein alltägliches Frühstück mit Joe. Yeah. Frau Kido erwartet mich heute ebenfalls wieder und ich will am liebsten nur weglaufen, denn die Lektionen mit ihr sind mit Abstand die langweiligsten.

Mit einem rosanen Faltenrock und einem weißen T-Shirt betrete ich die Dachterrasse. Joe mustert mein heutiges Outfit. “Du hast wohl nichts längeres”, stellt er amüsiert fest.

“Stört es dich?”

“Nicht im geringsten.” Er beugt sich zu mir und will mich tatsächlich mit einem Kuss begrüßen. Oh nein, wird das jetzt immer so laufen? Er trifft meine Wange und ich bin froh, dass Tai gerade nicht da ist, obwohl ich ihn vermisse und mich frage, ob ich ihn heute sehen werde. “Dann ist es ja gut”, lächle ich ihn an und begutachte, den reichlich gedeckten Tisch. “Hast du heute wieder einen so vollen Tag?”

“Ja, leider. Aber dafür werde ich immer alles tun, um gemeinsam mit dir zu frühstücken. Tatsächlich etwas was ich vorher nicht getan habe.”

“Bist du immer nüchtern ins Krankenhaus gefahren?”, erkundige ich mich, lege auf mein Graubrot eine Scheibe Käse und drapiere zum Schluss Gurken und Tomatenscheiben darauf. Lecker.

“Na ja, eine Tasse Kaffee intus und dann meist direkt los.”

“Wow, dass ist aber nicht sehr gesund, werter Herr Doktor.”

Joe lächelt und nickt mit dem Kopf. “Wohl wahr und tatsächlich tut es mir auch wirklich gut. Wirst du heute wieder mit meiner Mutter den Tag verbringen?”

“Ja, ich habe wohl noch ein wenig Nachholbedarf.”

“Ich finde es toll, dass du dir soviel Mühe gibst.”

“Na ja, jede Japanerin beziehungsweise jeder Japaner sollte Ramen kochen können.” Tais Worte, nicht meine. Nachdem ich mein Käsebrot aufgegessen habe, genehmige ich mir noch eine Schüssel Müsli mit leckeren Früchten.

“Ja, ich habe mich Mal daran versucht, aber eigentlich durfte ich nie wirklich beim Kochen oder Backen helfen. Mein Vater hat uns nicht mal erlaubt, als Kinder die Küche zu betreten.”

“Was? Warum das denn nicht?”

“Für ihn ist es Frauenarbeit und Männer haben nichts in der Küche zu suchen.” Haruiko, du Faschist. Wie kann man nur so Frauenverachtend sein? Zum Glück, hat er nie ein Mädchen gekriegt. “Und wie siehst du das? Welche Werte würdest du deinen Kindern vermitteln wollen?”

“Meine Kinder sollen tun, was immer sie wollen. Wenn mein Sohn backen möchte, soll er backen und wenn meine Tochter Fußball spielen will, dann soll sie dies tun.” Ich lächle und freue mich über diese Antwort. Irgendwie ist Joe so ganz anders, wie der Rest der Kido Männer. “Wie kommt es, dass du so anders bist, wie Jim?” Jim ist durch und durch wie sein Vater.

“Na ja, ich glaube, ich hatte Glück, der Zweitgeborere zu sein. Dadurch hatte ich nicht soviel Druck wie Jim und ich hatte früher ein sehr liebes Kindermädchen, sie hieß Ayaka Yano und hat immer heimlich mit mir gebacken. Meine Mutter hat sich, glaube ich, auch darüber gefreut. Sie hat zumindest nie etwas Gegenteiliges gesagt. Na ja, mehr wie Muffins kam zwar ohnehin nie dabei heraus, aber immerhin.” Ach Joe, du verdienst eigentlich eine ganz liebe Frau an deiner Seite, die dich so nimmt und sieht, wie du bist. Es macht mich traurig, dass er glaubt, dass ich diese Frau sein könnte, obwohl ich es besser weiß. Ob es zu viel verlangt ist, danach noch mit ihm befreundet zu sein?

“Ich finde das wirklich super, Joe.” Ich lächle ihn aufrichtig an und Joe erwidert es.

“Mimi, wie ich sehe, bist du ja schon da. Oh, störe ich?”

“Alles gut, Mutter, ich muss ohnehin gleich los.”

“Sehr gut, Mimi und ich haben heute noch viel vor.” Ich lächle Frau Kido an und kann es natürlich kaum erwarten. “Ja, super.”

“Vielleicht bin ich ja sogar am späten Nachmittag zurück und kann euch ein wenig zusehen.” Das wäre doch ne großartige Belohnung, nach so einem tollen Tag und würde das Ganze etwas auflockern. Zwar wäre mir eine andere Person deutlich lieber, da ich aber nicht so offen nach Tai fragen kann, muss ich einfach darauf hoffen, ihn nachher zu sehen.
 

Joe verabschiedet sich und ich folge Frau Kido in die Villa. Wir setzen uns auf die Couch und Frau Kido hält ein Bambusstrauch in die Höhe. Muss ich das verstehen?

“Ich dachte, ich erkläre dir erst nochmal was über die Japanischen Feiertage. Denn immerhin steht in sechs Tagen eines an.”

Oh, es steht bald ein Feiertag an? Verdammt. Es ist Sommer, was feiert man denn da? “Ja, ich freue mich schon richtig auf das Fest. Eins der besten”, lüge ich. Sie wird absolut verzweifeln, wenn sie merkt, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie redet. “Ich habe mir schon gedacht, dass das eins deiner Lieblingsfeste ist. So geht es doch den meisten Frauen”, schwärmt Frau Kido. Ist Valentinstag hier vielleicht nicht im Februar, sondern im Juli? Muss ich nachher unbedingt googlen. “Ja, ich liebe es.” Übertreib nicht so, Mimi. Du weißt ja nicht mal, um welchen Feiertag es sich handelt und wenn Frau Kido diesbezüglich jetzt irgendwas fragt, fliege ich gleich auf.

“Welchen Kimono möchtest du dann anziehen?”

Einen Kimono zieht man da also an, interessant. “Äh, ja also ich glaube den Rosanen." Ich habe ja einige mit Tai zusammen gekauft, aber wusste nie wofür. Welchen er wohl am schönsten davon fand? Wie er mich in so typischer Festkleidung überhaupt finden wird oder ist er gar der Meinung, dass mir so etwas gar nicht steht? “Mit dem Blumenmuster? Ja, der ist perfekt. Kannst du den Obi binden?”

Ich schüttle den Kopf. Nein, absolut keinen Plan. “Habe ich mir gedacht. Magst du mal deinen Kimono holen, dann üben wir das zusammen. Auch die Frisur müssen wir besprechen und wie du dich darin bewegst. Es muss alles ganz anmutig und graziös sein. Am Anfang kann das eine ganz schöne Herausforderung sein.”

“Ja klar, ich hole ihn.” Sofort eile ich in mein Zimmer zurück und rufe direkt Tai an.

“Na Prinzessin, vermisst du mich schon?”, begrüßt er mich und macht alleine durch seine Begrüßung am Smartphone meinen Tag soviel besser.

“Ich vermisse dich immer, aber der Grund meines Anrufs ist ein Notfall.”

“Ein Notfall? Was ist passiert?”, fragt Tai gleich mit angespannter Stimme nach. Ups, das Wort Notfall sorgt natürlich gleich dafür, dass er sich Sorgen macht.

“Also nicht so ein Notfall. Hier ist doch bald irgendein Feiertag. Kannst du mir sagen, was hier gefeiert wird? Ich soll nämlich meinen Kimono holen”, erkläre ich ihm. “Ach meine Schöne, du bist so süß. In sechs Tagen ist Tanabata.”

“Tanabata? Noch nie gehört.”

“Wirklich nicht? Dabei muss dieses Fest genau dein Ding sein.”

“Sowas in der Art hat Frau Kido schon erwähnt. Ich habe mir natürlich nichts anmerken lassen und gesagt, wie sehr ich mich auf das Fest freue.” Ich bin gerade dabei, meinen rosanen Kimono aus meinem Kleiderschrank herauszuholen, als Tai mir das Fest Tanabata erklärt. “Tanabata bedeutet siebte Nacht und bezieht sich auf eine uralte Legende von zwei voneinander getrennten Liebenden, die sich nur einmal im Jahr treffen dürfen.” Sofort setze ich mich mit meinem Kimono auf die Fensterbank und schaue nach draußen. “Das klingt schön und traurig zugleich. Warum dürfen die sich denn nur einmal im Jahr sehen?”

“Na ja, nach der Legende wurde die fleißige Himmelsweberin von ihrem Vater, dem Himmelskaiser, mit dem Hirten Hikoboshi verheiratet …”

“Ach was? Eine arrangierte Ehe?” Ich bekomme fast Gänsehaut. Sowas scheint hier wirklich ganz normal zu sein. Immer schon. “Ja, nur die Beiden waren tatsächlich total verliebt ineinander und zwar so sehr, dass die Beiden ihrer Arbeit nicht mehr nachgingen …”

“Na ja, kann ich irgendwie verstehen.”

Ich bin auch ständig unkonzentriert, weil ich die ganze Zeit nur an Tai denke und mich frage, was er gerade macht und wann ich ihn wiedersehen werde. Total verrückt. “Und der Himmelsvater war darüber so wütend, dass er seine eigene Tochter Orihimi und Hikoboshi auf die jeweils andere Seite des Himmelsflusses, besser bekannt als Milchstraße, verbannte.”

Ich schlucke einen Kloß im Hals herunter. Wie kann man nur so grausam sein und sowas seinem eigenen Kind antun? Haruiko ist bei ihm bestimmt in die Lehre gegangen. “Das ist total gemein, was soll das denn für ein Himmelsvater sein? Der spinnt doch.” Ich rege mich immer noch total auf, als Tai versucht, mich zu beruhigen. “Es ist nur eine Legende, Prinzessin.” Für mich aber nicht. Für mich fühlt sich das alles unglaublich real an. “Und wie ging es dann mit den Beiden weiter?” Das kann doch nicht das Ende ihrer Liebe gewesen sein. Nein, das darf einfach nicht sein. “Na ja, die Liebenden waren so unglücklich und der Liebeskummer so groß, dass sie ihre Arbeit trotz allem nicht wieder aufgenommen haben.”

“Verständlich, richtigen Liebeskummer hält man ja auch kaum aus und dann?” Ich halte fast die Luft an, weil ich wirklich auf ein Happy End hoffe.

“Dann hat sich der Himmelsvater auf einen Kompromiss eingelassen, er gestatte den Liebenden, dass sie sich einmal im Jahr treffen dürfen. In der siebten Nacht des siebten Neumondes. Am Himmel werden sie verkörpert als die Sterne Wega und Altair, weil die Sterne zu dieser Zeit des Jahres am nächsten sind.”

“Einmal im Jahr? Und mehr haben sie nicht bekommen?” Wie traurig. Ich stelle mir gerade vor, ob ich mit so einem Kompromiss leben könnte. Zwar mit Joe verheiratet zu werden, aber einmal im Jahr mit Tai zusammen zu sein, mich meiner Gefühle für ihn ganz hinzugeben und sonst das ganze Jahr auf ihn zu verzichten.

Ein Jahr, immer wieder auf ihn warten.

Ein Jahr, ihn jeden Tag vermissen.

Ein Jahr jeden Tag die Tage zählen, wann ich ihn endlich wiedersehe.

Nur für diesen einen Tag des Jahres zu leben. Jahr für Jahr.

“Ich würde auch auf dich warten. Ich würde für diesen einen Tag im Jahr mit dir alles geben.” Ich schaue aus dem Fenster, halte das Smartphone nah an mein Ohr und wünsche mir, Tai wäre jetzt bei mir. Ich höre Tai schwer atmen, aber schließlich antwortet er: “Ich auch. Aber nachdem wir eine Nacht zusammen hatten, weiß ich, dass es mir definitiv zu wenig ist und genau deshalb werde ich auch alles dafür tun, dass du frei kommst. Weißt du …”

“Was ist los, Tai?” Irgendwas gefällt mir gerade, an seiner Tonart nicht.

“Es tut mir so leid.” Ich verstehe nicht ganz, was er meint. “Was meinst du?”

“Na ja, als die Wahrheit raus gekommen ist, wollten die Kidos dich rauswerfen und nur wegen meiner blöden Idee ist alles anders gekommen. Ich wünschte, ich hätte das nie vorgeschlagen. Dann wäre jetzt alles anders.”

“Nein, mach das nicht, Tai. Du irrst dich. Glaubst du wirklich, dass Haruiko sich dann weniger gerächt hätte? Er hätte mich nicht einfach so ziehen lassen. Er hätte mir auch dann das Leben zur Hölle gemacht. Nur dass ich dann nicht mal hätte meinen Vater aus der Untersuchungshaft holen können. Also mach dich deswegen nie wieder fertig, hörst du?” Ich bekomme keine Antwort und das gefällt mir nicht. Schließlich räuspert er sich und er spricht wieder mit mir. “Hast ja Recht. Du kannst erst wirklich frei sein, wenn wir ihn stürzen und das wird mir auch gelingen.”

“Danke, dass du das machst. Ich wünschte, ich könnte dir mehr helfen.”

“Du machst doch schon, was du kannst, du hältst durch.”

“Immerhin darf ich dich noch fast jeden Tag sehen.” Tai lacht, wie gut das tut.

“Sei lieber froh, dass du gerade eine Pause vor mir hast, sonst wärst du längst fällig.” Ich kichere und werde prompt rot im Gesicht. Ich hätte absolut nichts dagegen.

“Können wir bitte zusammen auf das Fest gehen?”

“Na klar. Immerhin weiß ich genau, was ich dieses Jahr auf meinen Zettel schreibe.”

“Zettel?”, frage ich neugierig nach.

“Ja, in der japanischen Tanabata Tradition heißt es, dass Wünsche die man an diesem besonderen Tag auf einen Zettel schreibt und an den Bambusstrauch hängt, in Erfüllung gehen. Deswegen ist es hier quasi das Fest der Verliebten.” Ah, deshalb hatte Frau Kido eben einen Bambusstrauch in der Hand. “Ich freue mich richtig auf das Fest.” Oh man, ich weiß auch ganz genau was ich mir wünsche. Werden die Götter dafür sorgen, dass er in Erfüllung geht?

“Danke für die Erklärung. Du, sag mal, welchen Kimono fandest du denn am schönsten?”

“Alle waren schön.”

“Jetzt sag schon. Ich habe den rosanen Kimono genommen.”

“Eine gute Wahl. Angenehmer Stoff, schönes Blumenmuster. Passt damit perfekt zu Tanabata und zu dir.”

Ich betrachte meinen Kimono und freue mich jetzt tatsächlich darauf, ihn gleich anzulegen und etwas neues zu lernen.

“Dann ist meine Wahl ja richtig.”

“Du wirst wunderschön darin aussehen, aber das tust du ja eh immer.” Ich werde gleich wieder rot um die Nase. Am liebsten würde ich jetzt noch Stundenlang mit Tai telefonieren, mit ihm verliere ich jedes Zeitgefühl und nur der Moment zählt. Es ist so heftig, weil ich so etwas noch nie erlebt habe und immer der festen Überzeugung war, dass es so etwas auch gar nichts gibt. Frau Kido wartet auf mich, daher muss ich mich dummerweise verabschieden. “Ich muss jetzt leider weitermachen. Wann sehen wir uns wieder?”

“Wahrscheinlich erst morgen, ich habe hier noch ziemlich viel zu tun, aber rufe mich heute Abend wieder an und berichte, wie es gelaufen ist.”

“Mach ich. Bis später.”
 

Wieder unten angekommen wartet Frau Kido bereits auf mich. Auch sie hat bereits einen Kimono angezogen. Sie trägt einen hellblauen mit weißen Fischen drauf. Neben ihr ist eine Kleiderstange mit verschieden weißen Kleidern drauf. Oh Gott, muss ich jetzt noch ein Brautkleid aussuchen? “Ich kann den Kimono inzwischen im Schlaf anziehen. Komm her, zeig mir mal dein Prachtexemplar.” Ich halte mir meinen vor meiner Brust.

“Wirklich schön. Bevor wir dir aber den Kimono anziehen, müssen wir erstmal das passende Unterkleid finden.”

“Unterkleid?”

“Natürlich, mein Kind. Du würdest niemals diese festliche Garderobe direkt über deiner Unterwäsche anziehen.”

“Okay.” Das wusste ich bisher nicht. Beim anprobieren habe ich auch immer direkt den Kimono selbst angezogen.

“Die erste Schicht, ist der sogenannte Hadajuban.” Frau Kido zeigt mir ein schlichtes weißes Kleid. Der Stoff ist ganz dünn und leicht. “Der Stoff ist aus Seide und sehr atmungsaktiv. Daher ist es nicht schlimm, wenn du mal schwitzt.” Ich fühle über das Kleid, es fühlt sich sehr bequem an. Ich ziehe mich bis auf meine Unterwäsche aus und hoffe wirklich, dass niemand der Angestellten jetzt ins Wohnzimmer kommt. Ich ziehe mir das Unterkleid über und es geht mir tatsächlich bis zu den Knöcheln.

“Puh, da habe ich gleich die richtige Größe für dich herausgesucht. Als nächstes kommt der Kragen, wir sagen auch: Eri-sugata dazu.”

“Man zieht einen speziellen Kragen an?”

“Natürlich, das ist sehr wichtig. Man trägt den Kragen um den Hals herum und sorgt somit für den perfekten Halt. Es darf schließlich nichts verrutschen.”

“Es sorgt eher dafür, dass meine Oberweite jetzt viel flacher aussieht.”

“Genau. Push-BHs oder selbst Bügel-BHs sind nicht gestattet. Es empfiehlt sich eher ein Sport BH drunter zu ziehen. Ich trage immer einen speziellen Kimono BH.”

“Okay.” Finde ich zwar ein bisschen schade, aber wenn das die Tradition ist, werde ich dies selbstverständlich beherzigen. Frau Kido legt mir den Kragen um den Hals, bindet diesen einmal um meinen Rücken und befestigt ihn vorne wieder. Meine Güte, wie werde ich das alles jemals alleine hinbekommen?

“Du machst es mir nicht leicht”, sagt Frau Kido und zieht ihre Stirn kraus, als sie meinen Körper mustert.

“Was mache ich falsch?”

“Nein, das meine ich nicht. Du hast einfach viel zu viele Kurven. Ein Kimono wird aber immer ganz flach und gerade getragen.”

Bisher waren meine Kurven nie ein Problem. Im Gegenteil, sie haben mir mein Leben deutlich leichter gemacht. “Ach, das müssen wir einfach ein wenig auspolstern.” Okay, ich wusste gar nicht, dass es beim Tragen so viele Punkte zu beachten gibt.

“So sollte nichts mehr verrutschen. Perfekt. Jetzt können wir dir den Kimono anziehen.”

Ich fühle mich eher, als hätte jemand meine Brust mit Kreppband abgeklebt. Total seltsam. Aber dieses Fest will ich auf jeden Fall feiern. Also binde ich eben meinen Busen ab. Tai weiß auch so, wie ich darunter aussehe. Bei dem Gedanken daran, wird mir doch glatt wieder heiß und ich fühle, wie mir die Röte ins Gesicht schießt. “Alles okay?”

“Äh klar, nur wirklich anstrengend mit den ganzen Schichten.” Frau Kido kommt gerade mit dem grünen Obi an und ich bin froh, dass wir schon so weit gekommen sind. So viele Schichten, so viele Schärpen. Wahnsinn. “Ja, das kann einen am Anfang wirklich einschüchtern. Aber Übung macht bekanntlich den Meister und wie findest du es?” Frau Kido tritt zur Seite und ich sehe mich im Spiegel an. Ich trage das erste Mal einen Kimono in meinem Leben und zwar genauso wie es sich gehört. Und auch wenn das festliche Gewand zwar nicht meine Kurven zeigt, so sieht es dennoch wahnsinnig schön an mir aus. “Es sieht wunderschön aus.”

“Dann fehlen nur noch die passenden Schuhe. Geta Schuhe sind Schuhe aus Holz, die bei jedem Schritt klackern, aber ein ganz festes Ritual in unserer Familie sind.” Solche Schuhe habe ich noch nie getragen. Wie man darin wohl geht?

“Alle unsere Schuhe sind Einzelstücke. Wir haben eine Manufaktur die extra alle anpasst und herstellt. Heute sollst du deine eigenen Geta Schuhe bekommen.”

“Ihr habt Schuhe für mich hergestellt?”, frage ich ungläubig nach.

“Aber selbstverständlich. Du gehörst doch zur Familie.” Ich lächle, fühle mich jedoch schlecht. Frau Kido dreht sich von mir weg und holt aus einem Schuhkarton die Geta Schuhe heraus. “Ich habe sie zusammen mit Kaori entworfen. Ich hoffe, sie gefallen dir.” Mein Herz fühlt sich ganz schwer an und ich fühle mich schlecht. Frau Kido ist so nett zu mir und ich, ich will doch nur weg von hier. “Mimi, du machst meinen Sohn wirklich sehr glücklich. Dafür danke ich dir.” Super. Jetzt fühle ich mich noch mieser, während ich die Holzschuhe betrachte, die einen so hohen Stellenwert in dieser Familie haben. “Na los, probiere sie an.”

Ich nicke und schlüpfe hinein. Es ist etwas komisch, darin zu stehen. Sie sehen aus, wie Flip Flops aus Holz, aber durch den Absatz hat man einen ganz anderen Halt. Darin zu laufen, ist ungewohnt und ich bin froh, heute darin zu üben. Ich möchte mich auf keinen Fall nächste Woche blamieren. “Sie passen tatsächlich. Gefallen sie dir?” Ich nicke. Natürlich sind das keine Schuhe, die man im Alltag tragen würde, aber es sind Schuhe die eine Geschichte erzählen. Es sind Schuhe, die zu einer Tradition gehören. Eine Tradition, die irgendwie ein Teil von mir ist. “Ich danke dir. Sie sind etwas ganz besonderes und ich freue mich schon richtig auf Tanabata.”

“Ja, sehr gerne. Jetzt müssen wir nur hoffen, dass das Wetter gut wird.”

“Das stimmt. Danke, aber ich weiß nicht, ob ich das bis zum Fest alles alleine anziehen kann, aber ich werde jeden Tag üben. Ich habe ja noch ein wenig Zeit.” Ich gehe in meinem neuen Look nochmal auf und ab, um ein wenig mehr Sicherheit zu gewinnen und bekomme nicht einmal mit, wie sich der Tag langsam dem Ende neigt. Noch sechs Tage dann ist Tanabata und ich hoffe wirklich, dass die Götter uns im Anschluss beistehen werden, denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir diese Hilfe brauchen können.

Mimi
 

Endlich ist es soweit – Tanabata.

Ich habe die letzten Tage damit verbracht, meinen Kimono richtig anzulegen und natürlich habe ich mir auch noch mal die Geschichte von Tanabata durchgelesen. In der hauseigenen Bibliothek habe ich ein Buch dazu gefunden. Und ich habe Frau Kido weiterhin bei ihrer täglichen Arbeit begleitet, die ich immer noch sterbenslangweilig finde. Tai habe ich immer nur zwischen Tür und Angel gesehen, weshalb ich mich umso mehr freue, dass er heute Abend dabei sein wird. Allerdings kam alles etwas anders als ich es erwartet hatte, denn traditionell findet Tanabata an zwei Tagen statt und der Erste davon wird jedes Jahr bei der Familie Minamoto zelebriert. Ich lerne also Kaori’s Familie kennen, das finde ich tatsächlich ein bisschen aufregend. Morgen Abend werden wir uns dann endlich unter die Leute mischen und können die festlich geschmückten Straßen von Tokyo bestaunen. Dr. Kido und Jim können leider nicht dabei sein, sie werden im Krankenhaus gebraucht – zu schade.

Gestern Abend gab es bereits ein großes Feuerwerk in der Stadt, welches immer einen Tag vor dem eigentlich Tanabata stattfindet. Leider konnte ich es nur alleine von meinem Fenster aus beobachten, aber auch das war schon wunderschön. Joe hatte zwar gefragt, ob wir es uns zusammen von seiner Wohnung aus ansehen wollen, aber ich habe ihm eine Notlüge aufgetischt und gesagt, mir geht es nicht so gut. Joe und ich alleine in seiner Wohnung? Das ist wahrscheinlich keine gute Idee, jetzt, wo er immer rumknutschen will.

Egal. Heute sehe ich Tai. Wir werden zwar die ganze Zeit unter Beobachtung stehen, aber immerhin sind wir zusammen.

Natürlich fahren wir alle gemeinsam zum Anwesen der Minamoto’s, also lege ich meinen Kimono an und stecke mir die Haare hoch. Es ist wirklich ungewohnt, in einem Kimono zu gehen, fast ein wenig anstrengend. Aber ich habe die letzten Tage viel geübt und hoffe daher, dass ich mich vor den Minamoto’s nicht blamiere.

Joe wartet bereits vor meiner Tür, als ich sie öffne. Er dreht sich zu mir um und mustert mich auffallend.

„Du siehst wunderschön aus, Mimi“, sagt er und bestaunt meinen rosafarbenen Kimono mit dem Blumenmuster. Er selbst trägt einen dunkelgrauen Kimono mit hellgrauem Streifenmuster und einen rot-schwarzen Obi dazu. Die Kimonos der Männer sind meist eher schlicht gehalten, während die Damen so richtig auftragen dürfen.

„Danke“, sage ich und verbeuge mich. „Du siehst auch sehr gut aus.“ Joe lächelt und hält mir seinen Arm hin. „Wollen wir? Die anderen warten bereits unten.“

Ich nicke und hake mich bei ihm unter. Die Limousine steht bereit und wir steigen alle ein. Auch Tai ist anwesend. Als ich ihn sehe, stockt mir kurz der Atem, denn ich habe ihn noch nie im Kimono gesehen. Er steht ihm so unfassbar gut – ein schwarzer Kimono, mit grauem Nadelmuster und grau-schwarzem Obi. Auf der linken Seite befindet sich zusätzlich ein silberfarbenes, geschwungenes Muster, was an der Schulter anfängt und bis ganz nach unten geht. Erst denke ich, es sieht wie eine Schlange aus, doch als Tai direkt mir gegenüber Platz nimmt, erkenne ich, dass es eher wie ein wellenförmiger Fluss ist, an dem hier und da ein paar lilafarbene Sterne aufgestickt sind. Es erinnert mich sofort an die Geschichte der beiden Liebenden. Es passt wirklich perfekt. Außerdem hat Tai seine wilden Haare zu einem kleinen Zopf zurück gebunden, so wie man es früher in Japan oft als Mann getragen hat – oder wie die Hipster es heute noch tragen. Aber ihm steht einfach alles.

Er schenkt mir ein kurzes Lächeln und deutet mir mit seinen Augen an, dass ich ihn nicht so anstarren soll, also schaue ich schnell weg und widme meine Aufmerksamkeit wieder Joe, der neben mir sitzt. Frau Kido lobt mich, wie gut ich meinen Kimono gebunden habe und Haruiko würdigt mich keines Blickes – zum Glück. Jim und Kaori steigen als Letzte ein. Kaori sieht wunderschön aus, so wie immer, aber heute strahlt sie einfach so von innen heraus, dass sie selbst ihren wunderschönen, weißen Kimono, mit rotem Blumenmuster, in den Schatten stellt. Ich bin schon sehr gespannt auf ihre Eltern, ahne aber bereits, dass diese Familie noch eine Schippe härter als die Kido-Familie ist.
 

Das Minamoto Anwesen liegt etwas außerhalb der Stadt. Es ist ein traditionell japanisches Haus, das sehe ich schon von weitem.

„Sag nicht, dass du noch nie so ein Haus gesehen hast“, sagt Joe leicht amüsiert, als er meinen neugierigen Blick sieht. Wir stehen direkt vor der Eingangstür, wobei diese eher an ein Tor erinnert und ich mich in meinem Kimono in der Zeit zurückversetzt fühle. „Stell dir vor, in New York gibt es solche Häuser nicht“, antworte ich, woraufhin Joe schmunzelt. „Habe ich mir fast gedacht.“

„Blamier uns heute nicht“, richtet plötzlich Haruiko das Wort an mich. Er hat sich zu uns umgedreht und funkelt mich mit seinen eiskalten Augen an.

Der hat vielleicht Nerven. Erst bedroht er mich auf meiner eigenen Verlobungsfeier, redet dann Ewigkeiten kein Wort mit mir und jetzt ist das Erste, was er seit Wochen zu mir sagt: blamier uns heute nicht?

Ich presse die Zähne aufeinander. „Bestimmt nicht“, nuschle ich. Er betrachtet mich mit einem abschätzigen Blick, ehe er sich wieder umdreht. Augenblicklich spüre ich Tai’s Präsenz hinter mir. Wir berühren uns zwar nicht, aber ich nehme den Duft seines Parfums wahr und weiß, was er mir versucht, zu sagen. Er wird auf mich aufpassen. Sofort beruhigt sich mein Puls wieder und ich konzentriere mich auf das, was vor uns liegt. Die Tore werden geöffnet und Kaoris Eltern nehmen uns in Empfang. Ich falle fast um, als ich ihre Mutter sehe. Sie sieht noch sehr jung aus und Kaori ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Vermutlich hat sie selbst früh geheiratet. Oder sie hat sich verdammt gut gehalten. Ihre Haltung und ihre ganze Körpersprache sind tadellos und nun weiß ich, wer Kaori das alles beigebracht hat. Sie heißt Misaki Minamoto und ihr Vater heißt Kaito Minamoto. Er ist ein großer Mann, der bereits ergraut ist und in dessen Gesicht sich die ersten Falten abzeichnen. Er scheint einige Jahre älter zu sein, als Kaoris Mutter.

„Seid gegrüßt“, begrüßt er uns und alle verbeugen sich gleichzeitig. „Ich freue mich, dass ihr die Einladung angenommen habt.“

„Wir kommen, wie jedes Jahr, gerne zu euch nach Hause“, sagt Haruiko und sofort frage ich mich, in welchem Verhältnis die beiden Männer zueinander stehen.

Wir folgen ihnen ins Haus und ich staune nicht schlecht, als ich im Innenhof des Anwesens einen großen Teich inmitten eines japanischen Gartens sehe. Alles sieht einfach wunderschön, gepflegt und perfekt aus. Kaum vorstellbar, dass hier ein Kind ausgewachsen ist. Wobei Kaori sicher keine typische Kindheit hatte.

Die Minamotos führen uns in ein Zimmer, das bereits mit den leckersten Speisen und Getränken bestückt ist. Wir nehmen an den niedrigen Tischen Platz und ich habe jetzt schon keine Ahnung, wie ich den ganzen Abend in diesem Kimono auf dem Boden sitzen soll. Ich habe nur das Laufen darin geübt, nicht das Sitzen. Es ist super unbequem. Aber wie war das? Ich soll hier keinen blamieren und ich will dem alten Sack auch keine weitere Gelegenheit geben, an mir rum zu nörgeln. Also werde ich mich anstrengen.

Tai sitzt neben Joe und dieser zwischen uns, was ich sehr bedauerlich finde. Aber auch hier müssen wir unsere Rollen spielen. Schon interessant, dass am Anfang nur ich mich verstellt habe und Tai das nun auch tun muss. Wobei: um ehrlich zu sein, glaube ich inzwischen, dass hier ausnahmslos JEDER an diesem Tisch eine Rolle spielt. Selbst Kaori, die hier eigentlich zu Hause ist, ist stocksteif und verzieht keine Miene. Na, das wird ja ein lustiges Fest.
 

Wir trinken Tee und Sake und essen gemeinsam, während wir den Gesprächen von Dr. Kido und Herrn Minamoto lauschen. Leider habe ich immer noch nicht heraushören können, woher sich die beiden eigentlich kennen. Gelegentlich ergreift Jim das Wort oder Joe, aber auch nur, wenn sie direkt angesprochen werden. Jeder spricht nur, wenn er gefragt wird. Leider bin nun ich an der Reihe.

„Miss Tachikawa, richtig?“ Herr Minamoto sieht mich fragend an. „Ich habe gehört, dass Ihr Vater angeklagt ist, weil er Gelder veruntreut hat.“

Wunder Punkt. Super.

„Davon hat jeder gehört“, fährt Haruiko dazwischen und lehrt seinen Becher Sake in einem Zug, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

„Wie stehen Sie zu den Anschuldigungen?“, fragt Kaito mich gerade heraus und ich spüre sofort, wie die Stimmung am ganzen Tisch kippt. Anspannung ergreift Besitz von meinem Körper und es fällt mir schwer, überhaupt den Mund zu öffnen und etwas zu antworten.

„Ich stehe dazu, was mein Vater getan hat und weiß, dass das falsch war.“

„Ja, jetzt steht sie dazu. Ihr blieb ja auch nichts anderes übrig“, giftet Haruiko weiter und lässt sich fleißig nachschenken. Wahrscheinlich hat er schon einen sitzen.

„Liebling, lass das“, flüstert seine Ehefrau, doch der alte Sack schnaubt nur.

„Nun, ich muss gestehen“, meint Kaito daraufhin und fährt sich mit der Hand nachdenklich über den Bart. „Ich komme nicht umhin, diese Tat ein wenig beeindruckend zu finden.“

Ja, triff mich doch der Blitz. Was hat er gesagt?

Dr. Kido starrt seinen alten Freund ungläubig an, so wie alle anderen. „Was, Kaito? Ist das dein Ernst?“

Herr Minamoto nickt. „Natürlich. Ich würde von meiner Tochter dasselbe verlangen. Und du Haruiko? Würdest du nicht wollen, dass deine Söhne dir ohne mit der Wimper zu zucken beistehen würden, egal, ob du ein Krimineller bist? Ich bin mir sicher, du hättest dasselbe von ihnen verlangt.“

„Niemand hat es von mir verlangt. Ich habe das alles freiwillig getan und es war auch nie meine Absicht irgendjemandem damit zu schaden.“ Nur, damit das noch mal klar ist. Joe drückt meine Hand als Zeichen des Beistandes, was mich tatsächlich ein wenig bestärkt. Haruiko fletscht die Zähne, während Kaito wissend grinst. „Es ist egal, wem oder was geschadet wird, wenn es um die Familie geht. Das spielt überhaupt keine Rolle.“ Wow, wie abgebrüht ist er eigentlich? Er nimmt seinen Sake und prostet mir zu. „Familie vor allem anderen, nicht wahr, Miss Tachikawa?“ Dann legt er den Kopf in den Nacken und trinkt. Wir alle tun es ihm nach, weil wir es müssen, alles andere wäre unhöflich. Allerdings bleibt ein bitterer Beigeschmack nicht aus. Dieser Mann ist mir unheimlich. Er wirkt ganz nett, aber ich bin mir grad ziemlich sicher, dass er aus demselben Holz geschnitzt ist wie Haruiko.

Kaori, die als Einzige ihren Becher nicht angerührt hat, erhebt nun das Wort. „Ich denke, es ist Zeit für die Wünsche.“

Natürlich weiß ich inzwischen was damit gemeint ist und freue mich sogar ein wenig drauf. An der Wand sind kleine Tischchen aufgebaut, auf denen verschiedene Wunschzettel und Stifte liegen. Sie alle haben eine andere Farbe: rot, blau, gelb, weiß und lila. Etwas unsicher stehe ich davor, während alle anderen bereits eine oder zwei Farben gewählt haben. Frau Kido nimmt sogar von jeder eine und ich frage mich, warum sie das macht. Verdammt, das hat mir keiner gesagt und ich habe diesen Teil nicht genau recherchiert. Joe nimmt sich einen blauen und einen gelben Wunschzettel und sieht mich fragend an.

„Ich überlege noch“, sage ich dann und tue ganz nachdenklich, woraufhin er nickt und sich wieder an seinen Platz setzt. Unschlüssig stehe ich da. Ich könnte auch einfach irgendwelche Farben nehmen, aber irgendwie glaube ich an diesen Hokuspokus und will nichts falsch machen.

„Brauchst du Hilfe?“, höre ich Tai’s Stimme neben mir und atme erleichtert auf.

„Du kommst wie gerufen“, flüstere ich. „Haben die Farben eine Bedeutung?“

Tai nickt und zeigt auf die Zettel. „Ursprünglich standen sie mal für das Ying und Yang und für die 5 Elemente des Unsiversums. Inzwischen ist es ein bisschen moderner und privater geworden. Weiß steht zum Beispiel für einen guten Vorsatz, gelb für Beziehungen, rot für die Eltern, lila für Erfolg und blau nimmst du, wenn du ein Ziel verfolgst oder eine deiner Schwächen ablegen willst.“

Aha, wahnsinnig interessant, vor allem, weil ich wissen möchte, für welche Farben Tai sich entscheidet. Er beugt sich nach vorne und greift ganz zielsicher nach den Farben gelb und blau, genau wie Joe.

„Du möchtest also eine Schwäche ablegen? Ich dachte, du hast keine“, stichle ich leise, woraufhin Tai verwegen schmunzelt. „Ich habe nur eine Schwäche. Und die will ich nicht ablegen.“ Sein Blick ist auf mich gerichtet und wir verstehen uns ohne Worte. Ich grinse und nehme mir nun ebenfalls meine Wunschzettel – und zwar alle.

„Alle? Hast du so viele Wünsche?“, fragt Tai belustigt und ich zucke mit den Schultern.

„Ich will nur auf Nummer sicher gehen.“

„Ah ja.“

„Mimi?“ Ich drehe mich um. Kaori steht hinter mir und lächelt mich an. „Wollen wir unsere Wünsche zusammen aufschreiben?“ Ich nicke. „Gerne.“

Ich folge Kaori nach draußen, während alle anderen drinnen bleiben. Wir gehen in die Mitte des schönen Gartens, wo der Tanabata-Bambusbaum aufgestellt ist und setzen uns dort auf eine Bank.

„Wollen wir?“, fragt Kaori und hält mir einen Stift hin. Wir beginnen, jeder für sich, unsere Wünsche aufzuschreiben. Natürlich habe ich mir die letzten Tage Gedanken darüber gemacht, aber jetzt wollen mir die Worte nicht so recht einfallen. Rot ist leicht, die Farbe steht für die Eltern und was ich mir für sie wünsche, liegt auf der Hand. Gelb steht für Beziehungen und es ist ganz klar, dass mein Wunsch mit Tai zu tun hat. Ich wünsche mir so sehr, mit ihm zusammen sein zu können. Blau, auch klar – mein Ziel ist es, dieser Familie zu entkommen, meinem Vater zu helfen und Haruiko Kido das Handwerk zu legen. Okay, vielleicht ein bisschen viel, aber diese drei Wünsche gehen ja irgendwie Hand in Hand. Lila – Erfolg – da nicht genau definiert ist, um welche Art des Erfolges es sich handelt, ob beruflich oder privat, wünsche ich mir, dass Tai mit seinen Recherchen Erfolg hat. Dass uns das Schicksal ein wenig in die Hände spielt. Und weiß, ein guter Vorsatz? Ich bin mir unsicher … ich schiele zu Kaori rüber, die sich die Farben weiß, gelb und rot ausgesucht hat. Sie ist ganz versunken in ihre Wunschzettel und lächelt dabei. Sie sieht heute so zufrieden aus. Mehr als das.

„Irgendwie wirkst du heute sehr verändert“, stelle ich fest. Kaori dreht ihren Kopf in meine Richtung und sieht mich fragend an, obgleich ihr Lächeln nicht verschwindet.

„Ähm, das war auf keinen Fall negativ gemeint“, schicke ich schnell hinterher. „Aber manchmal strahlst du übers ganze Gesicht. Liegt es daran, dass wir bei deinen Eltern zu Besuch sind? Siehst du sie nicht so häufig?“

Kaori schüttelt den Kopf. „Nein und nein. Wir sehen uns wirklich nicht sonderlich oft, aber daran liegt es nicht.“ Nun wird ihr Lächeln noch breiter und ein aufgeregter Ausdruck legt sich auf ihr Gesicht. Sie sieht sich kurz um, ehe sie sich zu mir beugt und mir etwas ins Ohr flüstert. „Ich denke, ich bin schwanger.“

Ich halte die Luft an. „Kaori“, hauche ich. „Das ist wundervoll.“

Sie grinst übers ganze Gesicht und greift nach meiner Hand. „Nicht wahr? Ich weiß es noch nicht sicher, aber es fühlt sich so an und ich bin ein paar Tage überfällig. Ich hoffe so sehr, dass mir Tanabata endlich diesen Wunsch erfüllt.“ Sehnsuchtsvoll blickt sie zu dem Bambusbaum und plötzlich wünsche ich mir, ich könnte alle meine Wünsche gegen diesen einen Wunsch eintauschen, damit er für sie in Erfüllung geht. „Ich würde mich wirklich für dich freuen.“

„Danke, Mimi“, sagt Kaori lächelnd. „Ich mag dich, du bist eine gute Freundin für mich geworden und das bedeutet mir viel. Ich hatte mein Leben lang nicht besonders viele Freunde.“ Sie steht auf und beginnt, ihre Wunschzettel an den Bambusbaum zu hängen. „Als Kind wurde ich privat von zu Hause aus unterrichtet und als ich dann an die Uni gegangen bin, habe ich zwar endlich Leute kennengelernt und war gelegentlich mit ihnen aus, aber es fiel mir schwer, wirkliche Freundschaften zu knüpfen. Das habe ich nie gelernt.“

Sie sagt es mit einem Lächeln auf dem Gesicht, aber es klingt trotzdem traurig. „Daher bin ich froh, dass ich dich kennengelernt habe und du bald Teil dieser Familie sein wirst.“

Ich schlucke. Fast schon schuldbewusst sehe ich hinab auf meine Wunschzettel. Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass ich am liebsten niemals ein Teil dieser Familie sein würde?

Ich hebe den Kopf. „Sag mal, ist es üblich, dass jeder die Wünsche lesen kann?“, frage ich, denn Kaoris Zettel sind nicht gefaltet und ihre Wünsche hängen gut sichtbar an dem Baum. Sie zuckt mit den Schultern. „Eigentlich macht das niemand wirklich. Aber wenn es dir unangenehm ist, kann ich dir einen kleinen Trick zeigen.“ Sie nimmt wieder einen ihrer Zettel vom Baum und kommt zu mir. „Wir können ein Origami daraus falten.“

Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „So etwas kann ich nicht.“

„Es ist ganz leicht“, sagt sie und beginnt, mir die ersten Schritte zu zeigen. Ich mache es ihr nach und siehe da, es geht.

„Das ist ein Stern“, sage ich und halte ihn in die Höhe. Kaori nickt. „Ja, morgen auf dem Fest wirst du viele davon sehen. Die Leute hängen oft Origami an die Bambusbäume, das sieht wirklich schön aus.“

Ich lächle zufrieden und hänge meinen ersten Wunsch auf. Danach mache ich dasselbe auch mit den anderen Wunschzetteln. Weiß lasse ich unbeschriftet, denn gute Vorsätze führen doch meist zu Enttäuschungen, weil man sie eh nicht einhält.

Als wir fertig sind, gehen wir zurück ins Haus und ich stelle fest, dass inzwischen auch andere Gäste zu uns gestoßen sind. Sie müssen Freunde von Kaoris Eltern sein. Alle unterhalten sich angeregt, bis der Herr des Hauses uns nach einer Weile bittet, ihm in die angrenzende Halle zu folgen. Dort sind viele Stühle aufgebaut und unter anderem auch eine kleine Bühne. Diesmal fädle ich es so ein, dass ich neben Tai sitze. Er sitzt rechts von mir und Joe links. Neben Tai sitzt irgendein Fremder, den ich nicht kenne. Er wird uns keine Beachtung schenken. „Was passiert nun?“, flüstere ich Joe zu.

„Eine Aufführung. Die Geschichte von Tanabata wird nachgespielt.“

Wow, eine private Aufführung, nur für uns.

Das Licht geht aus und nur noch die Bühne wird schwach beleuchtet. Eine Frau, die einen wunderschönen Kimono trägt und langes Haar hat, welches ihr bis zu den Fußsohlen reicht, betritt die Bühne, gefolgt von einem Mann, der einen schlichten Kimono trägt. Ich schaue mir gespannt die Aufführung an, die von traditionell japanischer Musik begleitet wird und komplett ohne Worte vorgeführt wird. Stattdessen arbeiten die Schauspieler mit Ausdruck und Tanz. Es ist wirklich was ganz Besonderes. Ich frage mich, wie oft Joe diese Aufführung schon gesehen hat, ich jedenfalls bin ganz gebannt.

Gerade, als ich völlig in dem Stück versunken bin, spüre ich, wie etwas leicht an meinem Kimono zieht. Es ist Tais Hand. Ich schiele zu ihm rüber und sehe, wie er mich schwach angrinst. Ich sagte ja, wir verstehen uns auch ohne Worte.

Ich lasse meine Hand unauffällig zur Seite sinken und verschränke meine Finger mit seinen. Es ist so dunkel um uns herum, dass es niemand bemerkt. Mein Herz beginnt wie wild zu flattern, nur, weil er meine Hand hält. Weil er da ist, immer und überall. Ich spüre, dass wir zusammengehören, wie die beiden Liebenden auf der Bühne, die sich gerade sehnsuchtsvoll in die Arme fallen.

Irgendwann. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem wir uns nicht mehr vor der Welt verstecken müssen, davon bin ich überzeugt.

Plötzlich bemerke ich, wie sich jemand an uns vorbeidrücken will und lasse schnell Tais Hand los. Es ist Kaori, die ein paar Plätze weiter neben Jim gesessen hat, nun aufgestanden ist und offensichtlich den Ausgang sucht. Sie entschuldigt sich bei allen für die Störung und ich sehe, wie sie sich den Bauch hält. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als sie still den Saal verlässt.

„Würdest du mich kurz entschuldigen? Ich muss zur Toilette“, flüstere ich Joe ins Ohr und er nickt. Tai sieht mich fragend an, aber ich kann es ihm jetzt nicht erklären.

Leider habe ich keine Ahnung, wo die Toilette ist, daher dauerte es ein wenig, bis ich einen Bediensteten gefunden habe und fragen konnte. Als ich sie erreicht habe, kommt Kaori gerade wieder raus.

„Kaori“, sage ich und gehe direkt auf sie zu. Sie sieht ganz blass aus. „Ist alles in Ordnung?“

Sie reibt sich mit dem Finger ein Auge, als hätte sie geweint. „Ja, ich musste mich nur übergeben.“

Über diese Aussage muss ich grinsen, auch wenn es für sie vermutlich weniger lustig ist. „Sieht so aus, als wärst du wirklich schwanger.“

„Psst!“, macht Kaori und hält mir einen Finger an die Lippen. „Das soll doch keiner hören.“

„Entschuldige“, flüstere ich. „Hast du es Jim noch nicht gesagt?“

„Nein, ich wollte erst sicher sein. Ich habe noch keinen Test gemacht. Die Angst vor der Enttäuschung ist zu groß. Das hatte ich zu oft in den letzten Monaten.“

Ich nicke verständnisvoll. Auch wenn ich es mir nicht wirklich vorstellen kann. Dieses Thema ist gefühlt Lichtjahre von mir entfernt. „Ich bin für dich da, Kaori. Du machst es einfach, wenn du dazu bereit bist.“

Dankbar lächelt sie mich an, sie sieht fast ein bisschen gerührt aus. „Danke, Mimi. Du bist die erste Person, bei der ich das Gefühl habe, mich nicht verstellen zu müssen.“

Komisch. So etwas in der Art hat Tai auch schon zu mir gesagt. Ich habe das Gefühl, dass ich, als ich hier in Japan aufgetaucht bin, in eine Parallelwelt reingeplatzt bin. Hier ist alles so verschoben und quer, dass das unmöglich echt sein kann. Wie können Menschen nur dauerhaft mit so vielen Lügen leben?

Wir gehen wieder zurück in Richtung Halle, wo wahrscheinlich immer noch die Vorstellung läuft.

„Und deine Mutter? Wie ist euer Verhältnis zueinander? Ich konnte meiner immer alles anvertrauen“, frage ich Kaori und hoffe, dass sie sich mir noch ein wenig mehr öffnet.

Kaori verzieht das Gesicht, halb amüsiert, halb bedrückt. „Sie ist sehr speziell. Als ich ganz klein war, war sie sehr liebevoll. Sie war eine tolle Mutter. Aber irgendwann wurde sie abweisend und hat nur noch das Nötigste geredet. Sie war gar nicht richtig da. Ich vermute, das hing alles mit dem Tod meiner Schwester zusammen.“

Jetzt mache ich doch große Augen. „Was? Du hattest eine Schwester?“

„Ja, ich sollte eigentlich eine Schwester haben. Sie erblickte auch das Licht der Welt, ist aber schon wenige Tage nach der Geburt gestorben. Ich weiß bis heute nicht genau, warum. Meine Eltern sprechen nicht darüber. Und sie haben auch mir verboten, je wieder darüber zu sprechen. Ich durfte nicht mal mit zu ihrer Beerdigung. Danach war meine Mutter nicht mehr Dieselbe. Und mich hat sie offenbar ganz vergessen.“

Tja. So viel zum Thema: Familie über allem.

„Es tut mir leid, dass du nicht diese liebevolle Kindheit erfahren hast, die ich erfahren durfte.“ Mir wird gerade bewusst, wie einsam Kaori gewesen sein muss. Keine Freunde und eine Mutter, die abwesend ist. Es grenzt an ein Wunder, dass sie selbst so eine einfühlsame Frau geworden ist.

Kaori schüttelt den Kopf und lächelt, als wäre sie vollkommen im Reinen mit sich selbst. „Das ist schon okay. Ich werde es bei meinem Kind besser machen.“ Sie hat wieder dieses Strahlen im Gesicht, dass sie schon den ganzen Abend lang begleitet und gerade jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass ihr Wunsch in Erfüllung geht. Wenn es einen Tanabata-Gott oder was auch immer gibt, dann schenkt er dieser Frau endlich ein Kind. Sie hätte es so sehr verdient.

Mimi
 

Ich glaube Tanabata wird mein neues Lieblingsfest. Gestern der Tag ist zwar noch etwas spießig gewesen, aber heute freue ich mich darauf, raus zu kommen. Alle Japaner in ihren Kimonos zu sehen, die geschmückten Straßen, das leckere Essen zu naschen, die Bambussträuche voller bunter Zettel zu sehen, wie sie schlussendlich an einen Fluss weitergegeben werden und hoffentlich die Wünsche aller erfüllen. Am meisten aber freue ich mich auf Tai. Ich will unbedingt Zeit mit ihm alleine verbringen. Ich will nicht die ganze Zeit Joes Hand halten, während Tai daneben steht. Das ist einfach so falsch. Tanabata ist doch das Fest der Liebenden und ich … oh man, kann das sein?

“Und Mimi, können wir?” Joe steht vor mir und ergreift meine Hand. Frau Kido ist bereits im Wagen, genauso wie Kaori. Tai ist aber noch nicht hier. Ich will nicht ohne ihn zum Fest. “Wir sind doch noch gar nicht vollzählig.”

“Falls du auf Tai anspielst, den treffen wir erst vor Ort.” Achso, wie schade. Nicht zu enttäuscht aussehen, Mimi.

“Dann sollten wir auch aufbrechen.” Auch Joe und ich setzen uns in die Limousine. Frau Kido und Kaori sitzen Joe und mir gegenüber und heute sehen irgendwie alle zufrieden aus. Liegt es an Tanabata oder vielleicht daran, dass Haruiko und Jim heute nicht dabei sind? Die zwei erdrücken einfach jede Lebensfreude.

Warum kommt Tai wohl diesmal nicht erst zur Villa und wir fahren dann gemeinsam? Ich nehme mein Smartphone um zu schauen, ob er sich bei mir gemeldet hat, aber geschrieben hat er mir nicht. Ich vermisse ihn einfach so, obwohl wir uns immer mal wieder sehen, ist es einfach unerträglich, ihm aus dem Weg zu gehen und so zu tun, als wäre da nichts zwischen uns. Was, wenn sich seine Gefühle für mich wieder verändern? Wenn ihm das alles zu anstrengend wird, mit mir? Wenn er es einfach nicht mehr erträgt, mich mit Joe zu sehen. Was ich so gut verstehen könnte.

Was, wenn es andersherum wäre? Wenn Tai mit einer anderen Frau verlobt wäre, die ihn auch noch ständig küssen würde. Es war bei Sally schon kaum zu ertragen, aber Tai so zu sehen, unerträglich. Nein, das könnte ich nicht ertragen. Wie kann Tai es dann?

“Du bist so ruhig, Liebes. Alles in Ordnung?” Frau Kido sieht mich ein wenig besorgt an, aber ich schüttle schnell meinen Kopf und winke ab. “Ach, ich bin nur ganz gespannt auf das Fest und darauf mal raus zu kommen.”

“Tanabata ist einfach ein so schönes Fest. Du wirst es lieben”, strahlt sie. Nur Kaori strahlt einfach noch mehr. Ob sie mittlerweile einen Schwangerschaftstest gemacht oder es zumindest Jim erzählt hat? Ich kann sie schlecht fragen, versuche aber ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Doch sie ist total verträumt, was ich aber positiv bewerte. “Wir sind da. Hier wird der Fahrer uns raus lassen. Den Rest gehen wir zu Fuß. Immerhin verpasst du ja sonst das Beste”, erklärt Joe und steigt als erster aus und hält mir die Hand hin. Wow, so etwas hat er ja noch nie gemacht. Warum muss er sich ausgerechnet jetzt so ins Zeug legen? Jetzt wo ich genau weiß, dass mein Herz niemals zu ihm gehören wird.

Ich beginne gleich zu staunen, als ich die geschmückten Straßen sehe, gleich würde noch eine Parade durch die Straßen ziehen. Das wird bestimmt ganz toll. “Wow, ich hätte nicht gedacht, dass die Japaner so feiern können.”

“Hey, was soll das denn heißen?”, fragt Joe empört.

“Na ja, bisher waren alle oft so …”

“So was?”, hakt er weiter nach.

“So spießig.” Und das ist echt noch nett ausgedrückt.

“Tanabata ist einfach ein Fest der Hoffnung für uns Japaner. Wir überlegen, welche Wünsche uns wichtig sind. Da muss jeder ehrlich zu sich selbst sein und dann strahlt man es vielleicht einfach aus”, überlegt Kaori und vielleicht ist das wirklich eine Erklärung. Es ist schön, die Japaner mal so unbeschwert zu sehen. Sie scheinen Tanabata zu lieben und ich kann es verstehen. Die Menschen lachen, unterhalten sich. Musik läuft und alles ist bunt. Sowas liebe ich. Oft ist mein Leben in den letzten Wochen viel zu trist gewesen. Es gab nur eine Person, die immer wieder die schönsten Farben in mein Leben gebracht hat, aber er lässt sich immer noch nicht blicken und Geduld ist wirklich nicht meine Stärke. Tai, wo bist du?
 

Tai.
 

Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich mich darauf eingelassen habe, Kari und Takeru mitzunehmen. Händchenhaltend und kichernd laufen sie hinter mir her, weil sie überall stehen bleiben und sich alles ganz genau angucken müssen. Ich rolle mal wieder die Augen. Es sind Fische in einem Glas. Wir haben es bestimmt schon tausendmal gesehen, aber dennoch bleiben sie stehen und staunen. Mal wieder. “Schaue mal, Takeru, der Fisch hat Ähnlichkeit mit dir”, kichert meine Schwester.

“Wie bitte? Dann bist du der Fisch.” Takeru deutet auf einen Kugelfisch, der sich gerade so richtig schön aufplustert. “Das nimmst du sofort zurück.” Kari kneift ihren Freund in die Brust und dieser zieht seine Hände gleich ergeben nach oben. “War doch nur ein Scherz. Als würde ich dich mit einem Fisch vergleichen. Du wärst doch viel eher, eine Meerjungfrau und zwar die Schönste von allen.” Meine Schwester wird rot und eigentlich sieht sie gerade wirklich aus wie ein Kugelfisch. Ich will weiter. Ich will Mimi sehen. Und zwar nur sie. Ich hätte ihr ja gerne geschrieben, aber hier hat man absolut keinen Empfang. Viel zu viele Menschen. Ich muss mir noch irgendwas überlegen, wie ich gleich alle loswerde, um mit Mimi alleine zu sein. Ich meine bei so vielen Menschen geht man in der Masse doch schon mal schnell unter. Aber Joe könnte zum Problem werden. Immerhin ist er fast ständig an ihrer Seite, was mich tierisch nervt.

Endlich schaffen wir es weiter zu gehen. Wir schaffen es sogar ganze fünfzehn Meter weit, als Takeru und Kari an einem weiteren Stand stehen bleiben. Ernsthaft, ihr wollt mich doch verarschen. An diesem Stand werden unzählige Fächer vorgestellt. Es ist Papier. Einfach nur buntes Papier. Können wir dann weiter? Nein, keine Chance. Sie lassen sich ernsthaft die verschiedenen Fächer zeigen. Meine Geduld wird gerade echt auf die harte Probe gestellt. Erst jetzt bemerke ich, dass noch zwei andere Personen an dem Fächerstand stehen. Und auch wenn sie heute ganz anders aussieht und ich sie fast nicht erkannt habe, so bin ich mir doch sicher, dass es sich bei der älteren Dame um Ayaka Yano handelt, das ehemalige Kindermädchen von Joe und Jim. Ayaka scheint mich noch nicht bemerkt zu haben, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich drei Stände weiter an einem anderen Stand stehe. Aber wer ist ihre Begleitung? Es ist ein junges Mädchen, sicher noch ein Schulmädchen. Sie sieht aus wie eine typische Japanerin, besonders heute. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, aber ich glaube nicht, dass ich sie schon mal gesehen habe. Ich beobachte sie eine Zeitlang, präge mir ihre Mimik ein, schaue wie Ayaka mit dem Mädchen umgeht. Liebevoll, herzlich und stolz. Ich beschließe, zu meiner Schwester zu gehen. “Kari, hast du etwas gefunden, was dich interessiert?”, frage ich beiläufig und gleich blickt Ayaka zu mir auf. “Nein, ich schaue mich nur um”, antwortet meine Schwester, aber ich achte gerade nicht mehr wirklich auf sie. Ayaka macht große Augen, als sie mich sieht und greift unweigerlich nach der Hand des jungen Mädchen. “Wir müssen los, komm.”

“Was? Aber warum denn? Wir sind doch gerade erst gekommen”, beschwert sich das junge Mädchen und wehrt sich gegen die Hand von Ayaka. Es ist ihr unangenehm, dass ich sie hier getroffen habe, aber warum? “Ich möchte noch hier bleiben. Ich habe nicht mal die Parade gesehen”, beschwert sich das junge Mädchen weiter. “Keine Diskussion!”

Irgendwas sagt mir, dass ich den beiden folgen sollte. “Kari, ich muss los. Vielleicht sehen wir uns später. Sonst schönen Abend noch.” Ich eile an den Menschen vorbei und folge Ayaka und dem Mädchen. Immer wieder dreht Ayaka ihren Kopf, wird richtig panisch, wenn sie bemerkt, dass ich noch hinter ihnen herlaufe. Okay, irgendwas läuft hier doch gerade. Das Mädchen verliert etwas. Ich kann nicht genau sehen, was es ist. Ich bücke mich runter und hebe ein seidiges Taschentuch auf, wo ein Name eingraviert ist. Nanami. Als ich mich wieder aufrichte und nach Ayaka suche, kann ich sie nirgends mehr entdecken. Verdammt, aber wie ich schon sagte, es ist nicht schwer sich in so einer Menschenmenge unsichtbar zu machen. Doch wieso bleibt in mir das Gefühl, dass diese Nanami eine wichtige Rolle spielen könnte?
 

Mimi
 

Die Parade ist im vollen Gange. Es sind so viele Menschen, dass ich irgendwie nicht mehr daran glaube, Tai heute nochmal zu sehen. Joe hat sogar schon versucht, ihn anzurufen, aber nicht besonders wunderlich, dass er nicht durchkam. Die Parade ist aber wirklich schön. Ich stehe neben Kaori, die sich gerade ein paar Takoyakis in den Mund schiebt. “Die sind einfach sooo lecker”, schwärmt Kaori und ich muss sagen, dass mir diese Seite an Kaori viel besser gefällt. “Man sieht es dir an”, kichere ich.

Auch Frau Kido scheint die frittierten Teigbällchen zu feiern. So kenne ich die alle gar nicht. So unbeschwert. Joe hält sich ein wenig zurück, aber vielleicht fühlt er sich als Hahn im Korb auch nicht so wohl. “Was würdest du gerne essen? Soll ich dir was holen? Zum Beispiel Okonomiyaki?”, erkundigt er sich. Ich bin mir jedoch noch nicht sicher, was ich gerne essen möchte und was er mir da eigentlich vorgeschlagen hat. “Ich warte lieber noch. So groß, ist mein Hunger noch nicht.”

Joe nickt und schaut weiter wie die Parade an uns vorbei zieht. Ich stoße Kaori vorsichtig in die Seite. “Wie geht es dir?” Kaori sieht mich an und lächelt breit.

“Es ging mir noch nie besser. Ich habe mich heute morgen getraut.” Ich verstehe, was sie mir damit sagen will. Ich falle ihr sofort um den Hals, weil ich mich einfach so sehr für sie freue. Kaori hat es sich so sehr gewünscht und ich freue mich, dass ihr größter Wunsch wahr wird. Sie wird ein Baby bekommen. “Warum freut ihr euch denn so?”, fragt Frau Kido. Ich halte mich da raus und könnte verstehen, wenn Kaori jetzt noch nichts sagen will. “Ach, alles gut. Es ist so schön hier”, meint Kaori und ich stimme ihr zu. Doch plötzlich hält Kaori sich den Bauch fest und verzieht ihr Gesicht. “Oh nein, nicht schon wieder”, murmelt sie. Sich hier zu übergeben wäre auch wirklich ein schlechter Zeitpunkt. So vor all den Menschen. “Liebes, du siehst so blass aus.” Gleich legt Frau Kido ihre Hand auf Kaoris Stirn. Auch Joe, hat sich zu seiner Schwägerin umgedreht. “Fehlt dir was?”

“Nein, nein. Es ist nur …” Kaori legt ihre Hand auf ihren Mund, um das übel aufzuhalten. “Vielleicht waren die Takoyakis nicht so gut?”, merke ich an.

“Aber meine waren köstlich”, widerspricht Frau Kido “und wir haben sie am selben Stand gekauft.”

“Ich … ich muss hier weg.” Kaori sieht sich um. Sie sieht wirklich blass aus. Oje. “Liebes, könnte es sein, dass du, also …” Kaori nickt kaum merklich, aber Frau Kido checkt es natürlich sofort. “Ich bringe dich hier weg. Wir gehen nach Hause. Du musst dich ausruhen.” Joe sieht wieder zu uns und sieht uns fragend an. “Ihr geht schon?”

“Ja, Kaori muss sich ein wenig ausruhen”, sagt seine Mutter. “Habt einen schönen Abend und genießt das Sternenfest.” Ich verabschiede mich bei Kaori mit einer Umarmung und winke Frau Kido zu. Joe steht etwas unschlüssig neben mir. “Du willst aber noch bleiben, oder?”

“Ja, auf jeden Fall. Es ist schließlich mein erstes Tanabata. Ich will alles sehen.” Joe lacht, nickt aber schließlich mit seinem Kopf.
 

Tai.
 

Nanami. Ich habe diesen Namen noch nie gehört. Zumindest nicht, dass er zu irgendeiner Verbindung mit den Kidos steht. Ich habe das Taschentuch sicher verstaut und frage mich, warum Ayaka so komisch auf mich reagiert hat. Heute werde ich sicher nichts mehr herausfinden. Dennoch suche ich weiter. Nach Ayaka, nach Nanami und natürlich nach Mimi. Kari und Takeru sind wahrscheinlich ganze fünf Stände weiter gekommen, aber das sollen die Beiden mal schön unter sich ausmachen. Ich weiß nicht, wie ich hier bei all den Tausenden Menschen ausgerechnet Mimi finden soll. Aber ich werde sie finden. Das habe ich schon mal. Ich frage mich, was von allem hier sie am meisten interessieren könnte und habe so eine Ahnung, wo sie vielleicht sein könnte.

Ich ändere meinen Kurs und da die Parade vorbei und die Dekorationswettbewerbe laufen, gehe ich zu den Bambussträuchen. Zwar hängen hier an fast allen Äste irgendwelchen bunten Zettel, aber es gibt einen Platz wo ganz besonders viele Bambussträucher stehen und die meisten bunten Zettel aufgehangen werden. Zudem werden an diesem Ort auch meistens die Bambussträuche an den Fluss übergeben, damit die Götter sie erreichen.

Als ich den Platz endlich erreicht habe, halte ich Ausschau und siehe da, ich habe meine Prinzessin gefunden. Es sind nur Mimi und Joe da. Ich weiß gerade nicht, wo Kaori und Frau Kido sind, aber das ist mir auch so ziemlich egal. Ich tippe statt Mimi Joe auf die Schulter. Er hält Mimis Hand fest und sie sehen sich die Bambussträuche an. Joe dreht seinen Kopf. “Tai?” Sofort reißt Mimi ihren Kopf in meine Richtung. “Es war gar nicht leicht, euch zu finden. Ich habe unterwegs auch Kari und Takeru verloren. Wo ist der Rest?”

“Kaori ging es nicht gut und meine Mutter hat sie nach Hause gebracht.”

“Verstehe.”

“Tai, du brauchst heute aber nicht arbeiten.” Na, sieh mal einer an. Da will mich einer loswerden. “Ich bin auch nicht wegen der Arbeit hier, sondern weil ich das Fest mit meinen Freunden feiern will oder ist das verboten?”

“Natürlich nicht.” Joe wirkt ein wenig peinlich berührt und nennen wir es Wink des Schicksals, als plötzlich Joes Piper piept. “Ist das deins?”, fragt Mimi nach und deutet auf Joes Umhängetasche. Joe kramt seinen Pieper heraus und tatsächlich, er muss los. Ich bin ja untröstlich. “Ach, das gibt es doch nicht.”

“Sie brauchen dich?”, schlussfolgere ich.

“Ja, ein Notfall. Leider ist an Tanabata auch immer viel in den Krankenhäusern los. Es wird viel getrunken und die Unfallgefahr steigt.”

“Tja, Augen auf bei der Berufswahl”, kichert Mimi.

“Wohl war. Tai, würdest du Mimi sicher zur Villa begleiten?”

“Selbstverständlich.” Joe dreht sich wieder zu Mimi und ich beschließe, mich umzudrehen, sollte er sie küssen, will ich es nicht sehen. Als ich mich wieder umdrehe, ist Joe schon weg. Okay, der hat es eilig. “Er hat mich nicht geküsst”, beruhigt Mimi mich. Ich sehe sie an und sie lächelt.

“Besser für ihn.”

“Unglaublich, dass du mich hier gefunden hast.”

“Ich werde dich immer finden, das solltest du mittlerweile wissen.”

“Heißt das eigentlich, dass wir beide jetzt nur noch zu zweit sind?”

“Endlich und ich habe noch was.” Ich habe noch einen gelben Zettel aufbewahrt, den ich gemeinsam mit Mimi aufhängen möchte. Ich lasse ihn auch ganz offen hängen, sodass die Götter ihn gleich sehen können. Glaub ich an all das? Keine Ahnung, können wir Hilfe für unser Vorhaben gebrauchen? Absolut.

“Noch ein Tanabata-Wunsch?”, fragt Mimi und ich nicke. “Ja, den wichtigsten Wunsch von allen.” Der Zettel gesellt sich zu den Anderen und wir beobachten wie die Bambussträuche an den Fluss übergeben werden. “Dann sollte ja jetzt nichts mehr schief gehen”, lächelt Mimi.

Am liebsten würde ich mich jetzt auf sie stürzen, aber ich kann mich gerade noch so zügeln. “Komm mit. Ich will dir noch ein Highlight von Tanabata zeigen.” Mimi sieht mich neugierig an. Ich nehme mir ihre Hand und schlendere mit ihr übers Fest. Okay, jetzt ist es mir ganz egal, wenn Mimi überall stehen bleibt und sich die Stände anschaut. Sie sieht das alles ja auch schließlich zum ersten Mal. “Ich habe noch nichts gegessen. Du?” Mimi schüttelt ihren Kopf und wir gehen erst nochmal zu einem Foodcourt. “Ich könnte ja Okonomiyaki essen”, überlegt Mimi und tut ganz wissentlich. Ich kann mir jedoch ein breites Grinsen nicht verkneifen. “Ich weiß zwar nicht, wo du das aufgeschnappt hast, aber ich glaube nicht, dass du das magst.” Mimi sieht mich prüfend an. “Joe wollte mir die holen.” Aha. Interessant.

“Okonomiyaki sind sehr pikante Pfannkuchen und da ich weiß, dass du nicht gerne scharf isst, wäre es nicht die erste Wahl für dich.” Mimi rollt mit ihren Augen, nickt aber schließlich. “Okay, was ist deine Empfehlung des Tages?”

“Einfach, entweder isst du Yakitori, das sind gegrillte Hühnerfleischspieße oder ganz klassisch Soumen.”

“Ah, die kenne ich sogar. Die sind lecker, aber ich glaube, ich teste mal was neues und nehme die Yakitori.”

“Perfekt, dann zweimal Yakitori.”
 

Mimi
 

Tai bezahlt und irgendwie fühlt sich das Ganze gerade wie ein Date an. Ach, wenn es doch nur so wäre. “Okay, jetzt komm mit.” Tai nimmt wieder meine Hand und führt mich zu einer Wiese. Es dämmert und den Sonnenuntergang auf so einer schönen Lichtung zu sehen, ist einfach nur wundervoll. “Tanabata bedeutet immerhin Sternenfest. Viele Paare kommen hierher, um zu sehen, ob man am Nachthimmel Wega und Altair sehen kann.” Das Einzige was ich verstehe ist, Paar. Tai und ich ein Paar. Ganz offiziell. “Du meinst Orihimi und Hikoboshi?”

“Für dich, ja.”

“Man kann sie wirklich sehen?” Gleich schaue ich in den Himmel, aber es ist noch nicht dunkel genug.

“Ja, wenn es dunkel ist und keine Wolken oder Regen am Himmel ist, kann man die zwei Sternenbilder Laier und Adler sehen und dann heißt es, haben sie es geschafft, sich wiederzusehen.”

“Oh man, kannst du die Sternenbilder erkennen?”, frage ich ganz aufgeregt nach.

“Na klar, was denkst du denn? Ich wusste doch, dass dieses Wissen mal nützlich sein würde.”

“Um Mädchen zu beeindrucken?”, frage ich provokant nach.

“Um mein Mädchen zu beeindrucken”, antwortet Tai ganz selbstverständlich und ich verliere mich sofort in seinen Augen. Er kommt näher auf mich zu. Ich denke schon, er will mich küssen und möchte gerade sehnsuchtsvoll meine Augen schließen, doch stattdessen pustet Tai auf mein Yakitori. Na toll. “Die Spieße sind richtig heiß. Nicht, dass du dich noch verbrennst.”

Nun puste ich ebenfalls und beiße ein Stück ab. Wow, lecker. “Ich glaube, dafür ist es schon zu spät.”

“Hast du dich verbrannt?”, fragt Tai mit vollem Mund. “Ja, aber nicht an dem Yakitori.” Tai fängt an, breit zu grinsen und nickt. “Und wie, aber weißt du, es tut gar nicht so weh, wie ich dachte.” Meint er das ernst? Es ist die Hölle auf Erden.

“Ich finde schon, dass es schlimm ist.”

Tai dreht meinen Kopf in seine Richtung und lächelt mich an. “Jeden Tag, den ich mit dir verbringen kann, gibt mir Hoffnung und ich bin mir sicher, dass ich etwas finden werde.” Tai macht auf einmal auf Geheimnisvoll. Er hat diesen wissentlichen Blick und irgendwas mag er mir gerade noch nicht erzählen, aber verdammt ich finde selbst das anziehend. “Wenn du das sagst, ich vertraue dir.” Er stupst meine Nase mit seiner an und am liebsten würde ich mit ihm nach Hause gehen und alle anderen Menschen vergessen. Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn und ich kuschel mich in seine Arme. Niemand interessiert sich hier für uns. Jeder ist mit sich selbst oder seinen Liebsten beschäftigt. Wir sind einfach nur eins von unzähligen Paaren auf dieser Lichtung.

Es ist mittlerweile komplett dunkel und hier auf der Lichtung kann man sogar die Sterne sehen. Ich lehne mich mit meinem Rücken an Tais Brust an und er hat von hinten beide Arme um mich gelegt. Sein Kopf ruht auf meiner Schulter und ich genieße seine Nähe gerade so sehr. “Jetzt kannst du sie sehen”, sagt Tai leise an mein Ohr. Er deutet mit seinem Zeigefinger auf die Sterne. Ich schaue ihm nach, ich sehe viele Sterne, aber leider erkenne ich gerade mal den großen Wagen. Aber Laier und Adler kann ich nicht erkennen. “Ich sehe es nicht”, sage ich enttäuscht.

“Laier erkennst du daran, dass das Sternenbild wie ein Rechteck aufgebaut ist, wo oben noch zwei einzelne Sterne abgehen”, erklärt Tai ganz geduldig. Ich kneife meine Augen zusammen, konzentriere mich und folge Tais Finger und tatsächlich erkenne ich ein Rechteck am Sternenhimmel. “Das ist sie”, hauche ich ergriffen.

“Ja, das ist Wega oder für dich Orihimi und etwas weiter daneben, erkenne ich den Adler oder eben Altair.” Ich sehe wieder mal nur Sterne. Ich finde ihn nicht. “Wo?”, frage ich wieder nach. “Altair ist etwas schwerer zu erkennen. Es sieht ein bisschen aus, wie ein X.” Okay, das ist wirklich nicht so einfach, aber Tai zeigt wieder mit dem Finger genau drauf. Erkenne ich da irgendwo ein X? Ich lege den Kopf leicht schräg. Da die Stelle vielleicht. “Der eine Stern leuchtet ganz besonders hell. Siehst du das?”

“Ja.”

“Dann hast du den Adler gefunden.”

“Sie sind ja ganz nah”, freue ich mich. Hikoboshi und Orihimi haben es geschafft, sich wieder zu sehen. Ich freue mich gerade so sehr. Meine Güte, das schenkt einem doch wirklich Hoffnung, wenn sogar selbst sie es geschafft haben. Zufrieden lehne ich mich wieder zurück und schaue mir die zwei Liebenden an. Wie schön und romantisch das hier ist. Ich spüre Tais Lippen an meinem Hals und wie er sanft Küsse darauf verteilt. Ich schmelze.

“Und da sieht man übrigens auch den Mond sehr gut. Der Mond ist schön, nicht wahr?” Flüchtig schaue ich auf den Mond, der zwar gerade auch schön aussieht, mich aber nicht so sehr fesselt, wie die zwei Sternenbilder. “Hmm.” Tai lacht, keine Ahnung, was so lustig ist.

Ich drehe mich zu ihm, doch er schaut mich einfach nur an. So intensiv. Hab ich irgendwas falsch gemacht? “Was ist?”

“Nichts, es ist einfach schön mit dir hier zu sein.”

“Ja, das finde ich auch und danke, dass du mir all das erklärt hast. Das war einer der schönsten Tage die ich je hatte. Nicht nur hier in Japan, sondern ganz generell.” Tai lächelt mich sanft an und küsst mich endlich auf den Mund. Ich erwidere den Kuss sofort und könnte noch ewig hier sitzen und in dem Kuss versinken. “Oh ja, der Mond ist wirklich schön.” Hä? Was hat Tai denn ständig mit dem Mond? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nur, wie unendlich tief meine Gefühle für ihn sind und ich mich jeden Tag ein Stück mehr in ihn verliebe. Falls das überhaupt möglich ist. Er lächelt mich an und küsst mich wieder. Soll mir egal sein, was er mit seinem Mond heute hat, denn heute hat sich schon ein Tanabata Wunsch erfüllt und sicher, werden auch die anderen in Erfüllung gehen. Ich glaube ganz fest daran.

Kapitel 36

Mimi
 

Alle sind ganz aus dem Häuschen. Seit Tanabata vorbei ist, dreht sich alles um Kaori, Jim und das Baby. Sie konnte es natürlich nicht vor Frau Kido geheim halten, die schnell eins und eins zusammengezählt hat. Aber ich finde es gar nicht schlimm, wenn die ganze Aufmerksamkeit mal nicht mir gilt. Ich rücke gerne aus dem Fokus und überlasse Kaori den Platz. Jim freut sich wohl sehr, wie Kaori mir bereits erzählt hat, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie dieser Mann aussieht, wenn er sich freut. Nur Tai weiß es noch nicht und ich fühle mich nicht befugt, es ihm zu sagen. Ich weiß nicht, ob diese Information schon nach außen dringen soll und irgendwie … vielleicht möchte ich Kaori die Chance geben, es ihm selbst zu sagen. Es sollte ihre Entscheidung sein, wer davon erfährt. Aber anscheinend ist das nur meine Meinung, denn, wie ich gerade feststellen muss, darf Kaori nun gar nichts mehr selbst entscheiden.

Wir sitzen gerade alle beim Nachmittagstee, um zu besprechen, was die nächsten Schritte sind.

Wieso wird hier aus allem so ein Tamtam gemacht?

„Ich habe für nächste Woche einen Termin bei unserem Gynäkologen für dich gemacht, Kaori“, sagt Frau Kido und schlürft ihren Tee.

Kaori nickt.

„Und ich habe deine Blutwerte heute Morgen ins Labor geschickt“, sagt Jim und wälzt einige aneinander geheftete Blätter durch. „Du könntest etwas mehr Eisen vertragen. Kein Wunder, dass du immer so blass bist. Da müssen wir dran arbeiten.“

Kaori nickt.

„Ich habe bereits einen geeigneten Ernährungsplan für dich zusammengestellt“, sagt der Prof. und zieht prüfend eine Augenbraue in die Höhe, als Kaori sich einen Keks vom Tisch nehmen will.

„Zucker ist gar nicht gut in der Schwangerschaft.“

Kaori legt den Keks zurück und nickt.

Fassungslos sitze ich da und frage mich, ob die Kidos alle den Verstand verloren haben. Sie reden mit Kaori, als wäre sie ihre Marionette. Wieso lassen sie sie diese Schwangerschaft nicht einfach genießen und essen, was sie will?

Arme Kaori, jetzt tut es mir doch leid, dass sie so im Mittelpunkt steht.

„Kaori?“, versuche ich das Thema auf etwas Schöneres zu lenken. „Hast du dir denn schon eine Hebamme ausgesucht?“

Kaoris Gesicht erhellt sich. „Ja, ich habe mir bereits eine …“

„Die wirst du nicht brauchen. Jim ist Arzt, er wird bei der Geburt dabei sein“, fällt Haruiko ihr ins Wort und zerschlägt mit einem Satz all ihre Pläne. Dieser Arsch.

„Aber er ist kein Gynäkologe. Was war noch mal deine Fachrichtung?“, hake ich freundlich nach und sehe Jim an, der gemütlich seinen Tee schlürft, als wäre das hier ein ganz gemütliches Teekränzchen.

„Chirurgie“, sagt er und nimmt sich doch allen ernstes den Keks, den Kaori eben nicht essen durfte. Wie gemein. „Meine Fachrichtung wird Kaori noch entgegen kommen, wenn wir das Kind per Kaiserschnitt holen.“

Nun reißen Kaori und ich fast zeitgleich die Augen auf.

„Ein Kaiserschnitt? Aber ich dachte, ich …“, beginnt Kaori empört, aber auch diesmal darf sie ihren Gedanken nicht weiter aussprechen. Sprich nur, wenn du gefragt wirst und tu nur, was dir gesagt wird – das Motto der Familie. Frau Kido legt Kaori eine Hand auf die Schulter.

„Kindchen, glaub mir, so ist es besser. Wir haben bereits unseren Astrologen und unsere Priesterin befragt, und die Sterne stehen am 3. März nächsten Jahres besonders günstig. Sie sagen Glück, ein langes Leben und Erfolg für alle voraus, die an diesem Tag geboren werden.“

Ich sehe, wie Kaori schluckt. Bei der Vorstellung wird sie kreidebleich und das liegt diesmal wohl nicht an der Schwangerschaftsübelkeit.

„Oh. Okay.“

Wow, selbst mir wird schlecht dabei.

„Um dein Wochenbett werde ich mich persönlich kümmern, es soll dir an nichts fehlen“, fügt Frau Kido ganz zuversichtlich hinzu, als würde es das Ganze besser machen. Ich glaube, ich bin im falschen Film.

„Das hört sich gut an. Ich freue mich auf die Zeit mit unserem Baby.“ Kaori lächelt und wagt es tatsächlich für einen kurzen Moment glücklich darüber zu sein, dass sie Mutter wird. Doch dann …

„Um das Baby kümmert sich die Nanny. Du musst dich von der Geburt erholen“, sagt Haruiko so kalt, als würde er über das Wetter sprechen.

„Ich … Ich werde nicht mit meinem Kind zusammen sein?“

„Nicht in den ersten vier Wochen. Du musst dich erholen, darfst nicht duschen, nicht spazieren, nur liegen. Das sind altbewährte Traditionen. Um das Stillen musst du dich auch nicht kümmern, die Nanny übernimmt das.“

„Wie das denn?“, lache ich. „Sie ist doch nicht die Mutter. Das ist Kaori.“

„Ach Liebes, dafür gibt es doch Fläschchen und Säuglingsnahrung“, meint Frau Kido kichernd.

Mich kotzt diese selbstgefällige Art an diesem Tisch hier so was von an. Gott, am liebsten würde ich Kaoris Hand nehmen und mit ihr davonlaufen. Wie können sie nur glauben, einfach alles bestimmen zu dürfen? Sie haben doch keinen Anspruch auf dieses Baby. Oder verstehe ich hier was falsch?

„Außerdem wirst du Vitamine zu dir nehmen und jeden Tag drei Tassen von einem speziell gebrauten Tee trinken“, macht Haruiko mit seiner Ansprache weiter.

„Ich habe aber gelesen, dass es nicht nötig ist, so viel …“

„Darüber gibt es keine Diskussion. Du hast es alles unterschrieben, bevor du Jim geheiratet hast.“

„Mach dir keine Sorgen, Kaori, meine Liebe. Bei Jim und Joe haben wir das auch alles so gemacht und aus den beiden ist schließlich auch was geworden“, wirft Frau Kido ein. Beinahe hätte ich gelacht.

„Deinem Kind wird es in unserer Familie an nichts fehlen. Es wird eine hervorragende Erziehung, den besten Privatlehrer und den schönsten Namen bekommen.“

„Den Namen? Kaori darf ihn nicht mit aussuchen?“ Ich sehe fragend in die Runde und alle Anwesenden schauen mich an, als wäre ich nicht ganz bei Sinnen.

„Wo kämen wir da hin? Er muss schließlich zu unserer Familie passen. Da darf man nichts dem Zufall überlassen“, antwortet Haruiko und wirft mir einen giftigen Blick zu. So viel Feindseligkeit. Aber er macht mir keine Angst mehr.

„Und so viel Intelligenz traut ihr Kaori nicht zu?“, steige ich für Kaori in den Ring, doch da schlägt mir bereits blanke Wut entgegen.

„Halt dich da raus, du freche Göre!“

„Vater!“, mischt sich nun endlich auch Joe ein, der bis jetzt noch keinen Ton dazu gesagt hat. Für ihn ist das wahrscheinlich alles völlig normal. „Mimi ist immer noch meine Verlobte. Bitte sprich nicht so mit ihr.“

Ich sehe ihn an. Joe? Du weist deinen Vater zurecht? Oh man, nicht, dass er gleich enterbt wird. Trotzdem mutig von ihm, mich so zu verteidigen, auch wenn ich das allein geschafft hätte. Der Prof. räuspert sich.

„Du hast recht, Joe. Bitte verzeih. Aber sie hat sich da nicht einzumischen. Kaori wird einen Kido zur Welt bringen und in der Hoffnung, dass es ein männlicher Erbe sein wird, werden wir alles tun, damit er gesund ist. Die Fruchtwasseruntersuchung wird uns in ein paar Wochen Aufschluss darüber geben.“

„Fruchtwasseruntersuchung?“ Nun ist Kaori nicht mehr nur blass, sie sieht direkt panisch aus. Hilfesuchend sieht sie zu Jim.

„Das will ich nicht.“

„Wie bitte?“

„Ich will so eine Untersuchung nicht.“

„Schatz, das ist enorm wichtig.“

„Für wen denn?“ Sie greift nach seiner Hand wie nach dem letzten Strohhalm und sieht ihn eindringlich an. „Jim, ich will das nicht!“ Doch ihr Ehemann seufzt nur, als wäre ihm die Antwort zu anstrengend.

„Darüber sprechen wir noch mal. Lassen wir das Thema für heute. Wir müssen jetzt ohnehin los.“

Kaori nickt zaghaft und erhebt sich dann von ihrem Stuhl, ohne auch nur ein Stück Gebäck gegessen oder den Tee auch nur angerührt zu haben. Ich sehe ihr hinterher, wie sie sich pflichtbewusst zum Abschied verbeugt und sich für den Tee bedankt und dabei so unendlich traurig aussieht, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr sie mir leid tut. Ich habe ihr dieses Kind so gewünscht, sie hat es sich so gewünscht. Und jetzt soll das alles so laufen? Ich kann verstehen, dass sie das nicht hat kommen sehen, egal, was vorher unterschrieben wurde.

Wenn Tai es wirklich mit seinen Recherchen erfolgreich ist … wenn er wirklich etwas findet, womit wir Haruiko zu Fall bringen könnten … wenn er mich wirklich hier raus holen könnte …

Wie soll ich es schaffen, Kaori zurückzulassen?
 

Zum Glück musste ich es nicht mehr lange mit Haruiko aushalten, denn er hat sich kurz nach Jim und Kaori verabschiedet. Heute ist zwar Samstag, aber anscheinend hat man als Chefarzt nie Feierabend. Auch Joe muss gleich ins Krankenhaus, da er Spätdienst hat, aber vorher wollte er mir noch was geben. Ich folge ihm in sein Büro und er reicht mir eine Liste.

„Was ist das?“, frage ich. Es sind mehrere Blätter, mit unzähligen Namen darauf.

„Das ist die Gästeliste für unsere Hochzeit.“

Ich staune und blättere. So viele Leute werden kommen?

„Haben die schon alle Einladungen bekommen?“

Joe nickt. „Die hat meine Mutter direkt nach der Verlobungsfeier rausschicken lassen.“

Aha. Gut, zu wissen. Wäre ja schön gewesen, wenn ich die Einladungen vorher mal gesehen hätte.

„Warum zeigst du mir das? Ich habe sowieso keine Ahnung, wer diese Leute sind“, frage ich.

Joe grinst verlegen. „Das wird dir jetzt nicht gefallen. Wir feiern zwar keine rein traditionell japanische Hochzeit, aber eine dieser Traditionen, die wir trotzdem übernommen haben, ist es, jedem Gast einen persönlichen Brief zu schreiben.“

Unsicher ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „Und … du willst, dass ich die Liste an Ansgar weitergebe, oder …?“

Joe sieht mich entschuldigend an. „Ansgar wird die Briefe nicht schreiben. Das müssen wir machen, Mimi.“

„Was?“, entfährt es mir und ich wage noch einen Blick auf die Liste. „Aber … das sind locker 300 Gäste.“

„358, um genau zu sein.“ Er rückt seine Brille zurecht und räuspert sich kurz. „Du musst das ja nicht alleine machen, ich helfe dir dabei und es müssen auch keine langen Briefe werden. Aber ich dachte mir, vielleicht könntest du heute schon mal damit beginnen.“

Das soll doch ein Scherz sein, oder? Klar, ich darf mir weder die Location, noch die Musik, noch die Torte oder die Dekoration selbst aussuchen, aber diese blöden Briefe, dafür bin ich gut genug.

Was rege ich mich eigentlich so auf? Wenn alles gut geht, wird diese Hochzeit ohnehin nicht stattfinden. Also, spiel einfach mit, Mimi.

„Klar“, sage ich daher zuversichtlich. „Mir wird schon was einfallen. Wenn du sagst, sie müssen nicht so lang werden. Ich werde Ihnen einfach danken, dass sie uns die Ehre erwiesen haben, unsere Gäste zu sein und dass wir uns darauf freuen, sie auch zukünftig als Freunde unserer Familie und Geschäftspartner begrüßen zu dürfen.“ Offensichtlich war das genau das, was Joe hören wollte, denn er lächelt begeistert. „Ich wusste, du schaffst das. Du bist einfach perfekt für unsere Familie.“ Er beugt sich nach vorne und ich drehe gerade noch so den Kopf leicht zur Seite, damit mich seine Lippen nur auf der Wange treffen.

„Was hältst du davon, wenn du heute Abend nach meinem Spätdienst zu mir in die Wohnung kommst?“

Au Backe. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Joes Augen strahlen förmlich und er sieht mich ganz verliebt an. „Du bist jetzt schon so lange bei uns und manchmal vergesse selbst ich, dass ich ja eigentlich gar nicht hier wohne.“ Er lacht über diese Tatsache und nimmt meine Hand. „Wir werden bald heiraten und ich finde, meine zukünftige Ehefrau soll sehen, wo wir dann wohnen werden. Natürlich nur, bis wir eine Familie gründen. Dann müssen wir uns räumlich vergrößern.“

Woah, halt. Heiraten ist schon schlimm genug, aber wenn ich seinen Gedanken folgen kann, denkt er bereits an zusammenwohnen und Kinder kriegen. Vermutlich hat ihn Jim und Kaoris neues Glück dazu beflügelt.

Meine Kehle ist staubtrocken bei diesem Thema und ich kriege so schnell nicht mal eine Antwort heraus, deshalb grinse ich einfach nur dämlich, was Joe offensichtlich als Zustimmung deutet. „Sehr schön“, sagt er zufrieden und gibt mir noch einen Kuss, diesmal auf den Mund. Ganz flüchtig. Ich bin wie erstarrt, während er wie ein Honigkuchenpferd grinst. „Dann sehen wir uns heute Abend.“

Verdammt, wie komme ich aus dieser Nummer nur wieder raus? Ich habe neulich schon vorgeschoben, dass es mir nicht gut geht, das kauft er mir doch nicht noch mal ab.

„Ach so, und wenn du möchtest, kannst du gerne in die Stadt fahren und dir schönes Briefpapier aussuchen. Es ist wichtig, dass alles perfekt ist.“

Klar. Perfekt.

Ich schlucke trocken. „Aber ich darf doch nicht ohne Begleitung in die Stadt.“

Joe legt den Kopf schief und denkt nach. „Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Über diese Regel sollte ich mit meinem Vater unbedingt noch mal sprechen. Er hat dich lang genug an der kurzen Leine gehalten. Ich könnte Tai fragen, ob er dich begleitet. Er hat zwar schon Feierabend, aber er weiß, dass ich Überstunden gut bezahle.“ Er will schon sein Handy aus der Hosentasche kramen, als ich ihn davon abhalte. „Ist nicht nötig, ich kann ihn auch anrufen und ihn fragen. Du musst jetzt los, sonst kommst du noch zu spät.“

Prüfend sieht Joe auf seine Uhr und reißt dann die Augen auf. „Mist, du hast recht. Ich bin schon zehn Minuten zu spät dran. Wir sehen uns heute Abend, Mimi. Ich freue mich auf dich.“ Wieder drückt er mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet dann endlich. Halleluja, drei Küsse an einem Nachmittag – das ist neuer Rekord. Joe will es anscheinend wissen und dass er mir unbedingt seine Wohnung „zeigen“ will, deute ich so, dass er einen Schritt weiter gehen möchte. Oh nein, das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.
 

Tai

Ich vermisse Tanabata. Ich vermisse mein Mädchen. Ich vermisse ihren Duft, ihre Küsse, ihre Hände in meinen. Wie gerne würde ich die Zeit zurückdrehen und dann anhalten, damit ich einfach noch etwas länger mit ihr auf dieser Wiese sitzen und sie im Arm halten kann. Ich habe es die letzten Tage nicht geschafft, sie zu sehen, weil Joes Terminkalender mich zu sehr eingenommen hat. Außerdem steht bald das Fußballcamp an, das ich unbedingt planen musste. Danach bin ich wieder mal als Stuntman für einen Film gebucht. Ich werde also bald schon viel um die Ohren haben. Umso wichtiger ist es, dass ich endlich etwas finde.

Mir läuft die Zeit davon.

Und die einzige Spur, die ich habe, ist ein Taschentuch. Von einer Oberschülerin, die ich vorher noch nie gesehen habe.

Ganz toll.

Ich weiß immer noch nicht, ob es eine gute Idee ist, all meine Zeit in diese Vermutung zu stecken und ob sich der Aufwand lohnt. Aber ich hatte nur zwei Optionen: entweder ich tappe weiter im Dunkeln und versuche mehr Leute ausfindig zu machen, oder ich vertraue auf mein Bauchgefühl. Und da mich das noch nie im Stich gelassen hat, setze ich auch hier auf meine Intuition.

Aus diesem Grund bin ich gerade auf dem Weg zu Frau Yanos Anwesen, als mein Handy klingelt. Ich schalte auf die Freisprechfunktion um und hebe ab. Es ist Mimi.

„Hey, Prinzessin. Du fehlst mir“, sage ich sofort, woraufhin sie kichert.

„Du mir auch. Was machst du gerade?“

„Ich bin auf geheimer Mission, wenn du verstehst, was ich meine. Ich habe da eine Spur und der würde ich gerne nachgehen. Warum fragst du?“

„Könntest du mich abholen?“

Ich stutze. „Dich abholen? Haben wir ein Date?“

Mimi kichert wieder. „So ungefähr. Ich soll Briefpapier besorgen und ich darf das Anwesen leider nicht alleine verlassen. Joe meinte, du hättest schon Feierabend, aber ich soll dich ruhig …“

„Natürlich hole ich dich ab“, sage ich schnell. Als ob ich mir auch nur eine einzige Chance entgehen lassen würde, mit Mimi allein zu sein. Allerdings … „Ist Frau Kido zu Hause? Du weißt, dass sie mir gegenüber sehr misstrauisch ist, was dich betrifft.“

„Nein, sie ist eben gegangen“, antwortet Mimi. „Sie muss irgendwas erledigen.“

„Sehr gut. Wozu brauchst du Briefpapier?“

Mimi schnaubt ins Telefon. „Erkläre ich dir später. Wann kannst du hier sein?“

Ich werfe einen Blick auf die Uhr, während ich bereits an der nächsten Kreuzung wende und die entgegengesetzte Richtung einschlage. „Ungefähr fünfzehn Minuten.“

„Sehr schön, dann bis gleich.“

„Bis gleich, Prinzessin.“ Ich grinse übers ganze Gesicht. Mimi und ich allein in meinem Auto. Na, wenn das mal nicht spaßig werden könnte.
 

Als aller erstes fahren wir schnell dieses dämliche Briefpapier kaufen. Ich weiß immer noch nicht, wozu sie das eigentlich braucht. Aber inzwischen sitzen wir in meinem Auto vor Frau Yanos Haus und warten darauf, dass irgendwas passiert, während Mimi die Beine angewinkelt hat und schreibt, nachdem ich sie in meine Theorie eingeweiht habe. Wenn man das überhaupt Theorie nennen kann. Die einzige Vermutung, die ich aktuell habe, ist, dass Frau Ayaka Yano mehr weiß, als sie zugibt und dass dieses Mädchen – sehr wahrscheinlich ihre Tochter – irgendetwas damit zu tun haben könnte.

Zwischendurch sieht Mimi immer mal von ihren Zeilen auf, um zu sehen, ob sich schon was tut, aber bis jetzt regt sich nichts. Ich habe den Ellenbogen auf die Seitentür gestützt und mein Kopf ruht in meiner Hand, während ich mit müden Augen in Richtung Haus starre.

„Was hat sie eigentlich genau gesagt, als ihr euch getroffen habt?“, fragt Mimi plötzlich. „Frau Yano, meine ich.“

Ich muss gähnen. „Sie hat gesagt, ich soll nicht weiter bohren und dass sie jemanden beschützen muss.“

„Meinst du, sie meinte das Mädchen damit? Ihre Tochter? Die, von der du das Taschentuch hast?““

„Vielleicht.“

„Aber wie sollte ausgerechnet eine Oberschülerin mit den Kidos in Verbindung stehen?“

„Das weiß ich auch noch nicht, aber mein Bauchgefühl sagt mir einfach, dass da etwas ist, was ich momentan noch übersehe.“

Mimi greift nach dem seidenen Taschentuch, was in der Mitte liegt und sieht es sich an.

„Nanami. Ein schöner Name. Hast du gesehen, dass ein kleiner Fleck darauf ist. Das könnte Lippenstift sein.“

Ich werfe einen Blick zu ihr rüber. „Ist mir nicht entgangen. Super, wenn man die besten DNA-Spuren hat und nicht weiß, wie man sie für sich nutzen soll.“

Mimi grinst und legt das Tuch wieder weg. „Ich komme mir vor wie eine Detektivin.“

Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln und ich beuge mich zu ihr rüber. „Was schreibst du da eigentlich die ganze Zeit?“ Verwirrt ziehe ich eine Augenbraue nach oben.

„Das sind Briefe an unsere Hochzeitsgäste. Joe hat mich gebeten, schon mal ein paar zu schreiben. Und … er hat mich um noch etwas gebeten …“

Fragend sehe ich sie an, während Mimi sich auf die Unterlippe beißt. Sie weicht meinem Blick aus. „Er will, dass ich ihn heute Abend in seiner Wohnung besuchen komme.“

Ich lehne mich wieder in meinen Sitz zurück und verschränke die Arme vor der Brust. „Er will dich verführen.“

„Oh Gott“, bricht es verzweifelt aus Mimi heraus und sie schlägt sich beide Hände vors Gesicht. „Betone es nicht auch noch. Ich weiß selbst, was das bedeutet.“

„Wirst du hingehen?“ Alles in mir sträubt sich dagegen, mir auch nur ansatzweise vorzustellen, was Joe gerne mit meinem Mädchen machen würde. Ich habe mir schon oft Gedanken darüber gemacht, wie ich damit umgehen soll, wenn diese Hochzeit wirklich stattfindet. Um ehrlich zu sein, schnürt es mir die Kehle zu. Ich will nicht, dass er sie küsst, ich will nicht, dass er sie anfasst und ich will schon gar nicht, dass er sie begehrt. Mimi gehört zu mir und nicht zu ihm.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe ihm neulich schon eine Lüge aufgetischt, als er sich mit mir das Feuerwerk anschauen wollte. Ich muss da irgendwie durch.“

Ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung. „Was soll das heißen?“ Okay, ich platze gleich vor Eifersucht.

„Das heißt auf keinen Fall, dass ich ihn an mich ran lasse, Tai. Niemals. Du bist der Einzige, der mich haben darf. Aber ich muss mir was einfallen lassen.“

Verdammt, und ich muss etwas finden. Irgendetwas, das mir hilft, Mimi aus dieser arrangierten Ehe zu kriegen. Und zwar so schnell wie möglich, am besten bevor Joe auf dumme Gedanken kommt.

Mimi rutscht zu mir rüber und legt eine Hand an meine Wange, während sie mir tief in die Augen sieht. „Ich will nur dich.“ Dann berühren ihre weichen Lippen meine und ich erwidere den Kuss. Ich lege eine Hand in ihren Nacken und ziehe sie näher zu mir. Ihr Duft hüllt mich ein, wie in eine weiche Wolke und sofort entspannt sich mein Körper. Ein tiefer Seufzer dringt aus meiner Kehle, als ich von Mimis Lippen ablasse und beginne ihren Hals zu küssen. Ihre Finger vergraben sich in meinem Haar. Sie stöhnt lustvoll auf und ich spüre, wie heiß mich das macht. Für einen Moment vergesse ich völlig, wo wir sind und bin drauf und dran, sie auf die Rückbank zu zerren, als sie mir gleich mehrmals gegen den Oberarm schlägt. „Tai! Tai!“

Widerwillig lasse ich von ihr ab und hebe den Kopf. Ich folge ihrem Blick nach draußen.

„Siehst du, was ich sehe?“

„Allerdings“, entgegne ich ein wenig erstaunt. „Das ist eine Minderjährige, die aus ihrem Fenster klettert.“

Das holt mich definitiv in die Realität zurück. Ich erkenne das Mädchen sofort, das gerade aus ihrem Fenster steigt, von dort aus auf das Dach der angrenzenden Garage springt und sich dann an die Regenrinne hängt, um sich den letzten Meter fallen zu lassen. Meine Augenbrauen wandern beeindruckt in die Höhe. So geschickt wie sie das macht, tut sie das nicht zum ersten Mal.

„Ist das Nanami?“, fragt Mimi. Ich nicke.

„Aber was macht sie da? Wo will sie hin?“

„Das finde ich gleich heraus. Am besten, du wartest hier.“ Ich öffne die Fahrzeugtür und steige aus, während Nanami das Grundstück verlässt und sich dabei immer wieder prüfend umsieht. Sie ist so mit ihrer Flucht beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerkt, auch nicht, als ich ihr die Straße runter folge.

„Cupcake? Cupcake, wo bist du?“, beginnt sie zu rufen und sieht sich suchend nach allen Seiten um. Vermutlich ist Cupcake ihr Haustier. Ob es weggelaufen ist?

Mit einem größeren Abstand gehe ich weiter hinter ihr her und siehe da – auf dem Kirschbaum eines benachbarten Hauses miaut etwas.

„Oh, Cupcake“, meint Nanami erzürnt und stemmt die Hände in die Hüfte, als sie die Katze entdeckt. „Wieso machst du das ständig? Wie soll ich dich denn da wieder runter kriegen?“ Das ist offenbar mein Stichwort.

„Hey“, rufe ich und tue so, als wäre ich einfach irgendein Spaziergänger. „Brauchst du Hilfe mit deiner Katze?“ Nanami dreht den Kopf in meine Richtung und sieht mich erschrocken an. Schon wieder habe ich das Gefühl, sie schon ein mal gesehen zu haben.

„Ähm“, macht sie leicht verwirrt. Sie wirkt fast ein bisschen ängstlich.

„Ich darf eigentlich nicht mit Fremden sprechen.“

Was? Sie ist doch keine Grundschülerin mehr und wirklich angsteinflößend sehe ich ja nicht gerade aus. Ich bleibe neben ihr stehen und sehe nach oben ins Geäst, wo mich eine kleine, weiße Katze an miaut.

„Okay, ich wollte dir nur helfen“, sage ich freundlich. Aber du hast sicher einen Vater, der dir dabei helfen kann, sie wieder runter zu holen.“

Sie presst die Lippen aufeinander und sieht beschämt zur Seite. Oh, wunder Punkt?

„Habe ich nicht. Und er ist keine ‚sie’, er ist ein Kater. Und ehrlich gesagt weiß ich auch gerade nicht, wie ich ihn da runter kriegen soll.“ Verzweifelt sieht sie nach oben in den Baum.

„Wie gesagt, wenn du willst, mach ich das für dich.“

Nach kurzem Zögern nickt sie schließlich. Viele Optionen hat sie ja anscheinend auch nicht. Ich kremple die Ärmel hoch und gehe zu dem Baum. Ich mache einen weiten Sprung nach oben, damit ich den ersten Ast zu fassen bekomme. Von dort aus schwinge ich mich weiter zum Nächsten, bis ich mit den Füßen Halt am Baumstamm finde und weiter nach oben klettern kann. Ich muss tatsächlich bis ganz nach oben. Der Kater ist zum Glück sehr zutraulich und lässt sich von mir helfen. Als ich ihn sicher habe, klettere ich wieder nach unten und springe das letzte Stück.

„Wow“, sagt Nanami und sieht mich fasziniert an. „Beeindruckend.“

„Danke, ich mache so was in der Art beruflich, ist also ein Kinderspiel.“

„Danke, für Ihre Hilfe“, sagt Nanami mit einer tiefen Verbeugung und irgendwie erinnert sie mich dabei an Kaori. Sie scheint eine sehr gute Erziehung genossen zu haben. Ich übergebe ihr den Kater und sie drückt ihn fest an sich.

„Vielen, vielen Dank. Sie haben ja keine Ahnung, was er mir bedeutet. Leider läuft er ständig weg und dann muss ich mich nach draußen schleichen, um ihn zu suchen. Er klettert gern auf Bäume, aber er ist ein kleiner Feigling und traut sich nicht runter zu springen. Gut, dass du wieder da bist, Cupcake.“ Sie drückt dem Tier einen Kuss aufs Fell, während ich mich frage, warum sie sich überhaupt rausschleichen muss.

„Wie alt ist er?“

„2 Jahre. Ich habe ihn von meiner Mutter zum 15. Geburtstag bekommen.“

„Dann musst du eine sehr nette Mutter haben.“

„Ja, schon“, sagt Nanami zwar, aber sieht auch ein wenig traurig aus. „Ich wünschte nur, sie hätte ihn mir nicht aus Mitleid geschenkt. Egal.“

Ich stutze kurz und überlege, warum jemand einem anderen ein Tier aus Mitleid schenkt. Nanami sieht leicht verlegen aus und möchte sich nun doch schleunigst verabschieden. „Ich muss dringend zurück, vielen …“

„Tai?“

Ich schaue nach hinten. Da kommt Mimi gelaufen. „Wo bleibst du denn so lange?“

Nanami reißt die Augen auf und sieht Mimi an, als wäre sie ein Geist. „Ich kenne Sie“, sagt sie fast schon ehrfürchtig. „Ich habe Sie in der Zeitung gesehen.“ Nun erhellt sich ihr Gesicht als Mimi neben mir stehen bleibt.

Ich schaue zu ihr rüber und sehe die Verwirrung in ihrem Blick, als sie Nanami das erste mal gegenübertritt und sie aus nächster Nähe betrachten kann. Was denkt sie wohl gerade? Ich sehe wieder zu Nanami. Kann das sein …?

„Ähm, ja, hi. Ich bin Mimi.“

Mimi verzichtet auf eine Verbeugung, während Nanami sich gleich doppelt so tief verbeugt. „Ich kann nicht fassen, dass ich Ihnen tatsächlich begegne. Ich habe Ihre Verlobung in der Presse verfolgt und folge Ihnen auch auf Instagram. Was sie für die Kinder im Krankenhaus gemacht haben, war wirklich cool. Und Ihr Piano Solo war sogar auf YouTube.“

Sie folgt Mimi auf Instagram? Bingo!

„Danke, ich freue mich, dass es dir gefallen hat“, antwortet Mimi selbstbewusst.

„Würden Sie ein Foto mit mir machen?“

Mimi zuckt mit den Schultern. „Aber klar doch!“ Sie positioniert sich neben Nanami, die mir ihr Handy gibt und mich bittet, ein Foto zu schießen. Nanami lächelt in die Kamera und wieder kommt mir etwas sehr merkwürdig vor, aber ich kann es nicht genau benennen. Als das erledigt ist, gebe ich ihr das Handy zurück.

„Es war wirklich schön, Sie zu treffen.“ Nanami strahlt übers ganze Gesicht, als wäre das gerade das absolute Highlight ihres Tages. „Und danke noch mal, dass Sie meinen Cupcake gerettet haben“, sagt sie an mich gewandt. „Ich muss jetzt dringend nach Hause. Tschüss.“

„Tschüss“, ruft Mimi ihr hinterher, während ich nachdenklich die Arme vor der Brust verschränke.

„Tai …“, haucht Mimi geheimnisvoll, als Nanami außer Sichtweite ist. „Ist es dir aufgefallen?“

„Ja. Ich weiß nur nicht, was es ist. Aber schon beim ersten Mal, hatte ich das Gefühl, sie schon mal gesehen zu haben.“

„Was? Siehst du es denn nicht?“ Mimi sieht mich fassungslos an, als könnte sie es selbst nicht ganz glauben. „Die schwarzen Haare, die dunklen Augen, die Brille, ihr Lächeln …“

Plötzlich schaue ich sie entgeistert an, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt und Mimi den einzigen Gedanken ausspricht, auf den ich nicht gekommen bin, der jedoch so nahe liegt.

„Sie sieht aus wie Joe.“

Kapitel 37

Mimi
 

Ich stehe vor Joes Hausblock und zögere noch damit, zu klingeln. Ich hänge noch meinen Gedanken nach. Nachdem wir Nanami aus nächster Nähe gesehen haben, sind Tai und ich mehr und mehr davon überzeugt, dass sie irgendwas mit den Kidos zu tun haben muss. Aber was? Tai wollte sich Zuhause unbedingt nochmal an den Rechner setzen und seine Notizen durchgehen. Wir sind da etwas großem auf der Spur und Tai hat schon einen Plan für sein weiteres Vorhaben. Und ich bin froh, dass er diese Ablenkung hat, denn ich weiß, er hasst es, dass ich gerade vor Joes Tür stehe. Ich weiß ehrlich gesagt selbst nicht, was ich hier mache. Wird Joe wirklich versuchen, mich zu verführen? Wie Verführungskünste eines Dr. Joe Kido wohl so aussehen? Ich will das alles nicht. Am liebsten würde ich einfach gleich mit ihm Schluss machen, aber was, wenn nur Minuten später meinen Eltern was schlimmes passiert? Wenn Joe nur wüsste, was sein Vater mir antut und angetan hat, ob er ihn verteidigen oder mich sogar einfach ziehen lassen würde? Das alles weiß ich nicht, aber so lange wir keine Beweise haben, muss ich weiterhin die Verlobte von Joe spielen. Ob ich will oder nicht.

Ich betätige nach weiteren zehn Minuten die Klingel und Joe spricht gleich durch den Lautsprecher zu mir. Hat er die ganze Zeit daneben gestanden? “Hi Joe.”

“Mimi, da bist du ja endlich. Fahr mit dem Aufzug gleich in die zehnte Etage. Du musst ein Passwort eingeben: 4762 und dann bist du gleich in meinem Apartment."

Okay, warum sollte auch eine Tür in seine Wohnung führen? Ist ja voll von vorgestern. Ich gebe das Passwort ein und gleich darauf bin ich in Joes Wohnung. Das geht mir eindeutig zu schnell. Na, zum Glück bin ich nicht gleich in seinem Schlafzimmer ausgekommen.

“Mimi, schön dich zu sehen.” Er begrüßt mich schon wieder mit einem Kuss, aber ich drehe meinen Kopf, sodass er nur meine Wange trifft. Meine Güte, Zeichen deuten kann er nicht gerade.

“Ja, ich bin gespannt, wie du lebst.”

“Du meinst wir. Immerhin wirst du auch bald hier wohnen. Ich zeige dir heute alles.” Joes Wohnung ist wirklich groß. Sie muss wahrscheinlich ein Vermögen gekostet haben. Sein Wohn- und Esszimmer hat alleine rund 40qm. Der Boden ist aus hochwertigem dunklem Parkett. Die Wände sind in Cremefarben tapeziert. Ehrlich gesagt hätte ich erwartet, dass alles weiß und steril ist. Wie ein Krankenhaus eben. Aber das ist wohl sehr oberflächlich gedacht. Er besitzt sogar einen normalen Esstisch aus echtem Holz mit schwarzen Lederstühlen. Die Küche ist weiß, Hochglanz und hat eine große Kochinsel. Wahnsinn. Geschmackvolle Gemälde hängen an der Wand und man findet keinen einzigen Staubkorn irgendwo. “Du hast dich wirklich sehr schön eingerichtet.”

“Ehrlich gesagt, hat das meiste Kaori gemacht. Ihr Schwerpunkt lag bei der Innenarchitektur und ich hab ihr gesagt, sie dürfte sich hier komplett austoben. Ich finde sie hat es toll gemacht.” Kaori hat also die Einrichtung übernommen. Wirklich schön. Ein Jammer, dass sie nie wieder in diesem Beruf arbeiten wird, weil eine Kido Frau ja nicht arbeitet. Allerdings darf ein Kido Frau auch scheinbar nicht mal selbst auf ihr Kind aufpassen. “Wo wir gerade von Kaori sprechen. Ich finde es richtig mies, wie ihr über ihren Körper und das Baby entscheiden wollt. Habt ihr nicht gesehen, wie traurig ihr sie damit gemacht habt?” Auch wenn Joe am wenigstens dafür kann, irgendwer muss meine ganze Wut jetzt abbekommen.

“Meine Eltern haben es so entschieden."

“Und dann ist das Gesetz, oder wie?”

“Ja.”

Einfach so? Keiner hinterfragt hier mal etwas? Es wird einfach so hingenommen?

“Nur, dass du es weißt. Ich werde nur einen Kaiserschnitt machen, wenn es medizinisch notwendig ist und ich werde mein Kind, sollte es eins geben, denn ganz ehrlich, aktuell bin ich mir da nicht sicher, stillen und sicher nicht von irgendeiner Nanny füttern lassen. Und ich suche den Namen aus. Sonst keiner. Na ja, der Vater des Kindes hat noch Mitspracherecht, aber das wars.” Wow, ich bin immer noch so wütend deswegen und Joe? Der lächelt mich nur an.

“Das mag ich so an dir. Du kämpft für das, was dir wichtig ist. Hätte Kaori das vor zwei Jahren gemacht, würde es jetzt für sie auch anders aussehen.”

“Joe, Kaori wusste doch gar nicht, was sie will, sie wurde ja auch nie gefragt und es hat nie jemanden interessiert, aber ihr Baby, das sollte man schon ihr überlassen.”

“Glaub mir, Jim wird sicher auch noch was dazu sagen.”

“Oh man, Joe, wird er nicht. Er ist nicht, wie du.”

“Genug von den Beiden. Erzähl, wie war dein Tag? Hast du das Briefpapier gekauft?” Keine Ahnung, wie Joe jetzt einfach das Thema wechseln kann, aber offenbar hat er zu diesem Thema alles gesagt. Joe öffnet die obere Schranktür seiner Küche und holt zwei edle Weingläser heraus. Aus einem Unterschrank, der gut mit alkoholischen Getränken gefüllt ist, holt er eine Rotweinflasche heraus. Ist das also seine Taktik? Mich mit Alkohol abfüllen? Wein vertrage ich nicht mal wirklich gut. Es würde nicht lange dauern. Keine Sorge, Tai mein Versprechen halte ich. Ich werde einfach Joe abfüllen. Vielleicht kriege ich ja sogar was aus ihm raus. Die Frage ist nur, ob er überhaupt irgendetwas weiß.

Er schenkt uns beiden ein Glas ein. Wir gehen ins Wohnzimmer zurück und Joe schaltet den Kamin ein. Oje. Wo ist das Schachbrett? Das wäre mir ehrlich gesagt, jetzt lieber, als plötzlich hier Mr. Romantic vorzufinden. “Ich habe das Briefpapier gekauft und die ersten fünfzig Briefe geschrieben.”

“Wow. Da warst du aber wirklich fleißig.”

“Ach was.” Joe hat wieder diesen Blick aufgesetzt und unweigerlich muss ich an Nanami denken. Sie hat auch diesen Blick gehabt. Komisch.

"Du Joe, hast du eigentlich noch andere Verwandte?”

“Was meinst du?”

"Cousin? Cousinen? Onkel, Tanten? Ne Nichte?”

Joe schüttelt seinen Kopf. “Meine Eltern sind beide Einzelkinder und Jim hat auch noch keine Kinder, also nein. Keine näheren Verwandten. Warum fragst du?”

“Ach, nur wegen den ganzen Danksagungen, nicht dass ich mal was falsches schreibe.”

“Mach dir nicht so einen Stress wegen den Danksagungskarten.” Joe hält mir sein Glas hin und ich stoße mit ihm an. Also Nanami, wer bist du? Offenbar, ist dass die Frage, die wir lösen müssen.

Joe rutscht näher zu mir rüber. Oh nein, er will es echt wissen. Es ist mir so unangenehm. Mein Smartphone vibriert, bestimmt Tai, der Kopfkino hat. Schnell ergreife ich mein Weinglas und halte es vor mein Gesicht, sodass Joes Mund mein Glas küsst. Ich kichere blöd und was nun? Den Inhalt über seinen Kopf kippen?

“Mimi, ist alles in Ordnung? Du wirkst ein wenig angespannt?” Ein wenig?

“Nene, alles gut.” Ich nippe an meinem Wein und muss mir irgendwas überlegen. Vielleicht habe ich gerade zufälligerweise meine Periode bekommen? Das turnt doch so richtig ab, oder? Was, wenn es bei ihm aber nicht so ist? “Doch, du rutscht immer weiter von mir weg. Hab ich dir was getan?”

Oh, ist mir nicht mal aufgefallen. “Nein, du hast mir nichts getan. Es ist nur …”

Und da werden wir schon unterbrochen, Joes Smartphone klingelt. Er schielt darauf. “Tai? Was, will der denn noch um diese Uhrzeit?” Ich fasse es nicht. Tai, chill mal. Bitte. Ich krieg das schon hin.

“Was ist los?”, nimmt Joe das Gespräch entgegen. “Ja Tai, ich weiß das morgen das Meeting mit der neuen Oberärztin ist.” Joe nickt und verdreht die Augen. Oh man, ich muss mich echt zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. “Ja, um halb elf. Ich weiß, Tai. Ja, ja, ich weiß, dass das wichtig ist. War das alles? Okay, dann dir noch einen schönen Abend.” Joe legt auf, versucht sich gleich wieder zu sammeln und sich auf mich zu konzentrieren. “Wo waren wir? Ich weiß es nicht mehr.”

“Ich auch nicht”, lüge ich und nippe wieder an meinem Glas. Joe scheint es wieder eingefallen zu sein, denn er rutscht wieder näher zu mir rüber.

“Mimi, sag mal. Wenn wir uns einfach so begegnet wären, wäre ich dann auch interessant für dich gewesen?”

Oh no. Was soll die Frage denn jetzt? Die Antwort will er sicher nicht hören.

“Hmm, ich weiß nicht. Mir hätten da wohl ein paar Gemeinsamkeiten gefehlt und für was ernstes hätte es dann wahrscheinlich eher nicht gereicht.”

“Na ja, wenigstens bist du ehrlich.” Joe lächelt, aber ich erkenne, dass ihm die Antwort wohl verletzt hat.

“Das Gute ist, dass ich dich jeden Tag davon überzeugen kann, dass ich eine wirklich gute Wahl bin. Ich werde mich gut um dich kümmern, Mimi und es wird dir auch an nichts fehlen.”

Ich lächele ihn an. Denn ich glaube wirklich, dass Joe ein toller Mann ist, der für seine Frau alles tun würde. Nur, bin ich nicht diese Frau. Ich weiß jetzt schon, dass das schlimmste was passieren wird ist, ihn zu verletzen und das Herz zu brechen. Das hat er nicht verdient. Und mit jedem Tag der vergeht, wird es schlimmer werden.

“Du bist wirklich ganz anders, als dein Vater und dein Bruder. Weißt du das eigentlich?”

Joe lacht und nickt gleichzeitig. “Ja, sowas durfte ich mir schon öfter anhören. Allerdings war das nie positiv gemeint.”

“Aber ich meine das als Kompliment. Wirklich. Haruiko und Jim sind einfach kalt und herzlos. Du hast ein wirklich gutes Herz, auf dich kann man sich immer verlassen, finde ich zumindest und Joe, das ist eine Eigenschaft, auf die du stolz sein solltest.” Joe scheint sich über meine Worte zu freuen, denn er setzt wieder an mich zu küssen, doch da wird er erneut von einem Anrufer gestört. “Tai?”, wundert sich Joe erneut. Hat der Typ hier irgendwo heimlich ne Kamera installiert?

“Was ist denn jetzt schon wieder?” Joe ist sichtlich genervt. Oh man, ich muss Tai unbedingt ne Nachricht schreiben, dass ich hier schon alles im Griff habe, sonst steht er hier gleich noch auf der Matte. “Ja, ich weiß, dass du bald drei Wochen weg bist. Erst ist das Fußballcamp und dann bist du wieder als Stuntman weg. Ja, ich weiß.” Joe nickt sachlich, aber atmet bewusst laut. “Wir besprechen das morgen. Machs gut.” Joe sieht mich entschuldigend an.

“Entschuldigung, ich weiß auch nicht, was heute mit ihm los ist”.

“Ach, alles gut. Er kann wohl schlecht abschalten.” Wundert mich null.

“Ja, scheint so.” Joe hat diesmal offenbar nicht vergessen, wo wir stehen geblieben sind und küsst mich, ohne große Umschweife. Ich gewähre ihm diesen Kuss und stoße ihn dann aber sanft von mir. “Ich bin einfach noch nicht so weit”, platzt es schließlich aus mir heraus. Mit großen Augen schaut Joe mich an.

“Ich meine, ich bin natürlich keine Jungfrau mehr, aber bisher lief das bei mir halt anders ab. Ich … keine Ahnung, würde mir wünschen, wir würden warten, bis wir verheiratet sind? Bis wir den nächsten Schritt gehen?”

“So lange noch?”

Lange? Das sind doch nur noch sieben Wochen. Ich nicke jedoch nur und bleibe bei meiner Aussage. “Ja, bitte.” Joe nickt schließlich, aber was bleibt ihm auch anderes übrig? Einfach über mich herfallen, würde er niemals tun.

“Wenn das dein Wunsch ist, werde ich das natürlich respektieren. Ich weiß ja, dass unsere Geschichte anders ist, wie die von anderen.”

Joe hat so viel Potenzial ein richtig lieber und guter Freund für mich zu werden. Nur glaube ich nicht, dass es ihm reicht. Dabei ist das Letzte, was ich will, seine Gefühle zu verletzen. Das wollte ich nie.

“Danke, Joe. Ich sehe wirklich, wie viel Mühe du dir gibst.”

“Na ja, ich möchte ja schließlich, dass du dich bei mir wohl fühlst.” Er ist ja schon echt ein lieber, ob Kaori das über Jim auch sagen kann? “Aber küssen darf ich weiterhin?” Ich nicke und muss gleichzeitig lachen. Das ist so typisch Joe. “Ich müsste nur mal eben auf die Toilette." Joe zeigt mir kurz, wo das Bad ist. Ich schließe hinter mir die Türe und rufe gleich darauf Tai an.

“Hi.”

“Hi”, brummt er zurück.

“Tai, hör auf, dir so viele Sorgen zu machen. Joe und ich, wir unterhalten uns nur.”

“Wirklich?”

“Das habe ich dir doch versprochen. Du bist der Einzige, der mich haben darf.” Kurz liegt ein Schweigen im Raum, doch dann wird mir klar, dass ich im absoluten DNA Himmel gelandet bin. “Sag mal, brauchst du für deine Recherchen irgendwas? Ich bin gerade in Joes Bad. Haare, Zahnbürste?”

“Gute Idee. Bring mit, was du kriegen kannst.”

“Und denke an unsere Mission. Umso eher hat das alles hier ein Ende.”

“Ja, hast ja Recht. Es fällt mir trotzdem schwer.”

“Mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt gleich zurück. Ich melde mich danach.” Ich beende das Telefonat und sende ihm noch ein Herz Emoji hinterher.

Ich schaue mich in Joes Bad um, während ich nebenbei die Toilettenspülung betätige. Er hat einen großen Spiegelschrank. Ich öffne ihn und hinter diesem finde ich alles, wonach ich gesucht habe. Eine elektrische Zahnbürste, verschiedene Aufsätze, Zahnpasta. Haargel, Haarbürste und Kamm. Aber wo soll ich das alles nur reintun? Meine Handtasche habe ich nicht mit ins Bad genommen, das wäre eindeutig zu auffällig gewesen. Ich schaue mich weiter um. Im Unterschrank finde ich neben seinem Rasierer, eine Dose mit einer Zahnschiene. Jackpot. Okay, zwar mega eklig, aber für die DNA Spuren sehr aufschlussreich. Ich finde neben den nach Farben gefalteten Gästehandtüchern kleine Tüten. In den Tüten befinden sich Nasenstrips. Er hat einige davon, die scheint er also regelmäßig anzuwenden. Ich muss fast ein wenig schmunzeln. Ich nehme die Nasenstrips aus den Tüten heraus und lege sie lose neben die Gästehandtücher. In die kleine Tüte stopfe ich alle möglichen Haare, die ich von Joe finden kann. Igitt. Die Haarbürste wird regelrecht auseinander genommen und ich lasse den Aufsatz von seiner elektrischen Zahnbürste darin verschwinden. Im Anschluss stecke ich einen neuen Aufsatz drauf. Hoffentlich bemerkt er nichts. Ich stecke mir alles in meinen BH, denn da wird Joe heute ganz sicher nichts zu sehen kriegen. Ich wasche mir danach noch gründlich die Hände und verlasse das Badezimmer wieder.
 

Als ich wieder zurück ins Wohnzimmer gehe, hat Joe bereits den TV angemacht und verschiedene DVDs rausgeholt. “Möchtest du einen dieser Filme gucken oder sollen wir mal schauen, was Netflix zu bieten hat?” Ich riskiere einen flüchtigen Blick auf seine Filmauswahl und antworte schnell ‘Netflix’. Joe hat es sich wohl schon gedacht, denn die aktuellen Top 10 Filme werden gerade angezeigt. “Such dir aus, was immer dir gefällt.” Ich nehme mir die Fernbedienung und scrolle durch die Filme. Ich möchte irgendeine Komödie gucken. Bloß kein Liebesfilm, aber auch kein Horror oder Thriller. Was zum Lachen ist immer gut. “Wie wäre es mit Kindsköpfe? Der geht einfach immer.”

“Den hab ich noch nie gesehen.”

“Wirklich nicht? Dann wird es höchste Zeit.” Joe ist einverstanden. Wir schauen eine Zeitlang den Film, während ich Tai immer mal wieder schreibe, dass alles ganz harmlos ist und wir nur einen Film gucken. Joe lacht zwischendurch richtig und ich frage mich, wann er überhaupt Zeit hat, einfach mal einen Film zu gucken.

“Ich glaube die Kids haben da richtig Spaß.”

“Ja, das sieht sehr danach aus”, stimmt Joe mir zu und lacht wieder über eine Szene. “Das Krankenhausfest hat den Kids auch richtig Spaß gemacht”, rede ich einfach weiter und Joe blickt vom Fernseher zu mir. “Sie haben es geliebt.”

“Ich hätte wieder so Lust darauf, was mit Kindern zu machen.”

Oh bitte, Joe. Lass mich mit ins Fußballcamp fahren, dass ich das mal sagen würde, hätte ich auch nie gedacht.

“Möchtest du nochmal so ein Fest geben?”, fragt Joe mich.

“Auf jeden Fall, aber ich glaube, das wird für die Kids zu anstrengend, wenn wir das Monatlich planen, aber vielleicht zwei oder dreimal im Jahr?”

“Ja, zweimal im Jahr ist doch wirklich schön und was würdest du sonst gerne machen?”

“Ich weiß nicht, Tai hat irgendwie angedeutet, er könnte Hilfe im Fußballcamp gebrauchen, aber ich glaube wohl kaum, dass ich dafür die richtige bin, obwohl das sicher lustig wäre.”

“Dann versuche es doch einfach. Wenn es nichts ist, kannst du ja immer noch abbrechen.”

“Meinst du das ernst?”

“Natürlich.”

“Und was wird dein Vater dazu sagen?”

“Wahrscheinlich nicht viel. Er ist nämlich nächste Woche gar nicht da. Er ist in der Schweiz und wird dort neue Geräte für das Krankenhaus kaufen, die sehr vielversprechend sind.” Eine ganze Woche ohne diesen Sausack. Mega. “Und die Sperre wird jetzt aufhören, versprochen. Du sollst dich wieder frei bewegen dürfen.”

“Danke, Joe”. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen. Tai hat Recht, Joe ist wirklich der beste Kido und auch wenn er mich später sicher hassen wird, genieße ich gerade wirklich den Abend mit ihm. Auch wenn es für mich eine andere Bedeutung hat, als für ihn.
 

Tai
 

Die Nacht war kurz und viel schlafen konnte ich auch nicht. Hat Mimi wohl noch bei Joe geschlafen? In einem Bett? Ich kann den Gedanken daran einfach nicht ertragen. Diese Eifersucht frisst mich richtig auf. Ich hasse dieses Gefühl und kenne das gar nicht von mir. Aber ich kann auch nichts dagegen tun, außer endlich Beweise zu finden. Nachdem ich gestern Nanami im Park mit ihrem Kater geholfen habe, bin ich mir sicher, dass sie mit den Kidos verwandt ist. Mimi glaubt, dass sie Joes und Jims Schwester sein muss und die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend, aber da ist noch irgendwas anderes, was ich bisher übersehe. Und könnte Haruiko der Vater sein? Muss ja. Das wäre wirklich etwas, womit wir ihn ausliefern könnten. Ein uneheliches Kind, aber wer ist die Mutter? Ist es Ayaka? Das ehemalige Kindermädchen? Sowas gab es in der Geschichte doch schon öfter. Ich konnte nichts über eine Nanami Yano herausfinden, aber auch nichts über eine Nanami Kido. Es ist so als wäre sie ein Geist. Ein Mädchen, dass es offiziell gar nicht gibt. Ein Mädchen, dessen Existenz niemand erfahren darf. Hat deswegen Ayaka so ein großes Haus bekommen? Um dort das uneheliche Kind großzuziehen? Was wurde diesem Mädchen denn all die Jahre gesagt?

Das ist doch ein Skandal ein Mädchen ihr Leben lang so einzusperren. Kein Wunder, dass sie regelmäßig ausbricht. Sie weiß doch gar nicht, was ein normales Leben ist. Oh man, in diesen Kreisen läuft wirklich nichts normal ab. Nachdem Nanami erwähnte, dass sie Mimi bei Instagram verfolgt, habe ich mich gleich auf die Suche begeben. Ihr Profil ist natürlich privat gewesen, aber ich habe ihr einfach eine Freundschaftsanfrage geschickt und sie hat die Anfrage angenommen. Ihr Instagram Profil ist jedoch nicht sehr aufschlussreich und sehr überschaubar. Sie hat genau zehn Freunde in ihrer Liste. Neben mir, sind es irgendwelche Seiten mit Organisationen. Sie verfolgt hingegen sehr viele Menschen. Auch die gesamte Kido Familie, ob sie das aus einem bestimmten Grund heraus macht? Ihr Name bei Instagram: -Nanami.ii.H? Ist das vielleicht ein Indiz auf Ihren Nachnamen? H? Oder ist das willkürlich gewählt? Puh, von den Kidos passt da keiner rein. Frau Kidos Mädchenname ist Miyata. Ihr Profil selber zeigt viele Fotos von Cupcake, von Büchern, die sie wohl gelesen hat und Zitate, die sie schön findet. Hey, da hat sie eine Gemeinsamkeit mit Mimi gefunden. Gestern hat sie ein neues Foto hochgeladen und zwar das Foto, welches ich gestern von Nanami und Mimi gemacht habe. Wenn ich Nanami jetzt auf dem Foto betrachte, sehe ich wieder weniger Joe in ihr, aber sie erinnert mich trotzdem an eine gewisse Person. Der Gedanke ist irgendwie bizarr und doch hält er sich standhaft, könnte das sein?

Ich habe hier das Taschentuch von Nanami und Mimi bringt ebenfalls DNA Material von Joe. Wir könnten also ein Labor beauftragen und testen lassen, ob die beiden Geschwister sind. Ich weiß auch genau, wen ich diesbezüglich später treffen werde. Sie ist einfach die Beste auf diesem Gebiet und ich vertraue ihr blind. Damit habe ich aber offiziell immer noch nicht bewiesen, dass Haruiko ein uneheliches Kind hat. Wie komme ich an seine DNA? Wie gut, dass ich gleich ein Treffen mit Joe habe, um alles während meiner dreiwöchigen Abwesenheit zu besprechen. Haruiko ist dann hoffentlich schon weg und irgendwie muss ich ins private Badezimmer kommen.

Ich mache mich auf den Weg. Heute gibt es noch viel zu viel zu erledigen. Auf dem Weg zur Kido Villa höre ich meine Lieblingsmusik und denke nochmal über alles nach. An einer roten Ampel fährt ein Auto hinter mir viel zu dicht auf und lässt den Motor aufheulen. Es ist ein Toyota Corolla in Schwarz. Den Fahrer erkenne ich nicht wirklich, er trägt eine schwarze Sonnenbrille und das Visier ist unten. Er sieht aber nicht so aus, als wäre es ihm unangenehm mir so nah aufzufahren. Die Ampel schlägt auf grün um und ich fahre in aller Ruhe weiter zum Kido Anwesen. Das Auto fährt mir noch eine Zeitlang nach, bleibt mir die ganze Zeit dicht hinter den Fersen, biegt aber schlussendlich an der vorletzten Kreuzung links ab. Komisch.

Pünktlich um halb neun bin ich in der Villa. Joe sitzt bereits auf der Dachterrasse. Von Mimi fehlt jedoch noch jede Spur. Wo ist sie?

“Guten Morgen, Joe. Sorry, wenn ich dich gestern gestört haben sollte.” Tut mir gar nicht leid, wenn ich ehrlich bin, aber egal. Joe lächelt mich an und legt seine Tageszeitung weg. “Schon gut. Wir haben ja wirklich ne Menge zu besprechen.” Ich setze mich zu Joe, hole seinen Terminkalender heraus und bespreche mit ihm genau, was in den nächsten drei Wochen bei ihm ansteht. “Okay, ich hoffe, ich vergesse nichts.”

“Ich habe alles mit einer Erinnerung vermerkt und du bekommt die Erinnerung auf dein Smartphone angezeigt. Du solltest nichts vergessen.”

“Ich bin das gar nicht mehr gewohnt, an alles selbst zu denken”, lacht Joe und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. Ja, ich habe ihm wirklich alles abgenommen, was ging. “Du schaffst das schon. Ich habe auch nochmal ein Statement an die Presse rausgegeben, was eure Verlobung betrifft.” Ich muss mir echt auf die Lippen beißen, aber es bringt alles nichts. Denk, an deine Mission, Tai. Oh man, die Wahrheit wird auch Joe den Boden unter den Füßen reißen, aber auch er verdient die Wahrheit und zwar die Ganze. “Ich habe übrigens gestern noch die Genehmigung von Karis Kur erhalten. In einer Woche kann sie schon anreisen.”

“Oh wow, das geht jetzt aber schnell.”

“Ja, aber sie braucht sie auch dringend, auch wenn sie immer gerne so tut, als wäre alles bestens.”

“Wem sagst du das. Wird es wieder die Halbinsel Hokkaido sein?”

Joe nickt und ich beneide meine Schwester ein wenig darum. Dort waren wir als Kinder einmal im Urlaub gewesen und ich denke gerne an diesen Urlaub zurück. Ihre erste Kur damals vor fünf und drei Jahren war auch schon dort und sie hat so geschwärmt. Es ist wohl immer noch wunderschön dort und einer ihrer Lieblingsorte. Ich bin nie wieder dort gewesen und würde auch gerne mal wieder dorthin. “Hey.” Mimi betritt die Dachterrasse und sie sieht wie immer wunderschön aus. Sie trägt ein Sommerkleid und hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Joe erhebt sich und will scheinbar seine Verlobte begrüßen. Ich schaue schnell in die Zeitung und tue ganz beschäftigt. Sie setzen sich an den Tisch und scheinbar ist die Gefahr vorbei. Frau Kido kommt zu uns und hat unzählige Babysachen in der Hand. “Mama, was hast du da alles?”, fragt Joe nach. “Das sieht man doch. Dass sind eure ehemaligen Kindersachen. Ich konnte sie einfach nie abgeben und hoffe, dass Kaori sie auch mag. Nachher wollte ich mit Kaori shoppen.”

“Ist das nicht was früh?”, fragt Mimi vorsichtig nach.

“Sowas kann man nie früh genug machen.” Frau Kido zeigt stolz die ersten Strampler, die Joe getragen hat und faltet dann alles wieder zusammen. “Ich helfe ihnen beim Tragen”, merke ich an und nehme die Hälfte der Babysachen und folge Frau Kido nach drinnen. Ich lege alles auf dem Wohnzimmertisch ab und schaue mir den großen Berg an Babyklamotten an. “Sie haben wirklich alles aufbewahrt, oder?”

“Ach ja, das war so eine schöne und einmalige Zeit. Ich hätte mich nie von den Sachen trennen können.”

“Niedlich. Ich müsste mal eben zur Toilette. Brauchen Sie hier noch Hilfe?”

“Nein, nein. Ich sortiere jetzt sowieso erstmal alles.” Perfekt. Die Frau ist abgelenkt.

“Gut, Sie finden mich danach wieder draußen.” Ich verlasse das Wohnzimmer und gehe Richtung Bad. Das Gästebadezimmer ist eigentlich unten, aber ich muss nach oben. Streng genommen habe ich hier nicht wirklich was verloren, aber ich muss jetzt etwas Handfestes finden. Ich weiß wo sich das Eltern Badezimmer befindet und öffne es. Ich sehe mich um. Beide haben schwarze Haare, wobei die von Haruiko etwas gräulicher sind und immer grauer werden. Ich habe genug Tüten dabei, um alles zu verstauen. Ich werde auch Proben von Frau Kido nehmen, auch wenn ich nicht glaube, dass sie damit was zu tun hat und nicht mal glaube, dass sie von der Existenz von Nanami weiß. Nachdem ich genug Material gefunden habe, verlasse ich das Bad und Ansgar steht plötzlich vor mir. “Mr. Yagami, was machen Sie denn hier?”

“Ich sollte Mimi was aus ihrem Zimmer holen und musste so dringend. Ich konnte nicht mehr bis unten warten.”

“Und was?”

“Na, meine Handtasche.” Mimi steht hinter Ansgar und hält ihre Handtasche hoch. “Aber ich habe sie jetzt doch selber geholt, danke Tai.”

“Keine Ursache.”

“Ansgar? Joe hätte gerne noch eine große Wasserflasche auf dem Weg ins Krankenhaus. Bitte bringen Sie ihm diese.”

“Das erledige ich sofort.” Ansgar eilt nach unten und ist außer Sichtweise. Mimi deutet an, mich auf ihr Zimmer zu begleiten. In ihrem Zimmer umarmt sie mich als erstes und dann boxt sie mich. “Hey”, beschwere ich mich.

“Tai, du kannst dich hier in der Villa nicht so frei bewegen. Du weißt doch, dass hier überall Kameras sind.”

“Ja, aber ich musste das tun.”

“Ich hätte es aber auch machen können. Ich darf mich hier oben aufhalten.”

“Haruiko hat dich schon genug auf dem Kicker. Nene, ich habe jetzt alles, was ich brauche.” Mimi blickt auf ihre Handtasche und holt ebenfalls eine Tüte heraus.

“Joes DNA-Material. Es fühlt sich irgendwie mies an, ihn in dieser Hinsicht zu bestehlen, aber er verdient die Wahrheit doch auch, oder?”

“Auf jeden Fall. Jeder dieser Familie sollte die Wahrheit erfahren.” Ich möchte noch alles beschriften, bevor ich mich auf den Weg mache. “Hast du eben einen Stift für mich?”

Mimi geht zu ihrem Nachtschränkchen rüber und greift nach dem Kugelschreiber, der direkt auf ihrem Tagebuch liegt.

“Hast du da wieder reingeschrieben?”

“Na klar. Es liest sich schon fast wie ein Krimi.”

“Vielleicht darf ich ja irgendwann nochmal lesen.”

“Du hast schon mehr als genug gelesen.” Ich nehme Mimi den Kugelschreiber ab und beschrifte alles genau. Wo sie Recht hat. “Okay, dann treffe ich mich jetzt mit Yolei.”

“Mit wem? Wer ist das?” Ich grinse Mimi breit an und reiche ihr den Kugelschreiber zurück. “Eine Freundin.”

“Geht das vielleicht auch ein bisschen genauer?”

“Eine sehr gute Freundin.”

“Tai.” Ich lache und beschließe sie zu erlösen. “Sie ist die beste Freundin von Kari und ist zufälligerweise in einem Labor angestellt. Sie ist Chemikerin.”

“Ah okay. Das ist praktisch.”

“Nicht wahr.”

“Und wie ist sie so?”

“Sehr nett und außerdem verheiratet.”

Mimi atmet erleichtert aus und ich ziehe sie näher zu mir. “Ich habe übrigens letzte Nacht alleine in meinem Bett gelegen.” Mimi verdreht ihre Augen und nickt ergeben. “Ja ja, ich weiß. Ich finde das doch auch alles doof.”

“Weiß ich doch und trotzdem …”

“Aber, dafür konnte ich veranlassen, dass ich dich die zwei Wochen auf dem Fußballcamp begleiten darf.”

Darüber freue ich mich gerade wirklich sehr. “Ernsthaft? Die ganzen zwei Wochen?”

Mimi nickt und ich wirbel sie einmal herum. “Jetzt freue ich mich noch mehr darauf.” Ich lasse sie wieder runter und küsse sie zum Abschied. Mimi intensiviert den Kuss und ich muss all meine Beherrschung aufbringen, sie jetzt nicht aufs Bett zu werfen. “Ich muss los.”

“Okay, viel Glück und Tai, sei bitte vorsichtig.”

“Jaja.”
 

Ich treffe mich mit Yolei bei ihr Zuhause. Da man nie weiß, wer am Tisch nebenan sitzt, ist mir alles andere zu heikel und vor allem will ich die beste Freundin meiner Schwester auf keinen Fall in Gefahr bringen. Yolei öffnet mir die Türe und bittet mich herein. “Ich danke dir, auch dass es so kurzfristig geklappt hat.”

“Na ja, du hast gesagt, es geht um Leben und Tod.”

“Ist ja auch so.” Yolei reicht mir eine Tasse Tee und setzt sich mir gegenüber.

“Also, wie kann ich dir helfen?”

“Okay, ich erzähle dir jetzt einfach alles, auch wenn du mich danach wahrscheinlich für komplett wahnsinnig hälst.” Und so weihe ich Yolei in alles ein. In absolut alles. Warum Mimi mit Joe verlobt ist, was Haruiko mit Mimi gemacht hat und dass wir Nanami getroffen haben. Über diese unglaubliche Ähnlichkeit und dass wir glauben, dass sich dahinter ein großes Geheimnis verbirgt. Yolei hat mich die ganze Zeit mit riesigen Augen angesehen, aber sie hat mich dennoch die ganze Zeit erzählen lassen. “Oh man, Tai. Das ist ja, der absolute Skandal. Das wäre ja wirklich … krass … Ein Verbrechen.”

“Oh ja.” Ich lege alles an DNA Material auf den Tisch aus und sie begutachtet alles. “Kannst du damit was anfangen und uns helfen?” Yolei zwinkert mir zu und streckt ihren Daumen nach oben. “Worauf du dich verlassen kannst.”

“Danke Yolei, wirklich. Wie lange wirst du brauchen?”

“Na ja, da ich das nicht offiziell laufen lassen kann und es zudem illegal ist, werde ich wohl zwei Wochen brauchen.”

“Oh.”

“Ich werde euch trotzdem helfen. Kari scheint Mimi sehr zu mögen und nach allem was du mir erzählt hast, kann ich gar nicht anders. Ich melde mich, sobald ich was weiß.”

“Danke, nochmal.” Ich bin tatsächlich sehr nervös wegen alledem, aber ich bin mir sicher, dass wir mit diesen Beweisen Haruiko überführen werden und dann können Mimi und ich endlich zusammen sein.

Kapitel 38

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mimi
 

Es ist einfach nur wunderschön hier im Fußballcamp. Dass ich das mal sagen würde, hätte ich selber nicht gedacht. Die erste Woche ist nur so verflogen und jetzt brechen schon die letzten zwei Tage des Camps an. Tai und Davis sind ein wirklich gutes Trainerteam und haben beide auch sportlich einiges zu bieten. Selbst ich habe noch etwas beim Fußball dazu gelernt, aber mehr Spaß mit den Kids selbst gehabt. Nachdem Training wurde gebastelt, gesungen und natürlich gehört auch arbeiten wie abräumen und spülen dazu.

Hinohara ist wirklich schön und ja, das Wandern kam auch hier nicht zu kurz. Auch wenn wir das “Wandern” gern als Pseudonym verwendet haben, um unserer eigenen Lust nachzugehen. Diese zwei Wochen sind die schönsten Wochen seit der Anreise in Japan gewesen. Tai und ich ganz exklusiv. Es ist wie ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie ein Leben mit Tai aussehen könnte: Bunt, Abenteuerlustig, Aktiv und verdammt heiß. Jeden Abend nachdem ich mit Joe telefoniert habe, habe ich im Anschluss ein Stoßgebet an die Engel im Himmel geschickt. So gern ich Joe habe und das habe ich wirklich, so möchte ich ihn niemals heiraten. Mir vorzustellen, ich würde Tai für immer verlieren, lässt mich förmlich durchdrehen. Nachdem wir dieses Gespräch am ersten Tag des Camps zu diesem heiklen Thema geführt haben, wurde mir das erste Mal bewusst, dass vielleicht bald auch alles vorbei sein könnte. Noch vier Wochen bis zur geplanten Hochzeit. Wenn das unsere letzten vier Wochen sind, muss ich jede Sekunde, so gut es geht, aufsaugen.

“Mimi, kannst du mir bitte helfen?” Yuto, der gerade nicht mit auf dem Fußballfeld ist, ist gerade dabei, seinen Stoffbeutel auszumalen. Da wir zehn Anmeldungen zu viel hatten, habe ich immer versucht mir auch Aktivitäten einfallen zu lassen, die nichts mit Fußball zu tun haben. Mal habe ich mit den Kindern eine Tanzstunde gemacht, mal Briefe an die Eltern geschrieben, mal T-Shirts eingefärbt und selbst Kerzen hergestellt. Die Aktivitäten kamen manchmal so gut an, dass die Kids nicht mehr Fußball spielen wollten, weshalb ich es dann in den zweiten Woche wieder eingegrenzt habe und nur noch einen Basteltisch zur Verfügung gestellt habe. Hier sind jetzt die Kids, die nicht mit auf dem Fußballfeld sind. Alle 30 Minuten wird gewechselt, so kommt jeder Mal zu mir an den Basteltisch und jeder kommt dazu, mit den großen Jungs zu trainieren. “Ach, ist das etwa Atomic Yuto?”, kichere ich.

“Na klar, ich habe schon ganz viele davon gemalt.” Es freut mich immer noch, dass ich Yuto mit dem kleinen Superhelden so eine Freude machen konnte. Ich mal Atomic Yuto grün aus und zeichne unten in die Ecke noch ein rotes Herz.

“Ist das Herz für mich?”

“Ja, damit du mich nicht vergisst.”

“Das könnte ich gar nicht. Weißt du Mimi, wenn ich groß, kannst du dich gerne bei mir melden, dann werde ich dich nämlich heiraten.” Ich lache laut los, weil es einfach zu süß ist. “Was ist denn so lustig?”, steht Tai hinter uns und schaut auf Yutos Stoffbeutel. Habe ich je erwähnt, wie gut dieser Mann aussieht? Selbst in seinem Jogginganzug, mit einer Trillerpfeife um den Hals und total verschwitzt. Ach, verflucht, gerade das macht ihn so attraktiv. “Ich habe Mimi gesagt, dass ich sie heiraten werde, wenn ich groß bin.” Tai grinst, wuschelt dann aber Yuto durch die Haare. “Da stell dich mal hinten an. Ich bin nämlich auch noch da.”

“Wenn ich groß bin, bin ich so stark wie Atomic Yuto, aber du schon ein alter Mann, damit wirst du keine Chance gegen mich haben.” Jetzt halte ich mir schon den Bauch vor Lachen, weil Tai gerade echt sprachlos ist und Yuto nur mit großen Augen anguckt. “Also, auf keinen Fall”, stammelt er.

“Mimi, echt, meld dich bei mir.”

Ich nicke, lache aber immer noch. “Und ob, ich mich bei dir melden werde.”

“Hey.”

“Sorry, aber Yutos Argumente haben mich einfach mehr überzeugt.”

“Sprach sie, bis zur nächsten Wanderung”, grinst Tai mich anzüglich an und natürlich kann ich es nicht verhindern, dass ich sofort rot im Gesicht werde. Tai zwinkert mir zu, ehe er in seine Trillerpfeife pfeift. “Wechsel.”

Yuto legt seinen Stoffbeutel zum Trocknen an die Leine und wechselt aufs Spielfeld. “Den Jungen muss ich unbedingt im Auge behalten.”

Ich lache immer noch, während die nächsten Kinder an den Tisch gerannt kommen.
 

Der Vormittag ist wirklich wahnsinnig schnell umgegangen und es ist Zeit für das Mittagessen. Alle Kinder und Trainer kommen in unseren Aufenthaltsraum zusammen. Es gibt einen festen Tagesplan, wer wann den Tisch deckt, abräumt und spült, damit es dort keine Ungerechtigkeiten und Streitereien gibt. Bis auf wenige kleine Kämpfe zwischen ein paar Jungs, waren auch alle sehr friedlich und harmonisch.

Gerade wird die Tomatensuppe mit Stangenbrot verteilt. “Ist das heute alles?”, mault Davis. Wie jeden Mittag ist Davis unglücklich über die Auswahl des Mittagessens. “Also nächstes Jahr werde ich höchstpersönlich für alle vernünftige Ramen kochen.”

“Das sagst du jedes Jahr”, erwidert Tai gelassen.

“Aber nächstes Jahr wirklich. Ich vermisse meine Küche.” Davis führt tatsächlich ein eigenes kleines Restaurant. Er liebt die Japanische Küche und ich habe ihm versprochen, ihm dort mal einen Besuch abzustatten und natürlich Werbung zu machen. Mir schmeckt die Tomatensuppe hingegen sehr gut und ich bin nach dem Brot auch pappsatt. Den Kindern geht es genauso, denn die ersten beginnen bereits die Teller wegzubringen. “Ich glaube, so friedlich wie dieses Jahr war noch kein Camp gewesen”, sagt Tai, während er sich nochmal Nachschlag genommen hat.

“Das liegt bestimmt nur an dir.” Ich freue mich, dass das Fußballcamp dieses Jahr für alle Beteiligten so ein großer Erfolg ist. Für mich persönlich war es ein absolutes Highlight und mir ist klar geworden, dass ich nicht nur als Stylistin glücklich und zufrieden bin. Ich glaube, so lange mein Herz an einer Sache hängt, kann ich auch in Davis Restaurant Teller spülen und es wäre genauso okay für mich. Meine Sichtweise auf bestimmte Dinge im Leben hat sich so heftig verändert, dass ich mich manchmal selbst nicht mehr erkenne. “Danke, dass du mich eingeladen hast, mitzukommen.”

“Danke, dass du mitgekommen bist.”

Tai und ich gucken uns schon wieder viel zu lange in die Augen und die ersten Kinder beginnen bereits zu kichern. Wir konzentrieren uns schnell wieder auf irgendetwas anderes. Tai löffelt seine Suppe und ich bringe meinen Teller weg.

Oh man, wenn selbst die Kinder es merken, sind wir wirklich schlecht darin, uns zu verstellen.
 

Tai
 

Während all die Kinder ihr schmutziges Geschirr in die Küche zurückbringen und das Team Küche bereits dem Schmutz den Kampf angesagt hat, bin ich bereits wieder draußen auf dem Fußballfeld mit Davis. Er pumpt die Fußbälle wieder mit genügend Luft auf und ich sammle die leeren Wasserflaschen ein, die während des Trainings ausgetrunken wurden. Davis räuspert sich ein paar Mal, aber so wirklich mit der Sprache rausrücken will er nicht.

Er schmeißt einen Ball in den Sack und dreht sich nun doch zu mir um. “Was läuft da zwischen dir und Mimi?”

Ich hebe zwei weitere leere Flaschen Wasser auf und zucke mit den Schultern.

“Mimi und ich sind nur …”

“... Freunde? Ja, nee ist klar.”

“Sind wir aber.” Ich habe alle Wasserflaschen eingesammelt und fülle nun den Kasten, um diesen mit den leeren Flaschen aufzufüllen. “Dir ist schon klar, dass ich die letzten dreizehn Tage mit euch verbracht habe und ich euch ziemlich genau beobachtet habe, aber selbst wenn ich das nicht getan habe, wärt ihr mir aufgefallen.”

Ich stelle den Wasserkasten auf den Boden ab, schaue zu Davis und überlege, was ich ihm anvertrauen kann. Ich weiß selber, dass wir mit jedem Tag, den wir hier verbracht haben, unvorsichtiger wurden. Es hat sich immer vertrauter, normaler angefühlt, aber vor allem richtig. “Ihr guckt euch immer so komisch an, ihr beobachtet euch gegenseitig und ihr habt immer ein sehr verräterisches Grinsen im Gesicht, wenn ihr vom Wandern zurück kommt und ich würde jetzt Mal die Behauptung aufstellen, dass ihr nicht nur wandern wart.”

Ich seufze ergeben, weil er mit allem richtig liegt. “Es ist kompliziert”, rechtfertige ich mich schwach.

"Das ist alles? Du schläfst mit der Verlobten deines Freundes und alles, was du dazu zu sagen hast, ist das es kompliziert ist? So hätte ich dich wirklich nicht eingeschätzt.”

Ich lege meine Hände verschlossen hinter meinen Nacken und werfe meinen Kopf nach oben. “Es ist nicht einfach nur eine Affäre.” Das war es nie. “Ich liebe sie.” Verdammt, dass habe ich nicht mal zu Mimi gesagt, zumindest nie so deutlich.

“Und sie mich auch”, behaupte ich jetzt einfach mal. Zumindest bin ich ihr wichtig und sie hat tiefe, aufrichtige Gefühle für mich. “Und warum seid ihr dann kein Paar?”

“Ich sagte doch, dass es kompliziert ist.”

Davis schüttelt noch immer fassungslos seinen Kopf und wirft sich den Sack mit den Bällen über die Schulter.

“Davis! Wir wollen nichts sehnlicher als zusammen zu sein, dass musst du mir glauben. Ich bin vollkommen verrückt nach Mimi, aber im Moment wird uns, besonders aber ihr das Leben schwer gemacht. Wir hoffen, dass es bald nicht mehr so ist. Denn das Letzte, was wir wollten, ist Joe zu verletzen.” Ich nehme mir wieder den Kasten und laufe Davis hinterher. Er versteht es nicht, aber das kann er ja auch nicht. Für ihn bin ich einfach nur ein mieses Arschloch, welches Joe die Verlobte ausspannt und ich kann es ihm nicht mal übel nehmen. “Davis, warte.”

“Warum?”

“Du wolltest es doch wissen, dann lass es mich auch erklären.”

Ich hab ihn schnell eingeholt. Davis legt den Sack mit den Bällen in einen Schuppen und geht wieder an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. “Gut, denk doch was du willst”, rufe ich ihm wütend hinterher. Ist mir echt zu blöd. Soll er doch denken, was immer er will.

Mimi kommt auf uns zu und sieht irritiert Davis hinterher, ehe sie wieder zu mir blickt. “Habt ihr euch gestritten oder so?”

“Ich bin es einfach so leid”, rufe ich verärgert aus und schmeiße die Tür vom Schuppen zu.

“Was meinst du?” Mimi steht direkt vor mir und ich weiß selbst nicht, wie ich ihr das erklären soll. “Kari, Davis. Alle halten uns für die Bösen. Ich, der mit der Verlobten meines Freundes schläft … Ein Arsch eben.” Mimi scheint zu verstehen und legt ihre Hand auf meine Wange. “Und was bin ich dann? Ein mieses Flittchen? Tai, du und ich, wir kennen die Wahrheit. Wir wissen, dass es nicht so ist und niemals so war.”

“Aber die anderen nicht.”

“Nein, noch wissen sie es nicht. Aber wir müssen sie ja auch beschützen. Je mehr sie wissen, umso gefährlicher wird es auch für sie.” Mimi hat Recht und ich weiß das ja auch, aber dennoch regt es mich tierisch auf, dass jeder glaubt, die Familie Kido sei ach so perfekt und wir die, die alle nur belügen und betrügen würden, dabei wäre es nie soweit gekommen, wenn Dr. Kido Mimi nicht angegriffen und bedroht hätte.

“Irgendwann wird jeder erfahren, was Haruiko für ein Mensch ist, damit einfach jeder sieht, dass er das Monster ist und nicht wir und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Er wird damit nicht durchkommen.” Mimi legt nun auch die andere Hand auf meine Wange und lächelt mich sanft an. “Ja, wir werden das schaffen. Wir zwei auch gegen den Rest der Welt, wenn es sein muss.” Nun streckt Mimi mir ihren kleinen Finger entgegen. Sie schafft es wirklich, mich wieder zu beruhigen und mich zum Lächeln zu bringen. “Wir zwei gegen den Rest der Welt? Das gefällt mir.” Ich verschließe meinen Finger mit ihren. Ja, wir zwei kennen die Wahrheit und irgendwann wird sie jeder kennen.
 

Mimi
 

Am späten Abend haben wir uns vorgenommen mit den Kindern zum Abschluss ein Lagerfeuer zu veranstalten. Heute dürfen alle länger wach bleiben. Mit Marshmallows und Stockbrot. Die Stimmung zwischen Tai und Davis hat sich noch nicht wirklich gebessert und ich überlege, ob ich mal mit Davis reden soll. Es setzt Tai unheimlich zu, dass er hier so rüberkommt, als ob er das Letzte wäre. Dabei könnte die Wahrheit nicht ferner liegen. Er ist mein persönlicher Held, mein Fels in der Brandung, mein Licht am Ende eines langen Tunnels.

Tai ist gerade mit einigen Kids in der Küche und bereitet das Stockbrot für später zu. Ich bin gerade dabei, um die Feuerstelle herum Strohballen und Bänke aufzustellen und mache einen auf Hilfloses Mädchen. “Davis, könntest du mir helfen?” Davis, der gerade mit ein paar anderen Kindern vom Feuerholz suchen zurückkommt, bleibt stehen, legt das Holz ab und kommt zu mir. Ich stoße ihn in die Seite und grinse ihn breit an. “Danke.”

Er zwingt sich zu einem Lächeln, aber ich erkenne, dass es nicht ehrlich ist. “Du bist sauer auf uns, richtig?” Ich spreche ihn direkt darauf an. Alles andere macht auch wenig Sinn. “Ihr seid erwachsen, ihr müsst wissen, was ihr tut.” Ich lege meinen Kopf schief und atme lange aus. “Davis, hast du schon mal aus vollem Herzen geliebt?” Davis sieht mich unschlüssig an. Ich weiß ehrlich gesagt nicht viel über seinen Beziehungsstatus. “Wahrscheinlich nicht. Ich bin eher der, der sich unglücklich verliebt.”

“Sowas ist immer schlimm. Ich habe nie an die Liebe geglaubt. Ich bin immer überzeugt davon gewesen, dass es so etwas gar nicht gibt. Nur deshalb habe ich mich überhaupt auf die arrangierte Ehe mit Joe eingelassen. Na ja und weil ich meinem Vater helfen wollte.”

Davis scheint überhaupt keine Ahnung zu haben, wovon ich rede. Liest der Typ denn so gar keine Zeitung? “Du weißt echt gar nichts über mich, oder?” Davis schüttelt lachend seinen Kopf und kratzt sich unbeholfen am Hinterkopf. Die Kids laufen gerade noch überall um uns herum. Ich deute Davis an, mir zu folgen. Ich möchte außer Hörweite sein, aber die Kinder dennoch im Auge haben.

Wir setzen uns auf eine Bank und schauen auf das Fußballfeld, die Kids spielen einfach, wie es ihnen gefällt, ohne Anweisung. Ich erzähle Davis alles, was ohnehin schon bekannt ist. Warum ich nach Japan gekommen bin, wie es um meinen Vater steht, wie doof ich Tai am Anfang fand und wie ich mich verschätzt habe. Ich vertraue ihm an, dass ich nach unserer Verlobungsfeier in New York, die Verlobung auflösen wollte, um mit Tai in New York zu bleiben und dass alles anders kam, weil ich bedroht und erpresst werde. Ich sage ihm nicht von wem und womit, ich möchte nur, dass er versteht, dass es im Leben nicht immer nur schwarz/weiß gibt. Es gibt unzählig viele Graustufen dazwischen und dass nicht alles, was auf den ersten Blick falsch aussieht, auch falsch sein muss.

Davis ist wirklich ein lieber junger Mann und in manchen Aktionen erkenne ich ein wenig Tai in ihm. Nachdem ich ihm alles erzählt habe, lächelt er mich aufrichtig an. “Danke, dass du mir das erzählt hast. Ich kann euch jetzt besser verstehen. Vielleicht sogar würde ich genauso handeln, wie ihr. So oft findet man diese eine große Liebe nicht. Ich würde diese Liebe auch niemals loslassen, sollte ich sie je finden.”

“Nein, das tut man ganz sicher nicht, aber Davis, du wirst sie auch finden.”

“Glaubst du?”

“Na klar, vielleicht taucht sie nächste Woche schon in deinem Restaurant auf, weil ich ordentlich Werbung dafür machen werde.” Ich zwinkere Davis versöhnlich zu.

“Wenn du das schaffst, darfst du dein Leben Lang kostenlos bei mir essen.”

“Die Herausforderung nehme ich an.” Wir lachen und sind uns einig. Einige Kinder kommen auf uns zugestörmt. “Wann gibt es endlich Marshmallows und Stockbrot?”

“Wir können ja mal bei Team zwei fragen, wie weit sie sind.”

“Jaaaa.” Und schon laufen die Kinder wieder in den Aufenthaltsraum. Davis steht auf und sieht nochmal zu mir zurück, als er bemerkt, dass ich noch sitzen geblieben bin. “Alles okay?”

“Ach ja, ich werde das alles echt vermissen.”

“Du darfst nächstes Jahr gerne wieder mitkommen.” Ich stehe auf und wer weiß, vielleicht bin ich nächstes Jahr wirklich nochmal dabei. Ich hätte nichts dagegen.
 

Es ist bereits zehn Uhr am Abend. Es ist fast dunkel, das Feuer brennt, die Kinder halten auf langen Stöcken das Stockbrot und die Marshmallows ans Feuer und warten darauf, es essen zu können. “Kennt hier jemand eine gute Gruselgeschichte?”, fragt eines der Kinder nach. Ja, mein Leben, denk ich ironisch. Ich bin wirklich überhaupt nicht der Gruseltyp, aber so gruselig kann es ja nicht werden, wenn die Geschichten für Kinder sind. “Ich kann euch eine erzählen”, beginnt Davis aufgeregt. Er holt eine Taschenlampe hervor und beleuchtet damit sein Gesicht, okay, das finde ich jetzt schon gruselig. Tai wechselt seinen Platz und setzt sich neben mich. “Nicht, dass du noch Angst bekommst”, lächelt er mich sanft an.

“Keine Sorge, Tai, dann bin ich da und werde Mimi beschützen”, ruft Yuto und ich kann es immer noch nicht glauben, wie süß er eigentlich ist. Yuto streckt Tai die Zunge raus und sitzt an meiner anderen Seite. “Tzz, das ist mein Part”, murmelt Tai beleidigt und ich muss schmunzeln, weil er mindestens genau so süß ist, wie Yuto. Auch wenn er das jetzt sicher nicht hören will.

“Seid ihr bereit”, flüstert Davis und alle Kinder nicken und sehen gespannt zu Davis. “Es gab einmal vor vielen Jahren eine Geschichte, die hier in Hinohara passiert ist. In einer verregneten dunklen Novembernacht war eine alte, einsame Frau und Punkt Mitternacht klingelte ihr Telefon.” Ich schlucke, okay, es gruselt mich. “Dort war eine raue Männerstimme zu hören und er sprach: Hier ist der Mann mit dem blutigen Finger und ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.”

Ich schlucke, das ist nichts für Kinder, doch diese finden die Geschichte offenbar gar nicht so schlimm, wie ich. “Die alte Frau legte panisch den Hörer wieder auf, doch nur wenige Minuten später klingelte das Telefon erneut. Wieder ging sie nervös ans Telefon und erneut sprach die Männerstimme: Hier ist der Mann mit dem blutigen Finger, ich bin in zehn Minuten da. Die Frau legte direkt wieder den Hörer auf und legte ihn anschließend daneben, damit sie nicht mehr angerufen werden konnte …” Meine Hand geht wie von selbst zu Tai und ich umschließe seine Finger fest.

“Es ist nur eine Geschichte, Prinzessin”, flüstert Tai mir ins Ohr. Ich winke ab, weiß ich doch selbst. “Dann entfernte die alte Frau sich vom Telefon. Sie war überzeugt, dass es sich nur um einen blöden Streich handeln konnte und wollte sich zurück ins Bett legen. Sie betrat ihr Schlafzimmer, als sie hörte, wie ein Auto auf ihre Garagenzufahrt auffuhr. Sie kannte das Auto nicht, aber sie sah, wie ein großer Mann aus dem Auto ausstieg.” Ich halte förmlich die Luft an. Wenn die Kinder diese Nacht kein Auge zubekommen, darf Davis das höchstpersönlich ausbaden. “Mit kleinen Schritten ging er immer näher Richtung Haustür. Man sah sein Gesicht nicht, denn er trug einen großen, schwarzen Hut, dessen Schatten tief ins Gesicht fiel. Er klingelte und man sah, wie das Blut auf den Boden tropfte. Die alte Frau ging mit leisen Schritten und klopfenden Herzen die Treppenstufen runter und blieb vor der Haustüre stehen.” Was, ist die irre? Warum ruft sie nicht die Polizei? Tai streichelt meine Hand und ich versuche ruhig zu bleiben. Es ist nur eine dumme Geschichte, Mimi. “Er klingelte und klopfte und sprach: Hier ist der Mann mit dem blutigen Finger und ich stehe vor deiner Tür. Die alte Frau holt einen kleinen Koffer aus einem Schrank und öffnet die Haustüre und als sie die Türe öffnet, bereit den Unbekannten mit dem Koffer eins überzuziehen, erkennt sie plötzlich … ihren langersehnten Neffen. Hast du vielleicht ein Pflaster für mich Tante Saki? Ich blute am Finger, fragte der Unbekannte und lächelt die alte Frau sanft an.” Was? Davis lacht sich halb schlapp, während ich ihm am liebsten den Hals umdrehen würde. Ich habe nicht mal gemerkt, wie ich die Luft angehalten habe. “Das war ja eine coole Geschichte, Davis”, ruft eins der Kinder.

“Ja, noch eine, noch eine.” Die Kinder feiern Davis für seine Gruselgeschichten, während ich immer noch an diesen komischen Mann denken muss. “Ja total”, brumme ich und rolle mit den Augen. So begrüßt doch niemand seine Tante. Echt jetzt, wehe diese Nacht klingelt mein Smartphone, dann kriege ich die Krise.
 

Tai
 

Das Lagerfeuer wurde gegen elf Uhr nachts beendet. Die Kinder müssen schlafen. Morgen fahren wir nach Hause. Nachdem gemeinsamen Frühstück muss jeder seinen Koffer packen und wir treten die Heimreise an. Ich habe schon das Gröbste in meine Reisetasche gepackt und muss morgen nur noch die Sachen aus dem Badezimmer holen. Davis ist ebenfalls mit packen beschäftigt und ich spüre, wie er mich beobachtet. “Wenn du mich beleidigen willst, tu dir keinen Zwang an.”

“Nein, will ich nicht. Ich habe vorhin mit Mimi geredet.” Sofort höre ich auf meine Reisetasche zu schließen und sehe interessiert zu Davis. “Was? Wann?”

“Als du mit den Kids beim Stockbrot backen warst. Mimi hat mir erzählt, was passiert ist und wie sich das mit euch entwickelt hat.”

“Hat sie das?” Ach Mimi, es hat sie sicher wieder mehr mitgenommen als zugeben wollte. “Ja, ich verstehe euch jetzt besser und wünsche euch, dass ihr bald richtig zusammen sein könnt.”

“Danke Davis.”

“Wenn du willst, darfst du diese Nacht auch rüber zu Mimi. Ich verpetz euch auch nicht.” Ich lache schüttelnd den Kopf und halte ihm meine Hand hin. “Danke.”

Davis schlägt ein und nickt.

“Keine Ursache. Außerdem glaube ich, dass sie immer noch Angst hat, wegen der Geschichte vorhin.”

“Das könnte sogar sein.”

Ich nehme mir mein Smartphone und will gerade rüber zu Mimi gehen, als Davis mich nochmal ruft.

“Und Tai, seid leise, hier sind Kinder.” Ich grinse. “Schon klar.” Ich schleiche über den Flur, als ich erneut an die Geschichte denken muss. Ich weiß, dass das gerade echt fies ist, aber ich kann einfach nicht anders. Ich klopfe an Mimis Zimmertüre an und spreche mit dunkler und verstellter Stimme: “Hier ist der Mann mit dem blutigen Finger und ich stehe vor deiner Türe." Mimi reißt die Tür auf und hält einen Kerzenständer in die Höhe. “Willst du mich damit erschlagen”, frage ich grinsend nach.

"Das ist überhaupt nicht lustig.” Ich trete in ihr Zimmer ein und nehme ihr aus Sicherheitsgründen den Kerzenständer ab. Ich lasse die Türe zufallen und küsse sie währenddessen. Endlich. Heute ist es noch gar nicht dazu gekommen und es hat mir gefehlt. Keine Ahnung, wie ich das die nächsten Tage wieder schaffen soll, ihr körperlich nicht mehr so nah zu kommen. “Moment, was machst du hier?”

“Davis, hat mich zu dir rüber geschickt. Immerhin hatten wir heute keine Zeit zum Wandern.” Mimi lächelt und führt mich gleich in ihr Bett.

“Du bleibst die ganze Nacht?”, fragt sie aufgeregt, was ich echt süß finde.

“Na ja, ich muss mich vor sieben Uhr wieder rüber schleichen, aber ja, ich bleibe die ganze Nacht.” Ich lege mich gleich auf sie drauf und küsse sie. Wird dies unsere letzte gemeinsame Nacht sein? Unsere Küssen werden immer intensiver, immer verlangender. Ich schiebe Mimis Nachthemd nach oben, streiche über ihre feuchte Mitte und will gerade ihren Schlüpfer ausziehen, als mein Smartphone klingelt. Sofort sehen Mimi und ich uns an. “Es ist Mitternacht”, sagt Mimi fast schon ängstlich. “Bestimmt nur Davis”, erwidere ich und greife nach meinem Smartphone, um Mimi auf meinem Display zu zeigen, dass es sicher nichts schlimmes ist. Eine unbekannte Nummer. Okay, das war wohl nichts. “Wer ist das?”, haucht Mimi und beißt sich nervös auf die Unterlippe. Ich hebe ab und Yolei ist am anderen Ende der Leitung. “Tai? Gut, dass du dran gehst und entschuldige bitte die späte Störung.”

“Schon okay, Yolei, hast du etwa die Ergebnisse?”

Als ich Yoleis Namen erwähne, setzt sich Mimi sofort kerzengerade hin.

“Ja, hab ich und wir müssen uns so schnell wie möglich treffen.”

“Natürlich.”

“Wann bist du wieder in der Stadt?”

“Morgen Nachmittag”, antworte ich ihr.

“Okay, ich erwarte dich dann morgen Abend.”

“Ich werde da sein. Yolei, liegen wir mit unserer Vermutung richtig?” Bitte, bitte sag ja.

“Ja.”

Ich fasse es nicht. Ich habe wirklich Beweise, die Haruiko überführen werden, dass er ein uneheliches Kind namens Nanami hat. Wir können Mimi aus dieser blöden arrangierten Ehe herausholen.

“Und ich habe noch eine interessante Theorie, die dich umhauen wird. Dazu dann mehr, wenn wir uns treffen, aber Tai, das Ganze ist viel größer als du denkst.”

Yolei klingt geheimnisvoll, aber ich verstehe, dass sie mir solche Dinge nicht am Smartphone sagen will. Die Leitung ist einfach zu unsicher. “Ich kann dir jetzt schon nicht genug danken.”

“Kein Problem. Ich finde es ehrlich gesagt, richtig spannend. Ich komme mir schon vor, wie eine Geheimagentin.”

“Du bist viel besser, als jede Geheimagentin. Bis morgen.”

“Ja, bis morgen.” Ich beende das Gespräch und lege mein Smartphone zurück auf die Kommode.

“Und? Was hat Yolei gesagt? Hat sie was herausgefunden?” Ich lächle so breit, dass Mimi sofort versteht. “Nanami ist Haruikos Tochter?”

“Sowie es aussieht, ja. Ich treffe mich morgen Abend mit ihr und dann werde ich alles genau erfahren.” Mimi hält sich ungläubig die Hand vor den Mund.

“Tai, wir haben eine echte Chance.” Ich nicke grinsend. Jetzt haben wir wirklich einen Beweis für unsere Theorie und können ihm damit drohen, alles auffliegen zu lassen, sollte er Mimi nicht freigeben. Ich küsse Mimi fest und dränge sie zurück auf die Matratze, während sie sofort ihre Arme um mich schlingt und mich mit ihren Beine fester an sich zieht. Das ist nicht unser Ende, das wird unser Anfang sein. Der Anfang von etwas wundervollen.

Kapitel 40

Tai
 

Ich bin immer noch ganz beflügelt von den letzten zwei Wochen und vermisse meine Prinzessin schon jetzt. Dabei haben wir uns erst heute Morgen voneinander verabschiedet – ausgiebig – und ich meine nicht am Bahnhof.

Die letzte Nacht haben wir kaum geschlafen, es gab so vieles zu bereden. Irgendwann ist Mimi dann doch in meinen Armen eingeschlafen. Yolei’s Anruf hat in uns beide Hoffnung geweckt, sehr viel Hoffnung. Und wenn Yolei sagt, sie hat was, dann hat sie definitiv was. Etwas Großes. Mir kribbelt es in den Fingerspitzen, wenn ich daran denke, dass Mimi schon morgen frei sein könnte. Ich kann es kaum erwarten.

Ich parke vor Yolei’s Haus und wundere mich, dass drinnen gar kein Licht brennt. Wir waren doch eindeutig heute verabredet. Das kann sie unmöglich vergessen haben.

Überraschenderweise dauert es aber gar nicht lange, bis mir jemand die Tür öffnet, nachdem ich geklingelt habe.

„Hey“, begrüße ich Ken, Yolei’s Ehemann. „Es ist ja doch jemand zu Hause.“

„Ja, komm rein.“ Er winkt mich rein und schließt schnell die Tür.

Okay? Warum so geheimnisvoll?

„Tai“, höre ich Yolei’s Stimme plötzlich hinter mir. Dann kommt sie auf mich zu und umarmt mich zur Begrüßung. „Ist dir jemand gefolgt?“

„Nein, ich denke nicht.“

„Gut. Komm mit.“ Ich folge ihr in den Keller, wenigstens hier brennt Licht. Sonst ist das ganze Haus dunkel.

„Ist das nicht etwas übertrieben?“, frage ich irritiert.

„Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden. Glaub mir, das wirst du auch so sehen, wenn ich dir gleich sage, was ich rausgefunden habe.“

Wir nehmen auf einer Couch Platz, die mitten im Raum steht. Der ganze Keller ist wie ein Hobbyraum eingerichtet – was bei Yolei so viel heißt wie ein kleines Chemie Labor und viele Computer. Hinten an der Wand stehen aber auch ein paar Sachen von Ken. Seine Fußballpokale aus der Oberstufe. Auch er kommt gelegentlich mit ins Camp, um als Fußballtrainer auszuhelfen. Daher kennen wir uns auch alle so gut.

„Dann erzähl mal“, sage ich, lehne mich nach vorne und stütze meine Unterarme auf den Knien ab. Yolei klappt ihren Laptop auf, während Ken uns drei Dosen Cola auf den Tisch stellt.

„Die Proben, die du mir gegeben hast, waren eindeutig. Sie stimmten zu 99,9% überein. Haruiko Kido ist der Vater des Mädchens Nanami.“

Jackpot!

Ich kann nicht fassen, dass wir tatsächlich voll ins Schwarze getroffen haben.

Dieser Mistkerl, jetzt ist er fällig.

„Hast du eine Idee, wer die Mutter sein könnte?“, fragt Yolei und rückt ihre Brille zurecht.

Ich schnaube verächtlich. „Auf jeden Fall nicht seine Ehefrau.“

„Also hat er sie betrogen.“

„Davon gehe ich aus.“

Yolei nickt. In diesem Punkt sind wir uns schon mal einig.

„Meinst du, er weiß von dem Kind?“, fragt Yolei weiter.

Meine Augen verengen sich zu zwei Schlitzen und auf meiner Stirn bildet sich eine tiefe Falte.

„Ich bin mir nicht sicher.“ Es wäre schon ein Skandal, wenn er nicht von seinem unehelichen Kind wissen würde, denn dann würde das immer noch bedeuten, dass er seine Frau betrogen hat. Aber es wäre ein noch größerer Skandal, wenn er von Nanami wüsste. Und dann, was? Sie all die Jahre geheim gehalten hat? Das wäre unfassbar. Ob Nanami weiß, wer ihr Vater ist? Kein Wunder, dass Frau Yano so merkwürdig auf all meine Fragen reagiert hat. Natürlich ist sie eingeweiht, vielleicht ist sie sogar … Es würde naheliegen.

„Ich denke, Ayaka Yano ist die Frau, mit der Dr. Kido seine Frau betrogen hat. Sie ist die Mutter von Nanami und war früher das Hausmädchen der Familie.“

Yolei schürzt die Lippen und sieht mich todernst an. „Und genau das denke ich nicht.“

„Was?“ Nun bin ich überrascht. Es wäre doch die logische Schlussfolgerung. Wie kommt Yolei darauf, dass es nicht so sein könnte?

„Es gibt nämlich keine Nanami Yano.“

Es gibt keine? Wie kann das sein? Wäre sie Ayakas Tochter, würde sie doch ihren Nachnamen tragen.

„Und eine Nanami Kido gibt es auch nicht, da kannst du lange suchen“, ergänzt Yolei noch, denn diese Tatsache liegt auf der Hand. „Sie muss also einen anderen Nachnamen haben. Vielleicht den ihrer leiblichen Mutter.“

Ich kann nicht glauben, was sie da erzählt. Ayaka ist nicht die leibliche Mutter von Nanami? „Aber …“, stammle ich sichtlich verwirrt. „Wer ist es dann?“

Yolei nickt. „Das habe ich mich auch gefragt. Eine Nanami Yano gibt es jedenfalls nicht in der Datenbank. Aber dann ist mir die Idee gekommen, Nanami mit den Nachnamen aller weiblichen Personen zu suchen, mit denen Haruiko Kido vor ca. 17 Jahren Kontakt hatte. Das waren einige, glaub mir. Alle Bediensteten, Freunde, Kollegen, Geschäftspartner … ohne deine gründliche Recherche vorher wäre ich völlig im Dunkeln getappt. Es ist, als würde man die Stecknadeln im Heuhaufen suchen.“

„Und?“, frage ich und sehe sie nun ungeduldig an. Ich bin so nervös, ich springe gleich von meinem Platz auf.

„Ich habe sie gefunden. Die Stecknadel.“ Yolei dreht ihren Laptop in meine Richtung, damit ich auf das Display schauen kann.

„Nanami’s voller Geburtsname lautet Nanami Seika.“

Nachdenklich lege ich den Kopf schief. Ich kenne niemanden, der so heißt. Es waren viele Akten, die ich gewälzt habe, an den Name Seika hätte ich mich erinnert.

„So habe ich auch geguckt“, lacht Yolei kurz auf, weil sie offenbar mit ihren Ausführungen noch nicht am Ende ist. Ich warte immer noch auf die Bombe, die platzt. Und das tut sie. Mit einem verdammt lauten Knall …

„Es gibt in Dr. Kido’s Bekanntenkreis nur eine einzige Person, die diesen Nachnamen trägt. Oder besser getragen hat, es ist nämlich ihr Mädchenname. Es ist Misaki Minamoto. Vor ihrer Ehe mit Kaito Minamoto hieß sie Misaki Seika.“

Meine Augen weiten sich. Das … das kann nicht wahr sein. Oder doch?

„Yolei“, sage ich schwergewichtig, weil wir jetzt an einem Punkt angelangt sind, wo wir definitiv keine Fehler mehr machen dürfen. „Bist du dir ganz sicher?“

Yolei nickt. „Zu Einhundert Prozent. Ich hätte es dir nicht erzählt, wenn ich mir nicht sicher wäre.“ Sie dreht kurz den Laptop zu sich und ruft dann zwei Fenster auf, ehe sie mir ihre Ergebnisse zeigt. Erst sehe ich einen alten Artikel von Misaki, der kurz vor ihrer Verlobung mit Kaito Minamoto entstanden sein muss. Ein jüngeres Ich von Kaori’s Mutter lächelt in die Kamera und sieht dabei aus wie Kaori selbst. Ihr absolutes Ebenbild. Daneben der Name Misaki Seika. Im zweiten Fenster sehe ich einen Artikel von vor 17 Jahren, in dem alle Namen geborener Kinder in Tokyo aufgelistet sind. Der vierte Name in der Liste ist Nanami Seika.

„Wie viele 17 jährige Mädchen gibt es wohl, die Nanami Seika heißen?“, fragt Yolei und sieht meinen zweifelnden Blick. „Und wenn dich das noch nicht überzeugt …“ Sie öffnet Nanamis Instagramprofil, welches ich ihr dank Mimi weiterleiten konnte. Es gibt dort nur ein Foto von Nanami, auf dem sie ihren Kater Cupcake schmust. Yolei vergrößert es und zieht es neben das Bild von der jungen Misaki.

Ich lasse mich zurück in die Kissen fallen. Ungläubig starre ich auf die beiden Fotos.

Schlagartig wird mir klar, was es war, was ich in Nanami gesehen habe. Es war nicht nur Joe … es war auch Kaori.

„Cola?“ Ken hält mir eine Dose hin. Ich schüttle nur den Kopf. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich habe Yolei Puzzleteile hingeworfen und sie hat es zusammengesetzt.

Aber haben wir auch Beweise? Echte Beweise, außer ein Foto, einen alten Namen und eine Geburtenliste?

„Vor Gericht würde das gar nichts beweisen“, sage ich nachdenklich. „Auch wenn Nanami die einzige Nanami Seika ist … wie viele Menschen gibt es hier wohl, die zufällig auch Seika heißen?“ Ich werfe diese Frage einfach so in den Raum, ohne eine realistische Antwort zu erwarten.

„1017 Menschen, 691 davon sind Frauen.“ Natürlich hat Yolei auch das recherchiert. Diese Frau steckt voller Überraschungen. Ich lache ungläubig auf. „Also willst du mir erzählen, dass 691 Frauen als Nanamis Mutter in Frage kommen?“

„Nun ja, nicht wirklich“, gibt sie zu bedenken. „Nicht alle davon leben in Tokyo und nicht alle davon waren zu der Zeit im richtigen Alter, um ein Kind zu kriegen und nicht alle davon stehen mit Dr. Kido in Verbindung. Das tut nur eine.“

Unwillkürlich frage ich mich, wie lange die beiden sich schon kennen? Kannte er sie, bevor er Kaito kannte? Haben sie eine gemeinsame Vergangenheit?

„Es gibt lediglich eine winzig kleine Ungereimtheit“, sagt Yolei und schon hat sie wieder mein Interesse geweckt. Doch in diesem Moment klingelt mein Handy.

Ken sieht mich fragend an, während er seine Cola schlürft. „Weiß jemand, dass du hier bist?“, will er wissen.

„Nur Mimi“, sage ich und erwarte bereits, ihren Namen auf dem Display zu sehen, aber es ist Joe.

„Das ist Joe.“ Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte weiter weg, um zu telefonieren. „Joe, was gibt’s?“

„Hey Tai, war das Fußballcamp gut? Mimi schwärmt ja in den höchsten Tönen davon.“

Kann ich mir vorstellen. „Es war ein voller Erfolg. Warum rufst du so spät noch an?“

„Ich wollte dich um etwas bitten“, sagt Joe. „Ich weiß ja, dass du übermorgen wieder am Filmset sein musst, aber mein Vater bat darum, dass du morgen in die Villa kommst. Wir müssen vor deiner Abreise noch eine Pressemitteilung rausgeben.“

Ich stutze. Was könnte es jetzt so wichtiges geben, dass es nicht noch warten könnte? „So? Und worum geht es?“

„Ach, weißt du es noch gar nicht?“ Joe klingt etwas überrascht. Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „Nein, was denn?“

„Joe!“, höre ich es aus dem Hintergrund – eindeutig Mimis Stimme.

„Ja, ich komme“, ruft Joe zurück. „Tut mir leid, Mimi wartet mit dem Abendessen auf mich. Du erfährst es morgen. Sei einfach um 11 Uhr in der Villa. Bis dann.“ Er legt auf und lässt mich fragend zurück. Eine Familienkonferenz? So spontan?

Ich drehe mich um und lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf Yolei. „Du sprachst eben von einer Ungereimtheit?“

Yolei nickt, während sie wieder was auf ihrem Laptop eingibt. Sie schiebt ihn mir rüber. „Eine Todesanzeige.“

Eine, was?

Ich beuge mich darüber und lese den Namen, der in geschwungenen, schwarzen Buchstaben auf der Anzeige erscheint:

Nanami Seika. Geb. 15. April 2006, gest. 19. April 2006.

Was, zum Teufel, ist das?

„Als ich den Namen Nanami Seika erst mal raus hatte, war es ganz einfach auch das zu finden. Aber das ist das einzige Detail, welches nicht ins Bild passt. Denn die Nanami, die du kennst …“

„Lebt eindeutig noch“, beende ich ihren Satz.

„Oh man, ist das spannend“, wirft Ken ziemlich begeistert ein und hält mir schon wieder eine Dose unter die Nase. „Cola?“

Ich schiebe sie zur Seite. Gleich holt er sich sicher noch Popcorn. „Wir übersehen irgendwas. Was übersehen wir?“, flüstere ich zu mir selbst und denke angestrengt nach.

„Kommt mir vor, als wären wir in einem waschechten Thriller reingerutscht“, staunt Ken und kommt mir dabei ein wenig so vor, als würde er denken, hier sind irgendwo versteckte Kameras und das Ganze nur Show.

„Ken, das ist ernst“, ermahnt ihn Yolei, die offenbar genauso denkt. Ken winkt ab. „Weiß ich doch. Warum hättest du dich sonst tagelang hier unten verkrochen und recherchiert? Du hast ja quasi das Haus nicht mehr verlassen.“

„Das Haus nicht mehr verlassen?“, wiederhole ich und spüre schon, dass ich einem weiteren Puzzleteil ganz nah bin. Ich reiße die Augen auf … das Haus nicht mehr verlassen? Der 19. April? Verdammt! Das ist es!

„Yolei, hast du …?“

„Mama? Papa?“

Wir alle drehen unsere Köpfe in Richtung Treppe, wo ein kleiner, müder Junge steht und sich die Augen reibt. Yolei’s und Ken’s Sohn.

„Ryu, was machst du denn hier? Solltest du nicht schlafen?“ Yolei geht zu ihm rüber und nimmt ihn auf den Arm. Der kleine Junge, der inzwischen vier ist, schmiegt sich an sie und legt seinen Kopf auf ihrer Schulter ab. „Wir sind hier noch nicht ganz fertig, meinst du, du kannst …“

„Nein, schon gut, Yolei“, unterbreche ich sie. „Wir sind hier fertig. Du hast mir mehr als genug geholfen.“ Ich wende mich noch mal an Ken, der nun auch aufgestanden ist. „Ken, eine Sache noch.“

„Ja?“

„Du arbeitest doch für die Polizei.“ Ken nickt. „Was brauche ich, um dieses Schwein zur Strecke zu bringen? Reichen unsere Beweise aus?“

Ich ahne es schon, dass es nicht so ist, doch erst, als Ken bedauernd den Kopf schüttelt, bin ich mir ganz sicher. „Tut mir leid, Tai. Yolei und du, ihr habt beide grandiose Arbeit geleistet und wirklich viel recherchiert. Aber das sind alles keine Beweise, vor Gericht würde das nicht bestehen. Es klingt alles logisch, aber es sind nur Theorien. Der Vaterschaftstest ist ein echter Beweis. Aber ein uneheliches Kind zu haben ist noch lange kein Verbrechen. Es ist ein Skandal, ja, aber nach allem, was ich von diesem Haruiko Kido gehört habe, wäre nur ein Anruf nötig und die Geschichte würde unter den Teppich gekehrt werden. Solche Leute sind einfach zu mächtig. Ich rate dir, hänge dich an diese Spur, die Yolei dir gegeben hat und finde einen echten Beweis dafür oder bringe sie zu einem Geständnis. Alles andere wäre aktuell zu unsicher.“

Ich presse die Zähne aufeinander. Ja, genau das hatte ich befürchtet. Haruiko hat viel Macht und noch mehr einflussreiche Freunde. Er wäre schneller aus der Nummer raus, als ich Mimi aus der Villa geschafft hätte. Und falls er nichts von Nanami weiß – was ich mir nicht vorstellen kann – dann steht er am Ende noch als armer Mann da, dem sein Kind 17 Jahre lang vorenthalten wurde. Ich muss also verdammt aufpassen und meine nächsten Schritte genau planen. Aber erst muss ich noch dieser letzten Spur nachgehen …

Ich lege eine Hand auf Ken’s Schulter. „Ich danke dir.“ Dann gehe ich zu Yolei. „Und dir auch. Ich verspreche, dass ich eure Namen niemals erwähnen werde, wenn das alles öffentlich wird.“

„Danke, Tai. Ich wünsche dir viel Glück, dass du deine Freundin retten kannst.“

„Bleibst du noch und spielst mit mir Fußball?“, fragt Ryu, reibt sich aber schon wieder die Augen, bevor ein herzhaftes Gähnen seinen Mund verlässt und er fast schon wieder an der Schulter seiner Mama einschläft. Ich wuschle ihm durch das dunkle Haar. „Beim nächsten Mal, Kumpel. Schlaf schön.“

Wir gehen alle gemeinsam nach oben und ich winke zum Abschied.

„Welches Schwein meinte Onkel Tai eigentlich?“, höre ich Ryu noch viel zu müde fragen. Lachend schließe ich die Tür hinter mir und gehe zu meinem Auto.

Auf dem Weg nach Hause gehe ich im Kopf noch mal alles durch, was Yolei mir erzählt hat. Auf dem Parkplatz angekommen, bleibe ich noch kurz im Wagen sitzen, um Mimi zu schreiben, dass Yolei definitiv etwas gefunden hat, ich ihr aber jetzt noch nichts weiter erzählen kann. Ich schicke die Nachricht ab und steige aus. In dem Moment leuchten die Lichter eines Fahrzeugs auf, was in unmittelbarer Nähe geparkt hat. Das grelle Licht blendet mich und ich muss den Arm vor die Augen halten, um überhaupt irgendetwas sehen zu können. Der Motor des Autos startet und fährt viel zu schnell los, direkt an mir vorbei, so knapp, dass ich mich dicht an mein eigenes Auto pressen muss, um nicht umgefahren zu werden. Spinnt der?

Ich starre ihm hinterher, aber er ist schon um die nächste Ecke gebogen. Was war das denn für eine miese Aktion?

Egal, ich muss mich fokussieren. Oben in meiner Wohnung angekommen, stürme ich sofort zu meinem Schreibtisch, weil mir eine Sache einfach nicht aus dem Kopf geht – der 19. April 2006.

Ich krame alle Akten hervor und suche die von Frau Ayaka Yano heraus, alle Informationen, die ich zusammentragen konnte. Alles aus ihrer alten Akte als Hausmädchen.

Mir war so, als ob … Bingo!

Der 19. April 2006, der Tag, an dem Nanami Seika angeblich gestorben ist. Und der Tag, an dem Frau Ayaka Yano ein Haus gekauft hat. Dasselbe Haus, in dem sie noch heute mit Nanami lebt. Was für ein verrückter Zufall …
 

Und es sollte nicht der einzige Zufall sein. Ich war die halbe Nacht wach und habe auch noch mal die Akten von allen anderen, ehemaligen Mitarbeitern gelesen. Alle haben eins gemeinsam, das war mir schon zuvor aufgefallen – alle haben am selben Tag vor 17 Jahren gekündigt oder wurden entlassen, auch Ayaka Yano.

Alle am 19. April 2006.

Diese Tatsache allein war schon merkwürdig genug, aber in Verbindung mit der Todesanzeige, die Yolei gefunden hat, ergibt das alles erst Sinn. Oder zumindest hoffe ich, dass es das tut. Ich weiß nicht, wie viele Jahre Haruiko Kido kriegen würde, wenn herauskäme, dass er nicht nur den Tod eines Kindes – seines Kindes – inszeniert hat, sondern es danach auch noch wie ein Phantom in einem Haus versteckt und aufgezogen hat.

Ich wollte einen Skandal finden. Nun bin ich dabei, ein Verbrechen aufzuklären.

Ich hatte noch keine Gelegenheit mit Mimi darüber zu sprechen, denn ich kann das unmöglich am Telefon tun. Das wäre zu unsicher. Natürlich habe ich sie nicht noch mal persönlich gesehen und morgen reise ich bereits ab. Diesmal drehen wir in Shizuoka. Normalerweise hätte ich mich über diesen Drehort gefreut, weil man von dort aus einen fantastischen Blick auf den Fuji hat, aber gerade wünsche ich mir einfach nur, ich müsste nicht dort hin. Es ist zu weit weg von Tokyo und ich kann nicht mal eben schnell wieder hier sein, wenn irgendetwas ist. Am liebsten hätte ich den Auftrag abgesagt. Aber ich habe schon den letzten Stunt vorzeitig abgebrochen, um wegen des Skandals rund um Mimi vor Ort zu sein und meine Agentur hat mir klipp und klar gesagt, wenn das noch mal passiert, bin ich raus. Aber immerhin gibt mir das etwas Zeit, um weiter zu forschen und mir zu überlegen, wie ich an einen Beweis dafür komme, dass Misaki Nanamis Mutter ist.

Vielleicht könnte Kaori uns dabei … halt. Nein! Kaori würde uns niemals bei so etwas helfen. Immerhin versuchen wir, die Familie ihres Mannes zu stürzen. Vermutlich würde sie uns gar nicht zuhören und uns dann verraten. Lassen wir das. Ich kann Kaori nicht um Hilfe bitten.

Als ich um Punkt 11 Uhr bei der Villa ankomme, wundere ich mich sofort, warum eine weitere Limousine vor dem Anwesen parkt. Ich schaue auf das Nummernschild. Das Familienwappen der Minamoto’s ist darin eingeprägt. Ein geschwungenes M. Sollten sie etwa auch …?

„Tai …“, ruft Mimi meinen Namen, als ich den Eingangsbereich durchquere. Sie kommt direkt auf mich zu und ich muss unwillkürlich lächeln, weil sie wunderschön ist und es mir vorkommt, als hätte ich sie tagelang nicht gesehen und weil ich sie am liebsten sofort in meine Arme schließen würde. Aber sie sieht so aufgebracht aus. Was ist passiert?

„Hey, was ist hier los?“, frage ich gleich, während sie direkt vor mir stehen bleibt und mich mit entschuldigendem Blick ansieht. „Tai, es tut mir leid.“

„Was denn?“ Verwirrt blinzle ich.

„Dass ich nichts gesagt habe.“

Moment. Wovon spricht sie da eigentlich?

„Tai, gut, dass du da bist“, höre ich nun auch Joe rufen, der nun ebenfalls auf uns zukommt. „Alle sind bereit und warten schon, dass wir mit der Besprechung beginnen können.“

„Um was geht es denn eigentlich bei dieser Besprechung?“, hake ich nun doch noch mal nach, weil hier alle so gewichtig tun.

„Na, um die Schwangerschaft“, sagt Joe und mir bleibt augenblicklich das Wort im Halse stecken.

Ich sehe Mimi an.

Sie sieht mich an.

Sie schüttelt kaum merklich den Kopf. Ich atme auf.

Okay, sie ist es nicht. Ich hatte gerade ein wenig Panik, dass wir nicht aufgepasst haben und schwups hätten wir in der selben Lage gesteckt, wie Misaki und Haruiko damals – auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt, mich mit diesem Bastard zu vergleichen.

Aber wenn es nicht um Mimi geht, dann …

„Kaori ist schwanger?“, schlussfolgere ich und Joe beginnt zu lachen. „Ja, Sherlock, und jetzt komm! Alle warten und Kaori’s Eltern sind extra hergekommen, um ein paar wichtige Dinge zu besprechen.“

Sie sind also tatsächlich hier, besser hätte ich es ja nicht treffen können.

Joe geht voraus und Mimi und ich dackeln hinterher. Ich spüre Mimis bohrenden Blick auf mir, auch wenn ich sie nicht direkt ansehe.

„Tut mir leid“, sagt sie noch ein mal leise, aber ich schüttle nur den Kopf. „Du hättest es mir ruhig sagen können.“ Dann wäre ich jetzt nicht so unvorbereitet gewesen. Sie war zwei Wochen mit mir zusammen und hat kein Wort darüber verloren, dass Kaori schwanger ist. Hatte sie Sorge, es könnte mich mitnehmen?

Wir betreten den Konferenzraum, der eigentlich immer nur genutzt wird, wenn Geschäftspartner zu Besuch kommen. Ja, klar. Warum sollte man auch bei so einem freudigen Ereignis, wie eine Schwangerschaft, gemütlich und in ausgelassener Atmosphäre, bei Kaffee und Kuchen, zusammen sitzen? Wäre wohl zu viel verlangt. Stattdessen sitzen alle an einem großen Tisch und haben Akten vor sich liegen. Kaltherziger geht es ja gar nicht mehr. Als erstes sehe ich Misaki und Kaito, die sehr geschäftig wirken. Frau und Herr Kido ebenso. Alle sind super angespannt.

Meine Augen suchen nach Kaori. Sie sitzt stocksteif zwischen Jim und Haruiko und sieht alles andere als glücklich aus. Sonst ist sie immer so selbstbewusst, heute wirkt sie eher wie ein verschrecktes Kaninchen, das man gerade aus seinem Bau gezerrt hat. Sie hebt den Kopf und unsere Blicke treffen sich kurz, dann sieht sie schnell wieder weg. Ehrlichgesagt würde ich mich inzwischen unter normalen Umständen für sie freuen. Zugegeben, das war nicht immer so und noch vor ein paar Monaten hätte es mich tatsächlich mitgenommen. Aber das habe ich längst überwunden und es freut mich, dass sie Mutter wird, das wollte sie ja immer. Aber hier? Innerhalb dieser Familie? Mit diesem Mann? Nein, das freut mich nicht. Und so wie sie aussieht, empfindet sie ebenso.

Mimi nimmt rechts neben Joe Platz und ich links von ihm, trotzdem entgeht mir nicht Mimis mitfühlender Blick, der die ganze Zeit auf Kaori ruht. Sie macht sich Sorgen um sie. War klar. Ich glaube, die beiden sind inzwischen so was wie Freundinnen geworden und da Mimi ein gutes Herz hat, kann sie es nicht mit ansehen, wenn Kaori leidet, obwohl sie doch eigentlich glücklich sein sollte. Na, dann wollen wir doch mal sehen, was wir für Kaori tun können. Und wie ich Haruiko und Misaki aus der Reserve locken kann.

Dr. Kido erhebt das Wort als Erster.

„Es freut mich, dass wir alle so kurzfristig zusammen gefunden haben, da meine Schwiegertochter sich vehement dagegen wehrt, eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen zu lassen und damit wir uns abstimmen können, ob und wie wir die Schwangerschaft der Öffentlichkeit mitteilen.“

„Wenn’s nur das ist“, sage ich sofort. „Ich kann einen Artikel verfassen und ihn noch heute Nachmittag an die Presse senden.“

Haruiko zischt verächtlich. „Mir ist klar, dass das für dich keine große Sache ist, Taichi. Du hast keine Erfahrung mit solchen Angelegenheiten.“

Ach, und du schon? Willst du mir das damit sagen?

„Allerdings müssen wir dieses Thema überaus sensibel behandeln. Die Menschen warten schon viel zu lange auf diese freudige Nachricht und jetzt erwarten sie einen männlichen Erben.“

„Die Menschen erwarten gar nichts von Kaori“, wirft Mimi bissig ein.

„Halt dich da raus“, fährt Haruiko sie barsch an. „Du lebst erst seit kurzem in Tokyo, du kannst nicht wissen, wie lange Kaori und Jim schon im Fokus der Medien sind.“

„Nun beruhigen wir uns doch alle erst mal“, sagt Kaito nun überaus gelassen. „Springt euch nicht an den Hals. Man kann für alles eine Lösung finden. Und was nicht passt, wird eben passend gemacht, das ist jedenfalls mein Motto im Gerichtssaal.“

Ach ja, ganz vergessen, dass der Typ ja Staatsanwalt ist. Der Beste in ganz Tokyo, heißt es zumindest. Und der Mächtigste. Er hat noch keinen einzigen Fall verloren. Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und mustere ihn eingehend. Der Kerl ist mir unheimlich.

Haruiko und er könnten unterschiedlicher gar nicht sein, keine Ahnung, warum sie befreundet sind. Wahrscheinlich, weil sie sich so gut ergänzen. Während Haruiko der Dämon ist, der keinen Hehl daraus macht, wie schlecht er ist und wie sehr er die Menschen um sich herum unter Kontrolle hat, so ist Kaito der Wolf im Schafspelz. Der Teufel, der dir Honig ums Maul schmiert und am Ende doch immer das bekommt, was er will. Er hat immer ein Lächeln auf den Lippen, getarnt als Freundlichkeit. Dann rammt er dir von hinten ein Messer in den Rücken. Woher ich das weiß? Sagen wir so: ich habe letzte Nacht wirklich nicht viel geschlafen. Da nun auch Kaoris Familie für mich in den Fokus gerückt ist, musste ich natürlich so schnell wie möglich ein paar Nachforschungen anstellen. Ich habe viele Artikel gelesen, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Kaito war und ist schon immer ein sehr mächtiger Mann. Ich könnte verstehen, wenn Haruiko Angst hatte, dass die Affäre mit Misaki durch ein gemeinsames Kind beinahe ans Licht gekommen wäre.

Was würde ein Kaito Minamoto wohl mit jemanden machen, der mit seiner Frau schläft und ihn betrügt?

„Kaori, Liebes, warum möchtest du die Fruchtwasseruntersuchung nicht machen?“, spricht er nun seine Tochter direkt an. Wenigstens einer, der nach ihrer Meinung fragt. Kaori hält den Kopf gesenkt und sieht niemanden an.

„Für mich ist es das Risiko nicht wert“, flüstert sie.

„Darüber haben wir doch schon gesprochen, Liebling“, sagt Jim. „Ich habe dir erklärt, dass die Risiken minimal sind.“

„Aber sie sind da, oder?“

„Ja, aber nur ganz gering.“

„Wir haben so lange auf dieses Kind gewartet und jetzt sind dir die Risiken einer solchen Untersuchung völlig egal?“

„Da habt ihr’s“, meint Haruiko und lehnt sich zurück. „Sie ist stur wie ein Esel und weigert sich vehement.“

„Es ist auch mein Kind.“ Endlich wird Kaori laut. Sie sieht wütend aus. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen feucht.

„Es ist vor allem der Erbe unserer beider Familien“, erwidert der Prof. und tut weiterhin so, als hätte Kaori kein Mitspracherecht.

Gott! Wenn ich mir vorstelle, dass Mimi genau das auch blüht, wenn sie Joe doch heiraten muss, wird mir ganz schlecht. In welchem Jahrhundert leben wir?

„Vertagen wir diese Angelegenheit vorerst“, ordnet Kaito an, während sich Jim irgendwelche Notizen macht. Die haben doch alle den Verstand verloren. „Kommen wir zur Pressemitteilung. Ich bin dafür, dass wir bis nach dem ersten Trimester mit der Verkündung warten.“

„Das sehe ich auch so“, stimmt Misaki zu. „In den ersten Wochen kann noch so viel passieren.“

„Einverstanden. Nächster Punkt“, sagt Haruiko. „Bis zur offiziellen Verkündung darf Kaori an keinen öffentlichen Veranstaltungen mehr teilnehmen. Man könnte ihren Bauch bemerken und es würden schneller Gerüchte entstehen, als uns lieb ist. Die Leute würden spekulieren in welcher Woche sie ist, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, wie viel Kaori bereits zugenommen hat … Ich denke, derartige Presse möchte keiner haben.“

Außerdem wäre eine mögliche Fehlgeburt so viel leichter zu vertuschen – denke ich mir. Er ist so durchschaubar.

Kaito nickt. „Richtig, wir müssen die Zügel in der Hand behalten und jedes Wort, was in den Medien gesagt oder geschrieben wird, wird von uns kommen. Tai? Richtig?“ Er sieht mich direkt an.

„Ja?“

„Geben Sie heute noch eine Meldung heraus, dass unsere Tochter Kaori einen Wellnessurlaub macht und man sie vorerst nicht mehr in der Öffentlichkeit antreffen wird.“

„Sie soll die ganze Zeit zu Hause bleiben?“, frage ich ungläubig nach.

Mädchen einsperren ist echt euer Ding, oder?

„Nicht doch“, lacht Frau Kido. „Vor Jim und Kaori‘s Haus lungern regelmäßig Paparazzi herum. Sie könnten etwas bemerken. Am besten, Kaori zieht vorläufig bei uns ein. Nicht wahr, Liebes?“

Ich sehe, wie Kaori schluckt, als ihre Mutter auch schon den Einwand bringt: „Ihr steht nicht weniger im Fokus der Medien, genauso wie wir. Wenn Kaori in den nächsten Wochen nicht gesehen werden soll und angeblich auf einem Wellnessurlaub ist, dann brauchen wir …“

„Sie kann bei mir wohnen.“

Alle Augen fliegen ungläubig zu Joe. Was? Er will Kaori bei sich wohnen lassen?

Joe zuckt mit den Schultern. „Ist nur ein Angebot. Meine Wohnung steht zurzeit leer, da ich hier wohne und ich würde sie Kaori bis nach der Hochzeit und den Flitterwochen überlassen.“

Flitterwochen. Pah! Das hättest du wohl gern.

„Natürlich nur, wenn du das möchtest, Kaori. Ich weiß ja, dass dir meine Wohnung sehr gut gefällt, weil du sie eingerichtet hast.“ Er lächelt Kaori an, die ihm gegenübersitzt und fast schon peinlich berührt von diesem Angebot ist. Doch dann nickt sie. „Ja, danke, Joe. Das ist sehr großzügig von dir.“

Finde ich allerdings auch. Kaito scheint ebenfalls zufrieden, denn er nickt zustimmend. „Ja, eine sehr gute Idee, Joe. Deine Wohnung steht womöglich nicht im Fokus der Presse und Kaori ist dort für die nächsten drei Wochen gut aufgehoben.“

„Kommen wir zum nächsten Punkt“, sagt Haruiko und blättert in seinen Unterlagen. Was, zum Teufel, steht da alles drin? Das ist doch lächerlich. „Jim, habt ihr euch Gedanken über den Namen des Babys gemacht? Ihr wisst ja, er muss zu unserer Familie passen, es darf nicht irgendein Name sein.“

Allein die Tatsache, dass er Jim direkt anspricht und Kaori dabei übergeht, verrät, dass er keinen Wert auf Kaori‘s Meinung legt.

„Noch nicht wirklich, aber Mutter hat uns bei der Auswahl geholfen. Bei einem Jungen dachten wir an Jack oder Jackson. Jon wäre eine Option, er ist kurz und westlich und beginnt mit J, wie die Namen Jim und Joe.“

Haruiko nickt beeindruckt, während Kaito mit der Zunge schnalzt. „Das ist ein wenig übertrieben, oder?“

„Der Name Kaori ist deinem auch sehr ähnlich, Kaito.“

Ich halte kurz die Luft an und sehe zu Kaito.

Dr. Kido hat ihm widersprochen. Vor allen anderen. Das war entweder mutig oder sehr dumm. Kaito fixiert Haruiko gerade wie eine Ratte, die er gleich zum Frühstück verspeist. Dann legt er ein Lächeln auf. „Bitte. Fahrt mit eurer Auswahl fort.“

Gruslig. Wie er von der einen auf die andere Sekunde ein völlig anderes Gesicht auflegen kann. Mit diesem Mann möchte ich mich nicht anlegen.

Jim sieht in seine Liste. „Tja, und für ein Mädchen … Jane würde uns gefallen. Oder Jean.“

Der Prof. winkt ab. „Klingt alles gleich. Und ist sicher nicht von Bedeutung, da wir in freudiger Erwartung auf einen männlichen Erben sind.“

Innerlich stöhne ich laut auf. Die mit ihrem männlichen Erben. Das kann man ja nicht mehr hören.

„Es könnte aber auch genauso sein, dass es ein Mädchen wird“, gibt Mimi zu Bedenken und ja, sie hat verdammt noch mal recht. „Kaori, welche Namen gefallen dir denn?“

„Misch dich da nicht ein“, fährt Haruiko ihr über den Mund, doch trotzdem schenkt Mimi ihr ein Lächeln. Kaori sieht unsicher zu ihrer Mutter. Diese nickt jedoch bestätigend.

„Nun … Jane finde ich tatsächlich auch sehr schön. Ich habe nichts gegen diesen Namen. Aber noch besser würde mir ein japanischer Name gefallen, weil mein Name auch japanisch ist. Vielleicht Sakura, wie die Kirschblüten. Oder Miyu, das bedeutet schöne Feder.“

Wieder zischt der Prof. „Das ist doch lächerlich“, nuschelt er und verschränkt die Arme vor der Brust. Plötzlich kommt mir eine Eingebung. Das ist meine Chance. Wenn nicht jetzt …

„Wie wäre es mit Nanami?“, frage ich in die Runde?

Stille.

Nein, nicht ganz. Misaki schnappt hörbar nach Luft. Auch Kaito zieht die Augenbrauen so dicht zusammen, dass sich tiefe Falten in seiner Stirn bilden. Und Haruiko … der starrt mich fassungslos an. Ich kann nicht sagen, was genau ich in seinem Blick erkenne. Ob das Furcht ist? Überraschung? Beides? Bei Misaki ist es das definitiv. Ihr Gesicht wird kreidebleich. Als keiner etwas sagt, zucke ich nur mit den Schultern. „Das bedeutet sieben Meere oder so. Nichts Besonderes, aber der Name hat einen tollen Klang, findet ihr nicht?“ Ich lächle zufrieden und lege eine überzeugende Darbietung hin. Zumindest Kaori geht auf meinen Vorschlag ein. „Ein schöner Name“, lächelt sie. „Danke für die Inspiration, Taichi.“

Wow, das ist das erste Mal seit einer halben Ewigkeit, dass die Eiskönigin ausgerechnet mir ein Lächeln schenkt. Ich werfe einen Blick zu Misaki, die immer noch wie erstarrt auf ihrem Platz sitzt und inzwischen völlig abwesend wirkt. Haruiko hat sich anscheinend wieder gefasst. Allerdings lässt er das Namensthema ruhen und macht mit dem nächsten Punkt weiter.

Wir gehen noch unzählige Dinge durch, die, wie die anderen Themen auch, völlig dämlich sind und Kaori muss noch einiges über sich ergehen lassen, aber ich bin dennoch zufrieden.

Ich muss dringend mit Mimi sprechen. Das eben … die Reaktion der beiden … das war es, was mir gefehlt hat, um endgültig an Yolei’s Theorie zu glauben. Auch wenn ich noch keinen handfesten Beweis dafür habe, bin ich nun felsenfest davon überzeugt, dass Nanami die Tochter von Haruiko und Misaki ist – entstanden aus einer heimlichen Affäre – und sie ist alles andere als tot.

Tai
 

Nach dem Meeting wollen die Minamotos die Kido Villa relativ zügig verlassen. Ich beobachte sie eine Zeit lang mit einem Auge. Ich möchte mir ein Bild über ihre Freundschaft machen, aber gerade wirkt es eher so, als würden sich zwei Geschäftspartner voneinander verabschieden. Schon komisch.

Haruiko und Misaki sehen sich bei der Verabschiedung nicht mal an. Wie lange ging ihre Affäre? Haben Sie sie damals beendet? Oder hat sie dennoch weitere Jahre angedauert? Vielleicht haben sie ihre Affäre ja auch nie beendet? Nur weil sie sich jetzt nicht in die Augen schauen, heißt es nicht, dass die Affäre je beendet wurde. Manchmal müssen Mimi und ich auch so tun, als wären wir nur Freunde und würden uns nicht bei jeder Gelegenheit, die sich uns bietet, die Kleider vom Leibe reißen.

Aber gehen wir einfach Mal davon aus, sie haben sie damals beendet. Haben die Beiden je wieder darüber geredet? Nanami besucht? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Okay, bei Haruiko schon. Wie der von Mädchen spricht, ist ja echt unmöglich. Aber Frau Minamoto?

“Und Sie schreiben den Artikel heute noch?”, fragt Kaito persönlich bei mir nach und holt mich somit aus meinen Gedanken.

“Selbstverständlich.” Ich verbeuge mich vor ihm, wie es sich gehört und sehe noch dabei zu, wie sie den Kido Konferenzraum verlassen. Misaki hat kein einziges Wort mehr gesagt und wirkt vollkommen abwesend. Als wäre sie plötzlich in einer anderen Welt. Jim macht sich auch gleich auf den Weg ins Krankenhaus, auch Haruiko und Joe müssen nachher noch hin. Können die nicht alle gleich verschwinden? Ich muss mit Mimi alleine sein. Dringend. Uns läuft die Zeit davon. Mimi lungert ähnlich wie ich noch hier im Konferenzraum herum und wartet darauf, dass die anderen alle verschwinden, aber das passiert nicht. Verdammt.

“Und Joe, wann musst du ins Krankenhaus?” Vielleicht hat er es ja auch vergessen?

“Erst in zwei Stunden, aber ich muss dir gleich noch etwas holen, warte bitte noch, ehe du aufbrichst.”

“Klar, kein Problem.” Ich spüre, wie Haruiko mich die ganze Zeit beobachtet. Ich beachte ihn absichtlich nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, was er gerade denkt. In seinen Augen, bin ich ein ekelhaftes Insekt, welches man zerdrücken muss, aber nein, das bin ich ganz sicher nicht. Er ist das Monster.

“Taichi.” Ich drehe mich nun doch zu Haruiko um, wenn er mich so direkt anspricht. “Einen schönen Aufenthalt in … wo genau bist du eigentlich?”

“Shizouka.”

“Shizouka, schön da. Dann eine gute Zeit, Taichi.”

Er verzieht keine einzige Miene und starrt mich eine Zeitlang an. Er verlässt schließlich mit seiner Frau den Konferenzraum, ohne das unsere Konversation weiter ging. “Mimi, kannst du mich eben begleiten?”, richtet Joe die Frage direkt an sie. Oh nein, das wäre jetzt die Gelegenheit gewesen.

“Ähm, ja klar.” Auch Joe und Mimi verlassen den Raum und ich frage mich, warum Joe von Mimi verlangt hat, sie zu begleiten. Kurz sieht sie entschuldigend zu mir, aber ich weiß, dass sie jetzt nicht anders kann. Ich will gerade ebenfalls den Konferenzraum verlassen und oben warten, als ich jetzt erst bemerke, wie Kaori immer noch auf ihrem Stuhl sitzt und vor sich hin starrt.

Ich setze mich neben sie und mustere sie. Sie sieht traurig aus. “Herzlichen Glückwunsch zur Schwangerschaft”, sage ich ehrlich und lächle sie an. Kurz dreht Kaori ihren Kopf zu mir, ehe sie wieder vor sich hin starrt. “Bin ich nicht eher zu bemitleiden?”

Fragt sie mich das ehrlich? In meinen Augen bemitleide ich sie schon seit zwei Jahren. Ich meine, Jim ist echt ein Arsch.

“Na ja, es war klar, dass es hart wird, wenn Nachwuchs unterwegs ist, aber dass sie so etwas verlangen würden und so weit gehen, damit hätte ich nicht gerechnet.” Sie nickt kaum merklich.

“Den Namen Na … also deinen Vorschlag, kann ich für mein Kind nicht nehmen. Sollte es ein Mädchen werden, meine ich.”

“War ja nur ein Vorschlag. Ich bin nur überhaupt kein Fan von westlichen Vornamen und finde, dass gerade eine Familie wie die Kidos einen traditionellen Namen wählen sollte.”

“Find ich auch”, stimmt Kaori mir zu und wirkt auch wieder, als wäre sie ganz woanders.

Sollte Kaori irgendwas wissen, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, unauffällig nachzufragen. “Gefällt dir der Name Nanami nicht?”

“Doch schon, aber dieser Name ist in meiner Familie Tabu.”

“Tabu?”, frage ich nach. Kaori sieht wieder zu mir und ich sehe eine Kaori, die ich von früher mal kannte. “Ich habe dir nie erzählt, dass ich auch eine kleine Schwester hatte.”

“Du hattest eine kleine Schwester?”

Traurig nickt Kaori mit ihrem Kopf. “Ja, als ich zwölf Jahre alt war, haben meine Eltern nochmal eine kleine Tochter bekommen. Leider ist sie nur ein paar Tage alt geworden. Alle waren damals ganz verzweifelt und traurig gewesen. Vollkommen fertig. Mein Vater hat sich nach dem Tod meiner Schwester in die Arbeit gestürzt und meine Mutter ist in eine schwere Depression gefallen. Jahrelang war sie nur ein Schatten ihrer selbst."

“Hieß deine Schwester etwa Nanami?”, tue ich ganz unwissend.

“Ja.” Wahnsinn, ich meine, ich habe es gewusst, aber diese ganze Geschichte ist wirklich hart und selbst Kaori leidet offensichtlich noch heute unter dem Verlust ihrer Schwester, aber sie hat mir so den Beweis geliefert, den ich letztendlich gebraucht habe. Nanami ist ganz klar die Tochter von Misaki und somit halten sie und Haruiko ein unschuldiges Mädchen in Gefangenschaft. Auch wenn keine Gitterstäbe vor ihren Fenstern sind. Abscheulich. Wie konnten sie nur?

“Entschuldige, ich wollte keine alten Wunden aufreißen.”

“Du konntest es ja nicht wissen. Es war schön, ihren Namen zu hören. Weißt du, danach wurde nie über sie gesprochen. Wir haben nie ihr Grab besucht. Selbst auf ihre Beerdigung durfte ich nicht gehen.”

Ihr Grab besuchen. Wer liegt eigentlich in diesem Grab drin oder ist es leer?

“Ihr wart nie da?”

“Nein, ich habe damals ein paar Mal ihren Namen gesagt, wollte zu ihr. Ich konnte mich ja nie verabschieden, aber ich wurde immer angeschrien, wenn ich den Namen in den Mund nahm, als würde ich einen Fluch hervorrufen oder so, als wäre sie unser persönlicher Voldemort.”

“Dabei ist sie ja trotzdem ein Teil eurer Familie, auch wenn sie nicht lange gelebt hat. So war sie doch da.” Ist da. Wie abgefahren das ist.

“Ja, aber es war wohl zu schmerzhaft und so durften wir alle nie wieder ihren Namen sagen.”

“Das tut mir wirklich leid, Kaori.” Vor allem für Nanami selbst. Das arme Mädchen.

“Und als ich selbst eine Erwachsene war, habe ich mich nicht mehr getraut, zu ihr zu gehen. Ich dachte, nach zehn Jahren macht das auch keinen Unterschied mehr. Ich habe nur ein einziges Foto von ihr.”

“Ein Foto, meinst du ich darf es irgendwann mal sehen?”

Kaori zuckt mit ihren Schultern.

“Vielleicht, irgendwann mal.”

“Es tut mir sehr leid, was dir und deiner Familie passiert ist.”

“Mir tut es leid.”

“Aber du kannst doch gar nichts dafür.” Ich lächle sie an und lege meine Hand auf ihre. Das erste Mal seit zwei Jahren, dass wir uns berühren und es ist … komisch.

Es ist nicht mehr so wie früher. Es löst kein aufregendes Kribbeln mehr in mir aus, aber dennoch hat es was Vertrautes.

“Ich meine, dass ich dich damals einfach so verlassen habe.” Oh. Ich lasse ihre Hand wieder los und nun starre ich vor mich hin. “Ich nehme deine Entschuldigung an”, sage ich schließlich und lächle Kaori versöhnlich an. Ich habe echt lange auf diese Worte gewartet. Ich wollte sie so oft zur Rede stellen, aber jetzt hat es für mich keine Bedeutung mehr. Jetzt will ich einfach nur Mimi retten und mit ihr zusammen sein.

“Einfach so?”

“Weißt du Kaori, du hast genau das getan, was du gelernt hast. Auseinandersetzung? Konfrontation? Trauer? Das alles hatte nie Platz in deinem Leben. Ich war immer überzeugt, dass du das bereuen würdest, mich einfach so verlassen zu haben, denn das, was wir hatten, war was echtes.” In Kaoris Augen sammeln sich Tränen und tatsächlich fällt eine Träne über ihre Wange. Es ist das erste Mal, dass ich sie weinen sehe. Selbst in unserer Beziehung hat sie nie geweint. Mimi hat schon unzählige Male geweint. Oder war wütend oder beides. “Na ja, ich war nicht ehrlich zu dir. Ich wusste schon, dass ich Jim versprochen war.”

Du wusstest das schon, als das mit uns anfing?” Kaori nickt wieder kaum merklich und sieht beschämend nach unten. Das ist mir neu. Ich dachte, das hatte sich erst danach herausgestellt.

“Ich weiß es schon seit ich neun Jahre alt bin.”

“Schon so lange?” Kennen sich seitdem Haruiko und Misaki? Fing drei Jahre vorher ihre Affäre an?

“Ja, wir haben schon als Kinder miteinander gespielt. Jim, Joe und ich. Sie waren die zwei einzigen Kontakte, die ich als Kind hatte, aber wir haben uns auch nicht so oft gesehen.”

Warum sperren sie eigentlich Mädchen so gerne ein? Sind die alle irre? Gibt denen das irgendwie einen besonderen Kick? “Jim war oft so arrogant und gemein. Joe hingegen war immer schon anders. Mit ihm hatte ich als Kind immer viel mehr Spaß gehabt.”

“Glaub ich sofort, aber warum hast du mir das nie gesagt?” Kaori beißt sich auf die Unterlippe und wird ein wenig rot. “Ich dachte, dass du dich dann gar nicht erst auf mich einlässt und du hattest Recht: Es war was echtes. So hatte ich wenigstens einmal in meinem Leben etwas echtes. Auch wenn es nur für eine kurze Zeit war. Ziemlich egoistisch, nicht wahr?”

“Ist schon okay, glaub mir. Ich versteh das sogar.” Besser als Kaori es sich vorstellen kann.

“Danke Tai.”

“Tai?”, höre ich Joe rufen. Ich antworte ihm jedoch nicht.

“Sei froh, dass du in den nächsten Wochen bei Joe unterkommst. So kommst du mal raus und gewinnst ein bisschen Abstand. Das kann sicher nicht verkehrt sein. Werde dir darüber klar, was DU willst. Nicht die anderen.”

“Was ich will?”, murmelt Kaori nachdenklich, als wüsste sie gar nicht genau, was ich sage.

“Ja, du bist nur noch einer Person Rechenschaft schuldig.”

“Ja, Jim, ich weiß.”

“Nein, nur deinem Baby. Komm, lass uns hochgehen.” Ich stehe auf und halte ihr meine Hand hin. Etwas unsicher erwidert Kaori diese Geste.

“Okay.” Kaori scheint wieder ein wenig mehr sie selbst zu sein. Ich hoffe wirklich, dass sie glücklich wird, denn sie ist ein guter Mensch und hat dieses Leben nicht verdient.

“Tai?” Joe ruft wieder nach mir.

“Komme.”

Wir kommen gerade im Foyer an, als Joe mir etwas in die Hand drückt. “Tai, hier das ist noch für dich.” Joe überreicht mir ein kleines Paket.

“Was ist das?”

“Na, du hast doch in vier Tagen Geburtstag und da du dann nicht hier bist, wollte ich dir trotzdem schon was schenken, aber erst in vier Tagen aufmachen, ok?” Ich sehe kurz zu Mimi rüber. Sie sieht sauer aus. Ich habe ihr nie gesagt, wann ich Geburtstag habe.

“Ich habe den ehrlich gesagt, gar nicht auf dem Schirm gehabt, aber danke Joe.”

“Ja, Joe ist wirklich aufmerksam", sagt Mimi und sieht mich immer noch wütend an. “Ja, das stimmt.”

“Na, dann feiern wir einfach, wenn du wieder da bist”, sagt Kaori fröhlich und ich nicke ihr zu. Wir lächeln uns an und ich bin froh, diese Geschichte endlich hinter mir lassen zu können. Mein Blick geht wieder zu Mimi. Okay, sie ist noch wütender.

Oh man, jetzt kann ich das weder mit ihr klären, noch mit ihr reden. Das ist doch scheiße.

“Ich muss dann auch los. Den Pressebericht schreiben, ein paar Klamotten packen und in drei Stunden geht schon mein Zug.” Ich halte Joe meine Hand hin, er erwiderte diese Geste. “Bis in einer Woche.”

“Ja, bis dann.” Ich sehe kurz zu Mimi. Ach, scheiß drauf, ich kann nicht gehen, ohne sie wenigstens kurz zu berühren. Ihr kurz nah zu sein und ihren blumigen Geruch in mir aufzunehmen. Ich umarme sie freundschaftlich und flüstere in ihr Ohr, dass ich mich so schnell wie möglich melden werde. “Halt durch.” Ich weiß, das macht sie schon so lange und doch ist es was anderes, wenn ich nicht in der gleichen Stadt bin. Sie nicht beschützen kann. Vor ihm.

“Pass auf dich auf”, flüstert Mimi mir noch ins Ohr. Ich lasse sie schnell wieder los, damit erst keiner auf falsche Gedanken kommen kann. Oder auch auf die richtigen. Denn das mit Mimi und mir ist nicht falsch. Das war es nie. “Macht's gut, Leute.”
 

Am nächsten Tag muss ich schon früh am Set erscheinen. Es ist mein erster Drehtag. Gestern bin ich sehr spät in Shizuoka angekommen und habe die Zugfahrt genutzt, um den Pressebericht fertig zu schreiben. Ich habe abends lange mit Mimi telefoniert oder mich eher bei ihr entschuldigt. Schließlich habe ich ihr Versprochen, dass ich mir selbst zum Geburtstag schenke, sie endlich zu befreien, damit wir offiziell zusammen sein können und Mimi darf dann einen vollen Tag ausgiebig nach ihren Wünschen verplanen. Zum Glück ist sie dann wieder eingeknickt und alles war soweit wieder gut. Nur leider kann ich ihr immer noch nichts von den neuesten Erkenntnissen sagen. Ich kann Haruiko im Moment nicht einschätzen und er hat schon mal Mimis Telefon eingegrenzt. Aktuell ist das einfach zu unsicher.

Sechs Uhr in der Früh ist wirklich nicht meine Uhrzeit. Trotzdem ist hier am Set schon wieder einiges los. Ich sitze noch in der Maske und schütte mir den ersten Kaffee rein. Meine Haare werden wie so oft unter einer Mütze gebändigt. Ich soll einen blauen Kapuzen Pullover anziehen, ein Halstuch, welches meinen Mund verdeckt und eine Sonnenbrille tragen. Die erste Szene, in der ich als Double tätig bin, ist ein Raubüberfall. Es gibt eine heftige Schlägerei und ein anderes Double und ich übernehmen diese Szene.

“Ähm Taichi, kannst du nach der Maske kurz kommen. Es gibt ein paar Veränderungen.” Emiko, die Regieassistentin wartet auf mich und ich gehe direkt nach der Maske zu ihr.

“Hi Emiko, was gibt es denn?”

“Ja, dein Partnerdouble wird nicht wie sonst Genji sein, sondern Haruto.”

Was? Warum das? Genji und ich sind ein eingespieltes Team, gerade Kampfszenen haben wir schon so oft zusammen gespielt, dass wir genau wissen, was wir tun und wie der andere agiert. Mit einem neuen Kollegen heißt es erst mal auf in den Proberaum, sich kennenlernen und aufeinander einspielen und das direkt am ersten Drehtag. Na toll. “Was ist denn mit Genji, er hatte doch fest zugesagt?”

“Er hatte gestern leider einen Unfall.”

“Ein Unfall?” Genji hatte einen Unfall, okay. Fällt mir etwas schwer zu glauben.

“Ja, er liegt noch im Krankenhaus, aber er darf bald nach Hause. Dennoch hat er einen gebrochenen Arm und damit können wir ihn natürlich nicht brauchen, aber keine Sorge, Haruto soll ein absoluter Profi sein.”

Ich muss mich unbedingt bei Genji melden. Zu schade, dass er nicht dabei ist. Wir verstehen uns wirklich gut.

“Und dieser Profi bin ich auch.” Ich drehe mich um. Ich sehe einen großen schwarzhaarigen, schlanken Mann. Ich würde ihn Anfang 30 schätzen. “Hi, ich bin Haruto. Du bist Taichi? Das andere Double?” Ich nicke.

“Freut mich, dich kennenzulernen.”

“Ja, mich auch.”

“Danke, Haruto, dass Sie so schnell einspringen konnten. Taichi kann ihnen die erste Szene mit dem Produzent nochmal eben erklären. In einer Stunde würden wir dann gerne die erste Szene mit euch aufnehmen.”

“Alles klar.” Wir gehen beide in einen angrenzenden Raum, der Produzent kommt dazu und wir gehen die Szene nochmal durch. Haruto scheint wirklich ein Profi zu sein. Denn er nimmt alle Informationen schnell auf und wir üben die erste Szene. Haruto ist der Angestellte einer Tankstelle und ich der den Überfall anführt.

Nach einer Stunde gehen wir zum Set zurück und bis auf wenige Patzer und ein paar Takes, ist die Szene auch schnell im Kasten. “Wow Taichi, du bist wirklich ein Profi.”

Ich winke ab. “Ach was, ich mache das ja auch schon ein Weilchen.”

“Richtig gut trotzdem. Es macht Spaß mit dir zu arbeiten.”

“Danke. Wie lange bist du schon dabei?” Ich habe noch nie mit Haruto zusammengearbeitet und in dieser Szene kennt man sich eigentlich recht gut.

“Noch nicht so lange. Jetzt knapp seit zwei Jahren. Ich habe jedoch auch schon einige Erfahrungen im Ausland sammeln dürfen.”

“Oh cool und wo genau?” Das würde mich tatsächlich auch reizen. Aber aktuell habe ich ganz andere Prioritäten. Zum Beispiel ein mieses Schwein ins Gefängnis zu bringen.

“Ich war vorher in Shanghai und Seoul.”

“Mega.”

“Ja, war es auch.”

“Bei welcher Agentur bist du unter Vertrag?” Auch wenn Haruto auf den ersten Blick ganz nett wirkt, so wundert es mich ein wenig, wie plötzlich er hier auftaucht und das ich noch nie von ihm gehört habe.

“Meine Agentur heißt Double & More.”

Ja, die kenne ich sogar. Es gibt die Agentur zumindest und sie genießen einen guten Ruf.

Ach, wahrscheinlich bilde ich mir das alles auch nur ein, weil ich gerade so etwas Übles herausgefunden habe.

“Ja, das ist eine gute Agentur.”

“Ist sie.” Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist oder habe ich ihn vielleicht doch schon mal irgendwo gesehen?

“Du, kann man hier später noch irgendwo was trinken gehen?”, fragt Haruto nach.

“Keine Ahnung, sicher wird es hier in Shizuoka genug Möglichkeiten geben.”

“Du würdest nicht mitkommen, oder?”, setzt Haruto erneut an.

“Nein, ich trinke nie während der Dreharbeiten. Es ist wichtig, immer zu 100% fokussiert zu sein. Alles andere bringt nur unnötige Gefahren mit sich.”

“Ja, das stimmt. Hin und wieder gönne ich mir ein Feierabend-Bier. Je nachdem was am nächsten Tag auf dem Drehplan steht.”

“Dann lass es dir schmecken, aber ich komme nicht mit.” Ich habe jetzt ein paar Stunden Pause, ehe ich nachher wieder eine Szene drehen werde. Die Zeit nutze ich am Buffet. Ich habe Hunger und bin noch immer noch nüchtern und nüchtern in so einen Dreh zu gehen, ist nicht so cool.
 

Heute ist der zweite Drehtag am Set und soweit klappt es mit meinem neuen Kollegen Haruto auch gut. Nach Drehschluss nutze ich jede freie Minute, um nach noch mehr Indizien zu suchen, die aufzeigen können, dass Haruiko Nanami wissentlich für Tod erklärt und eingesperrt hat. Da dies jedoch alles andere als einfach ist, habe ich beschlossen, in fünf Tagen zu Nanami selbst zu fahren, um mit Ayaka ein ehrliches Gespräch zu führen und anschließend zu Ken zur Wache zu fahren. Mit ihrem Geständnis und den ganzen Beweisen, sollte es für die Polizei genug Beweise sein. Da ich die Wahrheit eh schon kenne, wird es Ayaka es auch nicht mehr schaffen, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Sollte sie mir nichts sagen wollen, schreie ich eben laut herum, bis Nanami auf mich aufmerksam wird und ihr erzähle ihr direkt alles. Wie viel Geld sie wohl für all das bekommen hat? Auch wenn ich wirklich nicht glaube, dass sie das des Geldes wegen gemacht hat. Dennoch, sie hat es gemacht.

Heute steht eine ziemlich herausfordernde Szene auf dem Plan.

Es geht auch hier wieder um einen Raubüberfall, diesmal aber auf eine Bank. Fluchtort geht über die Dächer bis zum Fluchtauto. Gerade bereite ich mich auf die Szene vor. Meine Kleidung ist diesmal eine dunkelblaue Jeanshose, ein schwarzes Shirt, eine schwarze Mütze und ein Tuch welches meinen Mund und Nase bedeckt. Das bin ich jedoch gewohnt und ist kein Problem für mich. Mit der Beute im Rucksack ist der Schauspieler noch in die obere Etage gelaufen und so eben aus dem Fenster geklettert. “Cut”, ruft der Regisseur. “Zeit für Double Taichi.” Der Schauspieler klettert wieder in das Gebäude rein. Wir klatschen uns ab und ich steige mit dem Rucksack aus dem Fenster raus. “Ach Taichi, ich soll dir noch von dem anderen Double schöne Grüße ausrichten.”

“Von welchem Double sprichst du? Genji? Hattest du Kontakt zu ihm?”

“Nein, nicht von Genji, von wie heißt der neue gleich nochmal?”

“Haruto.”

“Ah ja, genau, irgendwie so.”

“Okay, danke.” Warum bestellt Haruto mir denn Grüße aus? Wir sehen uns doch gleich eh wieder.

Der Vorsprung am Gebäude ist recht schmal. Ich muss jedoch ein paar Meter an diesem Vorsprung entlang gehen, um eine Art Wäscheleine zu erreichen. Diese Wäscheleine ist mit mehreren Gebäuden verbunden. Ich öffne den Gürtel meiner dunklen Jeans und ziehe sie aus den Naschen hervor. Ich halte den Gürtel jetzt in meinen Händen, schwinge diese über die Wäscheleine und will gerade los gleiten, als mein Schauspielkollege mir noch hinterruft. “Nein, sein Name ist Haruiko.” Ich seile bereits mit hoher Geschwindigkeit auf das andere Gebäude zu, als mir blitzschnell klar wird, dass Genji nicht zufällig einen Unfall hatte und Haruto von Haruiko geschickt wurde. Ich wusste doch, dass er mir irgendwie bekannt vorkam. Das Auto, welches mich neulich beinahe angefahren hatte … Es war ein verdammter Warnschuss. Auf einmal spüre ich einen starken Ruck, der durch meinen ganzen Körper zieht, das dürfte eigentlich nicht passieren. Verdammt, das Seil ist manipuliert worden. Es reißt und ich weiß, dass ich jetzt bestimmt sieben Meter in die Tiefe fallen werde. Nur ein paar Sekunden. Vielleicht vier Sekunden bis ich auf den Asphalt aufknallen werde und Haruiko hofft, mich ein für alle mal los zu sein. Wenn, du dich da mal nicht täuscht. Man sagt doch, kurz vor seinem Tode würde man nochmal sein eigenes Leben an einem vorüberziehen sehen, doch ich habe nicht vor zu sterben. Ich habe ein Versprechen gegeben. Ich habe versprochen, mein Mädchen zu befreien, um endlich und für immer mit ihr zusammen zu sein. Ich habe noch eine Chance, eine kleine zugegeben, aber aufgeben war noch nie eine Option für mich.

Vier - Denk dran, was du gelernt hast, Tai, verlagere dein Gewicht, schütze Kopf und Rücken.

Drei - Sorry, Mama, Papa und Kari. Ich wollte euch allen echt keinen Kummer bereiten.

Zwei - Haruiko, du wirst mich nicht so feige kriegen. Glaubst du wirklich, dass ich nicht mehr drauf habe?

Eins - Doch zum Schluss bleibt nur eine einzige Person über: Mimi. Ihr wunderschönes Gesicht und meine Liebe zu ihr. Sie ist alles, was ich sehe und mir die Angst nimmt.

Mein letzter Wille: Ich werde dich trotzdem noch retten! Das habe ich dir schließlich versprochen. Halte durch.

Kapitel 42

Mimi
 

Es geht mir nicht gut. Seit Tai vor zwei Tagen abgereist ist, schaffe ich es einfach nicht, dieses ungute Gefühl abzuschütteln. Ich schlafe schlecht und warte ständig auf ein Lebenszeichen von ihm. Wir telefonieren, er schickt mir zwischen den Drehpausen Nachrichten und trotzdem …

Es ist wie eine böse Vorahnung. Vermutlich liegt es daran, dass mir sehr wohl bewusst ist, wie weit wir bereits gegangen sind. Wie brenzlich die Lage ist. Und, dass es kein Zurück gibt.

Tai war äußerst mutig, ausgerechnet in der Besprechung mit Haruiko und den anderen den Namen Nanami fallen zu lassen. Es ist mir nicht entgangen, wie Joes Vater darauf reagiert hat. Ich weiß nicht genau, was Tai damit bezwecken wollte, denn wir konnten noch nicht in einem geschützten Rahmen darüber sprechen. Außerdem haben wir doch schon den Vaterschaftstest, der alles beweist. Worauf wartet er also noch? Und warum reizt er Haruiko damit? Wenn ich doch nur in seinen Kopf sehen könnte …

Ich schüttle diese Gedanken ab, als ich von meinem Spaziergang zurückkomme und die Villa betrete. Heute ist sie zum Glück menschenleer, na ja, bis auf die Bediensteten. Alle sind arbeiten oder gehen irgendeiner anderen Tätigkeit nach. Viel Zeit für mich, um über unsere nächsten Schritte nachzudenken. Inzwischen ist mir der Gedanke Joe zu heiraten völlig fremd geworden. Seit Tai’s Freundin Yolei uns anrief und sagte, sie hätte einen Beweis gefunden, kann ich nur noch daran denken, bald von hier weg zu kommen. Ich möchte Joe endlich die Wahrheit sagen. Dass ich ihn mag, ihn aber niemals heiraten kann. Dass ich mich in Tai verliebt habe.

Wie wird er wohl reagieren? Wird er mich wieder hassen, so, wie er es getan hat, als der Skandal mit meinem Vater rauskam? Wie wird er es finden, dass er eine Halbschwester hat, die er nicht kennt? Und was wird er von seinem Vater halten, wenn er erfährt, zu was dieser fähig ist? All diese Gedanken lassen mir einfach keine Ruhe.

Ich gehe geradewegs auf mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Im selben Moment klingelt mein Handy und ich hoffe schon, dass es Tai ist. Ich kann es kaum erwarten, dass er zurück kommt und wir die nächsten Schritte besprechen können.

Als ich allerdings auf das Display schaue, sehe ich, dass es Kari ist, die anruft.

Überrascht hebe ich ab. „Kari? Hey, was gibt’s?“

„Mimi“, lacht sie ins Telefon und ich muss kurz das Handy etwas von meinem Ohr weghalten, weil sie so laut ist. „Mimi, du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist!“

Okay, sie ist ziemlich aufgekratzt, im positiven Sinne. Ich gehe rüber zu meiner Nische am Fenster und setze mich. „Noch nicht, aber du wirst es mir sicher gleich verraten.“ Was kann schon aufregendes auf Hokkaido passiert sein? Sie ist ja gerade bei ihrer Kur, ist das nicht eher sterbenslangweilig?

„Ich bin verlobt.“

„WAS?“, platzt es aus mir heraus. Das ist tatsächlich aufregend!

Im Hintergrund räuspert sich jemand.

„Oh, entschuldige. Ich meine, wir. Wir sind verlobt.“

„Oh mein Gott“, ist alles, was ich rausbekomme. „Er hat dich endlich gefragt? Aber … wann? Wie? Warte. Du bist schon noch auf der Insel, oder? Wie kann er …“

„T.K. ist hergekommen, um mich zu besuchen“, erklärt Kari mir. „Na ja, zumindest dachte ich das. Aber dann hat er mir plötzlich einen Antrag gemacht. Mitten am Strand, während die Sonne untergegangen ist. Oh Gott, es war so romantisch.“ Kari gerät richtig ins Schwärmen und auch ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen.

„Ich freue mich so wahnsinnig für euch. Ihr habt es verdient glücklich zu sein. Weiß es Tai schon?“

„Leider nicht, ich erreiche ihn gerade nicht. Wahrscheinlich dreht er und kann nicht ans Handy gehen. Du bist die Erste, die es erfährt. Oh Gott, meine Mutter wird ausflippen, wenn ich es ihr erzähle.“ Kari lacht vor Freude und es tut so gut, sie so glücklich zu hören. Sie und Takeru sind so ein schönes Paar. Es wäre eine Schande gewesen, wenn er sie nicht gefragt hätte.

„Das glaube ich. Wisst ihr schon, wann ihr heiraten wollt?“

„Vielleicht nächstes Jahr im Sommer. Vielleicht sogar hier auf Hokkaido. Es ist so wunderschön hier.“

„Ich kann es mir schon bildlich vorstellen“, sage ich verträumt. Kari in einem Hochzeitskleid am Strand, traumhaft.

„Was ist eigentlich mit deiner Hochzeit, Mimi? Findet die noch statt?“

„Ähm …“, mache ich und denke kurz nach, was ich ihr anvertrauen kann.

„Tai hat mir gesagt, dass er und du … na ja …“, stammelt sie und wirkt leicht verlegen.

Ich seufze. „Es ist kompliziert. Ich kann dir aktuell nicht mehr dazu sagen. Nicht am Telefon.“ Ich kann ihr noch nicht mal sagen, dass ich Tai liebe. Ich habe es ihm selbst noch nicht mal gesagt, jedenfalls nicht mit diesen Worten. Ich kann es Kari gegenüber momentan noch nicht aussprechen. Nicht am Telefon und schon gar nicht, wenn alles noch so unsicher ist.

„Tut mir leid, Kari.“

„Ist schon gut. Ich möchte nur nicht, dass einem von euch etwas passiert. Verrennt euch bitte nicht.“

„Tun wir nicht.“ Haben wir schon lange. Aber diese Büchse der Pandora kann ich jetzt nicht öffnen. Kari ist bei einer Kur, die sehr wichtig für sie ist. Sie braucht Erholung. Sie hat sich gerade erst verlobt und ist überglücklich. Das will ich ihr nicht kaputt machen.

„Ruf mich wieder an, wenn es etwas Neues gibt. Oder wenn du einfach nur quatschen willst. Und danke, dass du mir die Neuigkeit erzählt hast. Ich freue mich wirklich wahnsinnig für euch beide“, sage ich versöhnlich und würde das Gespräch jetzt gerne beenden. Tai ist zwar nicht in Tokyo, aber ich kann unmöglich einfach rumsitzen und Däumchen drehen. Vielleicht kann ich schon mal einen Plan machen, wie wir weiter vorgehen können. Tai hat das Geheimnis um Nanami und Haruiko aufgedeckt, aber er hat es noch nicht öffentlich gemacht. Das heißt, es muss etwas geben, was ihn noch davon abhält. Etwas, dass er mir noch nicht sagen konnte.

„Ist gut“, sagt Kari und klingt erst einmal beschwichtigt. „Du kannst dich natürlich auch … Oh, warte. Moment.“ Ihre Stimme ist plötzlich so abgehackt, als wäre sie von etwas anderem abgelenkt. Es raschelt und ich runzle die Stirn. „Kari? Hallo?“

„Tut mir leid, Mimi, ich muss da eben rangehen. Ich bekomme gerade einen Anruf aus Tokyo, vielleicht ist es wichtig.“

„Oh, okay. Kein Problem. Bis später.“

„Bis später, Mimi.“ Sie legt auf und ich lege das Handy auf meinen Nachttisch. Ich gehe kurz ins Bad, um zu duschen und überlege mir dabei, was ich als Nächstes tun kann. Joe ist momentan sehr eingespannt im Krankenhaus. Ob ich ihn überredet bekomme, selbst noch mal einen Tag nach Shizuoka ans Filmset zu fahren? Offiziell natürlich als Visagistin, aber inoffiziell, um mit Tai zu reden. Wir müssen uns endlich unter vier Augen sprechen.

Ich vermisse ihn jetzt schon. Er fehlt mir so sehr, dass es weh tut. Vor diesen zwei Wochen im Camp, war ich mir ziemlich sicher, dass es verdammt weh tun würde, wenn ich Joe heiraten müsste und nicht mit Tai zusammen sein könnte. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es mich umbringen würde. Tai hat mir gezeigt, dass es sich zu kämpfen lohnt, vor allem um die Liebe. Wenn er wieder da ist, muss ich ihm unbedingt sagen, was ich für ihn empfinde. Ich muss ihm sagen, dass ich ihn liebe. Er soll wissen, wie sehr er mein Herz zum Schlagen bringt und dass es nur ihm gehört – egal, was passiert.

Ich ziehe mir etwas Frisches an, nachdem ich aus der Dusche gestiegen bin und föhne meine Haare. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht glätte ich sie mir anschließend noch und kann gar nicht aufhören daran zu denken, wie er wohl reagieren wird. Allein bei dem Gedanken daran schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich habe noch nie zu einem Mann „ich liebe dich“ gesagt. Und für eine gewisse Zeit in meinem Leben dachte ich auch, es niemals zu sagen. Denn ich glaubte nicht an die Liebe. Bis ich Tai begegnete und das einfach alles veränderte. Er hat mich verändert und ich will, dass er das weiß. Dass er der Grund ist, warum ich wieder an die Liebe glaube.

Freudestrahlend verlasse ich das Bad und beschließe, Tai eine Nachricht zu schreiben, dass er mir unglaublich fehlt und ich ihn sehen möchte.

Doch dann halte ich in meiner Bewegung inne und stutze ein wenig.

Sieben Anrufe in Abwesenheit?

Alle von Kari.

Was… aber warum? Mein Herz beginnt unruhig zu schlagen. Das Gefühl, welches mich schon seit zwei Tagen begleitet, kehrt zurück und ich blinzle nervös. Gerade, als ich Kari zurückrufen will, ruft sie erneut an. Ich hebe sofort ab.

„Kari? Ist alles …“

„Tai …“ Sie weint. „Er … er hatte einen Unfall.“

Zunächst realisiere ich gar nicht, was sie zu mir sagt, ich höre einfach nur ihr Schluchzen. Doch dann sickern ihre Worte zu mir durch und ich muss mich setzen.

„Er hatte am Set einen Unfall und … ein Seil ist wohl gerissen. Er ist mehrere Meter in die Tiefe gestürzt und …“ Ihre Stimme bricht. Ich schlage eine Hand vor den Mund. Ehe ich mich versehe, laufen mir unaufhaltsam Tränen über die Wange. Meine Sicht verschwimmt und ich bringe die Worte kaum hervor. „Wie … wie schwer ist er verletzt? Lebt er noch?“

Oh Gott.

Nein.

Bitte nicht.

Das darf nicht passiert sein. Tai darf nicht …

„Er lebt. Aber es sieht schlecht aus. Ich weiß nur, dass er in Shizuoka notoperiert wurde und er einen Herzstillstand hatte. Sie … sie mussten ihn wiederbeleben. Er wird nach Tokyo verlegt. Ich bin gerade am Packen.“ Im Hintergrund höre ich Schranktüren auf und zu fliegen. „Ich weiß nicht, wie schnell wir da sein können, aber wir geben unser Bestes.“

Wie erstarrt sitze ich auf der Kante meines Bettes und blicke ins Leere. Die Bilder in meinem Kopf fahren Achterbahn. Vor meinem inneren Auge sehe ich Tai, wie er in die Tiefe stürzt. Wie er verletzt auf dem Boden liegt. Wie er im OP-Saal operiert wird. Wie sein Herz kurz stillsteht. Er Tod ist. Mein Gott …

„Mimi, bist du noch dran?“

Ich glaube, ich kriege keine Luft mehr. Es schnürt mir die Kehle zu und ich fasse mir an die Brust. Verdammt, nicht schon wieder eine Panikattacke. Nicht jetzt.

„Ja“, kriege ich gerade noch so krächzend heraus.

„Mimi“, sagt Kari eindringlich, ihre Stimme ist nur noch ein bitterliches Wimmern. „Du musst zu ihm. Bitte. Er braucht dich jetzt. Ich weiß, dass du ihm viel bedeutest und … ich …“ Sie ist so aufgelöst, während ich still weine. Ich verstehe nur zu gut, was gerade in ihr vorgeht.

„Keine Sorge, Kari. Ich fahre zu ihm. Es wird alles gut“, sage ich, glaube aber meinen eigenen Worten kaum.

„Okay, ich melde mich wieder bei dir.“ Kari legt auf und ich renne ins Bad, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich stütze mich auf die Armatur und atme schwer. Du musst dich jetzt zusammenreißen, Mimi!

Meine Liebe, mein Herz, mein ein und alles liegt gerade im Krankenhaus und kämpft um sein Leben. Kari hat recht, er braucht mich jetzt. Ich muss sofort zu ihm.
 

Nachdem Kari mir mitgeteilt hat, in welchem Krankenhaus Tai liegt, habe ich mich sofort von Ansgar hinfahren lassen. Es ist das Krankenhaus, in dem Joe arbeitet. Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist oder nicht, aber das ist mir auch gerade total egal. Weil ich nicht weiß, wo genau Tai sich befindet, renne ich zur Anmeldung.

„Tai, äh, ich meine, Taichi Yagami. Wo finde ich ihn?“

„Sind Sie eine Angehörige?“ Die Dame hinter dem Tresen sieht mich teilnahmslos an.

„Was? Nein, aber ich …“

„Dann kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben“, sagt sie eiskalt und widmet sich wieder ihren Akten.

„Was? Ist das Ihr verdammter Ernst?“, fahre ich sie an. „Ich bin die Verlobte von Dr. Joe Kido, also sagen Sie mir jetzt gefälligst, wo ich Taichi Yagami finde und wie es ihm geht.“

Sie schielt mich über ihrer Brille hinweg an. „Keine Angehörige.“

Diese Kuh! Dann eben nicht. Ich stoße mich vom Tresen ab und stürze zum Fahrstuhl. Ich drücke wie wild auf den Knopf, bis die Türen sich endlich öffnen. Im vierten Stock angekommen, laufe ich zu Joes Büro. „Joe? Joe!“ Ohne anzuklopfen, reiße ich die Tür auf, aber er ist nicht da. Verflucht, wo ist er?

Ich laufe den Gang entlang, frage jede Schwester, der ich begegne, ob sie Joe gesehen haben, aber keiner weiß, wo er sich gerade aufhält. Nach mehreren Minuten des Herumirrens lasse ich mich auf einen der Stühle im Wartebereich fallen und fange an zu weinen. Ich stütze die Unterarme auf meinen Knien ab und vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Verdammt, warum will mir denn niemand helfen? Ich muss doch zu ihm. Ich muss doch …

„Taichi Yagami, wir suchen Taichi Yagami.“ Ich hebe den Kopf und blicke nach vorne. Eine Frau und ein Mann mittleren Alters irren genauso umher wie ich und sind sichtlich aufgewühlt. Die Frau hat braune Haare und seine Augen. Oh Gott. Seine Mutter. Und der Mann muss sein Vater sein. Die Frau, von der ich nicht einmal weiß, wie sie heißt, weint bitterlich. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt, während ihr Mann sie bei der Hand nimmt und versucht, zu beruhigen. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie es ihnen gerade geht. Sie müssen verzweifelt sein, ihr Sohn liegt im Krankenhaus und ist schwer verletzt.

Plötzlich kommt ein Arzt auf sie zu und spricht sie an. „Herr und Frau Yagami?“

„Ja, ja, das sind wir. Wie geht es unserem Sohn? Wird er wieder gesund?“

An dem Gesicht des Arztes kann ich rein gar nichts schlussfolgern, wie es Tai gerade geht, er blickt die beiden völlig neutral an. Nun rede doch endlich!

„Wie Sie sicher wissen, hatte Ihr Sohn einen schweren Unfall und wurde in Shizuoka, wo er sich zum Zeitpunkt des Unfalls aufhielt, notoperiert. Da das Krankenhaus dort weniger gut ausgestattet ist, wurde er danach schnellstmöglich hierher verlegt.“

„Das habe ich angeordnet“, höre ich plötzlich Joe sagen, den ich gar nicht bemerkt hatte, der nun aber an die Seite seines Kollegen tritt. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich kenne die Familie, ich übernehme ab hier.“ Sein Kollege nickt und verbeugt sich vor den Yagamis, ehe er sich entfernt.

„Joe, wie geht es Tai?“, will Frau Yagami sofort wissen und sieht ihn flehend an. Allerdings glaube ich, dass egal, was aus Joes Mund kommen wird, ihr ab jetzt nur noch mehr Kummer und Leid verursachen wird.

„Ich will ehrlich sein“, meint Joe betroffen. „Sein Zustand ist kritisch. Die ersten 24 Stunden sind entscheidend, erst dann können wir sagen, ob er durchkommen wird. Und selbst dann hängt seine Genesung von seinem eigenen Überlebenswillen ab.“

Tai’s Mutter schlägt sich eine Hand vor den Mund, kann jedoch ein lautes Schluchzen nicht verhindern.

Die ersten 24 Stunden …

Mir gefriert das Blut in den Adern beim Gedanken daran.

„Er hat ein Polytrauma, das heißt, mehrere Verletzungen waren bei ihm lebensbedrohlich. Thorax und Kopf haben sind durch die Wucht des Aufpralles ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Wirbelsäule ist unversehrt. Das war großes Glück. Tai muss sich gut geschützt haben, als er fiel, so viel steht fest. Dennoch kam es zu einem Schädel-Hirn-Trauma, das ist bei einem Sturz aus fast 7 Metern Höhe nicht zu vermeiden.“

7 Meter?

Tai ist aus 7 Metern gestürzt?“Hauptsächlich hat er schwere Frakturen an Schultern, Knien, Armen und Sprunggelenken. Ein Bein ist gebrochen, eine zweiseitige Milzruptur wurde operativ behandelt, ein subkapsuläres Hämatom, welches wir allerdings konservativ behandeln können. Was uns große Sorgen bereitet hat, ist ein Hämoperitoneum.“

Was, was, was? Sprich langsamer, Joe. Ich verstehe absolut kein Wort. Es hört sich alles schrecklich an.

„Das ist ein unkontrolliertes Bluten im Bauchraum. Es hat einige Zeit gedauert, die Blutung zu stoppen und für ein paar Minuten hatten die Ärzte ihn verloren.“

Das ist der Satz, bei dem Frau Yagami endgültig zusammenbricht. Sie krallt sich an ihrem Mann fest, der sie in die Arme nimmt und stützt, sonst könnte sie wohl kaum noch auf den Beinen stehen. Sie weint unaufhörlich und auch mir fließen erneut Tränen über die Wangen. Sie tut mir so leid.

„Bitte, sprich weiter, Joe“, bittet Tai’s Vater. Joe nickt. „Wir konnten ihn zum Glück wiederbeleben und die Blutung stoppen. Allerdings hat er wirklich sehr viel Blut verloren und bekommt Bluttransfusionen. Aktuell liegt er hier auf der Intensivstation und er …“ Joe stockt.

Ich hebe meinen Kopf. Warum hört er auf zu reden?

„Joe? Was ist?“, fragt Herr Yagami und vermutlich weiß auch er, dass das noch nicht alles war, denn es kommt noch schlimmer. Joe sieht betreten zu Boden.

„Er liegt im Koma. Und wir wissen nicht, ob und wann er aufwachen wird.“

Mein Herz setzt für einen Moment aus. Zumindest fühlt es sich so an. Mir wird schwarz vor Augen und ich lasse mich in meinem Sitz zurückfallen. Meine ganze Welt bricht gerade zusammen. Die Tränen fließen und ich kann es nicht verhindern. Vor mir tut sich ein riesiger Abgrund auf. Was, wenn Tai nicht mehr aufwacht? Was, wenn er es nicht schafft? Dann ist meine Sorge um diese verdammte Hochzeit und Haruiko mein geringstes Problem. Dann verliere ich das Schönste, das Wichtigste, was ich in meinem Leben habe – Tai.

Mein leises Schluchzen geht hinter Frau Yagamis Weinen unter. Ich bin verzweifelt, aber sie … sie muss gerade tausend Tode sterben, aus Angst um ihren Sohn.

„Wenn Sie möchten, bringe ich Sie kurz zu ihm“, schlägt Joe vor. „Es tut ihm sicher gut, Ihre Stimmen zu hören und zu wissen, dass Sie beide da sind. Danach braucht er dringend wieder Ruhe.“

„Ja, bitte“, fleht Tais Mutter. „Bring uns zu ihm.“

Joe nickt. „Hier entlang, bitte“, sagt er und weist vor sich. Die beiden treten durch eine Tür und Joe will ihnen folgen, doch ehe ich auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen kann, springe ich von meinem Stuhl im Wartebereich auf und renne auf ihn zu. „Joe!“

Verwundert dreht er sich zu mir um. „Mimi? Was machst du denn …“ Ich packe ihn an den Armen. „Joe, kann ich mitkommen?“

„Was? Aber wie …?“ Er sieht verwundert zu mir hinab, dann zu der Tür, durch die eben Tais Eltern verschwunden sind, dann wieder zu mir. „Du willst zu Tai?“

Ich nicke. „Kari hat mich angerufen und gesagt, dass er einen Unfall hatte und dass er hier ist. Bitte, Joe. Bring mich zu ihm.“

„Mimi, du bist ja völlig aufgelöst“, erwidert Joe jedoch nur und legt beide Hände auf meinen Schultern ab. „Ich wusste nicht, dass du bereits davon weißt. Aber du kannst jetzt nicht zu ihm.“

„Joe, bitte“, flehe ich und die pure Verzweiflung spiegelt sich in meiner Stimme wider, aber das ist mir egal. Ich weiß, dass ich total verheult aussehe, was Joe vermutlich komisch findet, aber auch das spielt gerade keine Rolle. Nicht für mich. Tai ist alles, was zählt.

„Es geht nicht.“ Joe sieht mich eindringlich an. „Geh nach Hause, Mimi. Warte da auf mich. Ich rufe dich an, sobald ich etwas weiß.“

Ich schüttle energisch meinen Kopf. „Nein, ich bleibe hier.“

„Hier? Aber, worauf willst du warten, Mimi?“, fragt Joe verständnislos. „Ich weiß, ihr beide seid inzwischen vermutlich auch so was wie Freunde geworden. Du hast mehr Zeit mit Tai, als mit mir verbracht. Kein Wunder, dass dir sein Unfall so nahe geht.“

Weinend schüttle ich den Kopf. Nein, Joe. Nein! Er ist so viel mehr als das. So viel mehr. „Ich … nein, er ist …“

„Geh nach Hause, Mimi“, wiederholt Joe mit Nachdruck und sieht mich bittend an. „Du hast hier nichts verloren. Tai braucht jetzt seine Familie.“

Nein, du irrst dich. Ja, er braucht seine Eltern, seine Schwester. Aber er braucht auch mich. Da bin ich mir ganz sicher. Ich kann ihn jetzt nicht alleine lassen.

Da ich nichts mehr antworte, geht Joe wahrscheinlich davon aus, dass ich ihn verstanden habe, denn er gibt mir einen flüchtigen Kuss zum Abschied, den ich nicht mal spüre. Ich kann gar nichts mehr spüren. „Bis später.“

Er geht ebenfalls durch die Tür und ich bleibe zurück. Mehrere Minuten stehe ich wie unter Trance einfach nur da und starre diese Tür an, hinter der sich meine große Liebe befindet. Und ich darf nicht zu ihm. Trotzdem kann ich nicht einfach so gehen. Das bringe ich nicht übers Herz.

Ich stehe immer noch unter Schock, als ich mich zurück in den Wartebereich setze.

Eine Stunde vergeht.

Zwei Stunden vergehen.

Drei Stunden vergehen.

Tais Eltern kommen zurück und seine Mutter setzt sich auf einen der Stühle neben mir. Ich sehe sie nicht an, sie kennt mich ja kaum. Der Vater fährt los, um ein paar Sachen von zu Hause zu holen.

Vier Stunden vergehen.

Ich tue nichts, außer da zu sitzen und ins Leere zu starren und pausenlos Stoßgebete gen Himmel zu schicken, damit Tai nicht stirbt. Damit er zurückkehrt, zu mir, zu allen, die er liebt und die ihn lieben. Hätte ich ihm doch nur schon viel eher gesagt, was ich für ihn empfinde. Dass ich ihn liebe.

Fünf Stunden vergehen.

Joe kommt von der Intensivstation und sucht nach Tais Eltern. Er sieht nicht nur sie, sondern auch mich, was ihn stutzen lässt, denn er hatte mich ja nach Hause geschickt. Aber er spricht mich nicht an. Er benötigt noch einige Unterschriften von seinen Eltern, Einwilligungen in gewisse Maßnahmen, die eventuell nötig sein könnten.

„Da ist noch etwas“, sagt er, als sie ihm die unterschriebenen Unterlagen zurückgeben. Tais Mutter sieht völlig fertig aus und macht sich wahrscheinlich schon auf die nächste Hiobsbotschaft gefasst. „Unsere Blutkonserven neigen sich dem Ende. Zumindest die mit der Blutgruppe, die für Tai in Frage kommen. Das sind leider nicht viele. Tai hat die Blutgruppe B negativ, die recht selten ist. Hat einer von Ihnen diese Blutgruppe und könnte ihm Blut spenden?“ Erwartungsvoll blickt Joe zu den beiden hinab, die sich jedoch nur fragende Blicke zuwerfen. Dann schüttelt Herr Yagami traurig seinen Kopf. „Tut mir leid, aber ich habe die Blutgruppe B positiv und meine Frau AB negativ, aber keiner von uns hat B negativ.“

Joe legt einen Finger ans Kinn und denkt nach. „Und Kari? Welche Blutgruppe hat sie, wissen Sie das?“

„Sie hat auch AB negativ, wie ich“, antwortet Frau Yagami.

„Das ist schlecht“, entgegnet Joe. „Also kommt keiner von Ihnen als Spender in Frage.“

„Können Sie nicht Blut aus einem anderen Krankenhaus kommen lassen? Die haben doch sicher auch Vorräte“, wirft Herr Yagami hoffend ein. Doch Joe schüttelt den Kopf. „Vorräte, die ebenfalls zur Neige gehen. Ich habe mich bereits informiert. B negativ ist generell immer knapp, aber momentan sieht es besonders schlecht aus.“

Frau Yagami bricht erneut in Tränen aus. Ich habe die ganze Zeit über zugehört, obwohl ich vier Plätze weiter sitze und nichts gesagt habe und mich eigentlich auch nicht einmischen wollte, aber jetzt hebe ich den Kopf.

„Teste mich.“

Alle sehen verwundert zu mir rüber. Ich schaue direkt zu Joe. „Teste mein Blut. Vielleicht komme ich ja als Spenderin in Frage.“

„Wer sind Sie?“, fragt Frau Yagami verwirrt. Joe schüttelt bereits den Kopf. „Das ist sehr unwahrscheinlich, Mimi.“

„Ist mir egal. Teste mich einfach“, fordere ich trotzdem und stehe nun von meinem Stuhl auf. „Es ist immerhin eine Chance, oder?“ Ehrlichgesagt habe ich keine Ahnung, welche Blutgruppe ich habe, weil ich es nie gebraucht habe, aber hier geht es um Tais Leben. Wenn das alles ist, was ich für ihn tun kann, dann tue ich es.

Joe sieht fragend zu Tais Eltern, um sich ihre Einwilligung zu holen. „Das ist Mimi, sie ist meine Verlobte und … eine Freundin von Tai.“ Bei den Worten sieht er kurz zu mir, weicht dann meinem Blick jedoch wieder aus. „Es wäre einen Versuch wert“, fügt er schulterzuckend hinzu. Herr und Frau Yagami werfen sich einen kurzen Blick zu, dann nicken sie einstimmig. „Versuchen wir es.“

„Wunderbar. Komm mit, Mimi“, sagt Joe und ich folge ihm den Gang entlang. Wir gehen in eine Art Labor und Joe bittet mich, auf einem Hocker Platz zu nehmen, während er alles für die Blutabnahme vorbereitet. Da ich ein Kleid trage, muss ich nicht mal einen Ärmel hochschieben. Joe zieht sich sterile Handschuhe über und sucht nach einer geeigneten Vene, bevor er die passende Stelle desinfiziert.

Er setzt die Kanüle an. „Warum tust du das?“ Ein kleiner Schmerz durchfährt mich, als er zusticht und die ersten Tropfen Blut fließen.

Ich zucke mit den Schultern. „Was soll ich denn sonst tun?“

Ein Lächeln huscht über Joes Gesicht, aber es sieht traurig aus. Er sieht mich nicht an, sondern wechselt stattdessen die Röhrchen, damit noch mehr Blut aufgefangen werden kann. „Du bist wirklich ein guter Mensch, Mimi“, sagt er und ist auch schon fertig. „Oder ist es mehr als das?“ Er klebt mir ein Pflaster auf die Einstichstelle und ich drücke mit meinem Finger drauf, um die Blutung zu stoppen. Fragend hebe ich den Kopf. „Was meinst du?“ Er weicht meinem Blick immer noch aus. „Bitte warte draußen. In einer halben Stunde haben wir das Ergebnis.“

Ich nicke und verlasse das Labor, ohne ihm noch irgendeine Frage zu stellen. Ich kann an nichts denken, außer an Tai.

Mein Kopf ist wie benebelt, als ich mich zurück in den Wartebereich setze und einfach warte. Jede Minute fühlt sich wie eine Ewigkeit an, als Joe endlich mit den Ergebnissen kommt. Schweigend sieht er auf seinen Block, während wir drei ihn erwartungsvoll ansehen.

„Interessant“, sagt er. „Mimi, du hast die Blutgruppe 0 negativ.“

Ich lasse den Kopf sinken und all meine Hoffnung schwindet dahin. „Oh … also komme ich nicht als Spenderin in Frage.“ Wäre ja auch zu schön gewesen. Joe sagte ja, dass die Chance äußerst gering ist. Zu meiner Überraschung hebt Joe lächelnd den Kopf. „Doch, tust du. Du hast die Blutgruppe 0 negativ und bist somit quasi eine Universalspenderin. Das heißt, du kannst für jede andere Blutgruppe spenden.“

Das erste Mal seit Stunden, dass ich wieder lächle und auch Frau Yagami vor Freude strahlt und sogleich meine Hand ergreift und sie fest drückt. „Oh Gott, Mimi, wir danken dir ja so sehr. Du rettest unserem Sohn das Leben.“

Ich kann nur noch stumm nicken, weil ich am liebsten weinen könnte, aber diesmal reiße ich mich zusammen. „Komm mit, Mimi, ich bringe dich zu Tai und eine Schwester wird alles für die Bluttransfusion vorbereiten. Ich hoffe, du hast heute gut gegessen. Es könnte etwas dauern und dir könnte schwindlig werden.“

„Das ist egal. Hauptsache Tai geht es besser“, erwidere ich und folge Joe auf die Intensivstation. Wir gehen einen langen Gang entlang, bis wir an einer Tür halt machen und ich noch mal tief durch atme. Hinter dieser Tür liegt Tai. Ich habe keine Ahnung, was mich gleich erwartet, aber ich spüre, wie ich zu zittern beginne. Mein ganzer Körper bebt, als Joe die Tür öffnet und wir eintreten.

Ich halte die Luft an und schlage mir die Hand vor den Mund, als ich Tai da liegen sehe. Es übertrifft meine schlimmsten Vorstellungen. Er trägt eine Halskrause, sein Kopf ist verbunden, überall sind Schläuche. Seine Arme, sein Gesicht, übersäht mit blauen Flecken und tiefen Schürfwunden. Oh mein Gott. Meine Knie werden weich und bevor ich zusammenbreche, weil ich diesen Anblick kaum ertrage, setze ich mich schnell auf einen Stuhl, der neben seinem Bett steht.

„Es ist schlimm, ich weiß“, sagt Joe mitfühlend, steht neben mir und sieht ebenfalls auf seinen Freund hinab.

Auch ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Mein Herz bricht ein zweites Mal an diesem Tag und erst jetzt wird mir das volle Ausmaß dieses Unfalls so richtig bewusst.

„Was denkst du, wann er wieder aufwacht?“, frage ich vorsichtig, auch wenn ich die Antwort wahrscheinlich gar nicht wissen will, weil sie mich umbringen könnte.

Joe seufzt schwer. „Das kann niemand so genau sagen. Es kann Stunden, Tage, Wochen oder auch Monate dauern, bis er wieder aufwacht“, sagt er leise. „Im schlimmsten Fall Jahre. Das hängt stark von ihm selbst ab. Da haben wir keinen Einfluss drauf.“

Die Tränen steigen mir erneut in die Augen und ich drehe mich schnell weg, damit Joe es nicht sieht. „Ich lasse dich kurz allein. Gleich kommt eine Schwester und bereitet alles vor. Du musst keine Angst haben, es tut nicht weh.“

Ich nicke. Und selbst wenn, es wäre mir egal. Ich würde sofort alles hergeben, alles opfern, wenn Tai nur wieder aufwachen würde. „Ich habe in zwei Stunden Feierabend. Dann fahren wir zusammen nach Hause, in Ordnung?“

Ich nicke. „Okay.“

Joe verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich. Kaum ist er draußen, greife ich nach Tais Hand und fahre mit dem Finger über seine Wunden. „Tai …“, flüstere ich und hauche einen sanften Kuss darauf. „Es tut mir so leid.“ Ich kann die Tränen nicht aufhalten, die nun über meine Wange fließen. Mein Innerstes ist zerrissen. Warum ist das nur passiert? Warum er?

„Ich bin bei dir, Tai“, sage ich unter Tränen und führe seine Hand an meine Wange. Sie ist warm und trotzdem steckt gerade kein Leben in ihr. Dabei höre ich immer noch seine Stimme in meinem Ohr, spüre seine Lippen auf meinen. Ich habe immer noch seinen Duft in meiner Nase und ich habe Angst, dass ich das alles nie wieder spüren kann, ihn nie wieder küssen oder riechen kann.

Für mich fühlt es sich wie sterben an. Und mein Herz wird erst wieder schlagen, wenn er aufgewacht ist, wenn er wieder bei mir ist.

„Ich bin hier“, sage ich noch einmal, in der Hoffnung, dass er mich hört. „Ich hätte dir so gerne gesagt, dass ich dich liebe. Es tut mir leid, dass ich es nie wirklich getan habe. Bitte wach wieder auf, Tai. Bitte.“

Meine bebende Stimme und mein Schluchzen erfüllen den Raum. Da ist das Piepen der Geräte, die dabei helfen, ihn am Leben zu erhalten.

Sonst ist da nichts.

Nur Stille.

Joe
 

Natürlich hat Mimi nicht genügend gegessen. Wahrscheinlich gar nichts, das kommt bei ihr öfter vor, dass sie einfach das Essen vergisst. Nachdem sie Tai ihr Blut gespendet hat, habe ich sie zu mir ins Büro geholt und sie mit allem versorgt, was sie braucht. Körperlich hat sie sich recht schnell wieder erholt, aber seelisch? Ich mache mir natürlich große Sorgen um Tai und ich verstehe, dass Mimi das auch tut und doch, irgendwie … die Art, wie sie hier ausharrt, wie sie ihn ansieht, wie verheult sie ist. Diese art von Frauen habe ich hier im Krankenhaus schon häufig gesehen. Diese Art von Frauen, waren aber nie platonische Freundinnen. Nein, es waren meistens Ehefrauen.

“Wie geht es dir?”, erkundige ich mich bei meiner Verlobten. “Gut”, nuschelt sie, schaut mir aber nicht in die Augen und wir wissen beide, dass die Antwort nicht wahr ist.

“Ich sehe jetzt nochmal nach Tai und dann können wir nach Hause fahren.” Keine Reaktion, keine wirkliche. Auch Tais Eltern sind immer noch da. Sie sitzen im Wartezimmer und Tais Vater scheint mit Kari zu telefonieren, ich höre wie er ihren Namen sagt. Sicher wird Kari ihre Kur abbrechen, was nicht gut ist, da sie die Kur dringend für ihre eigene Gesundheit braucht. Ich betrete Tais Zimmer. Ihn so zu sehen, ist auch für mich nicht leicht. Ich lese mir immer wieder den Unfallbericht der Polizei durch. Wie kann denn nur bei einer Filmproduktion ein Seil reißen?

Irgendwie mehr als seltsam. So etwas müsste doch mehrmals überprüft werden. “Hey, hier sind echt viele, die sich Sorgen um dich machen.”

Ich schaue mir die Geräte an. Eine Bluttransfusion kann auch Nebenwirkungen haben. Ich kontrolliere nochmal seinen Blutdruck und seine Herzfrequenz. Diese Werte sind stabil. Er scheint Mimis Fremdblutspende gut zu vertragen. Ich denke, in dieser Nacht wird nicht mehr viel passieren. Hoffe ich und auch wenn er noch mehr tot als lebendig ist, bin ich sicher, dass, wenn es einer schafft, es Tai ist. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass Tai soweit stabil ist, gehe ich zurück ins Büro, ziehe meinen Arztkittel aus und meine Jacke an.

“Na komm, Mimi.” Sie bleibt sitzen, regungslos. War zu erwarten. “Mimi?”

“Kann ich nicht hier bleiben? Und hier im Büro schlafen?"

“Warum solltest du das wollen?”

“Weil … vielleicht, braucht Tai nochmal Blut.”

“Er scheint deine Blutspende gut zu vertragen. Heute braucht er nichts mehr und selbst wenn, dürftest du heute sowieso nicht mehr spenden. Komm mit nach Hause, schlaf etwas und meinetwegen kannst du ja morgen wieder mit ins Krankenhaus kommen.” Noch immer bleibt jede Reaktion aus. Ich lege meine Hand auf ihrer Schulter ab. Vielleicht erreiche ich sie ja so. “Ich werde ständig informiert. Die Nachtschwester weiß Bescheid. Die Besuchszeit ist ohnehin schon lange vorbei.” Ich ziehe sie hoch und schleife sie widerwillig hinter mir her. Dass sie so schwer sein kann. Auch Tais Eltern sind noch an Ort und Stelle.

“Hey, ihr solltet auch nach Hause gehen.” Tais Mutter sieht uns und kommt auf uns zu. “Aber dann ist er ja ganz alleine.”

“Er ruht sich aus. Tai hat die Fremdblutspende gut vertragen. Es hilft hier niemanden, wenn sie alle vollkommen erschöpft zusammenfallen. Ich weiß, sie sind Profis darin, im Krankenhaus Tage und Nächte zu verbringen. Ruhen sie sich etwas aus und morgen kommen sie gestärkt wieder.”

Yuuko schüttelt energisch ihren Kopf. Ich habe nichts anderes erwartet. So ist sie eben. Sie ist auch Kari niemals von der Seite gewichen und irgendwann bekam sie einfach auch ein Bett, damit sie nicht ständig auf einem Stuhl schlafen musste. “Du kannst ruhig nach Hause gehen, Liebling. Morgen reist doch Kari an, dann kommt ihr gemeinsam wieder hierher, aber ich bleibe.” Yuuko sieht zu ihrem Mann. Er lächelt, auch er weiß, dass es wenig Sinn macht, mit seiner Frau weiter zu diskutieren. Er nickt mit dem Kopf.

“Na schön, ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst.”

“Ja, das mache ich.” Ich lasse Yuuko zu ihrem Sohn, ordne der Krankenschwester an, dass sie ihr meinen Sessel aus dem Büro in Tais Krankenzimmer stellen soll, damit Yuuko es in der Nacht auch etwas bequemer hat. Irgendwie scheint es Mimi zu beruhigen, dass Yuuko die Nacht bei ihrem Sohn bleibt, denn schließlich kommt sie mit nach Hause. Auch wenn sie irgendwie so aussieht, als würde sie gerne selbst Yuukos Platz einnehmen.
 

Die Nacht war kurz. Ich verlasse die Dusche und trockne mich ab. Ich ziehe meine beige Cordhose und ein weißes Poloshirt an. Ich putze meine Brillengläser, setze diese auf und ziehe zum Schluss meine Rolex an. Mein Arbeitsoutfit. Heute wird wieder ein langer und harter Tag. Das weiß ich jetzt schon. Tai ist noch nicht über den Berg. Was seine Werte heute wohl sagen? Strenggenommen ist er gar nicht mein Patient und ich habe wirklich genug eigene, aber es ist Tai. Ich muss sicherstellen, dass es ihm gut geht. Mimi ist gestern irgendwann in ihrem Zimmer verschwunden und weg war sie. Irgendwie scheint sie mich gar nicht wahrgenommen zu haben und eine Frage lässt mir keine Ruhe: was, wenn ich an Tais Stelle im Krankenhaus liegen würde, würde Mimi sich auch so viele Sorgen um mich machen? Ich gehe bereits zur Dachterrasse. Mimi sitzt schon da. Sie sieht aus, als hätte sie in der Nacht kein Auge zugemacht. Sie sind rot, verquollen und klein. “Guten Morgen”, begrüße ich sie freundlich. “Morgen Joe, hast du was von Tai gehört?” Tai. Klar, wer sonst.

“Nein, also scheint alles unveränder zu sein.” Sie nickt und rührt wieder in ihrer Kaffeetasse herum. Ich setze mich zu ihr und Ansgar schüttet mir Kaffee ein. Ich nicke ihm zu. “Wie hast du geschlafen?”, frage ich überflüssigerweise, aber irgendwie weiß ich nicht, was ich sonst sagen soll. Obwohl ich schon glaube, Mimi langsam näher zu kommen und sie besser zu kennen als am Anfang, ist sie immer noch ein geschlossenes Buch für mich und es fällt mir schwer, die Seiten in diesem Buch zu lesen, als wäre es eine Fremdsprache, die ich nicht beherrsche. Mimi isst halbherzig ihr Frühstück auf, lässt aber die Hälfte stehen. “Geht so. Können wir dann los?”

“Warum willst du eigentlich so unbedingt zu Tai? Möchtest du dir nicht lieber einen schönen Tag machen? Die Hochzeit steht bald bevor. Da gibt es doch sicher, noch etwas zu tun.”

Da ist es wieder, immer wenn jemand das Wort “Hochzeit” in den Mund nimmt, nimmt Mimi einen ganz komischen Gesichtsausdruck an. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, solange bis sie sich wieder gefangen hat. Solange bis sie wieder weiß, dass sie gemeint ist, dass wir gemeint sind.

“Seit wann interessiert es jemanden, was ich auf meiner Hochzeit will?“

“Aber es interessiert … “

“Nein, tut es nicht”, unterbricht sie mich barsch.

“Okay, Mimi, was ist hier eigentlich los?” Sie zuckt mit den Achseln und trinkt ihren Kaffee leer. “Nichts, ist doch so. Alles ist fertig geplant und meine Lektionen werde ich pausieren, weißt du, mein Trainer hatte einen schlimmen Unfall.”

Will sie mich für dumm verkaufen?

“Und du meinst, ich wüsste nicht, dass mein bester Freund im Koma liegt.” Sie guckt mich undefinierbar an, aber ich lasse das Thema ruhen, zunächst.

“Ich muss nochmal rein, ich habe was vergessen. Danach fahren wir.” Ich stehe auf und suche Ansgar. Er ist gerade dabei, meiner Mutter mit den Gardinen zu helfen. “Ansgar?” Er dreht seinen Kopf zu mir um, hält aber noch die Gardinenstange in den Händen. “Ja, Sir.”

“Hätten Sie einen Moment?”

“Ist schon okay, die Gardine hängt”, sagt meine Mutter freundlich. Ansgar klettert die Leiter runter und verbeugt sich vor mir. Meine Mutter zieht die Gardinen zurück und holt sich nun ihre Gießkanne.

“Ist Ihnen zwischen Tai und Mimi etwas aufgefallen? Also ähm, ich meine …” Ich weiß nicht so recht, wie ich den Satz beenden soll, aber er ist doch immer hier, wenn einer etwas mitbekommen hat, dann er und irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte ich was übersehen. “Sie haben sich immer prächtig verstanden, warum Sir?” Ich schüttle nur meinen Kopf und lächle unsicher. “Ach nur so, danke.”

“Keine Ursache.” Ansgar klappt die Leiter zusammen und bringt sie zurück. Meine Mutter hat währenddessen aufgehört die Blumen zu gießen und starrt mich an.

“Ist was?”

“Wie geht es Tai?” Meine Mutter hat gestern noch erfahren, was Tai passiert ist und sie mag Tai auch. Er war immer so etwas wie ihr dritter Sohn. “Unverändert.”

Sie nickt. Sie stellt die Gießkanne ab und kommt auf mich zu. “Warum wolltest du von Ansgar wissen, ob etwas zwischen Tai und Mimi läuft?”

“Ähm, ach, es ist nur … keine Ahnung.” Meine Mutter sieht mich komisch an, als würde sie etwas wissen, was ich nicht weiß. Moment, sie ist auch immer hier.

“Hast du etwa was mitbekommen?” Sie druckst herum, weicht meinem Blick aus, weiß nicht, was sie sagen soll. “Ich hatte das Gefühl, dass Tai etwas für Mimi übrig haben könnte.”

“Was? Wann? Und warum sagst du mir so etwas nicht?”

“Es ist schon etwas länger her. Es war in New York, beim Hinflug, es sah aus, als wollte er sie küssen.” Ich glaube, mir fällt alles aus dem Gesicht.

“Und nochmal: Warum sagst du mir so etwas nicht?”

“Ihr seid schon solange Freunde. Er macht seine Arbeit gut. Ich habe ihn darauf angesprochen und mit ihm geredet. Danach habe ich sie nie wieder so nah zusammen gesehen, geschweige denn irgendeine romantische Geste beobachtet. Ich bin sicher, er hat sich danach zurückgehalten und Mimi ist sehr bemüht gewesen, die Lektionen gut zu lernen.” Soll mich das jetzt etwa beruhigen? Ich hätte das wissen müssen, dann hätte ich Mimi niemals gestattet, mit ihm ins Fußballcamp zu fahren. Was, wenn da doch etwas zwischen ihnen lief? Mein bester Freund und meine Verlobte? Ich schüttel meinen Kopf. Nein, so etwas würde Tai mir nicht antun. Nicht er. “Sir?”

“Ja, Ansgar.”

“Fräulein Mimi hat sich soeben ein Taxi bestellt und ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie sah, wie Professor Kido losgefahren ist und ist dann auch direkt aufgebrochen.”

“Wie bitte?” Sie kann keine fünf Minuten auf mich warten? Nein, sie muss zu ihm. Zu Tai. “Weißt du Mom, ich glaube, ich wurde an der Nase herum geführt.” Und für dumm verkauft und wenn es etwas gibt, was ich nicht ausstehen kann, dann ist es das. Ich eile nochmal nach oben und betrete ihr Zimmer. Ich bin nicht oft hier. Ich wahre ihre Privatsphäre, vielleicht ist das auch mein Fehler gewesen. Zu viele Freiheiten eingeräumt. Etwas, was mein Vater und mein Bruder niemals zulassen würden. Ich sehe mich in ihrem Zimmer um. Ich weiß gar nicht so recht, was ich mir davon verspreche, aber ich beginne ihre Sachen zu durchwühlen und schließlich sehe ich ein Buch auf ihrem Nachtschränkchen liegen. Ich öffne die ersten Seiten. Es ist Mimis Tagebuch. Sie hat Tagebuch geschrieben. Volltreffer.
 

Noch nie vorher war ich so aufgeregt in meinem Leben. Joe scheint wirklich nett zu sein. Genauso wie seine Mutter. Im Gegenteil zu Tai. Tai ist so eine Nervensäge. Echt, was hat der eigentlich für ein Problem?
 

Das waren die ersten Seiten. Ich blättere weiter.
 

Ich habe Angst, dass bald alle die Wahrheit erfahren. Dass bald alle wissen, warum ich wirklich hier bin, dass mein Vater Gelder veruntreut hat und ich nur in die Heirat eingewilligt habe, um meinen Vater zu retten.
 

Diese Wahrheit ist ihr um die Ohren geflogen, wie eine gewaltige Explosion. Ich blättere weiter. Seite um Seite.
 

Tai hat mich gerettet. Mal wieder. Joe redet nicht mit mir. Schon seit Wochen nicht. Er schaut mich an, als wäre ich nicht da, als wäre ich lästig. Tai hingegen ist immer für mich da. Er ist wirklich ein guter Freund, versucht mich abzulenken, bringt mich zum Lachen.

Hier in diesem Leben, als Verlobte, hier in der Öffentlichkeit zu stehen. Es macht mich fertig. Ich will das nicht. Ich kann das nicht.
 

Ich kann nicht aufhören zu lesen. Ich sauge jedes Wort auf. Gedichte, Verse, die sie schreibt. Wortfetzen, Zeichnungen. Es ist wie eine absolute Offenbarung. Eine gigantische Ohrfeige, bei der du das Gefühl hast, dass deine Wange noch Stunden danach gerötet und warm ist.
 

Ich hasse den Professor. Wie kann man nur so sein? So kalt, so herzlos, so skrupellos. Besitzt er überhaupt noch ein Funken Menschlichkeit?
 

Nächste Seite.
 

Ich war glücklich. Es hielt einen ganzen Wimpernschlag an. Tai und ich, wir haben uns geküsst. So einen Kuss hatte ich noch nie in meinem Leben. Werde ich wohl nie wieder haben.
 

Ich kann nicht weiter lesen. Ich ziehe mir die Brille ab. Bin kaum im Stande, zu realisieren, was ich gerade gelesen habe. Sie haben sich geküsst, geküsst. Ich massiere mir die Schläfe, ehe ich meine Brille wieder aufsetze und versuche, weiter zu lesen.
 

Kurz war meine Welt perfekt. Nie wieder eine Kido in spe sein. Endlich wieder frei sein. Endlich wieder ich sein, aber es sollte wohl nicht so sein. Haruiko hat andere Pläne. Ich kann nicht mit Tai zusammen sein. Niemals. Er wird es verhindern. Ich muss Joe heiraten. Mir bleibt keine andere Wahl.
 

Wer? Mein Vater.

Meine Mutter, mein Vater. Jeder weiß Bescheid. Jeder scheint mitbekommen zu haben, dass zwischen den Beiden was läuft, nur ich nicht? Keiner hat mich eingeweiht. Sie alle haben mich für dumm verkauft. Mich verraten. Ich kann kaum aushalten, was ich lese und doch kann ich es nicht weglegen. Ich bin so wütend, dass ich es fast nicht aushalte, aber die Einträge gehen weiter. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen.
 

Tai will nicht aufgeben. Ich habe es schon längst. Er schenkt mir Hoffnung in dieser trostlosen Zeit. Wird er was herausfinden? Gegen ihn? Und selbst wenn, wird es mich dann retten?
 

Wovon spricht sie? Über wen was herausfinden? Retten? Vor wem? Vor mir? Bin ich so schlimm?
 

Es ist passiert. Noch immer tanzen die Schmetterlinge in meinem Bauch. Noch immer spüre ich seine Küsse überall, seine Hände auf meinem Körper. Sein Atem gegen meinen. Wir beide wurden eins. Ach, könnte dieses Gefühl doch für immer sein.
 

Mir wird schlecht. Sie haben wirklich miteinander geschlafen.

Sie hat ihm das gegeben, was sie mir immer verwehrte. Wie dumm und blind kann ein Mensch nur sein? Ich brauche nochmal eine kurze Pause, muss mich sammeln, irgendwie atmen und weiterlesen. Ganz schön masochistisch, oder?
 

Die Familie Kido ist doch verrückt. Was sie Kaori antun, ist nicht normal. Niemals werde ich mich so behandeln lassen. Niemals, werde ich zulassen, dass so über meinen Körper entschieden wird. Dann sollen sie glauben, dass sie mich kontrollieren können, aber niemals werde ich ihnen gehören. Niemals, werde ich ihre Marionette sein. Niemals. Niemals. Niemals.
 

Sowie sie uns beschreibt, müssen wir die größten Verbrecher der Welt sein, aber haben wir Mimi nicht immer gut behandelt? Nicht alles für sie getan? Ihrem Vater geholfen? Sie bei uns aufgenommen?
 

Ich mag Joe, das tue ich wirklich. Ich genieße seine Gesellschaft. Er könnte mir ein guter Freund werden. Ich rede so gerne mit ihm. Aber ob Freundschaft genug ist? Jemals genug sein wird? Er ist wirklich ein lieber. Er verdient es so glücklich zu sein, aber nicht mit mir. Ich kann nicht diese Frau für ihn sein. Auch wenn er es sich wünscht. Joe ist nicht er. Er ist nicht Tai. Ich wollte es nicht, ich wollte nie, dass das passiert, aber ich habe mich in Tai verliebt und ich kann nichts dagegen tun. Ich will es auch gar nicht. Ich will Tai. Für immer.
 

Der Beweis. Hier steht es schwarz auf weiß. Sie hat sich in Tai verliebt. Ja, so sah Mimi gestern aus. Die Art von Frauen, die sich um ihren Liebsten sorgen. Nicht um einen Freund, sondern um ihre Liebe.

Mir wird schlecht. Mein bester Freund und meine Verlobte, direkt vor meiner Nase und ich habe nichts gemerkt. Wie konnten sie mir das antun? Ich merke, wie etwas in mir zu Brodeln beginnt. Ich spanne meine Hand zu einer Faust. Wäre Tai nicht schon Halbtot, dann würde ich jetzt dafür sorgen.
 

Wir haben etwas gefunden. Tai hat etwas gefunden. Etwas gewaltiges. Es wird mich retten. Er wird mich retten. Mal wieder. Mein Held.

Bald werde ich frei sein.

Bald werden wir endlich zusammen sein. Bald muss ich keinem mehr etwas vormachen. Nie wieder. Wie befreiend.
 

Etwas gefunden? Es ist der letzte Eintrag. Danach sind die Seiten leer, aber ich muss auch nicht mehr wissen. Ich weiß jetzt alles. Ich nehme mir dieses verdammte Tagebuch und gehe wütend ins Krankenhaus. Mimi wird mich nie wieder zum Narren halten. Sie will ihre Freiheit, die kann sie haben. Denn dafür bin ich mir eindeutig zu schade.
 

Mimi
 

Ich kann einfach nicht mehr. Ich muss zu Tai. Es ist mir egal, was Joe denkt. Er wird mich sowieso hassen. Tai braucht mich. Ich spüre das. Als ich gesehen habe, dass der Professor auf dem Weg ins Krankenhaus ist, musste ich einfach auch sofort hin. Ich traue ihm nicht. Tais Unfall passierte niemals einfach so. Tai sagt Nanamis Namen vor den Kidos und dann reißt plötzlich ein Seil. Ich erinnere mich noch, als der Professor Tai fragte, wo genau er sein würde und er ihm antwortete. Und jetzt liegt er im Koma. Das kann kein Zufall sein. Haruiko traue ich einen Mord zu. Er hat ihn mir immerhin auch angedroht. Indirekt. Ich muss bei ihm sein, wenn er in der Nähe ist. Für ein Arzt ist es doch ein leichtes, einen Komapatienten zu beseitigen. Hilflos, allein. Nein, ist er nicht. Ich werde da sein und ihn beschützen. Ich fahre direkt in das vierte Stockwerk, als ich an einem Kaffeeautomaten stehen bleibe. Sicher hat

Tais Mutter noch nichts zu sich genommen. Ich stecke meine Karte in den Automaten und bestelle einen normalen Kaffee. Ich weiß nicht, wie sie ihn genau trinkt, aber ich hoffe, dass die Auswahl in Ordnung ist. Ich weiß, ich darf gar nicht in diesem Bereich rein. Ich bin ja keine Angehörige, Blabla. Nein, aber ich bin verdammt nochmal der Mensch, den Tai gerade an seiner Seite braucht.

Gerade ist Schichtwechsel. Sie sind alle schwer beschäftigt. Ich warte noch einen Moment ab, bis sich die Türe der Intensivstation öffnet. Gleich in dem ersten Zimmer liegt er. Mein Tai. Ich drücke den Türgriff nach unten und bin endlich wieder bei ihm. “Mimi?”, Müde reibt sich Tais Mutter über ihre Augen. Eine Hand hält immer noch Tais fest. Wow, was für eine herzliche und liebevolle Mutter. Auch wenn ich weiß, dass meine Mutter genau das gleiche für mich tun würde, so ist es nicht bei jedem so. Ich weiß gar nicht genau, was sie für ein Verhältnis zueinander haben, aber ich schätze ein sehr gutes. “Kaffee?”, frage ich vorsichtig. Sie lächelt dankbar und ich reiche ihr den Kaffeebecher rüber. “Ich habe ein Schluck Milch reingegeben, ich hoffe das ist ok?” Sie nickt, pustet einmal in ihren Kaffeebecher und trinkt einen Schluck. “Schmeckt nach all den Jahren immer noch gleich.” Stimmt, Kari lag ja Ewigkeiten hier und kämpfte ebenfalls mit oder gegen den Tod und jetzt auch ihr Sohn. Keine Ahnung, wie eine Mutter so etwas aushält. “Danke, nochmal wegen ihrer Blutspende.” Ich sehe zu Tai. Noch immer liegt er so da: Halskrause, Verband um seinen Kopf, Gips am Bein. Überall Blessuren. Meine größte Angst ist, dass er nie wieder aufwacht, meine zweite, dass er mich vergessen hat, dass er alles vergessen hat, was uns ausmacht, dass er nicht mehr weiß, dass er und ich wir sind. Ich kann nicht verhindern, dass sich Tränen in meinen Augen sammeln. Haruiko hat wirklich ganze Arbeit geleistet. “Ich wünschte, ich könnte mehr tun und bitte, sagen Sie Mimi.”

“Mimi, ich bin Yuuko. Schön, dass Tai so tolle Freunde hat.” Freunde.

“Er ist nicht nur ein Freund”, flüstere ich. Ich weiß nicht, ob Yuuko mich verstanden hat. Sie schaut mich nur an und dann wieder zu ihrem Sohn. Die Tür öffnet sich und Joe steht im Raum. Sein Augenpaar huscht schnell von Yuuko zu Tai und wieder zu mir. Dann sieht er mir fest in die Augen. Diese Augen. Die kenne ich, aber nicht von ihm. “Mimi, komm mit. Sofort.” Ich entschuldige mich bei Tais Mutter und folge Joe in sein Büro. Seine Stimme, sie ist kalt.

Er lässt mir den Vortritt und ich gehe zu seinem Schreibtisch. Ich drehe mich zu ihm um. Er schließt ab und will offenbar nicht gestört werden. Okay.

“Entschuldige, dass ich eben schon …”

“Entschuldige dich nie wieder bei mir.” Er steht mit dem Rücken zu mir, sieht immer noch zur Türe. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ob ich was sagen soll. Nur irgendwie glaube ich, dass es besser ist, gerade nichts zu sagen. Er öffnet seinen Arztkittel, greift in seine Innentasche und holt ein Buch heraus. Ich reiße meine Augen auf. Das ist mein Tagebuch. Joe dreht sich langsam um, mit diesen kalten Augen.

“Kennst du, nicht wahr?” Ich nicke. Er hat es gelesen. Mein Tagebuch. Er weiß es.

“Du hast mich betrogen, mit TAI.” Joe schreit die Worte raus und pfeffert mein Tagebuch gegen die Wand. Ich zucke zusammen. Ich hätte es verbrennen sollen. Echt. Ich werde mich jedoch nicht entschuldigen, weil ich mich erstens nicht mehr entschuldigen soll und weil es mir zweitens nicht leid tut. Nichts davon. Tai ist kein Fehler, war er nie. Diese ganze Verlobung ist ein Fehler. “Ja, habe ich.” Ich sehe Joe fest in die Augen. Er hasst mich. Ich sehe es ihm an und es ist okay, ich würde es auch tun. “Es war nie meine Absicht dich zu verletzen. Ich verehre dich, Joe, das tue ich wirklich. Du bist ein wunderbarer Mensch, aber ich liebe Tai.” Irgendwas flackert in seinen Augen. Er ballt seine Hand zu einer Faust und hämmert sie gegen die Türe. Wahrscheinlich, weil er gerade nicht Tai verprügeln kann und mich niemals anfassen würde. “Hör auf damit, du bist Arzt. Dein Hand ist viel zu kostbar, als dass du sie wegen mir ruinierst.”

“Sag du mir nicht, was ich zu machen habe.”

“In Ordnung, soll ich dir alles erzählen? Ich weiß nur nicht, ob du mir glaubst oder mir zuhören willst, aber ich denke, wenn du schon mein Tagebuch gelesen hast, solltest du auch endlich die ganze Wahrheit erfahren, denn ich habe bewusst nicht alles reingeschrieben.” Hey, ich habe bei den Kidos in der Villa gelebt. Ich bin schließlich nicht komplett irre. Joe schweigt. Er sieht mich nur weiter so kalt an. Er setzt sich in Bewegung und fängt an wild in seinem Büro auf und ab zugehen. “Bis zur Verlobungsfeier war ich der festen Überzeugung, dass ich dich heiraten will und dass ich das schaffen werde.” Joe geht weiter auf und ab. Es fällt ihm schwer, mir zuzuhören, weil er eigentlich gar nichts mehr von mir hören will, aber er will auch wissen, was ich zu sagen habe und warum alles so gekommen ist. Vor allem muss er erfahren, dass Tai ihm niemals weh tun wollte. “Aber in New York habe ich gemerkt, dass ich es nicht kann, dass ich Gefühle für jemand anderen habe und dass ich dieses Leben als eine Kido nicht führen will. Ich wollte gar nicht mehr zurück nach Tokyo. Ich wollte in New York bleiben. Bei meinen Eltern. Mit Tai.” Joe bleibt stehen. Er sieht kurz zu mir, aber hält es nicht lange aus. Mein Gott, ich wollte ihm doch nie weh tun. Von allen ist er hier mit das größte Opfer in dieser furchtbaren Geschichte. Aber Tai hatte Recht, wie so oft, die Geschichte kann nur Verletzte Gefühle mit sich bringen. Nur hätte ich nicht gedacht, dass es uns einfach alle verletzt und manche sogar mit dem Tod kämpfen müssen. “Aber du bist in den Flieger gestiegen”, stellt Joe nüchtern fest. Ich nicke. “Erinnerst du dich noch, dass ich auf der Verlobungsfeier überfallen wurde?” Joe nickt, schaut aber weiter aus dem Fenster. “Ich weiß wer es war, ich wusste es die ganze Zeit.” Joe schaut kurz zu mir herüber, blickt aber dann wieder zügig aus dem Fenster. “Es war dein Vater.” Jetzt reißt er seinen Kopf in meine Richtung um.

“Als ob.”

“Ich schwöre es dir. Bei allem was mir lieb und teuer ist. Ich habe mit meinen Eltern darüber geredet, dass ich bei ihnen bleiben will und er hat es mitbekommen. Noch bevor ich zu dir auf die Terrasse gehen konnte, hat er mich geschnappt und in eine Besenkammer geschubst.”

“Du hast eine sehr blühende Phantasie, aber das geht zu weit, Mimi.” Ich fasse mir an den Hals. Die Spuren sind lange verblasst, aber niemals werde ich vergessen, was er gesagt hat. “Du willst ernsthaft meinem Sohn den Laufpass geben? Hier? Auf eurer Verlobungsfeier? Glaubst du wirklich, dass ich gestatte, dass du meinen Sohn so verführst?” Joe sieht wieder zu mir. “Genau das hat er gesagt, Joe und nein, ich wollte das natürlich nicht. Ich bin einfach nur eine junge Frau, die ihrem Job nachging und mitbekam, dass ihre Eltern in der Klemme stecken und ihnen helfen wollte. Eine Frau, die nicht mehr an die Liebe geglaubt hat und dachte, einen Arzt zu heiraten, kann so falsch nicht sein. Eine Frau, die wirklich geglaubt hat, sie könnte das mal eben so machen. Es tut mir leid, aber ich konnte es nicht.” Ich weiß nicht, ob Joe mir die Geschichte glaubt, aber ich rede weiter. “Er hat mir gedroht, jeden den ich liebe, zu beseitigen, sollte ich dich nicht heiraten. Angefangen bei meinen Eltern.” Joe zischt verächtlich aus. “Du kannst ihn fragen, wenn du mir nicht glaubst. Es ist die Wahrheit. Er hatte kein anderes Druckmittel und er hat mich da getroffen, wo es am meisten weh tut.”

“Angenommen ich glaube auch nur ein gehässiges Wort und was ist mit Tai?”

“Tai wollte ebenso eine Erklärung, denn immerhin habe ich erst kurz vorher gesagt, dass ich ihn will und mit ihm zusammen sein will. Wir wollten es richtig machen. So richtig, wie es eben geht. Erst beenden, dann beginnen. Wirklich, aber na ja ...”

“Fremdgehen war dann doch einfacherer”, spuckt Joe die Worte aus.

“Einfacher? Daran war nichts einfach, Joe.”

“Weißt du Mimi, ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht heiraten. Ich war zufrieden mit meinem Leben, sowie alles war und dann kamst du und ich dachte, okay, sie ist so ganz anders, wie ich mir meine Ehefrau vorgestellt habe, aber ich gebe ihr eine Chance. Ich war immer ehrlich. Ich bin vielleicht nicht Tai, aber ich war immer gut zu dir. Wir waren gut zu dir.” Ich schüttel den Kopf. Da irrt er sich aber gewaltig.

“Du vielleicht, aber glaubst du wirklich, ich wurde gut behandelt? Ich wurde gewürgt, erpresst, eingesperrt und durfte nur unter Aufsicht die Villa verlassen. Ich durfte nicht essen, was ich will. Ich durfte nicht anziehen, was ich will. Ich darf nicht arbeiten, was ich will und das nennst du gut behandeln?”

“Du ziehst doch an, was du willst.” Ich rolle die Augen. Er versteht aber auch nichts.

“Ja, Joe, jetzt, weil ich mich nicht mehr so behandeln lasse. Nie wieder. Ihr habt mich nicht gut behandelt und du standest oft nur daneben. Nicht immer, aber oft, also nein, Joe. So unschuldig, seid ihr nicht. So geht man einfach nicht mit Frauen um.”

Wir schreien uns hier nur noch an, aber das muss sein. Er ist verletzt und ich bin es auch, aber es tut auch gut, dass alles verbal loszulassen. “Ja, ich habe dich betrogen und nein, so etwas tut man nicht, aber ich habe nicht einfach so gehandelt, sondern weil mein Herz mich immer wieder zu Tai getrieben hat. Er ist der einzige Grund gewesen, warum ich das überhaupt konnte - deine Verlobte sein.”

“Klar, wir sind die Bösen.” Joe schüttelt ungläubig seinen Kopf, aber ich kann nicht anders, als ihm zuzustimmen. “Auf jeden Fall dein Vater. Tai hat angefangen Nachforschungen anzustellen.”

“Nachforschungen gegen meinen Vater?”

Ich nicke. “Ja, um mich frei zu bekommen.” Ich halte mich am Ende des Schreibtisches fest. Ich brauche halt und Tai kann mich nicht halten. Ich muss das für uns zu Ende bringen. Das bin ich ihm schuldig. “Und er hat etwas wirklich Heftiges herausgefunden, Joe.”

Ich weiß, er kämpft mit sich. Will er es hören oder nicht und doch ist die Neugierde zu groß. “Dein Vater hatte vor 18 Jahren eine Affäre und du hast eine Halbschwester.” Sofort rudert Joe wieder zu mir zurück. “Stop! Es reicht.”

“Es ist wahr, sie heißt Nanami. Erinnerst du dich, dass Tai den Namen ‘Nanami’ beim letzten Meeting erwähnt hat? Das war kein Zufall. Ich habe sie kennengelernt. Sie sieht aus, wie du. Du findest sie bei Instagram. Ich kann sie dir auch zeigen. Warte.”

“Mimi, hör auf.” Ich zucke wieder zusammen und lass mein Handy wieder verschwinden. Er glaubt mir nicht. Mir egal. Ich höre jetzt nicht auf. “Ich kann es beweisen. Es gibt eine DNA Probe, die eindeutig belegt, dass ihr Geschwister seid.”

“Du hast heimlich Proben entwendet?”

“Ja.” Echt, daran hält er sich jetzt auf? Was ist mit der ganzen, dein-Vater-ist-ein-mieser-Betrüger-Geschichte? “Unglaublich, Mimi.”

“Nein, unglaublich ist, dass dein Vater Nanami siebzehn Jahre lang eingesperrt hat, aber sowas scheint ihm ja zu liegen.”

“Halt den Mund, Mimi.” Joe schreit mich wieder an. Okay, er hat ja auch gerade echt üble Sachen erfahren, aber wenigstens kennt er jetzt die Wahrheit, aber da muss noch mehr sein. Etwas, was Tai weiß, aber ich nicht. Was steckt da noch hinter? Was übersehe ich? “Ich weiß du willst das alles nicht hören, aber es ist die Wahrheit und ich bin mir sicher, dass Tai nicht einfach nur einen Unfall hatte.”

“Klar, das war auch mein Vater.” Ist das so abwegig? Ich denke nicht. “Du suchst doch nur den passenden Sündenbock, damit …”

Jemand klopft an der Tür. Schnell. Immer wieder. “Dr. Kido, Patient Taichi Yagami, die Werte fallen rapide.” Tai. Oh nein. Um Gottes Willen. “Joe, hilf ihm.” Joe regt sich nicht. Er bleibt einfach stehen. Ich laufe zu ihm und schüttle ihn. “Ich weiß, du hasst ihn, ich weiß, du hasst mich und dennoch flehe ich dich an: Hilf ihm. Bring nicht zuende, was dein Vater angefangen hat.” Ich erkenne überhaupt keine Emotion mehr in seinem Gesicht, aber das muss ich auch nicht. Joe verlässt sein Büro. “Du betrittst die Villa nie wieder”, ruft er mir noch nach und dann verschwindet er in Tais Krankenzimmer. Tai. Ich breche zusammen. Oh Gott, halte durch.

Kapitel 44

Mimi
 

Alles fühlt sich wie ein böser Traum an. Der absolute Albtraum.

Als Joe vorhin losgeeilt ist, um Tai zu helfen, konnte ich für einen Moment nicht mehr atmen. Das alles raubt mir einfach die Luft, die ich zum Überleben brauche. Es macht mich fertig. Diese Angst um Tai ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe.

Ich dachte, Joe würde ihm nicht helfen. Ich dachte, er würde ihn sterben lassen, weil er ihn gerade so sehr hasst. Weil er mich so sehr hasst. Aber ich weiß, dass er ein gutes Herz hat. Er ist nicht wie sein Vater und das hat er in dem Moment bewiesen, als er zu ihm geeilt ist.

Ich sitze gerade an seinem Bett, spende wieder Blut. Sein Zustand ist wieder stabil, aber kurz sah es kritisch aus. Sein Körper hat rebelliert, war kurz vor dem Aufgeben. Aber Tai kämpft. Ich weiß, dass er irgendwo da drin ist, in dieser scheinbar leblosen Hülle. Er ist da und kämpft wie ein Löwe ums Überleben.

Mir ist schwindlig und ich nehme einen Schluck Wasser. Nach meinem Zusammenbruch in Joes Büro bin ich zu Tai ins Zimmer gerannt, aber sie schickten mich weg. Ich wartete mit Yuuko vor der Tür, bis wir wieder zu ihm durften. Er brauchte unbedingt Blut, aber Joe erklärte mir, dass er mich nicht für stark genug hielt. Ich wäre zu instabil, würde seit Tagen nicht richtig essen und sähe eh schon blass aus. Ich sagte, dass ich es trotzdem tun würde. Darauf antwortete er nur „Mach, was du willst“ und verschwand dann.

Yuuko ist erst mal nach Hause gegangen und ich sitze hier, mit Tai allein. Diese Stille ist so erdrückend. Ich vermisse seine Stimme.

Was, wenn ich mich irgendwann nicht mehr an sie erinnern kann?

„Hey Liebster“, sage ich und greife nach seiner Hand. „Du fehlst mir. Unheimlich. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll.“ Eine Träne rollt über meine Wange. Ich weiß nicht, ob Tai mich hören kann, aber ich rede immer mit ihm, in der Hoffnung, sein Unterbewusstsein zu erreichen. Ich hoffe, dass meine Stimme ihn zu mir zurückführt. Also erzähle ich ihm alles. „Er hat es rausbekommen. Joe, meine ich. Er weiß nun von uns. Er hat mein Tagebuch gefunden und …“ Ich schlucke schwer. „Ich bin mir sicher, du hast ihn noch nie so wütend erlebt. Er ist so verletzt.“

Joes Schmerz tut mir leid. Es tut mir leid, dass er es so erfahren musste und wir es ihm nicht selbst sagen konnten. „Ich habe versucht, ihm alles zu erklären. Ihm die Wahrheit zu sagen. Aber er wollte es nicht hören. Ich … ich weiß nun nicht, was ich tun soll.“

Verzweifelt beginne ich zu schluchzen und die Augen zu schließen. Tai antwortet nicht. Sonst hat er mich immer getröstet, mir Hoffnung gegeben, mich gerettet. Nun bin ich völlig auf mich allein gestellt. Ich atme tief durch, dränge die Tränen zurück, weil ich vor Tai nicht schwach sein will und hebe den Kopf, um mich zu einem Lächeln zu zwingen.

„Du hast mir nie erzählt, was du für tolle Eltern hast“, beginne ich einfach drauf los zu erzählen. „Wobei, ich habe es mir schon gedacht. Du und Kari seid ja ziemlich gut geraten. Deine Mutter ist fantastisch. Sie wacht Tag und Nacht an deinem Bett und betet für dich. Aber du hättest mir ruhig sagen können, wie sie heißt. Im Grunde weiß ich viel zu wenig von deinem Leben und ich hoffe, dass du mir das alles irgendwann selbst erzählen kannst. Ich habe noch so viele Fragen an dich.“

Lächelnd schüttle ich den Kopf. Ich muss stark sein. Tai braucht mich. Dann sehe ich ihn flehend an. „Bitte komm zu mir zurück, Tai.“

Ich streiche weiter über seine Hand, in der ständigen Hoffnung, dass sich etwas tut. Dass er wenigstens einen kleinen Finger bewegt, um mir zu signalisieren, dass er mich verstanden hat. Aber da passiert gar nichts.

Trotzdem lasse ich seine Hand nicht los. Ich werde immer bei ihm sein.
 

Die Tür öffnet sich und eine vertraute Person betritt den Raum.

„Mimi.“ Sie kommt auf mich zugelaufen und umarmt mich fest.

„Kari“, sage ich, würde gerne aufstehen, aber ich kann nicht, weil ich immer noch an der Bluttransfusion hänge.

„Wie geht es ihm?“, will sie sofort wissen und betrachtet ihren Bruder, der reglos da liegt. Beim Anblick seiner schlimmen Wunden verzieht sich ihr Gesicht schmerzerfüllt. Es tut ihr weh, ihn so zu sehen.

„Den Umständen entsprechend. Er hatte vorhin einen kleinen Zusammenbruch, aber jetzt ist er wieder stabil. Wenn er sich die nächsten Tage gut macht, darf er von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt werden.“

Kari nickt nur. In Anbetracht der Lage sind das die besten Neuigkeiten, die ich ihr geben kann. Sie nimmt sich einen Stuhl und setzt sich neben mich. Dann greift sie nach meiner Hand und sieht mich mitfühlend an. „Mama hat mir erzählt, was du für ihn gemacht hast.“ Sie wirft einen Blick auf das Blut, was aus meiner Vene in seine fließt. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich … wir dafür sind. Du bist das Beste, was ihm je passieren konnte.“

Ich sehe traurig zu Boden. „Bin ich das? Ohne mich wäre er doch gar nicht erst hier gelandet.“ Ein Gedanke, der mich die letzten Stunden viel beschäftigt hat. Wäre ich nicht gewesen, wäre Tai das niemals passiert, da bin ich mir sicher. So wie ich mir sicher bin, dass Haruiko für diesen Unfall verantwortlich ist. Wäre ich nicht gewesen, hätte er nie einen Grund gehabt, um Tai weh zu tun.

„So darfst du nicht denken, hörst du?“, entgegnet Kari eindringlich. „Ich weiß, dass er dich sehr gern hat. Du bedeutest ihm so viel. Ohne dich wäre sein Leben immer noch grau und einsam. Mit dir hat es endlich wieder Farbe bekommen. Endlich erlaubt er sich wieder, sich in jemanden zu verlieben.“

Mir kommen erneut die Tränen, aber ich wische sie schnell weg.

„Was sagt Joe dazu?“

Ich sehe sie an. „Wozu?“

„Na ja.“ Sie betrachtet ihren Bruder mit einem liebevollen Blick. „Er ist nicht blöd, oder? Spätestens jetzt müsste er gemerkt haben, was los ist.“

Voll ins Schwarze getroffen, Kari. Natürlich ist er nicht blöd. Ich hätte ihm alles sagen sollen, als ich von Tais Unfall erfahren habe. Aber ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet.

„Du hast recht“, antworte ich deshalb. „Er weiß von Tai und mir und hat mich aus der Villa geworfen. Keine Ahnung, wo ich nun hin soll.“

„Er hat dich rausgeworfen?“

Ich schenke ihr ein trauriges Lächeln. „Hättest du auch, wenn du erfahren hättest, dass deine Verlobte dich mit deinem besten Freund betrogen hat.“

Kari beißt sich auf die Unterlippe, denkt angestrengt nach. „Und wo willst du jetzt hin? Fliegst du wieder nach Hause, nach New York?“

Ich schüttle vehement den Kopf. „Nein, ich lasse Tai nicht allein.“

„Dachte ich mir. Dann gibt es nur eine Lösung …“ Sie lässt meine Hand los, bückt sich nach ihrer Tasche und holt einen Schlüsselbund hervor, den sie in meinen Schoß legt. „Das ist der Schlüssel zu Tai‘s Wohnung.“

Ungläubig starre ich auf den Schlüsselbund. „Du willst, dass ich …“

„Das ist das Mindeste, was wir im Gegenzug für dich tun können.“

„Das kann ich nicht machen.“

„Er hätte es so gewollt.“

Unschlüssig greife ich nach den Schlüsseln, doch dann lasse ich sie in meiner Tasche verschwinden.

„Danke, Kari.“

Sie winkt ab und ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem traurigen Lächeln. „Schon gut. Tai würde dir auch helfen. Und, weil er es gerade nicht kann, muss ich das eben machen. Wir Yagami’s halten immer zusammen.“

Ich bin gerührt von dieser lieben Geste. Sie ist genau das, was ich gerade brauche. Eine Hand, die mich stützt und auffängt. Auch wenn es gerade nicht die von Tai ist.

Tai … bitte komm zurück zu mir.
 

Joe
 

Ich knalle die Tür hinter mir zu und werfe meine Tasche in die Ecke. So eine verdammte Scheiße! Wie kann sie es wagen, meine Familie schon wieder in den Dreck zu ziehen? Hat sie nicht schon genug mit ihrem Familiendrama angerichtet? Wenn das rauskommt, was sie sich für Märchen zusammen spinnt, dann war’s das. Das würde uns Kopf und Kragen kosten.

Nachdem ich vorhin Tai’s Leben gerettet habe, bin ich nicht in die Villa meiner Eltern gefahren. Ich bin in meiner Wohnung, allein. Ich kann gerade keinen Fuß mehr über die Schwelle setzen, denn in dieser Villa haben mich fast alle verraten. An erster Stelle Mimi, aber auch meine Mutter und dann noch mein Vater.

Ich glaube, dass er von Mimis Plänen, mich zu verlassen, wusste. Aber ich glaube nicht, dass er ein Mörder ist. Oder, dass er sie gewürgt haben soll. Warum sollte er so weit gehen? Das alles sind Lügen. Mimi hat schon mal gelogen und dann wieder und wieder. Es gibt keinen Grund für mich, ihr zu vertrauen und die Glaubhaftigkeit meiner Familie in Frage zu stellen.

Eine Halbschwester? Diesen Müll hat sie sich doch nur ausgedacht. Es sehen sicher tausend Mädchen in Japan so aus wie ich, das beweist noch gar nichts. Und dass sie einen Gentest gemacht hat … sie hat mir keine Ergebnisse gezeigt. Keine Ergebnisse, keine Beweise. Lächerlich.

Wutentbrannt gehe ich in die Küche und öffne eine Flasche Wein. Ich schenke mir selbst ein Glas ein und gehe zurück in den Flur, um meine Tasche aufzuheben. Dort drin befindet sich Mimis Tagebuch. Es sieht leicht lädiert aus, weil ich es vorhin in meinem Büro an die Wand geworfen habe.

Ich lege es auf die Kochinsel in der Küche und schaue darauf hinab, als wäre es Gift.

Dieses Buch hat alles zerstört. Seine Seiten sind mit Lügen beschmutzt und zerfressen von Betrug und Verrat. Ich verstehe einfach nicht, wie die beiden mir das antun konnten. Und wie sie es derart auf die Spitze treiben können. Reicht es nicht, wenn sie mich vorführen? Müssen sie gleich meine ganze Familie ruinieren? Was hätten sie davon? Mimi muss uns wirklich hassen. Aber Tai … das hätte ich nie gedacht. Er war für uns wie ein Familienmitglied, mein ältester Freund. Wie kann er sich so gegen uns wenden? Gegen mich?

Ich trinke meinen Wein leer und stelle das Glas ab. Ich muss dringend kalt duschen, um wieder klar zu sehen. Einen kühlen Kopf zu bekommen. Ich öffne die Tür und werde sogleich angeschrien.

„Joe! Raus hier!“

„Oh Gott“, entfährt es mir und ich schließe die Tür schnell wieder. Aber es ist bereits zu spät – ich habe Kaori nackt gesehen.

Oh. Mein. Gott.

Ich habe die Frau meines Bruders nackt gesehen!

„Kaori, es tut mir leid“, rufe ich noch und schlage mir mit der Faust gegen die Stirn. Wieso habe ich nur vergessen, dass sie gerade hier wohnt? Ich selbst habe es ihr angeboten. Wie peinlich.

„Was machst du denn hier?“, ruft sie verärgert durch die Tür.

„Äh … Ich wohne hier.“

„Nein, tust du nicht. Ich wohne hier, jedenfalls im Moment. Du wohnst in der Villa.“

Ich räuspere mich unbehaglich. „Jetzt nicht mehr. Es gab ein paar neue Entwicklungen.“

Die Tür öffnet sich und Kaori steht mit nassen Haaren vor mir. Sie sieht wirklich wütend aus. Und peinlich berührt. Ihre Wangen sind rosa verfärbt. Anscheinend hat sie gerade geduscht. Klar, was sollte sie auch sonst nackt in meinem Badezimmer machen?

„Welche Entwicklungen?“, will sie wissen. Sie trägt einen Bademantel. Ich schaue auf ihr freies Dekolleté und werde rot. „Das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls wohne ich da jetzt nicht mehr. Und Mimi auch nicht. Wir … wir haben uns getrennt.“

Kann man das so sagen? Wir waren ja nie wirklich zusammen. Höchstens in meinen Gedanken, aber selbst das hat sich heute zerschlagen.

Kaori schaut mich fassungslos an.

„Joe! Das dürft ihr nicht!“ Sie ist regelrecht entsetzt über diese Neuigkeit. „Kein Kido Erbe darf einfach so seine Verlobung lösen.“

„Habe ich gerade getan.“

„Das ist eine arrangierte Ehe, angeordnet von deinem Vater höchstpersönlich“, sagt sie so verheißungsvoll, als würde ein Fluch auf mir liegen.

Ich zucke mit den Schultern. „Es ist zu spät, es gibt kein Zurück.“ Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, was mein Vater dazu sagen wird. Ich war so wütend, bin es immer noch. Egal, was er sagt, Mimi wird keine Kido. Ich werde sie nicht heiraten. Als ich nichts darauf erwidere, schüttelt Kaori nur ergeben den Kopf. „Ihr Kido-Männer seid alle Sturköpfe.“

Ich lache. Das erste Mal seit Tagen. „Ich weiß nicht, ob das gerade ein Kompliment, oder eine Beleidigung war.“

„Such dir was aus.“ Sie geht an mir vorbei, in mein Schlafzimmer, was sie anscheinend für sich beansprucht hat. „Ich ziehe mir was an. Lust auf eine Partie Schach, wenn ich fertig bin?“

„Klar, immer doch.“ Es könnte mich zumindest etwas ablenken.

Während ich das Schachbrett aufbaue und die Figuren platziere, kommt Kaori auch schon wenige Minuten später zurück. Ihre immer noch nassen Haare, hat sie zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt. Für den Bruchteil einer Sekunde starre ich sie an, weil ich sie noch nie so gesehen habe. Nicht, seit ich denken kann. Wir kennen uns schon sehr lange, seit wir Kinder sind. Aber mit nassen, unordentlichen Haaren und in bequemen Hausklamotten habe ich sie noch nie gesehen. Sie sieht fast wie eine normale Frau aus. Ganz befremdlich. Aber es steht ihr.

„Was ist?“, fragt sie, als sie sich am Tisch mir gegenübersetzt. Ich schüttle den Kopf. „Nichts.“

„Ich hoffe, es ist okay, dass ich das Schlafzimmer genommen habe. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du wieder kommst.“

„Ist schon gut. Ich schlafe auf der Couch, du kannst das Schlafzimmer behalten.“

„Es ist ja nicht für lange. Ich kann bald wieder nach Hause, sobald die Presse von der Schwangerschaft erfährt. So lange bin ich einfach offiziell auf Wellnessreise und verstecke mich bei dir zu Hause.“

Ich muss schlucken. So wie sie es sagt, erinnert es mich daran, was Mimi mir und meiner Familie vorgeworfen hat. Dass wir Frauen schlecht behandeln, einsperren und zu Dingen zwingen, die sie nicht wollen. Vermutlich wäre Kaori auch gerade lieber woanders. Sie tut das gerade nur, weil wir es von ihr wollen. Dieser Gedanke nagt an mir. Vor allem, weil es jetzt plötzlich so aussieht, als hätte Mimi mit ihren Vorwürfen recht gehabt.

„Du darfst“, sage ich und weise auf die Figuren. „Weiß beginnt, schwarz gewinnt.“

Kaori grinst. „Das wollen wir mal sehen.“ Sie macht ihren ersten Zug und ich bin an der Reihe. Wir spielen eine ganze Weile stillschweigend. Ich kann mich nicht richtig konzentrieren, aber zumindest lässt es meine Wut ein wenig verblassen und wieder runterfahren.

„Darf ich nach dem Grund fragen, warum ihr euch getrennt habt?“, beginnt Kaori irgendwann zu fragen und erst möchte ich gar nicht darauf antworten. Doch dann entscheide ich mich doch für die Wahrheit, sie erfährt es sowieso irgendwann.

„Tai und Mimi haben eine Affäre.“

Mitten im nächsten Zug hält sie inne. Sie hebt den Kopf, doch in ihren Augen sehe ich keine Überraschung, es ist eher … es wirkt wie eine Erkenntnis.

„Nein“, sage ich daraufhin und lasse mich zurückfallen. „Nicht du auch noch.“

Haben es denn wirklich alle gewusst, außer ich? Wie blind bin ich?

„Nicht wirklich“, erwidert sie und beendet ihren Zug mit einem Bauern. „Es war mehr so eine Ahnung. Ich habe bemerkt, wie sie ihn angesehen hat.“

„Schön“, ist alles, was ich sage, während ich mein Kinn auf meinen Handflächen abstütze. Wieso ist mir das nicht aufgefallen? Kaori wohnt nicht mal in der Villa und selbst sie hat es bemerkt. Ich habe Mimi jeden Tag gesehen und mir sind diese Blicke nie verdächtig vorgekommen. Es wirkte alles harmlos. Oder bin ich einfach zu naiv?

„Mach dir keine Vorwürfe“, fügt sie hinzu, als ich nichts weiter dazu sage. Ich schüttle den Kopf. „Tue ich nicht. Ich bin nicht der Böse in der Geschichte.“

Kaori nickt und atmet tief durch, ehe sie ihre nächste Frage stellt. „Wie hast du es herausgefunden?“

„Ihr Tagebuch.“

„Du hast in ihrem Tagebuch gelesen?“ Sie sieht schockiert zu mir auf.

„Ich wollte das nicht, aber ich hatte keine andere Wahl. Nachdem sie stundenlang an Tai‘s Krankenbett ausgeharrt ist, hatte ich so eine Ahnung.“

„Wie geht es Tai denn?“ Kaori sieht mich mitfühlend an. Natürlich weiß sie auch von dem Unfall. Vermutlich hat Jim es ihr gesagt. Mein Bruder, besucht er sie eigentlich hin und wieder hier? Oder ist sie hier völlig allein?

„Er ist stabil, aber ich will jetzt nicht über ihn reden.“

Kaori nickt verständnisvoll. „Hast du mit Mimi darüber gesprochen?“

„Angeschrien trifft es wohl eher.“

„Und, was hat sie dazu gesagt?“

Ich kann nicht anders, ein trockenes Lachen entfährt mir. „Dass sie ihn liebt.“ Das klingt so absurd, weil ich einfach nicht begreife, wann das passiert sein soll. Wann war der Moment, in dem sie mir entglitten ist?

„Erscheint dir das so abwegig?“, fragt Kaori und irgendwas in ihrer Stimme sagt mir, dass sie es gar nicht verwunderlich findet.

Mit einem Seufzen fahre ich mir durch die Haare und verschränke die Arme hinter meinem Kopf. „Ich habe keine Ahnung, was ich glauben soll. Mimi hat so viele abwegige Sachen gesagt.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel, dass mein Vater an allem Schuld wäre. Dass sie mich nach der Verlobungsfeier verlassen wollte, aber er sie angegriffen hat und gezwungen hat, bei uns zu bleiben. Dass er ihre Familie bedroht hat. Dass er hinter Tais Unfall steckt. Dass er …“ Ich beginne ungläubig zu lachen. „Dass er eine Tochter aus einer geheimen Affäre hat, von der niemand etwas weiß. Und Mimi und Tai haben sie gefunden und einen Gentest gemacht. Ich meine, wie abgedreht ist das?“ Ich nehme meine Brille ab und reibe mir über die Augen. Ich fühle mich emotional ausgelaugt. Ich bin müde. Das war ein langer, schrecklicher Tag.

Kaori antwortet nicht sofort, sie gibt mir Raum zum Atmen. Schließlich seufzt sie ganz schwer. „Ich weiß, du willst das jetzt nicht hören, aber ich glaube nicht, dass Mimi das alles erfunden hat.“

„Kaori“, sage ich, setze meine Brille wieder auf und lehne mich leicht nach vorne, um sie eindringlich anzusehen. „Du weißt selbst am besten, wie oft diese Frau mich angelogen hat. Wieso sollte ich ihr auch nur ein Wort glauben, nach allem, was sie getan hat?“

Wir wissen beide, dass es darauf keine plausible Antwort gibt. Es wäre naiv Mimi auch nur ein Wort zu glauben. Nachdenklich schüttelt Kaori den Kopf. „Tut mir leid, vermutlich hast du recht. Ich würde genau dasselbe denken wie du.“

„Danke.“ Wenigstens eine, die auf meiner Seite ist.

Wir beenden unsere Partie Schach und Kaori gewinnt. Ich könnte es auf meine schlechte Verfassung schieben, aber die Wahrheit ist, dass sie in dem Spiel schon immer besser war als ich – und das will schon was heißen.

Nach dem Spiel verabschiedet sie sich und geht ins Bett, während ich mir ein Kissen und eine Decke auf die Couch lege. Bevor ich mich hinlege, gehe ich zur Kochinsel, wo ich das Tagebuch von Mimi liegengelassen habe. Ich nehme es in die Hand und betrachte es eine Weile.

Ich will es nie wieder aufschlagen. Diese Worte nie wieder lesen. Kaum halte ich es in den Händen, kehrt die Wut zurück. Ich fühle mich verletzt und verraten, von meinem besten Freund und meiner Verlobten. Ich kann es immer noch nicht fassen.

Ich könnte es Mimi einfach zurückgeben. Aber alles in mir sträubt sich dagegen. Wieso sollte ich ihr diesen Gefallen tun? Ich hasse sie.

Ich gehe rüber zum Kamin und schalte mit einem Knopfdruck auf der Fernbedienung das Feuer ein. Dann kniee ich mich davor und starre in die roten Flammen.

Ein letztes Mal schaue ich auf das Buch, welches mein Leben zerstört hat, bevor ich es ins Feuer werfe. Es geht sofort in Flammen auf, was sich befriedigend anfühlt. Als könnte ich dadurch ihre Gefühle füreinander ausradieren. Als könnte ich sie beide verbrennen, so wie sie mich verbrannt haben. Aber ich weiß, dass das nur Wunschdenken ist. Während ich dabei zusehe, wie die Flammen jede einzelne Seite des Buches verschlingen und sich der Einband durch die Hitze kräuselt und schmilzt, denke ich daran, was Mimi gesagt hat. Was Kaori gesagt hat. Ihr Wort steht gegen meine Überzeugung.

Meine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen. Nein, wir sind nicht die Bösen in diesem Szenario. Davon bin ich überzeugt.

Sie sind es. Mimi und Tai haben alles kaputt gemacht. Nicht ich, nicht mein Vater, nicht meine Familie.

Sie. Nur sie.
 

Am nächsten Morgen fahre ich früh ins Krankenhaus. Ich bin mir sicher, Mimi wird auch heute wieder an Tai‘s Bett wachen und ich will ihr nicht begegnen. Wo sie die letzte Nacht verbracht hat, ist mir so ziemlich egal, aber ich glaube nicht, dass sie nach meiner Ansage noch einmal in die Villa gefahren ist. Trotzdem gebietet es meine Pflicht als Arzt noch mal nach Tai zu sehen. Ich war ja so kurz davor, ihn einfach verrecken zu lassen. Ihn für seinen Verrat büßen zu lassen. Der Gedanke war da, das gebe ich zu, aber ich hätte es nie getan. Ich habe mich mit Leib und Seele der Medizin verschrieben und ich habe einen Eid abgelegt, das Leben der Menschen zu retten. Würde ein Schwerverbrecher oder ein Mörder mein Patient sein, so hätte ich ihm ebenfalls helfen müssen. Menschenleben ist Menschenleben, da gibt es nichts dran zu rütteln. Und so halte ich es auch mit Tai. Wir waren mal Freunde, aber das ist nun vorbei. Jetzt ist er einfach nur noch ein Patient.

Ich betrete sein Zimmer und erwarte schon, Yuuko schlafend neben seinem Bett zu finden. Doch sie ist nicht da. Zu meiner Überraschung steht mein Vater vor seinem Bett und starrt auf ihn hinab. Er ist so in seinen eigenen Gedanken vertieft, dass er mich erst gar nicht bemerkt. Sein Gesichtsausdruck ist hart. Er sieht wütend aus.

„Vater?“

Er blinzelt kurz und dreht dann den Kopf in meine Richtung. „Joe, mein Sohn, ich habe dich gar nicht bemerkt.“

„Wo ist Yuuko?“, frage ich und trete näher.

„Sie ist zur Toilette gegangen, als ich kam und sie will sich einen Kaffee holen.“

Ich nicke. „Und was machst du hier? Willst du Tai zum Geburtstag gratulieren?“ Ich werde es ganz sicher nicht tun.

„Ich? Nein, ich wollte nur nach Taichi sehen. Immerhin gehört er quasi zur Familie.“ Natürlich tut er das. Niemals würde mein Vater ihm so etwas Schlimmes antun. Alles Lügen.

„Wie geht es ihm? Du hast ihn doch als Patient angenommen, oder?“, erkundigt er sich ganz beiläufig.

„Gestern hatte er einen Zusammenbruch. Sein Puls sank auf 87, wenige Sekunden später weiter auf 83. Er war kurz vorm Kollaps. Ich habe ihm Adrenalin verabreicht. Die Schwester sagte mir eben, dass er seitdem wieder stabil ist und die Nacht ruhig war.“

Mein Vater nickt. „Gut gemacht, Joe. Du bist ein fantastischer Arzt. Taichi sollte dankbar sein, dass er dich als Freund hat.“

Freund. Wenn dieses Wort nur nicht so einen Schmerz in mir auslösen würde.

„Genau genommen sind wir keine Freunde mehr“, vertraue ich mich ihm an. Er wird es sowieso erfahren und ich muss mit ihm sprechen. Er weiß noch nicht, was ich gestern getan habe.

Mein Vater sieht überrascht aus und verschränkt die Arme vor der Brust. „Was soll das heißen?“

„Tai hat mich mit Mimi betrogen. Die beiden hatten … haben eine Affäre.“

In dem Moment, als ich diesen Satz ausspreche, rechne ich schon damit, dass mein Vater losbrüllt. Stattdessen zischt er nur und wendet den Blick ab. „War ja klar, dass sie dich irgendwann hintergehen würde, dieses kleine Flittchen.“

„Vater“, ermahne ich ihn wie automatisch, bis ich mich daran erinnere, dass es für mich keinen Grund mehr gibt, Mimi in Schutz zu nehmen. Alles, was jetzt folgt, hat sie sich selbst zuzuschreiben.

„Ich habe schon darauf gewartet, dass so etwas passiert“, meint mein Vater wissend. „Dass sie wieder irgendeinen Fehler macht und uns in den Dreck zieht. Aber mit deinem besten Freund? Unfassbar. Wie gut für dich, dass er so gut wie tot ist.“

Deutlich schockiert reiße ich die Augen auf und sehe meinen alten Herrn fassungslos an. „Aber was sagst du denn da? Egal, was passiert ist, so einen Unfall hat niemand verdient.“

Wieder zischt mein Vater, als wäre ich völlig verblendet und hätte gar keine Ahnung, wovon ich da spreche.

„Sieh es mal so, Joe.“ Er wirft Tai einen verächtlichen Blick zu, der sich nicht dagegen wehren kann. „Jetzt steht er dir nicht mehr im Weg. Du kannst Mimi haben und mit ihr machen, was du willst. Vor allem, wenn sie erst mal deine Frau ist. Tai wird dir nicht mehr in die Quere kommen.“

Was zum Teufel … was redet er da? Ich schlucke. „Ich sollte dir wohl was sagen.“

Erwartungsvoll sieht mein Vater mich an, doch sein Blick lässt bereits erkennen, dass ich mich ab jetzt lieber in Acht nehmen sollte. Wieso ist er so zerfressen von Hass auf Tai?

„Ich habe gestern die Verlobung mit Mimi aufgelöst und sie aus der Villa rausgeschmissen.“

Nun ist er es, der die Augen aufreißt. Keine Sekunde später kommt er bedrohlich auf mich zu. „Du hast was? Bist du völlig übergeschnappt?“

„Wieso? Denkst du, ich kann so eine Frau heiraten? Eine, die mich mit meinem besten Freund hintergeht und betrügt? So etwas willst du für mich?“

„Du … argh!“ Er ballt die Hand zur Faust und wirbelt herum, als müsste er an sich halten, mich nicht zu verprügeln. „Du verstehst einfach gar nichts. Habe ich dir denn nichts beigebracht? Bist du so missraten, dass du die Werte unserer Familie nicht verstehst? Du hast dem Mädchen zu viele Freiheiten eingeräumt und sie hat es ausgenutzt. Und anstatt sie dafür büßen zu lassen, schenkst du ihr die Freiheit, die sie die ganze Zeit wollte?“

Also doch. Er wusste, dass Mimi mich verlassen wollte. Wieso sollte er sonst so etwas sagen?

Wie ein wütendes Tier tigert er im Raum auf und ab. „Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast. Warum habe ich sie denn dann überhaupt gehalten? Warum habe ich sie gezwungen, bei dir zu bleiben? Warum habe ich mir die Mühe gemacht? Wozu das alles?“ Aufgebracht schreit er mich an und deutet damit gleichzeitig mit der Hand auf Taichi, der regungslos im Bett liegt. Mein Blick geht zu ihm und dann zurück zu meinem Vater, als es mir endlich dämmert.

„Vater …“ Ich bringe die Worte kaum über die Lippen. Nein. Das darf einfach nicht wahr sein. Es sind doch alles Lügen. Einfach nur Lügen, oder … glaubt ein kleiner Teil in mir vielleicht doch, dass mein Vater zu so etwas fähig wäre?

„Hast du etwas mit dem Unfall von Tai zu tun?“ Ich schlucke schwer, mein Herz rast. „Hast du Mimi bedroht und erpresst, damit sie bei mir bleibt?“

Ein tiefes Knurren dringt aus seiner Kehle und er sieht mich mit eiskalten Augen an, ehe er mir die Wahrheit entgegen schleudert. „Was hätte ich denn tun sollen?“

Oh mein Gott. Tatsächlich? Mein Vater, der Chefarzt. Mein Vater, der angesehene Geschäftsmann. Mein Vater, der Mörder? Ist es so?

„Ich wusste, du würdest sie ziehen lassen, wenn sie hätte gehen wollen. Du warst schon immer viel zu weich für diese Welt, Joe. Du hast nicht die Stärke, um etwas wirklich durchzuziehen. Aber ich schon. Und ich habe es für dich getan. Für unsere Familie. Nur daran habe ich die ganze Zeit gedacht.“

Wer’s glaubt. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. „Du hast an mich gedacht? Du hast alles ruiniert“, schleudere ich ihm angewidert entgegen. „Tai’s Leben, Mimi’s Leben und meins.“

Daraufhin lacht mein Vater höhnisch auf. „Das ist doch lächerlich. Ich habe versucht, den Ruf unserer Familie zu retten, nachdem diese Schlampe fast alles versaut hätte. Es hat Wochen gedauert, unseren Ruf einigermaßen wieder herzustellen. So einen Skandal, wie eine aufgelöste Verlobung, dulde ich nicht noch mal. Nicht, nachdem wir der ganzen Welt weisgemacht haben, wie sehr ihr euch liebt. Und plötzlich soll alles erstunken und erlogen sein?“

„Aber genau das ist es.“ Nichts, von dem, was passiert ist, ist wahr gewesen. Es war alles erfunden, alles inszeniert. Es ist kein Wunder, dass Mimi sich unter diesen Umständen niemals in mich verlieben könnte.

„Schluss jetzt!“, brüllt mein Vater mich an und ich zucke zurück. „Du wirst diese Frau heiraten, komme, was wolle! Du wirst es tun und ich dulde keine Widerrede. Dafür habe ich zu viel riskiert.“

Ja, Tai’s Leben zum Beispiel.

Ich verenge die Augen zu zwei schmalen Schlitzen und funkle ihn wütend an. Mein ganzer Körper ist angespannt, als er einen Schritt auf mich zumacht und mich aus eiskalten Augen heraus ansieht. „Sonst wirst du sehen, wozu ich noch im Stande bin. Ich könnte dich heute noch aus dem Krankenhaus entlassen. Ich schmeiße dich einfach raus und sorge gleichzeitig dafür, dass du nie wieder irgendwo als Arzt arbeiten wirst.“

„Du drohst mir, Vater? Wirklich?“

„Nein, ich drohe dir nicht“, lacht er gehässig auf. „Ich zeige dir nur die Konsequenzen auf. Es kostet mich nur ein paar Anrufe und du wirst nie wieder einen Fuß in ein Krankenhaus setzen. Wer weiß, vielleicht enterbe ich dich auch. Aber das wäre dir vermutlich egal, so wie ich dich kenne. Du hast nicht den Biss eines echten Kidos.“

Eines echten Kidos? Dieses Wort klingt plötzlich wie Dreck. Ich war immer stolz auf meinen Familiennamen, auf meine Herkunft, auf mein gutes Elternhaus. Jetzt schäme ich mich zum ersten Mal in meinem Leben dafür. Und nicht nur für das.

Ich beiße die Zähne zusammen und presse die Lippen aufeinander. „Wie du wünschst, Vater. Ich werde tun, was du verlangst und Mimi heiraten.“

Mein Vater zieht eine Augenbraue in die Höhe und sieht mich zunächst zweifelnd an. Doch dann verziehen seine Mundwinkel sich zu einem ekligen Grinsen. „Gut, dann sind wir uns ja einig. Zumindest das muss man dir lassen, Joe. Dumm warst du noch nie.“ Er geht an mir vorbei und lässt mich gebrandmarkt stehen.

„Wir werden nie wieder über diesen Vorfall heute reden, verstanden?“, sagt er noch und will allen Ernstes so tun, als wäre das hier nie geschehen. Als hätte es diese Unterhaltung nie gegeben. Als hätte er nicht eben gestanden, dass er ein Mörder, Erpresser und Krimineller ist.

„Verstanden“, sage ich tonlos.

„Du wirst Mimi so schnell es geht zurückgewinnen. Sag einfach, dass du überreagiert hast und sie immer noch heiraten willst. Mehr musst du nicht tun. Das kriegst du ja wohl hin, oder? Sie weiß auch so, was ihr blüht, wenn sie es nicht tut. Und was ihm blüht.“

Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er gerade mit hasserfüllten Blick auf Tai hinabsieht. Ich stehe mit dem Rücken zur Tür, aber ich höre, wie sie sich öffnet und er den Raum verlässt. Als ich endlich alleine bin, sacke ich in mich zusammen und kralle mich mit den Händen an Tai’s Bettgitter fest.

Hätte ich es gewagt, hätte ich ihn auf meine angebliche Halbschwester angesprochen und ob sie der Grund dafür ist, dass Tai etwas zustoßen musste. Weil er Nachforschungen angestellt hat. Weil er etwas rausgefunden hat, was er nicht wissen durfte. Aber ich hätte damit auch Mimi in Gefahr gebracht. Er hätte eins und eins zusammengezählt und hätte gewusst, dass Tai es mir vor seinem Unfall unmöglich hätte erzählen können. Und außer ihm würde nur Mimi in Frage kommen, zumal er jetzt von ihrer innigen Verbindung weiß.

Ich überlege angespannt, was ich tun kann. Meine ganze Welt wurde nach gestern, heute ein zweites Mal erschüttert, was mich all meine verbliebene Kraft kostet. Aber eins steht fest.

„Taichi“, sage ich und hebe den Kopf, um ihn anzusehen. „Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst.“ Tai liegt immer noch leblos da und zeigt keine Regung und doch frage ich mich, ob er das ganze Gespräch mit angehört hat. „Ich hasse dich immer noch“, sage ich schließlich und eine tiefe Zornesfalte bildet sich auf meiner Stirn. „Aber ich verspreche dir, dass ich versuchen werde, zu Ende zu bringen, was du angefangen hast. Damit darf er nicht durchkommen.“ Es ist ein Versprechen, das ich mehr mir selbst als ihm gebe. Mir wird gerade erst eine Sache bewusst, die wahrscheinlich schon die ganze Zeit da war, aber die ich nie gesehen habe. Oder nicht wahrhaben wollte.

Ich gehöre nicht zu dieser Familie. Habe ich wahrscheinlich nie. Mein Vater hat recht. Ich bin anders als sie, anders als er. Und trotzdem unterschätzt er mich und genau das wird der Fehler sein, der ihm hoffentlich ein für alle mal das Handwerk legen wird.

Mimi
 

Ich bin bei ihm zuhause. Bei Tai. Es fühlt sich so gut an, hier zu sein, obwohl Tai nicht da ist. Alleine in seinem Bett zu liegen und seinen Geruch in mich aufzunehmen, war so wundervoll, dass ich tatsächlich relativ gut geschlafen habe. Ich war jedoch auch unendlich erschöpft, da ich die Nacht zuvor so gut wie gar nicht geschlafen habe. Wenn doch nur Tai hier wäre, aber er ist es nicht. Nein, er liegt noch immer im Krankenhaus auf der Intensivstation im Koma. Wann und ob er überhaupt aufwacht, weiß keiner. Heute ist sein Geburtstag, der 23.08. Nicht auszudenken, dass es auch sein Todestag hätte sein können. Tai kämpft und ich weiß, dass er zu mir zurückkommen wird. Ich muss einfach ganz fest daran glauben. Tais Wohnung ist klein, aber dennoch erinnert mich seine Wohnung an ihn. Sie ist aufgeräumt. Es stehen gesunde Lebensmittel im Kühlschrank und nicht nur Tiefkühlgerichte. Ich erkenne seine Klamotten, seine PlayStation, begutachte seine Spielauswahl. Alles sortiert, nichts fliegt durch die Gegend. Sein Schreibtisch ist jedoch unordentlich. Sein Laptop liegt zugeklappt darauf. Auf der Wand sind Fotos. Keine Familienbilder oder so, sondern Fotos von Haruiko, Nanami, den Kido Geschwistern und einem Stadtplan. Die Villa ist markiert und Ayakas Haus. Gut, dass alles hilft mir aber überhaupt nicht weiter. 1000 Post-its liegen auf dem Schreibtisch und viele Notizen. Nur schlau werde ich daraus nicht. Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht weiß, was er zuletzt gedacht hat. Ich frage mich überhaupt, was sein letzter Gedanke war, bevor er gestürzt ist. Hatte er Angst? Dachte er, er müsse jetzt sterben? Sah er ein abgefucktes, weißes Licht, welches ihn freudig in Empfang nehmen wollte? Hatte er Panik, als das Seil gerissen ist, wusste er, was ihm blüht, wer dafür verantwortlich war? Ach Tai, wach auf und komm zu uns allen zurück. Du fehlst uns allen so. Ich rufe schon wieder auf seinem Smartphone an, einfach nur um seine Stimme zu hören: “Hier ist Tai, hinterlasst eine Nachricht. Ich melde mich zurück oder auch nicht, das überlege ich mir dann.” So typisch, Tai. Ich grinse, während ich gleichzeitig mit den Tränen kämpfe. Ich wähle seine Nummer nochmal und nochmal, bis ich mein Smartphone traurig weglege. Sally hat schon ein paar Mal versucht, mich heute anzurufen. Ich habe ihr gestern Abend Bescheid gegeben, als ich hier in Tais Wohnung war. Sie war geschockt, aber heute möchte ich noch nicht mit ihr reden. Ich schaffe es einfach nicht. Ich will zu Tai. Er hat Geburtstag und auch wenn er im Koma liegt, ich will ihn trotzdem feiern. Ich werde ihn immer feiern und auch wenn ich mir seinen ersten gemeinsamen Geburtstag mit mir ganz anders vorgestellt habe, so werde ich auch heute wieder für ihn da sein, mit ihm reden und ihn irgendwie versuchen zu erreichen. Ich habe einen Hoodie von ihm übergezogen. Eigentlich ist es viel zu warm dafür, aber ich mag es in seinen Klamotten, die mir mindestens drei Nummern zu groß sind, anzuziehen und mir vorzustellen, er würde mich halten. Ich ziehe ihn aus und nehme meine Wäsche von der Leine. Dadurch, dass ich gestern nicht mehr in der Villa war und nur die Sachen habe, die ich gestern anhatte, habe ich sie gestern noch gewaschen und zum Trocknen aufgehangen. Mein rosanes Shirt ist trocken. Nur meine Hot-Pan ist am Bund noch etwas Klamm, aber egal, es ist nachher ruckzuck trocken. Ich flechte mir einen französischen Zopf, stecke mein Smartphone und mein Geschenk für Tai vorsichtig in meine Tasche und schließe die Türe von außen ab.
 

Es dauert circa eine Stunde bis ich endlich im Krankenhaus ankomme. Keine Ahnung warum, aber die Presse ist auch schon wieder hier. Macht Fotos und ich grinse und winke. Keiner spricht mich auf Joe oder eine Trennung an. Also ist es noch nicht offiziell, aber gut der Pressesprecher der Familie ist auch aktuell verhindert. Sind die Fotografen deswegen hier? Wegen dem Unfall?

Wie Haruiko wohl reagiert, wenn er von der Trennung erfährt? Sind meine Eltern jetzt in Gefahr? Oh Gott, das habe ich bei all meiner Sorge um Tai vollkommen vergessen. Immerhin ist die Trennung nicht von mir aus gegangen, vielleicht sieht der Professor es ja dann auch anders und lässt mich einfach ziehen? Möglich wäre es, aber es ist unwahrscheinlich, das ist mir klar.

Ich fahre gleich ins vierte Stockwerk, als mir Joe im Flur entgegen kommt. Erst öffne ich den Mund, um etwas zu sagen, aber beschieße ihn direkt wieder zu schließen. “Mimi.” Joe steht vor mir und sieht mich einfach nur an. Halb wütend, halb verletzt, aber da ist noch etwas anderes in seinem Blick, etwas, was ich nicht richtig deuten kann. “Schwester Sakura, bringen Sie bitte die Ergebnisse ins Labor.”

“Erledige ich sofort, Dr. Kido.” Die Krankenschwester verbeugt sich vor Joe und verschwindet dann gleich zu den Fahrstühlen.

Kurz sieht Joe seiner Krankenpflegerin nach, ehe Joe mich wieder ansieht, auf sein Büro zeigt und mir andeutet, ihm zu folgen. Es überrascht mich, denn ehrlich gesagt, habe ich nicht erwartet, dass er überhaupt nochmal mit mir spricht. Wieder in seinem Büro, denke ich gleich an unseren Streit vom Vortag und es tut mir immer noch leid, dass Joe es auf diese Art und Weise erfahren musste. “Ich habe dein Tagebuch gestern verbrannt”, beginnt er das Gespräch und steht mit verschränkten Armen vor mir.

“Äh, warum?” Er hätte es mir auch einfach wieder geben können. Er hat schließlich kein Recht dazu, mein Tagebuch einfach zu verbrennen. Klar, ich hatte auch kurz den Gedanken gehabt, aber mein Tagebuch hat Tai etwas bedeutet. Meine Poesie. Jetzt ist alles einfach weg. Futsch, einfach so. Nur, weil Joe die Wahrheit offenbar nicht ertragen konnte.

“Weil nur Lügen drin stehen, dachte ich. Es sollte nicht in die falschen Hände geraten.”

“Es ist ein Tagebuch. In einem Tagebuch darf alles drin stehen. Egal, ob es für dich die Wahrheit oder Lügen sind. Es waren meine Gefühle, meine Gedanken und meine Gedichte. Du hattest kein Recht, es einfach zu verbrennen.”

“Und du hattest kein Recht, mit meinem besten Freund zu schlafen.”

Klar, das musste ja jetzt kommen, aber das eine hatte mit dem anderen überhaupt nichts zu tun und das weiß Joe auch.

“Unmöglich, Joe.”

“Na ja, jetzt ist es Asche und ich wollte dich auch nur morgen an den Termin beim Juwelier erinnern.” Verwirrt sehe ich Joe an. Warum sollte ich denn bitte mit ihm zum Juwelier gehen? Er hat sich doch gestern von mir getrennt.

“Was soll ich noch da?”

“Wir müssen unsere Eheringe aussuchen, was sonst. Es sind nur noch drei Wochen.” Wie selbstverständlich er das sagt. Bin ich hier im falschen Film? “Ach du meinst, weil ich dich gestern aus der Villa geworfen habe und ich mich von dir getrennt habe?”

“Äh ja, genau, was soll ich noch beim Juwelier?”

“Weil wir immer noch verlobt sind, Mimi. Ja, ich habe dich aus der Villa geworfen und mich von dir getrennt und das bleibt auch so.”

Muss ich das verstehen? Oder kann mir das hier irgendjemand erklären? “Du hast mich verraten und betrogen. Du hast einen Ehevertrag unterschrieben, erinnerst du dich?”

“Ja, aber der ist noch gar nicht bindend. Wir sind ja noch nicht verheiratet.”

“Tja, beim Fremdgehen der Frau verlierst du von Anfang an alle Privilegien und das gilt auch schon während der Verlobung. Es gibt ein Zusatzpunkt, hast du den etwa nicht gelesen? Ach stimmt, den haben wir nachträglich hinzugeführt.”

“Joe, das kann nicht dein Ernst sein?” Will er mich gerade verarschen? Das ist doch klarer Betrug, aber klar, die Kidos dürfen das. Sie dürfen sich ja alles erlauben.

“Die Hochzeit findet statt, aber ich bin trotzdem durch mit dir. Ich muss dich nicht mögen, um dich zu heiraten. Ich dachte, wir könnten uns wirklich ineinander verlieben, aber es sollte wohl nicht sein. Diese Ehe ist seitens meines Vaters arrangiert worden und wir werden da nicht rauskommen. Beide nicht.” Jetzt dämmert es mir.

“Du hast mit deinem Vater gesprochen?”

“Ja, habe ich. Ich finde es abscheulich, dass er dich bedroht hat, wirklich. Nur werden wir trotzdem heiraten. Es ist sicherer, für uns alle.” Perplex schaue ich Joe an. Sollte das eine Entschuldigung sein oder nur eine Feststellung? Klar, er hat auch Angst vor seinem Vater bekommen, sonst würde er kaum jetzt so vor mir stehen. Er rudert zurück, weil sein Vater auch ihn bedroht hat. Wie tief kann ein Mensch fallen? Haruiko, du Schwein.

“Hast du deinen Vater auf deine Halbschwester angesprochen?” Joe schüttelt den Kopf.

“Ich will erst die Beweise sehen.” Die Beweise müssen irgendwo auf Tais Schreibtisch liegen. Gefunden habe ich sie jedoch noch nicht.

“Und wenn ich sie dir gebe, was willst du dann damit machen? Wieder verbrennen?”

“Tzz.” Ich ziehe skeptisch eine Augenbraue hoch, denn leider kann ich Joe nicht mehr vertrauen.

“Sollte er wirklich meine Halbschwester ihr Leben lang eingesperrt haben, so muss man dies sofort unterbinden. So etwas darf kein Mensch tun. Auch mein Vater nicht.”

“Hat er aber getan.” Ich habe Nanami kennengelernt. Sie ist ein liebes, aber scheues Mädchen und sie muss wirklich gerettet werden. “Gut, du wirst eine Kopie bekommen.” Mehr nicht. Das sollte genug Beweis für Joe sein. “Danke.” Es beruhigt mich tatsächlich, dass Joe jetzt zumindest weiß, dass ich ihn nicht belogen habe. Auch wenn ich mir immer noch eine vernünftige Entschuldigung wünschen würde, aber das ist wohl nicht möglich. Ich weiß nicht, was Haruiko Joe angedroht hat, aber ich glaube, er will die Hochzeit genauso verhindern wie ich und das bedeutet, die Karten sind neu gemischt worden.

Ich weiß nicht so recht, ob er noch irgendwelche Erwartungen an mich hat, daher warte ich noch einen Moment ab, bewege mich aber Richtung Türe, um zu signalisieren, dass ich nichts mehr zu sagen habe. Ich will endlich zu Tai.

“Gut, ich muss weiter arbeiten”, kommt es dann auch schon aus Joe und er verlässt als erstes sein Büro, um in irgendein Untersuchungszimmer reinzugehen. Kurz sehe ich ihm nach und frage mich, warum ich schon wieder in diese Situation gekommen bin. Ich bin gestern doch noch frei gewesen und jetzt hat sich alles schon wieder geändert. Jedes Mal, wenn ich etwas Hoffnung habe, wird sie im nächsten Moment auch schon wieder zerschlagen. Ich schüttle den Kopf. Nein, nicht aufgeben. Ich werde kämpfen. Für mich.

Für Tai.

Für uns.
 

Ich betrete leise das Krankenzimmer, Tais Eltern sind bei ihm. Sie stehen jeweils an einer Seite des Bettes und mustern ihren Sohn. Man sieht ihnen an, wie groß die Sorge um Tai ist. “Guten Morgen”, murmle ich leise und schließe die Türe wieder hinter mir. Ich hoffe, sie fühlen sich von mir nicht gestört. Keine Ahnung, was sie von mir denken. Immerhin gehöre ich ja nicht zur Familie und hätte somit kein Recht hier zu sein. “Guten Morgen Mimi, schön dich zu sehen.” Ich nicke, während ich mir unsicher eine Haarsträhne hinter mein linkes Ohr lege. “Gibt es was neues?” Ich deute auf Tai. Wieder dieser schreckliche Anblick. Wieder liegt er nur da, wie eine leblose Hülle. Es stehen ein paar Blumensträuße auf dem Krankenhaustisch, die waren wohl zu seinem Geburtstag. Irgendwie passen sie hier in die Kulisse aber nicht rein. Es wirkt deplaziert. Wahrscheinlich sind sie verwelkt, ehe Tai die Augen aufmacht und weiß gar nicht, dass er je Blumen geschenkt bekommen hat. “Leider nicht. Alle Werte sind unverändert. Er ist zwar aus der größten Gefahr raus, aber irgendein Zeichen von Leben ist nicht da.” Traurig schaue ich auf Tai. Es wäre auch zu schön gewesen. Vielleicht sind hier in dem Fall keine Nachrichten, auch gute Nachrichten, aber bei weitem nicht die Nachricht, die ich hören will. “Okay.”

“Und hast du dich in Tais Wohnung zurecht gefunden?”

“Ja, ich bin ja schon mal bei ihm gewesen.” Oh, das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. Immerhin bin ich die Verlobte von Joe gewesen oder jetzt offenbar wieder. Was sollte ich daher in Tais Wohnung? Yuuko sieht mich einfach nur an und räuspert sich dann. “Liebling, sollen wir in der Cafeteria was frühstücken gehen? Die Nacht war lang.”

“Ja, das können wir gerne machen. Danach muss ich ohnehin zur Arbeit.” Die Eltern von Tai sehen zu mir. Sie nicken mir zu und machen mir Platz. Etwas, was mir irgendwie unangenehm ist. “Also bis dann, Mimi.” Tais Vater verabschiedet sich und Yuuko zwinkert mir zu. Etwas irritiert sehe ich den Beiden nach. Nein, Yuuko ist eindeutig keine Kido. Sie hat mich schon lange durchschaut. Ich blicke zurück zu Tai, setze mich auf den Stuhl, der gerade frei geworden ist und drücke Tai einen Kuss auf seine Wange. Sie ist warm, warm, weil er da ist, irgendwo da drinnen. “Hi Liebster, alles Gute zu deinem Geburtstag”, versuche ich so fröhlich, wie ich nur kann, zu sagen, aber es wirkt einfach so skurril, denn Tai liegt im Koma und ich habe keine Ahnung, ob er mich überhaupt hören kann. “Ich habe natürlich auch ein Geschenk für dich dabei.” Ich krame in meiner Handtasche herum, in einer kleinen Tüte hole ich ein Armband heraus. Es ist ein dünnes schwarzes Lederarmband. In der Mitte ist ein dunkelgrüner Stein, er heißt Grüner Jaspis. Es ist ein Schutzstein. Gestern auf dem Weg zu Tais Wohnung bin ich an einem Edelstein Geschäft vorbeigegangen. Ich muss zugeben, dass ich ein Faible für solche Sachen habe und als ich dann diese Steine mit den Bedeutungen sah, wusste ich sofort, dass ich eins für Tai basteln möchte und ihm schenken werde. “Der grüne Jaspis hilft, sich selbst vor äußeren Einflüssen zu schützen. Gleichzeitig bringt er Mut, sich Herausforderungen zu stellen und die eigenen Wünsche durchzusetzen. Dabei schenkt er Gelassenheit und lindert den Schmerz.” Ich fand das einfach sehr passend. Um den grünen Jaspis sind noch zwei ganz kleine schwarze Steine, die jedoch keine größere Bedeutung haben. Ich finde nur, dass es so einfach schöner aussieht. “Wer hätte gedacht, dass ich von uns beiden, ich die erste bin, die Schmuck verschenkt.” Ich hebe vorsichtig sein linkes Handgelenk hoch, lege das Armband darunter, schließe den Verschluss, drehe das Armband um und betrachte das Ergebnis. “Ich finde, es steht dir. Ich hoffe, es gefällt dir und natürlich, dass die Wirkung sich zeigt.” Ich halte seine Hand weiter fest. So groß, so warm, so rau.

“Und denk dran, dass du mir was versprochen hast: Du hast gesagt, ich darf zu deinem Geburtstag einen Tag mit dir verplanen und …” kurz bricht meine Stimme, aber ich sammle mich schnell wieder “und so ein Versprechen, dass muss man auch halten. Hörst du?”

Es kommt natürlich keine Antwort, denn eigentlich wünsche ich mir nur, dass er wieder aufwacht. Das ist mein einziger Wunsch und zwar für den Rest meines Lebens.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch hier sitze und einfach seine Hand halte, aber irgendwann stößt Yuuko wieder zu mir. Sie setzt sich in den bequemen Sessel, den Joe ihr gegeben hat und nimmt sich ein Buch. “Soll ich wieder gehen? Ich will wirklich nicht stören.” Yuuko schielt über ihr Buch hinweg und lächelt mich an. “Damit du dich dann wieder Stundenlang ins Wartezimmer setzt? Du kannst ruhig bleiben.”

“Danke.” Jetzt erst erkenne ich, dass Yuuko ein Roman über Koma-Patienten liest. “Was steht in dem Buch?”, frage ich neugierig. “Es ist eine Liebesgeschichte. Es geht darum, dass die Frau in ein Koma gefallen ist. Sie wird irgendwann wieder wach, aber erinnert sich nicht mehr an ihr früheres Leben. Ihr Mann versucht alles, um sie wieder für sich zu gewinnen.”

“Oh.” Mir wird schlecht. Selbst wenn Tai aufwacht und nur die Erinnerungen der letzten drei Monate vergessen hat, hat er auch mich und unsere Liebe vergessen. Ich kann ihm dann nicht mal mehr mein Tagebuch geben, weil Joe es einfach verbrannt hat. “Das muss aber nicht passieren.” Ich sehe wieder zurück zu Taichis Mutter, sie muss wohl gesehen haben, wie mich das Ganze mitnimmt. “Die meisten können sich erinnern. Ich habe auch ein anderes Buch dazu gelesen. Mehr Fakten, aber ich dachte ein Fakten Buch zum Vorlesen eignet sich nicht so gut und deshalb ließ ich ihm das hier vor.”

“Eine wirklich tolle Sache, da hätte ich ja auch mal drauf kommen können.”

“Mimi, er weiß auch so, dass du hier bist. Er spürt das.” Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich glaube auch, dass Tai weiß, dass ich für ihn da bin, dass ich hier bei ihm bin.

Yuuko sieht mich an, als ob sie noch irgendwas sagen möchte, aber steckt ihre Nase wieder zurück in das Buch. Eine Krankenschwester betritt das Zimmer und notiert alle Werte. Ich beobachte sie genau. Sie soll ihm ja schließlich nicht weh tun. “Wir müssen ihn jetzt wieder umlagern”, erklärt sie.

“Umlagern? In ein anderes Zimmer?”, frage ich hoffnungsvoll. Auf eine normale Station? Das wäre toll. Das würde Hoffnung bedeuten.

Sie schüttelt ihren Kopf und lächelt mich traurig an. “Nein, damit er sich nicht wund liegt, da er aber ein gebrochenes Bein hat, sind unsere Positionen sehr begrenzt.”

“Oh.” Die Krankenschwester schüttelt die Kissen und Decken aus. Tai wird etwas seitlich gelagert und es wird ihm ein Kissen hinter den Rücken geschoben. Nachdem sie das erledigt hat, nickt sie Tais Mutter und mir zu. “Ich sehe später nochmal nach ihm.”

“Oh man.” Tai braucht gerade so viel Pflege und Hilfe. ”Wann wacht er nur endlich auf?”

“Bei der Visite heute früh war alles unverändert. Er reagiert weder auf Licht, noch auf Geräusche. Die Werte sind zwar stabil, aber dennoch kritisch. Deswegen wird er auch noch nicht verlegt.”

“Also weiter warten, hoffen und beten.”

Traurig nickt auch Yuuko.

“Ich sehe es dennoch positiv. Hier ist er wesentlich besser aufgehoben. Mehr Personal, weniger Patienten.” Das stimmt zwar, aber wie lange soll das alles noch so weitergehen? Nachdem die Schwester hier war, stößt Joe zu uns. Er scheint aber nicht nach Tai sehen zu wollen, sondern sucht mich. “Mimi, könntest du mal eben mitkommen?” Jetzt klingt er plötzlich wieder so normal. Muss ich mir deswegen Gedanken machen? Ich nicke und verabschiede mich zunächst von Yuuko.
 

Zügig geht Joe in sein Büro. “Ist was passiert?”, frage ich gleich nach.

“Mein Vater war eben nochmal da.”

“Und?”

“Er hat die Hochzeit vorlegen lassen.”

“Was? Aber wie? Es steht doch alles schon seit Wochen fest.” Ich bin vollkommen verwirrt. Warum macht er das und dann dämmert es mir. Er will deswegen so schnell wie möglich die Hochzeit, damit ich ein für alle mal ruhig gestellt werde. Auch Haruiko weiß nicht, wann Tai wach wird und wenn die Hochzeit dann schon gelaufen wäre, wäre alles umsonst gewesen. Es gibt nichts mehr, womit wir ihm dann noch drohen könnten. “Wann?”

“In acht Tagen, am 01. September.”

“Acht Tage?" Oh nein. Ich habe nur noch acht Tage Zeit, um diese Hochzeit zu verhindern. Wenn ich das nicht schaffe, verliere ich Tai für immer. So oder so. Er hat es mir ja selbst gesagt, er wäre dann weg, verschwindet aus meinem Leben und ich sehe ihn nie wieder. “Joe, was sollen wir denn jetzt tun?” Ich weiß, ich habe nicht das Recht, ihn das zu fragen, aber ich weiß auch, dass er mich nicht mehr heiraten will. “Wir brauchen Beweise. Also was ist jetzt mit dem DNA Beweis?”

“Ich hatte noch keine Gelegenheit sie zu holen.”

“Tja, ohne Beweise steht Aussage gegen Aussagen und das bedeutet: Wir haben keine Chance. Also hol sie.” Ich nicke und verschwinde aus seinem Büro. Ich laufe die Treppenstufen runter, denn es dauert mir zu lange auf den Fahrstuhl zu warten. Dafür habe ich keine Geduld. Ich brauche diesen DNA Test und was, wenn ich die Beweise dann habe? Tai hatte sie, aber dennoch hatte er noch nichts getan, um sie gegen Haruiko zu verwenden, warum? Ich bin schon kurz am Empfangstresen vorbei, als ich plötzlich meinen Namen höre. “Mimi?” Okay, diese Stimme kenne ich, aber das kann eigentlich gar nicht sein. Das ist doch die Stimme von … Ich drehe meinen Kopf herum und eine junge blonde Frau steht vor mir. Meine beste Freundin. “Sally?”

“Du bist es. Ich habe dich schon überall gesucht, aber diese Furie …” Sally sieht zu der Dame, die hinter dem Infoschalter sitzt “Ist für nichts zu gebrauchen.”

Ich laufe auf sie zu. “Was machst du denn hier?”

“Was ist das denn für eine Frage? Dein Liebster liegt im Koma. Du bist nicht mehr verlobt und brauchst mich jetzt.” Tränen treten in meine Augen. Ich blinzle sie schnell weg, aber merke direkt, dass ich die Tränen nicht mehr aufhalten kann. “Oh, Sally.” Ich umarme sie und alles bricht aus mir heraus. Hier muss ich nicht stark sein. Hier darf ich mich fallen lassen und es ist so schön, dass Sally da ist, um mich aufzufangen. Denn ich kann einfach nicht mehr stark sein. Irgendwann beruhige ich mich. Ich habe nicht mal mitbekommen, wie Sally mich auf eine Bank gesetzt hat. “Nur eine Sache, ist nicht mehr aktuell”, schluchze ich auf und setzte mich aufrecht hin, um sie anzusehen. Ich tupfe mir mein Gesicht trocken, nachdem Sally mir ein Taschentuch gereicht hat.

“Ist Tai aufgewacht?”

Ich schüttel traurig den Kopf. Das wäre schön. “Ich bin wieder mit Joe verlobt.”

“Aber du sagtest doch gestern, er habe sich von dir getrennt.”

“Hab ich, aber sein Vater … mal wieder.” Ich habe Sally nie den wahren Grund gesagt, warum ich damals nicht mit Tai zusammen gekommen bin. Ich wollte nicht, dass sie es meinen Eltern sagt und sie sich schlecht fühlen.

“Was ist denn überhaupt passiert? Du weichst immer aus, wenn ich das Thema Tai anspreche.” Ich sehe mich um. Wir sind noch immer im Krankenhaus. Und heute Morgen war die Paparazzi noch da. Sie könnten immer noch hier sein.

“Ich muss dringend zu Tais Wohnung. Komm mit, da können wir reden.” Sally nickt, sie wirft sich ihre Laptop Tasche um und zieht ihren roten Rolli hinter sich her.
 

“Wo ist nur dieser blöde DNA-Test. Das darf doch nicht wahr sein.” Mittlerweile habe ich Sally alles erzählt. Sie weiß, dass Haruiko mich bedroht hat, dass Tai und ich eine Affäre haben, dass ich ihn liebe. Sie weiß, dass Haruiko ein uneheliches Kind namens Nanami hat, dass Tai den Namen erwähnte und er, wie der Zufall es will, einen Unfall hatte. Und jetzt finden wir diesen blöden DNA Test nicht, obwohl wir zwei den halben Tag die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt haben und ich habe Sachen gefunden, die ich lieber nicht finden wollte. Wirklich nicht. Tai, Tai, da werden wir darüber reden müssen.

“Keine Ahnung, offenbar hat er die Ergebnisse nicht in seiner Wohnung aufbewahrt.”

“Aber wo dann? An Tais Laptop komme ich nicht heran. Es ist Passwort geschützt, das habe ich auch schon versucht.”

“Mimi, dir läuft die Zeit weg. Fällt dir denn nichts ein? Hat Tai nicht doch irgendwas erwähnt?” Ich schüttel verzweifelt den Kopf und fasse mir immer wieder durch die Haare. Hier ist nichts, was mich weiter bringt. An den Laptop komme ich nicht ran und Tai fragen erübrigt sich von selbst, da Haruiko niemals zugeben würde, was er getan hat, brauche ich Beweise. Handfeste, da hat Joe vollkommen Recht. “Wer hat den Test durchgeführt, Mimi? Vielleicht kannst du bei dem Institut ein Duplikat anfordern.”

“Oh mein Gott, Sally, du bist ein Genie.”

“Bin ich das?”

“Yolei.” Na klar, die beste Freundin von Kari. Sie hat den Test ausgewertet und sie hat sich noch mit Tai getroffen und noch mehr erfahren, was konnte er mir nie sagen, weil er dann seinen ‘Unfall’ hatte. Warum bin ich da nicht schon viel eher drauf gekommen? Wie dämlich.

“Wer ist Yolei?”

“Die beste Freundin von Kari, sie ist die Schwester von Tai. Sie arbeitet in einem Labor. Oh man und sie hatten sich noch getroffen und Yolei wollte Tai noch etwas anderes sagen. Etwas, was sie nicht am Telefon sagen wollte. Ich habe das total vergessen.”

“Okay, dann rufe sie an oder besser’ geh zu ihr.”

“Ich kenne sie nicht persönlich. Ich muss, mal wieder Kari um Hilfe bitten.”

“Los, du hast keine Zeit zu verlieren. Dürfte ich, na ja, hier bleiben?”

“Na klar, Tai hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir zwei in seinem Bett schlafen.”

“Vielleicht vertreibe ich mir die Zeit mit seinen Pornos.” Ich laufe sofort rot an.

“Weißt du was, die kannst du sogar alle behalten, die hat Tai jetzt nämlich nicht mehr nötig.”

“Na hoffen wir es.” Ich umarme Sally nochmal zum Abschied und muss sogar ein wenig Lächeln. Ihre Anwesenheit ist jetzt schon ein voller Erfolg. Kari, wo bist du? Auf ins Krankenhaus. Sicher, wird sie bei bei ihrem Bruder sein.

Kapitel 46

Mimi
 

Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, ein Taxi zu nehmen. Ich dachte, ich wäre damit schneller, aber wie sich herausstellt, war das ein Irrtum, denn ich stehe im Stau. Verdammt, hätte ich doch nur die U-Bahn genommen. Ich habe schon mehrmals versucht, Kari zu erreichen, aber sie geht nicht an ihr Telefon. Ich habe keine Ahnung, ob sie wirklich im Krankenhaus ist, aber ich vermute es. Tai hat heute Geburtstag, natürlich wird sie da sein. Unruhig kaue ich auf meinem Fingernagel, während vor uns und hinter uns die Autos hupen. Was denken die denn, was das bringt?

„Haben Sie eine Ahnung, wie lang es noch dauert?“, frage ich den Taxifahrer und lehne mich nach vorne. Er dreht den Kopf leicht nach hinten. „Ich sitze genauso hier fest, wie Sie. Also nein, ich habe keine Ahnung, wie lange es noch dauert.“ Er klingt gereizt. Na schön. Stöhnend lasse ich mich zurück in den Sitz fallen.

„Das darf doch nicht wahr sein.“

Mein Handy klingelt. Ich schrecke so heftig hoch, dass selbst der Taxifahrer kurz zusammenzuckt und hebe auch schon eine Sekunde später ab. „Hallo? Kari?“

„Mimi, hey, was gibt es denn? Ich dachte, du wärst auch im Krankenhaus. Ich bin gerade bei Tai und …“

„Wir müssen reden, über …“ Okay. Wie erkläre ich das? „Ich komme gleich vorbei“, sage ich schnell. „Ich stehe nur gerade im Stau. Ich brauche dringend deine Hilfe.“

„So? Bei was denn?“

„Ich, ähm …“ Oh man, nicht am Telefon, Kari. Zu unsicher. „Das erkläre ich dir dann.“

„Okay, na gut. Ich werde hier sein, ich bin gerade erst gekommen. Zum Glück noch rechtzeitig, so konnte ich wenigstens noch kurz Yolei sehen.“

Yolei war da? Was?

Aber klar, Tai hat Geburtstag. Wahrscheinlich wollte sie ihm auch gratulieren.

„Wieso kurz? Ist sie schon weg?“, frage ich hoffnungsvoll und presse die Augen fest zusammen. Bitte sei noch da, bitte sei noch da.

„Nein, aber sie wollte sich gleich wieder auf den Weg machen. Sie und ihre Familie haben einen spontanen Urlaub geplant. Ihr Flieger geht heute Abend.“

Oh Gott. Nein! Nein, sie darf nicht verschwinden. Nicht jetzt! Ich brauche sie doch.

„Kari, bitte tu mir einen Gefallen und halt sie noch ein bisschen auf“, flehe ich und werfe gleichzeitig einen Blick auf meine Armbanduhr. „Fünfzehn Minuten, länger brauche ich nicht.“

„Was? Wieso soll ich sie …“

„Bitte, Kari“, sage ich noch mal. Ich krame ein paar Scheine aus meiner Hosentasche und tippe dem Taxifahrer auf die Schulter, damit er sie annimmt. „Bitteschön, ich steige hier aus.“

„Okay. Mimi, was ist hier los?“

Aber ich habe keine Zeit für Erklärungen, schon gar nicht am Telefon. Ich muss persönlich mit Yolei sprechen, unbedingt. „Ich beeile mich, bis gleich“, sage ich nur noch und lege auf, als ich auch schon aus dem Taxi springe und die Tür hinter mir zuknalle. Bis zum Krankenhaus brauche ich zu Fuß mindestens 20 Minuten, wenn ich schnell gehe. Also bleibt mir nichts anderes übrig, außer rennen. Wie gut, dass ich einen so fantastischen Trainer hatte, der meine Kondition geprüft hat, denn dank ihm weiß ich, dass es zwar knapp wird, aber dass ich es schaffen kann.
 

Total aus der Puste komme ich am Krankenhaus an und nehme gar keine Rücksicht darauf, dass schon wieder Paparazzi vor dem Eingang stehen und es die ganze Zeit >Klick< macht, als ich an ihnen vorbeirenne. Der Fahrstuhl will nicht kommen, also nehme ich die Treppe in den vierten Stock, während ich die dafür bete, dass Yolei noch nicht gegangen ist.

Kaum oben angekommen, reiße ich Tais Tür auf und muss erst mal Luft holen, während mich drei verwirrte Augenpaare anstarren.

Yuuko, Kari und … Yolei? Das muss sie sein. Ich habe es geschafft. Sie ist noch nicht weg. Ich will gerade Luft holen und etwas sagen, als sich plötzlich von hinten eine Hand auf meine Schulter legt.

„Ich will ja nichts sagen, meine Damen.“

Mir wird schlecht. Was macht er hier? Ausgerechnet jetzt.

„Aber zu viel Besuch ist der Genesung nicht förderlich.“

Ich kann mich kaum rühren, trotzdem schaffe ich es, einen großen Schritt zur Seite zu machen, damit er endlich seine Finger von mir nimmt. Er sieht mich scheißfreundlich an, hat wie immer seine Gut-Mensch-Maske aufgesetzt, mit der er alle täuschen kann, außer mich. Er betritt den Raum, als hätte er ein Recht dazu. Haruiko ist die allerletzte Person, die heute, an Tais Geburtstag hier sein sollte. Ich balle die Hände zu Fäusten und bin kurz davor, einfach hinauszuschreien, was er ihm angetan hat. Dass er für all das hier verantwortlich ist.

Aber ich reiße mich zusammen. Schlucke den dicken Kloß in meinem Hals runter, obwohl ich ihn am liebsten hochwürgen und ihm vor die Füße spucken würde. Ich habe keine Beweise. Weder für den Unfall, noch für Nanami. Ich brauche als erstes diesen verdammten DNA-Test. Und mein Ziel ist zum Greifen nah, sie steht direkt vor mir. Yolei ist hier und ich kann nicht mit ihr reden, weil dieses Arschloch mal wieder dazwischenfunken muss.

„Da haben Sie recht“, sagt Yuuko freundlich. Wenn sie doch nur wüsste …

„Aber Tai hat heute Geburtstag und seine Freunde wollen ihm gerne persönlich gratulieren.“

Der Prof. nickt wissend und tritt an Tais Bett.

Halte dich ja fern von ihm, du widerlicher Drecksack! Ich hacke dir die Hand ab, wenn du Tai auch nur anfassen solltest.

„Ich denke, in dem Fall können wir mal eine Ausnahme machen. Aber nur für heute. Unser Patient braucht Ruhe.“

Ich kotze gleich. Wen will er hier eigentlich überzeugen?

„Danke, Dr. Kido“, sagt Yuuko und verbeugt sich vor ihm.

„Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ Sein Blick richtet sich auf Yolei, die auf der anderen Seite von Tais Bett steht. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“

„Ich, äh, ich …“ Ich schlucke schwer. Yolei scheint kein Wort herauszukriegen. Ich kenne sie nicht, sehe sie heute das erste mal. Aber ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Sie hat Angst.

„Das ist meine beste Freundin“, antwortet Kari statt ihrer und verzichtet zum Glück darauf, Yolei beim Namen vorzustellen.

„Ja, das stimmt“, sagt nun Yolei und nickt zustimmend. „Ich wollte nur schnell gratulieren.“

„Bevor sie in den Urlaub fliegt“, fügt Kari hinzu und wackelt mit den Augenbrauen. „Ihr Mann hat sie mit einer Reise überrascht. Ganz spontan. Ach, das ist wirklich romantisch. Du hast vielleicht ein Glück.“ Kari schlägt Yolei freundschaftlich auf die Schulter, doch diese lächelt nur verkrampft.

„So? Eine Reise?“, hakt Haruiko nach. Oh, nein. So fing es bei Tai auch an. „Wo soll’s denn hin gehen?“

Mistkerl. Ob er etwas ahnt?

Sag es nicht, sag es nicht …

„Das weiß ich noch gar nicht.“ Yolei zuckt mit den Schultern. „Mein Mann wollte mich mit allem überraschen. Aber ich hoffe auf Europa.“ Klar. So weit weg wie möglich. Also, entweder, sie weiß es wirklich nicht, oder sie ist eine gute Schauspielerin. Ob sie ahnt, wie vorsichtig sie gegenüber von diesem Mann sein muss? Nach allem, was Tai von ihr erzählt hat, ist Yolei alles andere als dumm.

Innerlich atme ich erleichtert auf. Dann nähere ich mich auch endlich Tais Bett. Haruikos Blick fällt auf mich. „Müsstest du nicht längst mit Joe beim Juwelier sein?“

Meine Muskeln spannen sich wie von selbst an und ich presse die Lippen aufeinander. Allein seine Stimme lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich hasse ihn so sehr.

Als ich nichts antworte, gibt Yuuko ein verträumtes Seufzen von sich. „Ach, wie schön. Sucht ihr heute eure Eheringe aus? Wie wundervoll.“

Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während Haruiko erneut seine Hand auf meine Schulter legt und fest zudrückt, gerade so sehr, dass die anderen es nicht merken. Aber ich merke es. Ich spüre ihn immer noch wie einen Todesengel neben mir, der versucht, mich mit Haut und Haar in den Abgrund zu reißen.

„Ja, genau, höchste Eisenbahn. Es bleibt ja auch nicht mehr viel Zeit. Die beiden sind so verliebt ineinander, dass wir die Hochzeit spontan vorverlegt haben. Sie wird bereits in 10 Tagen stattfinden.“

Wirklich. Wenn du nicht sofort deine Finger von mir nimmst, kratze ich dir die Augen aus. Und wahrscheinlich sollte ich dir noch die Zunge rausschneiden, für die ganzen Lügen, die pausenlos deinen Mund verlassen.

Ich sehe, wie nicht nur Yuuko, sondern auch Kari ihre Augen aufreißt. „In 10 Tagen schon?“

Ich nicke nur stumm. Eigentlich sollten mir jetzt alle gratulieren, weil ich doch so ein Glück habe. Aber keiner tut es.

Der Prof. wartet noch mehrere Sekunden auf eine Reaktion, doch als die ausbleibt, räuspert er sich nur und gibt mich endlich frei. „Nun, ich muss wieder an meine Arbeit. Hat mich gefreut, Sie zu sehen, Frau Yagami. Ich werde die Tage immer mal wieder nach unserem Taichi schauen.“ Er verbeugt sich vor Yuuko, die es ebenfalls tut und geht dann zur Tür, die sich im selben Moment von außen öffnet.

Ein großer, dunkelhaariger Mann, mit einem kleinen Jungen auf dem Arm, steckt seinen Kopf zur Tür rein. „Yolei? Schatz? Wir müssen los.“

Was? Wer … aber wieso? Jetzt schon?

Yolei nickt und geht um Tais Bett herum, während der Mann den Prof. vorbei lässt und dann die Tür für seine Frau aufhält.

„Ja, ich komme.“

Kaum ist Haruiko weg, stürze ich hinter Yolei hinterher. „Ihr wollt schon gehen?“ Aber ich muss mit dir sprechen, Yolei, bitte.

Der Mann mit dem Kind auf dem Arm sieht mich fragend an. „Wer ist das?“

Yolei bleibt kurz stehen und dreht sich zu mir um. Sie sieht mich an, als wüsste sie ganz genau, wer ich bin, obwohl sie mich noch nie in ihrem Leben gesehen hat und ich noch nicht mal die Gelegenheit hatte, mich richtig vorzustellen.

„Du bist doch Mimi, richtig?“, sagt sie wissend und ich nicke.

„Ja. Und ich muss mit dir sprechen“, sage ich leise, aber ihr Mann drängt sie, zu kommen.

„Schatz, der Flieger wartet nicht auf uns.“

Ich mache noch einen Schritt auf Yolei zu, sehe sie so flehend an, wie ich kann und doch setzt sie ein Lächeln auf und hebt die Hand zum Abschied.

„Tut mir leid, dass wir keine Zeit mehr zum Plaudern haben. Wir müssen jetzt wirklich abreisen.“

Yolei. Verdammt. Bitte! Du kannst jetzt nicht gehen, du kannst mich und Tai doch nicht im Stich lassen.

Am liebsten würde ich an ihrem Arm zerren und sie auf Knien anflehen zu bleiben. Aber das geht nicht. Stattdessen schießen mir Tränen in die Augen. Tränen der Verzweiflung. Wenn sie jetzt geht, dann war’s das. Dann komme ich nie an die DNA-Ergebnisse.

„Yolei …“, versuche ich es ein letztes Mal und diesmal greift sie nach meiner Hand und sieht mich eindringlich an. „Es ist sehr traurig, was Tai passiert ist, nicht? Ich habe ihm Blumen und ein kleines Geschenk mitgebracht. Vielleicht bist du später so freundlich und liest ihm meine Karte vor, die ich für ihn geschrieben habe.“

Fassungslos und mit geöffnetem Mund starre ich sie an. Eine Karte? Eine scheiß Karte soll ich ihm vorlesen? Aber das rettet uns nicht. Alles hier war völlig sinnlos, wenn du jetzt einfach gehst.

„Ich muss jetzt leider gehen“, sagt sie und lässt meine Hand los, ehe sie noch mal zu Kari sieht. „Ich melde mich bei dir. Alles Gute für Tai. Ich werde an ihn denken.“

„Viel Spaß im Urlaub“, entgegnet Kari, während ich völlig verzweifelt dastehe und nichts, einfach gar nichts mehr sagen kann.

Da geht sie. Meine letzte Hoffnung, Tai zu retten und Joe die Beweise zu liefern, die er braucht. Die ich brauche. Die wir brauchen.

Verdammt. Haruiko hat wieder einmal alles zerstört. Wie eine Spinne kommt er jedes Mal aus seinem Loch gekrochen, wenn ich gerade anfange, Hoffnung zu schöpfen und spinnt sein Netz um mich, so dass es mir unmöglich ist, mich zu bewegen. Ich kann nicht mehr atmen. Am liebsten würde ich auf der Stelle zusammenbrechen, als Yolei den Raum verlässt und die Tür hinter sich schließt.
 

Es hat mich alle Mühe gekostet, wieder auf Normalmodus zu stellen. Nachdem Yolei vor zwei Stunden gegangen ist, habe ich gesagt, ich hole etwas Kuchen und ein paar kühle Getränke für uns, um auf Tai anzustoßen. Aber als ich endlich draußen war, kamen mir unaufhaltsam die Tränen, denn ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll.

Ich weiß, dass es diese Beweise gibt.

Ich weiß, dass Tai sie kennt.

Ich weiß, dass alles wahr ist, was wir über Haruiko rausgefunden haben.

Aber was nützt es mir, wenn ich einfach nichts, rein gar nichts, in der Hand habe? Keine Unterlagen, keinen DNA-Test, keine Beweise, nichts. Ich fühle mich komplett verloren. Yolei war meine letzte Hoffnung und sie ist fort. Weg aus Haruikos Visier, der offenbar bald schon ein Auge auf sie geworfen hätte. Er ist nicht blöd. Natürlich hätte er Nachforschungen über Tai angestellt oder tut es sogar schon. Bald hätte er rausgefunden, dass Tai kurz vor seinem Unfall bei ihr war. Und dann wäre Yolei auch in Gefahr gewesen, ebenso wie ihr Mann und ihr Kind.

Sie muss das gewusst haben.

Warum sollten sie sonst so plötzlich verreisen?

Wenn sie zurückkommen, werde ich längst verheiratet sein. Tai wird wahrscheinlich immer noch im Koma liegen und wenn nicht, falls er wirklich vorher aufwachen sollte, ist die Frage doch, woran er sich noch erinnern kann. Meine Chancen, Haruiko jetzt noch zur Rechenschaft zu ziehen und mich frei zu kaufen, stehen gleich Null. Und ich weiß das. Ich weiß das und es schmerzt.

Mein Handy klingelt, als ich an Tais Bett sitze. Ich ignoriere es. Kari bringt gerade ihre Mutter nach unten, sie wollte aber gleich noch mal wieder kommen. Ich halte einfach Tais Hand und habe keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Dass wir verloren haben?

Es klingelt wieder. Seufzend ziehe ich das Handy näher zu mir, welches auf Tais Bettdecke liegt und hebe ab.

„Ja?“, sage ich tonlos.

„Mimi!“ Das ist Joe und er ist offenbar wütend. „Ich warte seit einer Stunde beim Juwelier auf dich.“

Weiß ich. Aber auch das ist mir egal. Ich fühle mich innerlich tot, jetzt, wo ich weiß, dass es keine Chance auf Rettung gibt.

„Wie soll ich ohne dich die Ringe aussuchen? Ich habe mir jetzt schon 50 angeguckt, aber ich habe keine Ahnung, was dir gefällt.“

Nein, hast du auch nicht. Weil du mich nicht kennst, Joe.

Hörbar genervt stoße ich die Luft aus und fahre mir durchs Haar. Ich bin fix und fertig.

„Kannst du das bitte alleine tun? Such einfach irgendwas aus. Nimm Gold oder Silber, es ist mir gleich.“

„Aber ich weiß deine Ringgröße doch gar nicht. Du musst herkommen und ihn anprobieren.“

Verdammt, Joe. Ich habe keine Lust, diesen Ring anzuprobieren, der sich für mich wie Handschellen anfühlt. Handschellen, die mich für immer an dich binden werden.

„Du schaffst das schon. Du kannst sicher gut schätzen.“

„Mimi …“

„Ihr habt doch vorher auch alles ohne mich entschieden, wieso sollte jetzt meine Meinung wichtig sein?“

„Aber ich …“

Ich lege auf. Dass ich die Beweise immer noch nicht habe, sage ich ihm am Telefon nicht. Keine Ahnung, wie ich den Rest meines Lebens in den Spiegel blicken soll, wenn Tai irgendwann aufwacht und ich verheiratet bin. Gott, vielleicht habe ich dann sogar schon Kinder.

Das ist ein Albtraum, ein wahrgewordener Albtraum!

Ich nehme Tais Hand in meine und halte sie, um seine Wärme zu spüren. Um so tun zu können, als wäre er immer noch bei mir. Aber er ist gerade so weit weg. So unerreichbar für mich. Es tut einfach nur noch weh.

Auch als die Tür aufgeht, lasse ich seine Hand nicht los. Es ist mir egal, wer uns so sieht. Schlimmer, als es jetzt im Moment ist, kann es eh nicht werden.

„Mimi?“ Kari setzt sich neben mich und ich spüre ihren Blick auf mir. „Weinst du?“

Tue ich?

Erst jetzt bemerke ich, wie mir eine Träne über die Wange rollt. Ich wische sie schnell weg, ich wollte doch vor Tai nicht weinen. Ich wollte doch stark sein. Aber gerade bin ich einfach so leer, so gebrochen.

„Ich hatte nur was im Auge.“

Kari schmunzelt. „Du bist immer so tough. Dabei musst du das gar nicht. Nicht vor mir und auch nicht vor Tai.“

Ich nicke nur schwach, kann nichts darauf erwidern, aus Angst, meine Stimme würde dann brechen und ich würde wirklich zu weinen anfangen. Jeder Tag ist schrecklicher als der zuvor und so langsam – nach all den Monaten – fehlt mir die Kraft.

„Weißt du, Kari, dieses Jahr war einfach nur furchtbar für mich. Erst scheitere ich in L.A., dann wird mein Vater angeklagt und verhaftet und jetzt muss ich einen Mann heiraten, den ich nicht liebe.“ Wow, das klingt bitter. Ich würde mich ja selbst bemitleiden, aber auch dafür fehlt mir inzwischen die Kraft. „Tai war das einzig Gute, das mir dieses Jahr passiert ist. Er war immer für mich da. Auch wenn ich ihn am Anfang nicht leiden konnte. Aber irgendwie hat er es geschafft, in mein Herz vorzudringen. Durch ihn habe ich mich wieder wertvoll und lebendig gefühlt. Als könnte ich alles schaffen. Er gibt mir so ein Gefühl, als wäre ich das Kostbarste, das er hat. Und er ist das auch für mich.“

Ich sehe sie an. Ihre Augen sind voller Mitgefühl, voller Trauer. „Ich liebe Joe nicht, Kari. Und ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, Tai hinter mir zu lassen und ihn zu heiraten. Gott, in zehn Tagen schon. Zehn verdammte Tage.“ Verzweifelt lasse ich den Kopf sinken und lege die Stirn auf Tais Handrücken. Ich schließe die Augen. An welcher Stelle ist alles so unfassbar schief gegangen?

„Ach, Mimi“, sagt Kari nur bedauernd und legt mir eine Hand auf den Kopf. Sie streichelt mein Haar, wie es früher meine Mom oft bei mir getan hat, als ich noch ein Kind war. „Es wird alles gut, da bin ich sicher. Tai wird wieder aufwachen, daran glaube ich fest.“

„Und was, wenn es dann zu spät ist?“ Die pure Verzweiflung spricht aus mir. Wie soll er in zehn Tagen aufwachen und alles geradebiegen? Die Hochzeit verhindern? Unmöglich.

Kari streichelt mir weiter übers Haar, sagt jedoch nichts mehr dazu. Was auch? Auch sie merkt wahrscheinlich, wie aussichtslos unsere Situation ist.

„Warum wolltest du vorhin unbedingt mit Yolei reden? Gibt es dafür einen Grund?“, fragt sie nach einer Weile des Schweigens. Ich richte mich auf und lasse mich seufzend zurück in den Stuhl fallen.

„Tai war vor seinem Unfall bei ihr. Ich wollte wissen, was sie beredet haben, weil ich dachte, es könnte irgendwie wichtig sein.“

„Wichtig? Für was?“

Kari sieht mich fragend an. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll, also starre ich einfach an die Decke. Meine Situation ist schlimm. Wirklich schlimm. Aber ich darf sie da nicht mit reinziehen. Tai hätte das nicht gewollt.

„Ist egal“, sage ich daher und versuche irgendwie gelassen zu wirken. Keine Ahnung, ob sie mir das abkauft. „Ich frag sie einfach, wenn sie wieder da ist.“ Ich lächle Kari an, aber sie zweifelt, das sehe ich ihr an. Ihre Stirn ist gerunzelt und sie öffnet den Mund, will etwas sagen, aber ich komme ihr zuvor. „Zeig mal deinen Ring“, sage ich und lenke somit vom Thema ab. Ich greife nach ihrer Hand und bewundere den Silberring, in dessen Mitte ein kleiner Diamant eingearbeitet ist. „Wow, der ist wirklich schön. Er passt sehr gut zu dir. Takeru hat einen guten Geschmack.“

Ob Joe wohl auch so einen schönen Ring für mich aussucht? Ach egal, vielleicht kommt er ja auch mit leeren Händen wieder, weil ich ihn vorhin so abgewimmelt habe.

„Ja, hat er wirklich. Ich liebe den Ring.“

Ich nicke lächelnd. „Du hast ja auch lange genug darauf gewartet.“

„Das stimmt“, erwidert Kari und sieht sehnsuchtsvoll in das schlafende Gesicht ihres Bruders. „Ich wünsche mir so sehr, dass Tai bei der Hochzeit dabei ist.“

„Das wird er. Ganz bestimmt.“ Ich muss mir einfach immer wieder vor Augen halten, dass Tai jederzeit aufwachen kann. Das ist die allerletzte Hoffnung, an die ich mich verzweifelt klammere.

Schließlich steht Kari auf. „Ich muss jetzt nach Hause, Takeru kommt bald von der Arbeit.“

„Ist gut. Ich bleibe noch etwas hier. Kommt Yuuko noch mal wieder?“ Mir ist der Gedanke nicht geheuer, dass Tai hier nachts alleine ist. Haruiko könnte sonst was mit ihm anstellen. Es wäre ein Kinderspiel, Tais Geräte zu manipulieren oder ihm irgendetwas zu verabreichen.

Zu meiner Erleichterung nickt Kari. „Ja, sie fährt nach Hause, duschen. Sie packt ein paar Sachen zusammen und kommt dann wieder her. Wahrscheinlich bringen sie ihr bald ein eigenes Bett, weil sie ihn ja doch nicht alleine lassen wird.“

„Gut, dann bleibe ich noch solange, bis sie wieder da ist.“

Kari lächelt dankbar und umarmt mich zum Abschied. „Mach’s gut, Mimi. Tai hat wirklich Glück, dass er dich getroffen hat.“

Als sie weg ist, bleibe ich noch eine Weile an Tais Seite sitzen und lese ihm vor. Ich erzähle ihm nicht, was heute passiert ist. Erzähle ihm nichts von meiner Trauer. Dann mache ich ihm ein wenig Musik an, auch wenn ich gar nicht weiß, welche Musik Tai gerne hört. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu, über so belanglose Dinge zu reden und jetzt tut es mir leid, dass wir es nie getan haben. Ich habe mich für Klassik entschieden, weil ich irgendwo mal gelesen habe, dass Komapatienten auf ruhige Klänge reagieren. Während eine Klaviersonate von Mozart im Hintergrund läuft, gehe ich zu Tais Tisch, der am Fenster steht und schaue mir die Blumen, Geschenke und Grußkarten an, die er bekommen hat. Es sind einige und erst jetzt wird mir klar, wie viele Freunde Tai hat. Freunde, die ich alle nicht kenne. Da ist eine Karte von einem gewissen Izzy. Noch nie gehört. Dann eine Karte von Matt. Auch noch nie gehört. Oh, und schau, sogar Davis hat geschrieben und an seinen Geburtstag gedacht. Er wünscht ihm alles Gute und hofft, dass er bald wieder aufwachen wird. Wie wir alle.

Als letztes nehme ich Yoleis Karte in die Hand und schmunzle, als ich lese, wie komisch sie geschrieben ist.

Ich erinnere mich daran, dass sie mich zuletzt noch darum bat, Tai die Karte vorzulesen. Schien ihr wohl wichtig.

Grinsend drehe ich mich um und gehe zu Tai. „Wer schreibt denn so merkwürdig eine Geburtstagskarte? Das klingt echt schräg, hör mal: Lieber Tai, ich wünsche dir heute, am 23.08. alles Gute zu deinem Geburtstag.“ Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe und blicke zu Tai. „Klingt doch merkwürdig. Warum schreibt sie dein Datum in die Karte, du weißt doch selbst, wann du Geburtstag hast.“ Dann lese ich weiter. „Ich hoffe, die Karte gefällt dir. Ich habe sie bei Books and More gekauft, dem kleinen Laden in Shinjuku.“

Ich runzle die Stirn und klappe die Karte zu. Vorne ist das Bild einer Giraffe zu sehen, die ein Hütchen trägt. Okay? Was soll daran so besonders sein, dass sie es explizit in der Karte erwähnt? Ich klappe sie wieder auf und lese weiter. „Ich hoffe, dass du bald wieder wach bist. Yolei.“

Strange. Das ist die merkwürdigste Geburtstagskarte, die ich je gesehen habe. Aber hey, ich kenne Yolei schließlich nicht. Vielleicht ist sie ein bisschen komisch.

Irritiert schaue ich auf den Text. „Warum schreibt sie dir den Laden, wo sie …“

Ich drehe mich zu Tai, im selben Moment, als es in meinem Hirn funkt.

Yolei wollte, dass ich ihm die Karte vorlese.

Aber warum wollte sie das?

Ich schaue mir die Karte noch mal von allen Seiten an und lese noch mal die erste Zeile.

„Lieber Tai, ich wünsche dir heute, am 23.08. alles Gute zu deinem …“ Ich stocke mitten im Satz, starre auf die Zahlen.

2308

Fuck! Das ist ein verdammter Code!

Aber für was? Was willst du uns damit sagen, Yolei?

Scheiße, ich war noch nie gut in so was. Schnitzeljagd konnte ich noch nie. Aber vielleicht finde ich ja einen Hinweis, wenn ich zu dem Laden gehe, wo Yolei die Karte gekauft hat.
 

Es dauert zum Glück nicht mehr lange, bis Yuuko wieder da ist. Ich mache mich gleich auf den Weg nach Shinjuku. Suchend schaue ich immer wieder auf mein Handy, das mir den Weg weist, während ich durch die Straßen irre. Keine Ahnung, ob ich hier richtig bin, aber weit kann es nicht mehr sein.

Laut meinem Navi müsste ich nun direkt … Bingo!

Ich schaue nach oben und das Banner von Books and More leuchtet mir entgegen. Krampfhaft überlege ich, was ich hier soll. Ich gehe sogar rein und frage eine Verkäuferin nach Yolei und ob sie hier eine Nachricht für mich hinterlassen hat. Aber nichts, Fehlanzeige.

Frustriert verlasse ich das Geschäft wieder und schaue mich suchend auf der Straße um. Es ist zum verrückt werden. Ich krame die Karte aus meiner Tasche hervor und lese sie noch mal durch. Warum hat sie dieses Geschäft erwähnt? Warum nur? Es muss doch irgendetwas zu bedeuten haben.

Doch als ich meinen Kopf hebe, verstehe ich es endlich.

Yolei wollte, dass Tai oder ich hierherkommen. Denn genau gegenüber von Books and More befindet sich eine Bank. Und eine Bank besitzt Schließfächer.

Schließfächer, zu denen ein Code passt.

Yolei, du verdammter Fuchs.

Ich betrete die Bank und gehe direkt zum Schalter, um nach der Schließfachnummer zu fragen, die auf Taichi Yagami hinterlegt ist. Eine sehr freundliche und zuvorkommende Mitarbeiterin führt mich zu den Schließfächern und zeigt mir auch gleich die richtige Nummer. Danach lässt sie mich allein.

Mein Herz klopft wie wild, als ich endlich davorstehe.

Oh, bitte, geh einfach auf. Bitte!

Ich hebe meine Hand und gebe mit zittrigen Fingern den Code ins Display ein. 2308.

Erleichtert atme ich auf. Ich habe keine Ahnung, was mich dahinter erwartet, aber ich vermute, dass es genau das ist, was ich vermute. Etwas, das Yolei zurücklassen musste, als sie abgereist ist. Etwas, was sicher verwahrt werden sollte. Etwas, das Tai haben sollte.

All meine Hoffnung liegt in dem, was sich hinter dieser Tür befindet und als ich sie öffne, schlägt mir das Herz bis zum Hals.

Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen, als nur eine einzige Sache dort liegt. So klein, so unscheinbar und doch alles, was ich brauche.

Ich greife nach dem kleinen, schwarzen USB-Stick, der völlig verloren in diesem Schließfach liegt und drücke ihn an mich.

Endlich! Endlich kann ich Joe und der ganzen Welt beweisen, was für ein krimineller Mistkerl du bist, Haruiko.

Mimi
 

“Sally.” Keine Ahnung, wie spät es mittlerweile ist, aber es ist dunkel, als ich endlich wieder in Tais Wohnung ankomme. Den USB Stick habe ich in meiner Tasche verstaut und habe alle fünf Minuten geschaut, ob er noch da ist. Yolei, du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Hoffentlich ist sie in Sicherheit.

“Was ist los?”, besorgt starrt mich meine beste Freundin an. Sally hat Kopfhörer auf und ihren Laptop auf ihrem Schoß ausgebreitet. Sie scheint irgendeine Serie zu schauen. “Hast du Yolei getroffen? Hast du den DNA-Test?”

“Ja. Nein, aber auch ja.” Ich bin noch vollkommen aus der Puste. Der ganze Tag war Stress und Adrenalin pur. Ich habe heute weder was gegessen, noch groß eine Pause gehabt. “Du bist ja vollkommen fertig. Ich habe gekocht, es ist genug da. Setz dich hin und du isst jetzt erstmal etwas.”

“Nein.” Ich hebe meine Tasche wieder hervor und suche nachdem USB-Stick. Ich bekomme schon einen halben Nervenzusammenbruch, als ich ihn nicht gleich finde, aber der Stick ist nur nach ganz unten gerutscht. “Hier.” Oh man, noch immer fällt es mir schwer, mehr als nur ein Wort zu sagen. Okay, hinsetzen. Ich habe Durst. Sally hat bereits ihren Laptop auf Tais Tisch gestellt und schüttet mir gerade ein Glas Wasser ein. Ich nehme es dankend entgegen, trinke das Glas leer und beruhige meine Atmung, sowie meinen wilden Herzschlag.

“Ich habe Yolei zwar kurz im Krankenhaus gesehen, aber ich konnte nicht offen mit ihr reden.” Ich beiße mir auf die Unterlippe, als ich daran denken muss, wie der Professor auf einmal hinter mir stand. “Haruiko ist aufgetaucht. Ich glaube Yolei hatte Angst vor ihm. Sie ist weg. Sie ist mit ihrer Familie in den Urlaub geflogen.”

“Okay, das klingt irgendwie unheimlich und wo hast du den Stick her?”

“Yolei hat mir eine versteckte Botschaft zukommen lassen. In Tais Geburtstagskarte war eine art Schnitzeljagd versteckt. Schlussendlich bin ich bei einer Bank gelandet, am anderen Ende der Stadt und dort lag in einem kleinen Schließfach dieser USB-Stick.” Ich halte ihn nach oben, sodass Sally ihn ansehen kann. Sicher ist der DNA-Test auf diesem Stick drauf. Ganz bestimmt sogar.

“Na dann, soll ich den Stick direkt einstecken?”

“Ja, umso eher ich Joe den Beweis liefern kann, dass Nanami seine Schwester ist, desto besser.”

Sally und ich setzen uns zusammen auf Taichis Sofa. Sie nimmt mir den USB-Stick ab und steckt die Öffnung in ihren Laptop rein. Sally tippt etwas herum und ein Ordner öffnet sich. “Das wird es wohl sein”, murmelt Sally. Ich nicke. Sie öffnet die Datei und zwei DNA-Tests leuchten auf dem Bildschirm. “Der erste Proband ist Prof. Dr. Haruiko Kido und der zweite Dr. Joe Kido.”

Bingo.

Ich fasse es nicht. Endlich lese ich es schwarz auf weiß. So viel Hoffnung wie in diesem Moment hatte ich schon lange nicht mehr.

“Sehr gut, wir haben beide Testergebnisse sowie deren Übereinstimmung.” Genau das brauche ich, um Joe endgültig davon zu überzeugen. Ich bin ja so erleichtert. “Moment, Mimi, da ist aber noch mehr …”

“Noch mehr?”

“Ja.” Sally klickt mit ihrem Mauspad auf einen weiteren Ordner, in diesem Ordner sind drei Anhänge drauf. Sie klickt auf den ersten Anhang und ein Zeitungsartikel erscheint.

Verlobungsfeier von Frau Misaki Seika und Dr. Kaito Minamoto.

Daneben eine zweite Datei, ebenfalls mit einem Portraitbild von Misaki.

“Wer ist das?”, fragt Sally.

“Kaoris Mutter, aber warum hat Yolei die Fotos und den Artikel auf den Stick gezogen?” Ein extrem ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit.

Sally öffnet den dritten und letzten Anhang auf dem Ordner. Ein Foto von Nanami und zwar das, was ich auf Instagram gefunden und Tai geschickt habe. “Diese Ähnlichkeit”, haucht Sally. Sie öffnet nochmal die zweite Datei und nun sehen wir das Portraitbild von Misaki, sowie das Foto von Nanami. Ungläubig schauen Sally und ich uns an. “Sieht du was ich sehe?” Sally nickt. Diese Ähnlichkeit. Die junge Misaki sieht Nanami zum verwechseln ähnlich.

“Versucht Yolei dir etwa zu sagen, dass diese Misaki die Mutter von dem Mädchen ist?”

Ich beginne zu zittern. Ich halte das fast nicht aus. Die Spannung ist gerade so hoch, dass ich überzeugt bin, gleich zu explodieren. Soll das etwa heißen, dass nicht Ayaka, sondern Misaki und Haruiko die Eltern von Nanami sind? Das sie vor über 17 Jahren eine Affäre hatten und sie versehentlich schwanger wurde? Welch ein Skandal. “Ich … ich weiß nicht. Ich glaube schon.”

“Da ist ein dritter Ordner.”

“Ein Dritter?” Ich muss mich an Sallys Arm festhalten. Ich falle hier gleich um, davon bin ich überzeugt. Ich halte das nicht mehr lange aus. Wie gebannt schaue ich auf diesen Bildschirm und habe gleichzeitig schiss davor, zu sehen, was sich hinter dieser Datei verbirgt.

“Ein Artikel, nein warte, eine Todesanzeige, von: Nanami Seika. Geb. *15. April 2006 - Ges. 19. April 2006.”

Um Gottes Willen. Nein, ich halte es nicht aus. Mir wird schlecht, so schlecht, dass ich spüre, wie der Ekel mich von innen zerfrisst. Ich laufe los, steuere geradewegs das Badezimmer an, während ich mir den Mund zuhalte. Ich falle auf die Knie und übergebe mich über der Toilette. Zitternd halte ich mich an der Klobrille fest. Das kann doch unmöglich wahr sein.

“Mimi?” Ich spüre Sallys Hand auf meiner Schulter. “Diese Nanami ist aber nicht Tod, oder? Du hast sie getroffen. Sie lebt, das heißt …” und schon wieder. Ich übergebe mich erneut.

WIE GRAUSAM KANN EIN MENSCH SEIN?

“Das bedeutet: Sie haben Nanami einfach für tot erklären lassen und dann eingesperrt.” Ich wusste ja, dass Haruiko grausam ist und ich wusste, dass er sicher was zu verbergen hat, davon ist auch Tai überzeugt gewesen, aber das ein Mensch derart abgebrüht sein kann, nein, das hätte ich niemals erwartet. “Mimi, das ist ein Verbrechen und ein extrem grausames dazu.” Diese Ayaka muss sehr viel Geld bekommen haben, um dieses miese Spiel mitzuspielen. Tai hat es herausgefunden. Tai wusste es. Warum, warum hat er Nanamis Namen ausgesprochen? Haruiko war doch da. Er muss doch gewusst haben, wie gefährlich dieses Wissen für ihn ist und … und Misaki war da. Es ging Tai nicht um die Reaktion von Haruiko, sondern es ging ihm um Misaki. Tai.

Du wolltest einen Beweis. Ich rappel mich wieder auf. Ich renne zu seinem Schreibtisch, schaue mir wieder die Notizen an. Alle Mitarbeiter wurden vor 17 Jahren entlassen oder haben wie in Ayakas Fall selbst gekündigt. Hier hat Tai herausgefunden, dass die Villa in der Ayaka und Nanami leben am 19. April 2006 gekauft wurde und hier, dass sie alleine eingezogen ist, aber das ist sie nicht. Ich fasse mir an den Kopf, während ich die Fotos von Joe und Jim an der Wand sehe. Joe und Kaori haben eine gemeinsame Schwester. Kaori. Oh Gott. Ich glaube, mein Kopf platzt gleich.

“Mimi, was hast du als nächstes vor?”

“Ich … ich…” alles dreht sich und ich bekomme keine Luft mehr. Oh nein, nicht schon wieder: Ich bekomme eine Panikattacke. “Mimi?” Sally legt ihre Arme auf meine Schultern und schüttelt mich.

“Mimi … ruhig, atme.” Aber ich weiß nicht wie? Wie soll ich nur atmen? Die Wahrheit hat Tai fast das Leben gekostet. Haruiko, du hast deine Tochter für Tod erklären lassen. Misaki, hatte sicher keine Wahl, keine Wunder, dass sie danach für Kaori keine gute Mutter mehr sein konnte und dann ist er jetzt sogar zum Mörder geworden… “Mimi, setz dich hin. Hey, schau mich an.” Ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Sally ist hier. Ich bin in Tais Wohnung. Nicht in der Villa. Erstmal in Sicherheit. Oh Gott, ich bin so gut wie tot, wenn Haruiko herausfindet, dass ich das alles weiß. Sowie er jeden auslöschen wird, der an diese Informationen kommt. Deshalb hatte Yolei Angst. Ich wusste, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Wie gut, dass sie das Land verlassen hat. Ich werde sie auch nicht wieder kontaktieren. Auf keinen Fall, darf sie mit mir in Verbindung gebracht werden. Auf keinen Fall.

“Mimi, das ist so übel. Ich habe überall Gänsehaut.”

“Sally, ich … was soll ich nur tun? Zu wem soll ich gehen? Ich kann niemanden vertrauen. Nur Tai und der … Oh Gott.” Ich kann einfach nicht mehr. Zu viel, es ist alles zu viel. Sally hält mich fest und beruhigt mich. Es hilft aber nur bedingt, dazu kommt, dass ich jetzt auch noch Sally in Gefahr gebracht habe.

“Kannst du damit nicht zur Polizei gehen?”

“Das wäre das einfachste, nicht wahr? und nein, das kann ich nicht. Ich weiß von Kari, dass Yoleis Mann bei der Polizei arbeitet. Tai hat das auch gewusst und trotzdem ist er nicht zur Polizei gegangen. Entweder waren ihm all das immer noch nicht genug Beweise oder Haruiko hat einen guten Draht und die Akte würde einfach unter den Tisch fallen.”

“Okay, dann wende dich direkt an die Presse.” Irritiert sehe ich meine beste Freundin an. Wenn ich denen vertraue, ist wirklich jede Hoffnung verloren.

“Nein, wenn ich einfach so die Bombe platzen lassen würde, hätte ich ja kein Druckmittel mehr.” Tai, klar, deshalb ist er nicht zur Polizei oder Presse gegangen. Er war sich nicht zu 100% sicher. Ihm fehlte das letzte Stück Beweis. Denn sonst würde Haruiko nachher alles so drehen, dass er nichts wusste und das arme Opfer ist. “Gut, dann wende dich an Joe.” Ich schüttel sofort den Kopf.

“Das ist eindeutig eine Nummer zu hoch für ihn.” Außerdem glaube ich, dass Haruiko sogar seinen eigenen Sohn umbringen würde. Vielleicht, vielleicht dachte Haruiko ja sogar, dass seine Tochter tot ist, weil er sie umbringen lassen wollte und es kam anders. Oh Gott, jetzt leide ich schon unter Hirngespinsten.

“Dann bleibt nur noch Kaori?”

“Aber … Kaori ist doch selbst schwanger. Diese Nachricht wird zu heftig für sie. Sie hat mich doch schon aus der Bahn geworfen, wie soll erst Kaori damit umgehen? Was, wenn sie deswegen ihr Baby verliert?” Oh nein, das könnte ich mir niemals verzeihen. Sie will dieses Kind so sehr.

“Mimi, das wird rauskommen, weil es einfach rauskommen muss. Das heißt, Kaori wird es sowieso erfahren, dann aber doch lieber von dir.”

“Ich weiß nicht.” Ich versuche immer noch irgendwie zu verstehen, was ich gerade alles herausgefunden habe. Aber was für eine Wahl habe ich? Wenn ich zu Ayaka gehe und sie konfrontiere, wird sie sicher umgehend Haruiko informieren und dann: Rest in Peace, Mimi. Egal welche Option ich durchgehe, alles läuft auf Kaori hinaus. Ich habe keine andere Wahl; ich muss zu ihr und ihr alles sagen. Ich schaffe das niemals alleine.

“Sally, du solltest umgehend abreisen.”

“Ähm, wie bitte?”

“Ich meine das Ernst. Yolei ist auch verreist, weil sie weiß wie gefährlich es für sie ist, zu bleiben. Keiner weiß, wo Haruiko überall seine Leute hat, aber du weißt jetzt über diesen Skandal Bescheid und wenn das irgendwie durchsickert … Sieh dir doch nur an, was er mit Tai gemacht hat.”

“Aber Mimi, ich kann dich doch jetzt nicht alleine lassen und was, wenn du mitkommst? Du bist doch selbst in Gefahr.” Wenn Sally irgendetwas passiert, werde ich mir das nie verzeihen. Hier geht es aber um mich, nicht um sie und ich bin bereit, das Risiko zu tragen. Für mich steht einfach zu viel auf dem Spiel. Außerdem würde ich Tai niemals alleine lassen.

Ich nehme Sallys Hand und sehe sie eindringlich an. “Sally, ich kann hier nicht weg. Ich weiß, ich muss höllisch aufpassen und glaube mir, ich habe Angst, aber ich werde das zuende bringen. Ich weiß noch nicht genau wie, aber Haruikos Zeit ist abgelaufen.”

Sally schüttelt ihren Kopf und drückt nun meine Hände. “Gut, dann bleibe ich auch. Es weiß doch niemand, dass ich hier bin. Keiner würde mich je in Tais Wohnung suchen. Ernsthaft. Du brauchst mich jetzt. Ich bleibe an deiner Seite.”

Das fühlt sich nicht richtig an. Sie sollte nicht hier mit mir gegen den Teufel kämpfen. Das ist eindeutig zu gefährlich.

“Du isst jetzt endlich was und dann wirst du schlafen. Morgen früh gehen wir zu Kaori und dann … sehen wir weiter.”

Essen? Schlafen? Keine Ahnung, ob ich dazu im Stande bin, aber ich nicke und versuche es.

Versuche irgendwie zu schlafen, in einer Welt, in der Menschen, andere Menschen für tot erklären.

In einer Welt, in der Menschen andere Menschen einsperren.

In einer Welt, in der Menschen andere Menschen versuchen zu töten.

Ja, schlaf gut, Mimi, schöne Träume.
 

Was für eine Nacht. Meine Gedanken fahren immer noch Achterbahn und an Schlaf ist nicht zu denken gewesen. Ich habe mich die ganze Zeit nur unruhig hin und her gewälzt. Erst als Sally meine Hand hielt, bin ich ein wenig heruntergefahren. Jetzt ist es kurz nach sechs Uhr, da ich sowieso nicht mehr schlafen kann, entscheide ich mich dazu, aufzustehen und duschen zu gehen. Nach der Dusche, schlüpfe ich mal wieder in Tais Klamotten und versuche danach irgendwie, Tais Kaffeemaschine ans Laufen zu kriegen. Langsam verzweifel ich daran. “Du musst die Einstellung ändern”, brummt Sally. Klar, sie kennt sich direkt mit diesem Teil aus. Sie schleift sich aus dem Bett raus und stellt sich neben mich. “Warte, hier”, gähnt sie und hält sich die Hand vor den Mund. Die Maschine macht irgendwelche komischen Geräusche und blinkt schließlich grün. “Jetzt hier draufdrücken und es geht los.” Das Ganze macht Sally zweimal. Mit unseren Kaffeetassen setzten wir uns an den Tisch und sie sieht mich nachdenklich an. “Und? Wie hast du dich entschieden?”

“Ich werde zu Kaori gehen. Ich weiß nicht, ob es das richtige ist, aber ich weiß einfach nicht, was ich sonst machen soll und ich muss jetzt aktiv werden. Mir läuft die Zeit davon.”

“Ich denke, dass ist die richtige Entscheidung.” Ich hoffe es wirklich. Ich weiß wirklich nicht, wie Kaori darauf reagieren wird, aber es wird sie umhauen. “Willst du eigentlich so gehen?” Sally mustert mich und meinen Look auffällig. Ich habe ein schwarzes T- Shirt und eine Jogginghose von Tai an. Ehrlich gesagt, will ich seine Sachen am liebsten gar nicht ausziehen. Irgendwie fühle ich mich ihm so näher. “Sieht doof aus?”

“Das nicht, aber alles ein bisschen groß.”

“Ich habe nichts anderes mehr. Ich könnte wieder meine Klamotten von gestern anziehen. Ich bin ja ohne irgendwas nach hier und mich kriegen keine zehn Pferde zurück in diese Villa.”

“Du kannst was von meinen Sachen haben.” Sally steht auf und öffnet ihren Koffer, der noch immer im Eingangsbereich steht. “Wir haben doch eh die gleiche Größe. Möchtest du das weiße Kleid oder lieber einen Jumpsuit?” Ich trete neben meine beste Freundin und entscheide mich für den blumigen Jumpsuit. “Der sieht toll aus.” Früher haben wir uns ständig unsere Klamotten ausgeliehen und irgendwann wussten wir gar nicht mehr, von wem eigentlich was war. “Dann nimm ihn. Die Sachen sind eh zu schade, um sie hier in der Wohnung anzuziehen.”

“Du willst nicht mitkommen?”

“Nein, besser, wenn keiner weiß, dass ich hier bin.” Auch Sally hat nachgedacht, wie es scheint und sie weiß, wie gefährlich das hier ist. Hmm, irgendwie finde ich es aber blöd, wenn Sally hier den ganzen Tag alleine in der Wohnung sitzt und nur auf mich wartet. “Ich glaube, ich weiß wo du hingehen könntest.” Sally sieht mich misstrauisch an, während ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann. “Zieh du das weiße Kleid an.” Ich laufe schnell ins Bad, ziehe mir den Jumpsuit an und schminke mich dezent. Die Haare werden zügig zu einem Pferdeschwanz gebunden und ich lasse nun Sally ins Badezimmer. Zum Glück hat Sally immer so viel Zeug dabei, wenn sie irgendwohin reist. Ich habe mir zwar ein paar Drogerie und Kosmetikartikel gekauft, aber Sally hat wirklich alles mit. Glätteisen, Lockenstab und Schminkutensilien. Der Wahnsinn. Tai besitzt einen Drucker und während Sally sich fertig macht, drucke ich alles ganz old school mäßig aus, um es Kaori später zeigen zu können. Das alles so in den Händen zu halten, macht es irgendwie noch realer. Den USB Stick verstecke ich in Tais Wohnung in einem Blumentopf. Ich weiß nicht wieso, aber aktuell will ich kein Risiko eingehen und irgendwie könnte ich mir sogar vorstellen, dass Haruiko Männer nach hier schickt, die alles kurz und klein schlagen, Beweise vernichten und die Bude schlimmstenfalls anzünden. Daher ist mir so gerade lieber, auch wenn Sally der Meinung ist, dass ich übertreibe. Ich glaube eher, ich untertreibe.

“So und wo gehen wir um neun Uhr morgens hin?” Gute Frage, ich hoffe nämlich wirklich, dass er schon da ist.

“Wir fahren erstmal zum Stadtviertel Asakusa. Wirklich schön für Touristen. Bis zur nächsten U-Bahn Station müssen wir nur die Straße hoch.”

“Mimi, ich laufe doch jetzt nicht allein durch Tokyo. Ich finde doch nie wieder zurück.”

“Ach Sally, du bist in New York aufgewachsen. Du wirst …”

“Argh.”

“Pass auf.” Sally hält sich krampfhaft an meinem Arm fest. “Hier ist Linksverkehr, Sally.”

“Ja, kurz nicht drüber nachgedacht.” und fast wäre Sally von einem Taxifahrer umgefahren worden, weil sie vergessen hatte, dass der Verkehr von der anderen Seite kommt. Okay, sie darf hier wirklich nicht alleine bleiben. Hoffentlich ist er da. Nach einer Stunde Fahrt und zweimal umsteigen erreichen wir Asakusa. Tatsächlich bleibt Sally ein paar Mal stehen und macht Fotos mit ihrem Smartphone. “Wir sind gleich da.”

“Und wo?”

“Wirst du dann sehen.” Wir gehen noch einmal an der nächsten Kreuzung die Straße rechts rein und erreichen endlich das Ziel. Ein kleines, aber feines asiatisches Restaurant.

“Sollen wir nicht lieber, dahinten zum Italiener …” Sally verstummt, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. Wir sind in Japan, nicht in Italien. Wir haben Glück, dass das kleine Restaurant tatsächlich um zehn Uhr öffnet. “Hallo und herzlich Will … Mimi?”

“Davis.” Ich freue mich tatsächlich total den jungen Mann mit seiner Igel Frisur wiederzusehen. “Ich habe doch versprochen, dass ich dich mal besuchen komme.”

“Ja schon, aber, na ja, das alles mit Tai …”

Sofort erstarrt mein Lächeln. Ich bin heute noch gar nicht bei ihm gewesen und er fehlt mir so.

“... ist einfach furchtbar.”

“Wie geht es ihm?” Ich zucke mit den Schultern, weil ich es leider nicht weiß. “Unverändert, schätze ich.” Davis versucht mich mitfühlend anzulächeln und sieht dann erst, dass da noch jemand hinter mir steht. Sally ist und das passiert nie hinter mich getreten und versteckt sich. “Und wer ist das?”

“Das ist Sally, meine beste Freundin. Ich habe heute viel vor und keine Zeit und keine Ahnung, ich dachte, dir vertraue ich.” Keine Ahnung, ob Davis versteht, was ich mit meinem Gestammel sagen will, aber schließlich lächelt er Sally mit seinem breiten Grinsen an. “Hi Sally, schön dich kennenzulernen.”

“Ja, freut mich auch”, lächelt sie und wirkt ganz schüchtern. Ich wusste doch, dass Sally gefallen an Davis finden könnte.

“Und wann treffen wir uns wieder, Mimi?”

“Ich melde mich spätestens heute Abend bei dir. Du hast die Schlüssel und kannst notfalls jederzeit zurück in die Wohnung.” Noch mal geht mein Blick zu Davis. “Solltest du heute Abend noch unterwegs sein, weil Tokyo echt toll ist und so, meldest du dich und ich komme zu dir.”

“Okay.” Ich ziehe meine beste Freundin in eine Umarmung und winke auch nochmal Davis zum Abschied zu. “Mimi, warte.” Davis geht hinter seinen Tresen und überreicht mir eine Essensbox mit dampfenden und gut riechenden Essen, bestehend aus: Glasnudeln, Hähnchenfleisch und Gemüse drin.

“Aber …”

“Bitte, du kannst doch nicht zu mir kommen und dann mein Essen nicht probieren.”

Ich grinse und will gerade mein Portmonee aus meiner Tasche holen, als Davis schon abwinkt. “Geht aufs Haus. Lass es dir schmecken.”

“Werde ich ganz sicher. Danke.” Ich verlasse Davis sein Restaurant, hebe mein Smartphone in die höhe, stelle die Foto-App an, achte darauf, dass man meine Essensbox sehen kann und verlinke Davis Restaurant darauf. #Bestes Essen. Versprochen ist Versprochen. Und verdammt, das Essen riecht nicht nur gut. Es schmeckt auch so.
 

Da Kaori im Moment bei Joe in der Wohnung wohnt, bin ich zu ihm gefahren. Ich habe Kaori heute morgen geschrieben, ob sie sich über ein wenig Abwechslung freuen würde und natürlich hat sie mir gleich geantwortet, dass ich kommen darf. Jetzt stehe ich hier wie ein Haufen Elend und fahre gerade mit dem Fahrstuhl nach oben. Ich bin so nervös. Die Türe öffnet sich und ich sehe einen lachenden Joe und eine kichernde Kaori. Was macht Joe hier? Ich meine ja, er wohnt hier, aber er wohnt doch im Moment in der Villa und überhaupt, er müsste doch schon längst im Krankenhaus sein. “Mimi.” Kaori freut sich mich zu sehen, kommt gleich auf mich zu und umarmt mich. Joe hingegen guckt mich ernst an und mehr als ein nicken bekomme ich nicht. Die gute Laune von gerade ist offenbar weg. Gut, ich habe ihn gestern auch zimelich mies abserviert. “Und hast du schöne Ringe gefunden?”

“Keine Ahnung, ich habe einfach auf irgendwelche Ringe gezeigt und die dann genommen. Wieso bist du gestern nicht gekommen?”

“Es ist etwas dazwischen gekommen.”

“Etwas oder jemand?”

“Joe, es ist doch jetzt gut. Ihr solltet euch wieder vertragen. Immerhin werdet ihr bald heiraten.”

Oh Gott, wie das klingt. Mir wird schon wieder schlecht. Werde ich mich eigentlich je wieder normal fühlen? “Egal, ich muss los. Ich bin eh schon spät dran.” Joe dampft an mir vorbei und betritt den Aufzug, aus dem ich gerade gestiegen bin, bevor die Türen sich ganz schließen, halt ich meine Hand dazwischen und schaue Joe nochmal fest in die Augen. “Ich verspreche dir, dass das alles bald ein Ende hat und du mich besser verstehen wirst.” Dann ziehe ich meine Hand zurück, sehe wie die Türen sich wieder schließen und der Aufzug nach unten fährt. Joe hat sich nicht mal die Mühe gemacht, mich anzugucken, aber warum sollte er auch. “Schön, dass du da bist. Manchmal ist es hier sehr einsam, obwohl es schön ist, dass Joe hier ist.” Sofort drehe ich mich zu Kaori um.

“Wo wir direkt beim Thema sind. Warum ist Joe hier?”

“Na ja, also, wegen dir.” Ich zeige auf mich und verstehe kein Wort.

“Nachdem Joe dein Tagebuch gefunden und mit seiner Mutter gesprochen hat, wurde er richtig wütend. So kannte ich ihn bisher gar nicht. Er meinte, er wollte nicht länger in der Villa wohnen, weil ihn jeder nur belogen hätte, deinem Vater hat er erzählt, du seist mit nach hier gezogen, weil ihr vor eurer Hochzeit noch mehr Privatsphäre wollt.”

“Okay.” Das wusste ich bisher auch noch nicht. Deswegen hat er neulich nichts gesagt. “Wo wohnst du eigentlich? Hast du ein Hotel genommen?”

“Nein, ich wohne bei Tai.”

“Verstehe, also stimmt das mit eurer Affäre?” Ich verdrehe genervt die Augen. Wie sehr ich dieses Wort hasse, als hätten Tai und ich die ganze Zeit etwas Schlimmes getan. Wenn sie wüsste …

“Nein, wir lieben uns, das ist was ganz anderes.” Langsam reicht es mir. Auch wenn ich gar nicht wütend auf Kaori sein will. Sie kann schließlich gar nichts dafür.

“Okay.”

Jetzt stehen wir hier im Flur und wissen beide nicht so recht, was wir sagen sollen.

“Wie geht es dir denn im Moment? Mit dem Baby?” Kaori lächelt mich gleich an und streichelt über ihren Bauch. Noch sieht man nicht wirklich viel, auch wenn sich eine kleine Wölbung schon abzeichnet. Wir gehen in das große und geräumige Wohnzimmer von Joe und lassen uns auf seiner schwarzen Ledercouch nieder.

“Wirklich gut. Die Übelkeit hat zum Glück nachgelassen. Noch zwei Wochen dann sind die zwölf Wochen vorbei und ich kann wieder nach draußen.” Ich lächle müde, weil ich zu mehr nicht im Stande bin.

Weil, sie dann wieder nach draußen darf … “Schön.” Ich weiß wirklich nicht, wie ich das nächste Thema angehen soll. “Mimi, ist alles ok? Ich meine, blöde Frage, immerhin mache ich mir auch Sorgen wegen Tai, aber sonst geht es dir gut?”

Ich schüttel den Kopf. Ich bin in der letzten Nacht so oft durchgegangen, wie ich Kaori sagen soll, dass ihre Schwester noch lebt, aber egal welche Worte ich gewählt habe, sie waren alle scheußlich. “Mimi?”

Ich nehme meine Handtasche, die auf dem Fußboden steht und krame meine Unterlagen raus. Ich habe sie sortiert und gedacht, dass ich ihr die Ergebnisse von hinten zeige. Kaori beobachtet mich. “Was hast du da? Was für die Hochzeit? Oder das Baby?” Ich schüttel wieder den Kopf und wende das Blatt mit der Todesanzeige von Nanami. Kaori kneift die Augen zusammen und fängt an auf ihren Fingernägeln zu kauen. “Woher? Woher hast du das? Habe ich dir je gesagt, wie sie hieß?”

Wieder schüttel ich den Kopf. Meine Finger zittern. Ich balle mit meinen Fingern eine Faust und für den Moment hilft es. “Ich … ich.” Oh Gott, ich weiß immer noch nicht, wie diese Worte meinen Mund verlassen sollen.

"Nanami, also, deine Schwester. Sie … sie ist nicht tot. Sie lebt.”

Kaori steht auf, fängt an sich die Ohren zuzuhalten und singt. Okay, ich habe mit vielem gerechnet aber nicht damit. “Kaori?”

“Twinkle Twinkle, little Star, how i wonder what you are.”

“Kaori?”

“Up above the World so high, Like a Diamond in the Sky.”

Ich stehe auf, gehe zu Kaori rüber und versuche ihre Hände zu halten.

“Kaori, hör mir bitte zu. Ich, ich habe sie getroffen.” Kaori singt immer lauter und hält sich weiter die Ohren zu. Ich verstehe das nicht. Ich dachte sie würde weinen, zusammenbrechen, kotzen. Irgendwas, aber singen? “Sie sieht dir wirklich ähnlich und ist sehr nett. Willst du ein Foto sehen?” Kaori dreht sich von mir weg und ich stehe vollkommen perplex hinter ihr. Dreht sie gerade durch? Ich verstehe ja, dass das ein hochsensibles Thema ist, aber wie soll ich sagen, was ich weiß, wenn sie mir nicht zuhören will. “Kaori? Nanami braucht unsere Hilfe. Sie ist ganz alleine.” In dem Moment dreht sich Kaori wieder zu mir um. Sie sieht … wütend aus und eine Sekunde später hat sie mir eine Ohrfeige verpasst. “Wie kannst du es wagen? Du solltest gehen.” Ich bin nicht im Stande, mich zu bewegen, aber ich werde nicht gehen. Es tut mir leid, Kaori, aber die Wahrheit wird noch viel mehr schmerzen.

Kapitel 48

Mimi
 

„Kaori, ich werde nicht gehen.“

„Jetzt verschwinde endlich!“, brüllt Kaori von der anderen Seite der Tür. Nachdem sie mich geohrfeigt hat, ist sie ins Schlafzimmer gelaufen und hat sich eingeschlossen. Hin und wieder höre ich sie wimmern, dann beginnt sie wieder zu singen. Und jedes Mal, wenn ich versuche, mit ihr zu reden, schreit sie mich an.

Ihre Reaktion hat mich völlig überrumpelt.

Kaori, die überaus kultiviert ist und nie, wirklich nie, ihre guten Manieren vergisst, hat mich geschlagen. Mitten ins Gesicht. Sie weint und singt und schreit und das immer wieder von vorn. Als wäre sie plötzlich eine andere Person. Als wäre sie plötzlich wieder 12 Jahre alt und hat gerade ihre Schwester verloren. Und ihre Mutter. Beide in einem Atemzug.

Wie schwer muss das für sie gewesen sein?

Durfte sie jemals darüber sprechen, was in ihr vorgeht? Oder hat sie immer nur funktioniert?

Wahrscheinlich war niemand da, der sie in ihrer Trauer begleitet und ihren Kummer aufgefangen hat. Niemand, der ihr geholfen hat, das zu verarbeiten.

Wie kann eine Familie ein und dasselbe Schicksal erleben und doch muss jeder für sich selbst damit fertig werden? Wie kaputt ist das, wenn man so etwas zulässt?

„Kaori“, sage ich noch mal seufzend, aber ich höre von drinnen wieder nur „Twinkle, twinkle little star“ und sehe ein, dass das so keinen Sinn macht. So komme ich nicht an sie ran. Aber wenn ich gerade nicht sie erreichen kann, dann vielleicht ihr 12 jähriges Ich.

Ich gehe ein paar Schritte durch die Wohnung und überlege, was ich früher gern hatte, wenn ich traurig war. Ich weiß noch, dass egal, was war, meine Mutter mir immer eine heiße Milch mit Honig gemacht hat – sowohl bei einer Erkältung, als auch bei Liebeskummer oder schlechten Schulnoten. Mit Honig kann man alles heilen, sagte sie immer und ich erinnere mich auch heute noch an die Wärme, die mich von innen geflutet hat. Nicht nur, weil die Milch mit Honig heiß war, sondern vor allem, weil mich die Liebe meiner Mutter eingehüllt hat, wie eine flauschige Decke. Ob Kaori jemals dieses Gefühl erlebt hat?

Ich gehe in die Küche und suche nach Honig. Zum Glück hat Joe welchen zu Hause und Milch auch. Ich mache eine Tasse Milch heiß und rühre dann den Honig rein.

Mmh, dieser Duft.

Dann gehe ich wieder zur Schlafzimmertür, hinter der es inzwischen verdächtig ruhig geworden ist. Ist sie eingeschlafen?

„Kaori?“ Ich klopfe zwei mal an. „Hör zu, ich will nicht mit dir streiten. Ich will auch gerade gar nicht mit dir über deine Schwester reden.“

Stille.

„Ich will nur, dass du dich beruhigst.“

Stille.

„Ich habe dir eine heiße Milch mit Honig gemacht. Die hat meine Mom immer für mich gemacht, wenn es mir nicht gut ging. Vielleicht magst du sie ja trinken.“

Stille.

Ich seufze. Doch dann, ein Klicken.

Kaori öffnet die Tür einen Spalt breit und sieht mich wie ein scheues Reh durch diesen offenen Türspalt an.

„Und du wirst ihren Namen auch ganz sicher nicht noch mal erwähnen?“

„Nein, sicher nicht.“ Ich will ja schließlich nicht, dass du mich noch mal schlägst. „Kommst du bitte raus? Bitte“, flehe ich und setze eine traurige Miene auf. Kaori wirkt verunsichert, doch dann steigt ihr der Duft der Honigmilch in die Nase und sie schließt genüsslich die Augen.

„Das riecht gut“, sagt sie.

„Schmeckt auch gut“, erwidere ich, halte ihr die Tasse etwas näher hin und komme mir vor, wie ein Jäger, der ein Kaninchen mit einer Möhre aus dem

Bau locken möchte.

Sie öffnet die Tür ein Stück weiter. „Tut mir leid, dass ich dich geohrfeigt habe.“

Jaah, das brennt immer noch. Aber das sage ich natürlich nicht. Stattdessen lächle ich sie mitfühlend an. „Schon vergessen. Ehrlich. Ich wollte nicht, dass du traurig wirst. Können wir bitte … können wir einfach nur reden?“

Sie nickt. Vorsichtig. Ein bisschen skeptisch. Aber sie kommt raus.

Sehr gut – denke ich und gehe zur Couch, um eine Decke für sie auszubreiten. „Möchtest du es dir ein bisschen gemütlich machen?“

Kaori setzt sich und lässt es zu, dass ich sie zudecke. Ich reiche ihr die heiße Milch und sie nimmt sofort einen Schluck davon. Ich setze mich neben sie, halte jedoch auch einen gewissen Abstand. Sie sieht schlimm verheult aus.

So habe ich sie noch nie gesehen. Hat sie jemals jemand so gesehen?

„Tut mir leid“, sagt sie schließlich und atmet tief durch. „Du hast mich überrumpelt.“

„Ich weiß. Das wollte ich nicht. Aber ich denke, es gibt keine angenehme Möglichkeit, dir das zu erzählen, was ich dir gern erzählen möchte.“

Oder vielleicht doch?

Ich drehe mich zu ihr und verschränke meine Beine zu einem Schneidersitz. „Darf ich?“, frage ich und zeige auf die Decke. Kaori nickt und ich krieche mit darunter. Nun sitzen wir uns gegenüber, beide eine warme Decke auf den Beinen liegend und erzählen uns gleich wie zwei Zwölfjährige unsere Geheimnisse. Ich hoffe so sehr, dass sie mir zuhört. Dass sie mir glaubt.

„Ich möchte dir gerne eine Geschichte erzählen. Du kannst jederzeit stopp sagen, in Ordnung?“, beginne ich vorsichtig. Unsicher sieht sie mich an, doch dann nickt sie.

Ich überlege, wie ich anfangen soll. Wenn ich Kaori’s Hilfe will – und die brauche ich – muss ich sie mit Samthandschuhen anfassen. Also alles in Ruhe, der Reihe nach.

„Es fing alles mit einer Frau und einem Mann an, die sich liebten. Die beiden waren noch jung, aber sie heirateten und bekamen ein Kind, eine Tochter.“

Kurz warte ich ab, wie Kaori reagiert, doch sie verzieht keine Miene und fängt auch nicht wieder an zu singen. Also mache ich weiter.

„Ihre Tochter wuchs beschützt und überaus behütet hinter großen Mauern auf, denn die Familie war sehr wohlhabend und nur wenige von Außen besaßen das Privileg, einen Blick hinter diese Mauern zu werfen. Ihre einzigen Freunde waren zwei Jungs, die sie seit ihrer Geburt kannte und die sie ab und zu besuchten.“

Kaori nimmt einen Schluck von ihrer Milch und dann gleich noch einen. Sie umklammert ihre Tasse mit beiden Händen und ich bemühe mich, langsam zu sprechen. Ihr Raum zu geben und jederzeit abzubrechen, falls es ihr zu viel wird.

„Die Eltern der Kinder verstanden sich gut. So gut, dass sie beschlossen, zwei ihrer Kinder miteinander zu verheiraten, sobald sie alt genug waren. So war es in den Familien üblich. Das Mädchen liebte ihre Mutter sehr, aber sie war oft einsam hinter den großen Mauern, welches ihr Zuhause war. Sie wünschte sich einen Bruder oder eine Schwester, mit denen sie spielen konnte. Und irgendwann war es dann so weit. Sie sollte eine Schwester bekommen.“

Ich sehe wie Kaori schluckt. Sie lässt die Tasse sinken und für den Bruchteil einer Sekunde erwarte ich, dass sie sich wieder die Ohren zuhält und singt. Aber sie beißt sich nur auf die Unterlippe und schließt kurz die Augen. Diese Erinnerungen müssen sehr schmerzhaft für sie sein. Trotzdem mache ich weiter. Sie muss die ganze Wahrheit erfahren.

„Alle waren überglücklich, doch ihre Mutter kehrte ohne Baby aus dem Krankenhaus zurück. Verletzt. Gebrochen. Traurig. Alle glaubten, das Mädchen sei gestorben. Sie richteten eine Beerdigung aus und nahmen Abschied. Zu diesem Zeitpunkt lag jedoch kein Baby in dem Sarg, welcher in die Erde gelassen wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das Kind längst bei einer anderen Frau, die sich liebevoll um es kümmerte.“

„Nein, stopp! Hör auf!“ Kaori stellt ihre Tasse mit einem lauten Knall auf dem Tisch ab und springt auf. „Ich will das nicht hören.“ Sie fängt an, im Raum auf und ab zu gehen und die Melodie von Twinkle Twinkle Little Star zu summen.

Die Decke rutscht mir von den Beinen, als ich ebenfalls aufstehe und auf sie zugehe. Auch auf die Gefahr hin, dass sie mir wieder eine Ohrfeige verpasst, trete ich an sie ran und ziehe sie in eine feste Umarmung.

„Hör auf, Mimi. Bitte lass das“, protestiert Kaori, doch ich umarme sie nur noch fester.

„Es tut mir leid, dass ausgerechnet ich diejenige sein muss, die dir so weh tut“, sage ich. Tränen steigen mir in die Augen, weil mich das alles zu sehr mitnimmt. „Aber du musst es dir anhören, bitte, Kaori. Du hast zu lange im Dunkeln gelebt. Du musst die Wahrheit kennen.“

Kaori beginnt zu weinen und legt endlich ihre Arme um mich. Sie umarmt mich und krallt sich regelrecht an mich, um nicht komplett zusammenzubrechen.

Ich gebe ihr diesen Moment der Trauer. Ich lasse sie weinen und schluchzen, streiche ihr dabei immer wieder übers Haar, während sie ihren Kopf auf meiner Schulter gebettet hat.

Irgendwann beruhigt sie sich etwas und wischt sich die Tränen von der Wange.

„Ich will das wirklich nicht alles noch mal durchmachten“, wispert sie und ich kann verstehen, wie unfassbar schwer das für sie sein muss.

„Das sollst du gar nicht“, sage ich. „Aber vielleicht hilft es dir, dich endlich von der Vergangenheit zu lösen, wenn du verstehst, was wirklich passiert ist und dass alles ganz anders ist als du denkst.“

Kaori nickt traurig. Sie ist einverstanden. Ich bin erleichtert.

Ich führe sie zurück zur Couch und wir setzen uns wieder, ehe ich tief Luft hole und weitererzähle.

„Dieser Schicksalsschlag zerstörte die Familie. Der vermeintliche Tod der geliebten Tochter und Schwester setzte allen sehr zu. Dem Mädchen wurde verboten, je wieder über sie zu sprechen oder nach ihr zu fragen und ihre Mutter veränderte sich. Sie war nicht mehr dieselbe. Alle Gefühle wurden abgeschirmt. So wie das kleine Baby, welches es nie geben sollte. Denn, was das Mädchen nicht wusste, war, dass ihre kleine Schwester lediglich das Ergebnis einer heimlichen Affäre war.“

Okay. Nun ist es raus. Kaori schnappt nach Luft und presst sich eine Hand auf den Mund, während sie mich mit großen, entgeisterten Augen ansieht.

„Eine Affäre? Aber … mit wem?“, fragt sie verheißungsvoll, als würde ich hier gerade wirklich nur eine spannende Geschichte erzählen. Dabei ist es bittere Realität. Ich bringe die Worte kaum über die Lippen.

„Mit einem guten Freund der Familie. Sein Name ist Haruiko Kido.“

Kaori’s Augen weiten sich noch mehr vor lauter Entsetzen, wenn das überhaupt noch möglich ist.

„Haruiko? Er … und meine Mutter? Er soll der Vater …?“ Ich sehe es ihr an, dass sie es kaum glauben kann, doch ich nicke.

„Haruiko Kido ist der Vater des Mädchens, das für tot erklärt wurde.“

Nun hole ich doch noch ein Mal die Beweise hervor und zeige sie ihr. Ich zeige ihr die Todesanzeige und ich zeige ihr den DNA-Test.

Kaori nimmt die Blätter in die Hand und es dauert mehrere Minuten, bis sie alles ganz genau studiert hat. Fassungslos hebt sie den Kopf.

„Wer hat das gemacht?“

„Tai. Er hat die Proben besorgt und ein Labor beauftragt, sie zu überprüfen.“ Yolei’s Namen halte ich da raus.

Ich sehe genau, was sie denkt. Denn sie schaut immer wieder ungläubig auf das Ergebnis.

„Aber … für einen DNA-Test braucht man nicht nur Proben des Vaters, sondern auch …“

Ich nicke. „Proben des Kindes. Ja. Darauf wollte ich hinaus.“

Nun habe ich ihre Aufmerksamkeit. Sie fragt sich, wie wir an Proben von Nanami gekommen sind, wenn diese doch angeblich unter der Erde liegt.

„Die Geschichte geht noch weiter. Möchtest du sie hören?“

Diesmal nickt Kaori sofort entschlossen. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubt, aber sie will wissen, was ich zu sagen habe.

„Ich weiß nicht genau, was damals passiert ist oder wie es sich abgespielt hat“, sage ich. „Aber dieses uneheliche Kind wurde für tot erklärt. Alle, die davon hätten wissen oder auch nur etwas hätten ahnen können, wurden mit Geld zum Schweigen gebracht. Es gab nur eine einzige Person, die involviert war und diese Frau heißt Ayaka Yano. Sie ist die Frau, die das elternlose Kind zu sich genommen und aufgezogen hat. Heute lebt …“ Ich vermeide es, den Namen Nanami noch einmal zu erwähnen. „Heute lebt dieses Kind in einem großen Haus, versteckt vor der Außenwelt. Abgeschottet hinter Mauern, wie es einst ihre ältere Schwester war. Und niemand weiß, wer sie wirklich ist oder dass sie existiert.“

Langsam schüttelt Kaori den Kopf. „Nein, das kann nicht wahr sein“, sagt sie völlig fassungslos. Dann springt sie plötzlich wieder auf und beginnt wie wild auf und ab zu laufen. Den Kopf hält sie dabei gesenkt, während sie ihren Gedanken freien Lauf lässt.

„Wie ist das möglich? Das kann einfach nicht stimmen. Meine Schwester … sie ist doch tot. Meine Eltern … sie haben monatelang, nein, jahrelang um sie getrauert. Meiner Mutter hat es das Herz gebrochen. Würde meine Schwester noch leben, wüsste sie es. Sie hätte es niemals zugelassen, dass sie bei jemand anderen aufwächst als bei uns. Sie wüsste …“ Kaori bleibt abrupt stehen und sieht mich entsetzt an. Und doch liegt in ihrem Blick auch eine Art Erkenntnis. Die Erkenntnis darüber, dass das alles möglich ist. Dass diese Geschichte, die ich ihr eben erzählt habe, tatsächlich wahr sein könnte.

Mitleidig sehe ich sie an. „Kaori, ich kenne deinen Vater nicht sonderlich gut. Ich habe ihn nur ein Mal gesehen. Aber ich habe gemerkt, wie wichtig ihm die Familie ist. Familie über allem. Was meinst du, würde er tun, wenn er erfahren würde, dass deine Mutter eine Affäre und ein uneheliches Kind hat? Ein Kind, von dem er die ganze Zeit über dachte, es wäre seins?“

Kaori schnalzt mit der Zunge und richtet den Blick aus dem Fenster. Da muss sie offensichtlich nicht lange überlegen. „Er hätte sie verstoßen. Er hätte sich das niemals bieten lassen, weder von Haruiko, und schon gar nicht von seiner eigenen Frau. Erst hätte er mich ihr weggenommen und sie hätte rein gar nichts dagegen tun können. Wahrscheinlich hätte sie mich nie wieder gesehen, dafür hätte mein Vater schon gesorgt. Er ist Staatsanwalt, wie du weißt und mit allen Wassern gewaschen. Und dann hätte er Haruiko dafür büßen lassen, was er getan hat. Du hast recht, Mimi – die Familie und ihre Werte gehen ihm über alles und ich weiß, dass es bei den Kidos nicht anders ist. So etwas wie Ehebruch und ein Uneheliches Kind … das ist für sie wie Hochverrat.“

Und wird mit dem Tode bestraft. Aber das denke ich nur. Nanami hat es zu spüren bekommen. Sie musste darunter leiden, dass die Beiden nicht zu ihrem Fehler stehen konnten. Aus Angst vor Kaito Minamoto. Aber vielleicht war es nicht nur Angst. „Ich denke, es stimmt, was du sagst“, meine ich dann und stehe ebenfalls auf. „Es ergibt Sinn. Deine Mutter wollte nicht, dass dein Vater davon erfährt. Aber sie wollte dich auch nicht verlieren. Wenn er ihr dich wirklich weggenommen hätte … dann hätte sie nicht nur eine Tochter verloren, sondern gleich zwei. Vermutlich hat sie all die Jahre sehr darunter gelitten.“ Denn ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Misaki nichts davon wusste, dass ihre Tochter noch lebt. Sicher wusste sie es.

Traurig senkt Kaori den Kopf. Ihre Hände zittern und ihre Schultern beben. „Verdammt“, sagt sie und beginnt wieder zu weinen. „Was mache ich denn jetzt?“ Sie presst sich eine Hand auf den Mund. Ich drehe sie zu mir und nehme sie in den Arm. Das ist alles, was ich im Moment für sie tun kann.

Ich kann mir vorstellen, wie schmerzhaft das alles für sie sein muss. Und trotzdem hoffe ich nicht nur, dass es für mich ein Weg in die Freiheit sein könnte, sondern auch für Kaori. Vorausgesetzt, sie ist bereit dazu, dieses Geheimnis gegen ihre eigene Mutter zu verwenden.
 

Nachdem ich ihr auch die restlichen Beweise gezeigt habe, haben wir noch einige Stunden geredet. Kaori ist unschlüssig, was sie nun tun soll und ich kann es verstehen. Und trotzdem rennt mir die Zeit davon. Sie weiß, dass ich ihre Hilfe brauche. Aber es war alles zu viel für sie, zu schmerzhaft. Zumindest für heute möchte ich sie in Ruhe lassen. Sie musste heute unfassbar viel durchmachen.

Nachdem ich sie mir versichert hat, dass sie klarkommt und ich sie allein gelassen habe, habe ich Joe eine Nachricht geschrieben. Ich habe ihm nichts Genaues gesagt, nur, dass es Kaori nicht gut geht und er für sie da sein soll. Ich hoffe, er kann das.

Nach allem, was sie heute von mir gehört hat, ist sie wirklich mehr als verwirrt und bat mich zuletzt noch darum, Kontakt mit ihrer Schwester aufnehmen zu dürfen. Ich habe ihr Nanamis Instagram Profil gezeigt, weil das alles ist, was ich habe. Ich habe ihr auch gesagt, wo Nanami wohnt, aber auch, dass das Anwesen vermutlich unter Beobachtung steht – vor allem nach den jüngsten Ereignissen. Haruiko weiß, dass Tai ihm auf die Schliche gekommen ist und lässt Nanami und Frau Yano sicher rund um die Uhr bewachen.

Als Kaori das Foto von Nanami gesehen hat, fing sie wieder an zu weinen. Die Ähnlichkeit zu ihr und Joe ist nicht zu übersehen. Aber ob das alles für Kaori ausreicht, um mir zu glauben? Ich habe keine Ahnung.

Tai … ich habe zwar den nächsten Schritt gemacht, aber trotzdem fühlt es sich so an, als wäre ich immer noch nicht weitergekommen. Das Ziel ist zum Greifen nahe und doch so weit entfernt. Ach Tai, wenn du doch nur mit mir reden könntest und mir sagen könntest, was ich tun soll.
 

Als ich auf dem Rückweg bei Davis Restaurant vorbeischaue, weil Sally mir geschrieben hat, dass sie immer noch dort ist, staune ich nicht schlecht, als ich das Lokal betrete.

Der Laden ist voll bis unters Dach, heißer Dampf kommt aus der Küche und überall duftet es herrlich nach Essen. So viele Leute. Aber Sally kann ich nirgendwo entdecken. Bis jemand aus der Küche ruft: „Die Nummer 4 und die Nummer 8 sind jetzt fertig und können serviert werden.“

Dann sehe ich plötzlich meine Freundin durch die Gäste und auf die Küche zueilen. Sie kommt mit zwei Tellern zurück und platziert sie vor den Gästen, die schon geduldig auf ihr Essen warten.

„Lassen Sie es sich schmecken. Und den gibt es noch auf Empfehlung des Küchenchefs.“ Sie schenkt den Gästen Sake nach, die sich höflich bei ihr bedanken. Dann verbeugt sie sich und wünscht ihnen noch mal einen guten Appetit.

Mir klappt der Mund auf.

Kann man es mir verdenken? Sally! Meine beste Freundin Sally trägt eine Schürze und serviert wildfremden Menschen heiße Nudeln. WHAT?

Als sie mich entdeckt, beginnt sie zu strahlen und läuft auf mich zu. „Da bist du ja endlich“, sagt sie und umarmt mich. Ich verziehe das Gesicht. Sie riecht nach Bratfett und Fisch.

„Wer bist du und was hast du mit meiner besten Freundin gemacht?“

Sally beginnt zu lachen, dabei finde ich meine Frage durchaus berechtigt.

„Die Mitarbeiterin, die für den Service zuständig ist, hat sich kurzfristig krankgemeldet. Also bin ich eingesprungen. Gefalle ich dir?“ Sie dreht sich vor mir im Kreis, als hätte sie ein schickes Ballkleid an, dabei ist es nur eine weiße Küchenschürze.

Ich verwette meinen linken Arm darauf, dass Sally noch NIE eine Küchenschürze getragen hat. Aber sie strahlt übers ganze Gesicht.

„Dir scheint es jedenfalls zu gefallen“, gebe ich zu und schenke ihr ein unsicheres Lächeln. Keine Ahnung, ob ich gerade träume, sie sieht einfach so surreal als Bedienung aus.

„Ich wollte schon immer mal meinen Horizont erweitern“, schwärmt sie und nun muss ich wirklich lachen.

„Na ja, andere gehen dann für gewöhnlich tauchen oder machen eine Weltreise oder probieren ein neues Gericht aus.“ Und Sally? Kellnert.

Das ist offenbar ihr Stichwort. „Oh man, du musst unbedingt die Nummer 8 von Davis Speisekarte probieren. Die gebe ich schon den ganzen Tag raus und es schmeckt himmlisch, sage ich dir.“ Bei dem Wort „himmlisch“ verdreht sie verträumt die Augen und zerrt mich gleichzeitig rüber an die Bar, wo noch ein paar Plätze frei sind. Sie schubst mich förmlich auf den Stuhl und ich setze mich.

„Davis, Liebling, ein mal die Nummer 8, bitte“, ruft sie in die Küche.

„Kommt sofort“, ruft Davis zurück, während ich Öl in einer Pfanne zischen höre. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und sehe sie zweifelnd an. „Liebling?“

Sally lacht und kippt mir ein Glas Sake ein. „Ist so ein running Gag bei uns.“

Was? Sind die beiden jetzt plötzlich beste Freunde? Wie lange war ich denn weg?

Sie schiebt mir den Sake rüber und ich nehme ihn dankend an. „Den kann ich jetzt gut gebrauchen.“

Der Alkohol brennt in meiner Kehle und ich verziehe das Gesicht.

„Können wir noch bleiben, bis Davis den Laden schließt? Ich habe versprochen, den ganzen Abend zu helfen“, fragt Sally mich und irgendwie komme ich mir vor, wie ihre große Schwester. Als müsste sie mich um Erlaubnis fragen.

„Klar. Ich habe heute eh nichts mehr vor.“ Zu Tai schaffe ich es nicht mehr, aber ich habe vorhin Kari angerufen, die mir erzählt hat, dass ihre Mutter auch heute Nacht an Tais Bett wachen wird und dass seine Werte weiterhin stabil sind. Er ist also in guten Händen.

„Super“, freut sich Sally ein bisschen zu sehr, was mich gleich noch stutziger macht. „Wenn es etwas ruhiger geworden ist, erzählst du mir, wie es bei Kaori war, okay?“ Ich nicke, während sie sich wieder an die Arbeit macht, da schon die nächsten Gäste nach ihr rufen.

„Ich komme sofort“, ruft sie zurück und springt los. Wie ein kleines Kaninchen. Echt verrückt. Ich dachte, sie wäre über Shopping und etwas Sightseeing glücklich – dabei brauchte es einfach nur ein paar gebratene Nudeln und einen Mann.
 

Das Essen von Davis war wirklich köstlich und nach 22.00 Uhr wurde es auch so allmählich ruhiger in seinem kleinen Restaurant. Sally hat sich irgendwann zu mir gesetzt und ich habe ihr alles erzählt, während Davis in der Küche noch aufgeräumt hat. Sally hat gespannt zugehört, aber ich habe an ihrem mitfühlenden Blick gesehen, wie leid es ihr tat, dass Kaori so sehr darunter gelitten hat.

„Ich habe sie wohl falsch eingeschätzt, das tut mir jetzt total leid, im Nachhinein“, sagt sie und trinkt ihren Sake leer, ehe sie uns noch mal nachschenkt. „Ich dachte, sie wäre eine Model-Barbie, die außer Geld keine Interessen hat.“

Ich nicke traurig. „Ich dachte auch, ich kenne sie inzwischen. Aber das heute hat mir ein mal mehr die Augen geöffnet, wie sehr sie ihr Leben lang gelitten hat. Diese Einsamkeit … ich hätte das nicht ertragen.“ Auch ich trinke meinen Sake aus und muss dabei an Nanami denken. Ich will gar nicht wissen, wie es ihr all die Jahre ergangen ist.

Wenn man nichts anderes kennt … denkt man dann, das alles sei normal?

„Hat sie gesagt, ob sie dir helfen wird?“, fragt Sally und ich zucke mit den Schultern.

„Sie hat noch gar nichts gesagt. Ich weiß noch nicht mal, ob sie mir alles glaubt oder nicht vielleicht sogar denkt, ich habe alle Beweise gefälscht und mir alles nur ausgedacht, um aus dieser Ehe rauszukommen. Ich wollte ihr erst mal ein wenig Bedenkzeit lassen, um das alles zu verdauen.“

„Aber Mimi, du hast nicht mehr viel Zeit.“

„Ich weiß.“ Mein Kopf sackt in meine Hände und ich reibe mir verzweifelt übers Gesicht. Ich bin ganz schön angetrunken. Und fix und fertig mit den Nerven. Ich fühle mich, als könnte ich hundert Jahre schlafen.

Davis kommt aus der Küche und trocknet sich die Hände an einem Küchentuch ab. „So Mädels, wie siehts aus? Wollt ihr noch was Trinken gehen?“

Sally sieht zu mir rüber, doch ich mache gar nicht erst Anstalten, diese Einladung anzunehmen. Ich will einfach nur ins Bett.

„Für heute passen wir“, sagt sie dann mit einem Lächeln, aber ich schüttle schnell den Kopf.

„Du kannst ruhig mitgehen“, entgegne ich. „Wegen mir musst du nicht auf deinen Spaß verzichten. Ich bin so müde, ich falle heute ohnehin einfach nur noch ins Bett.“

„Sehe ich auch so“, sagt Davis und grinst Sally mit seinem frechen Grinsen an. „Wie soll ich mich denn sonst dafür bedanken, dass du mir geholfen hast?“

„Ach, das musst du doch gar nicht“, winkt Sally ab. Wird sie da etwa rot?

„Ehrlich, geh ruhig mit. Davis bringt dich nachher bestimmt gerne nach Hause“, schlage ich vor und will sie dazu ermutigen, den Abend einfach zu genießen, doch meine beste Freundin schüttelt einfach nur den Kopf und drückt meine Hand. „Auf keinen Fall. Du bist meine Freundin und du brauchst mich jetzt. Spaß hatte ich ja heute schon genug. Und wir können das sicher irgendwann nachholen, oder Davis?“

Davis, der erst ein bisschen geknickt über diese Abfuhr aussieht, beginnt im nächsten Moment dann doch zu strahlen, als er hört, dass Sally die Verabredung mit ihm offensichtlich nur verschieben möchte. Ich glaube, er malt sich Chancen bei ihr aus. Wie süß.

„Klar, gar kein Thema. Ich bin bereit, wenn du es bist.“ Er beißt sich auf die Zunge. „Das sollte jetzt nicht so klingen.“

Sally beginnt zu kichern. „Du sagst manchmal so komische Sachen und es ist so witzig, weil du nicht merkst, wie komisch sie sind.“

„Keine Ahnung, ob das jetzt ein Kompliment sein soll“, antwortet Davis jedoch nur, aber Sally kichert wieder nur.
 

Nachdem wir noch ein bisschen mit Davis geplaudert haben und ich da eindeutige Vibes gespürt habe – zumindest verstehen sie sich sehr gut – gehen wir endlich nach Hause. Ich kann es gar nicht erwarten, in Tais Bett zu fallen und seinen Duft zu riechen. Er fehlt mir so schrecklich.

Doch als ich den Schlüssel ins Schloss stecken will, schwingt die Tür einfach so auf.

Stocksteif stehen Sally und ich da und starren in den dunklen Flur vor uns.

Die Tür war offen, einfach so.

„Mimi?“, fragt Sally und klammert sich an meinem Arm fest. „Was geht hier ab?“

Ich schlucke. „Ich weiß es nicht.“ Und doch habe ich eine Ahnung, denn ein Blick auf das Türschloss verrät mir, dass es gewaltsam geöffnet wurde. Da sind eindeutig Schmauchspuren. Verdammt. Ein Einbruch? Etwa von Haruiko?

Wir betreten den Flur und ich schalte das Licht ein. Mir ist klar, dass, wer immer auch hier war, längst weg ist. Spätestens, als ich das Chaos vor uns sehe. Sally stößt einen erschrockenen Schrei aus, während ich scharf die Luft einsauge.

Alles, wirklich alles, ist verwüstest.

Geschirr liegt zerschlagen auf dem Fußboden, alle Schränke stehen offen und wurden durchwühlt, Bücher wurden zerfetzt. Die Wohnung gleicht einem Schlachtfeld.

„Scheiße“, stoße ich aus und reiße mich von Sallys Arm los, um zu Tais Schreibtisch zu stürzen.

Ich muss nicht lange suchen, um zu erkennen, dass alles weg ist. Sein Laptop. Seine Notizen. Die Fotos an der Pinnwand. Es ist alles weg. Sie haben alles mitgenommen. ER hat alles mitgenommen. Wobei ich nicht glaube, dass Haruiko sich selbst die Hände schmutzig gemacht hat.

Mein Herz hämmert gegen meine Brust und das Adrenalin steigt mir zu Kopf.

Es ist klar, was er hier gesucht hat. Beweise, die er vernichten kann. Jetzt, nachdem er Tai vorläufig aus dem Weg geräumt hat, muss er den Rest natürlich auch noch erledigen. Dieser Bastard!

„Mein Laptop ist auch verschwunden.“ Sally kniet vor ihrem offenen Koffer, der ebenfalls komplett durchwühlt wurde.

Ich fahre mit der Hand in meine Hosentasche und ziehe den Stick raus, um mich selbst davon zu überzeugen, dass ich ihn immer noch bei mir habe. War es eine göttliche Eingebung, dass ich ihn heute Morgen nicht in der Wohnung gelassen habe? Vermutlich. Dieser Stick ist momentan das Wertvollste, was ich besitze und ich bin heilfroh, dass Haruiko ihn nicht in die Finger gekriegt hat. Ob er etwas auf Tais Laptop finden wird, ist fraglich, der ist ja Passwort geschützt. Dennoch wird er ihn zerstören, da bin ich mir sicher.

„Mimi, das ist eine Katastrophe“, sagt Sally geschockt, als sie sich aufrichtet und sich in dem Chaos umsieht. „Meinst du, Joes Vater war das?“

Ich nicke sofort. Wer sonst hätte ein Interesse an Tais persönlichen Sachen?

„Wir müssen die Polizei rufen“, schlägt Sally aufgebracht vor. „Vielleicht haben sie Fingerabdrücke hinterlassen.“

Ich schüttle den Kopf und wähle stattdessen eine andere Nummer. Wenn ich mir einer Sache sicher bin, dann der, dass Haruiko sauber arbeitet. Nie im Leben haben seine Leute hier einen Hinweis darauf hinterlassen, dass er dahintersteckt.

Es dauert zum Glück nicht lange, bis sie abhebt. „Kaori?“ Ich weiß, ich wollte sie in Ruhe lassen, bis sie sich beruhigt hat, aber es geht nicht anders. „Du solltest dir etwas ansehen.“

Mimi
 

Sally und ich haben nur das Gröbste um Tais Bett herum aufgeräumt, den Rest haben wir so belassen, da es schon mitten in der Nacht war, als wir nach Hause gekommen und Taichis Wohnung in diesem verwüsteten Zustand vorgefunden haben. Kaori habe ich mit meinem Anruf mitten aus dem Schlaf gerissen, daher hat sie mir versprochen, am nächsten Morgen in der Früh bei Tai vorbeizukommen. Jetzt ist es gleich soweit und ich bin immer noch fassungslos über alles, was in den letzten Tagen passiert ist. “Konntest du ein wenig schlafen?”, erkundigt sich Sally bei mir.

“Nicht wirklich und du?” Auch Sally schüttelt den Kopf. Es wundert mich nicht. “Ich hatte Angst, sie könnten wieder kommen …”

Ich nicke traurig. “Verständlich, aber ich denke, sie waren gründlich. Mir tut es eher leid, um deinen Laptop.”

“Ach was, du kannst doch gar nichts dafür.”

“Trotzdem. Ich wollte dich da nie mit reinziehen. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn sie dich hier vorgefunden hätten.” Auch Sally scheint über diese Erkenntnis geschockt zu sein. Sie hätten wahrscheinlich sonst was mit ihr gemacht. Immerhin wäre sie ein unfreiwillige Zeugin gewesen. “Dem ist ja nicht so gewesen. Ich finde aber, wir sollten immer noch die Polizei darüber informieren.”

“Das hat nicht viel Sinn, vermute ich.” Haruiko ist mächtiger, als die städtische Polizei und außerdem würde er hier selbst niemals einbrechen. “Man kommt bei solchen Sachen doch niemals an die Hintermänner ran und glaube mir, nachher wären wir noch die Verdächtigen, denn streng genommen hat Tai mir nicht die Erlaubnis gegeben, hier zu schlafen. Ich habe den Wohnungsschlüssel immerhin von Kari erhalten.”

“Wahrscheinlich hast du recht. Ich mache mich mal fertig für den Tag.” Sally geht Richtung Badezimmer und ich schaue wieder auf die Scherben der kaputten Teller und Tassen aus Taichis Küche. Ich fühle mich, als wäre mein Leben gerade auch ein Scherbenhaufen. Meine arrangierte Ehe, die mit jedem Tag der vergeht, aufzeigt, wie endlos dieses Gefängnis andauern könnte. Tai, meine große Liebe, der im Koma liegt und ich nicht weiß, wann und ob er wieder zu sich kommt. Die Geschichte rund um Nanami und Kaori, die mich auch extrem mitnimmt und ich plötzlich und ganz unwissend ein Verbrechen aufgedeckt habe. Das alles ist so surreal.

Es ist unheimlich, zu wissen, dass hier jemand mutwillig alles zerstört hat, alles angefasst hat, alles durchwühlt hat. Haruiko, es reicht ihm offenbar nicht aus, Tai töten zu wollen, auch jetzt noch hat Tai keine Ruhe vor ihm. Wie abartig. Ich muss heute unbedingt zu ihm. Es klingelt an der Tür und ich weiß, dass es sich nur um eine Person handeln kann. Sofort eile ich zur Türe und öffne diese. Kaori sieht mich unsicher an und neben ihr steht Joe. Er hat eine Hand zwischen ihren Schulterblättern gelegt und feixt mich wütend an. Ja, genau, stimmt, ich bin ja immer die böse. Ich. “Hi Kaori, danke, dass du gekommen bist.”

“Was wolltest du mir denn zeigen? Es klang so ernst.” Ich öffne die Türe von Tais Wohnung ganz und das Ausmaß des Einbruchs schläft unbarmherzig zu.

“Oh mein Gott”, widerfährt es Joe als erster.

“Als wir gestern nach Hause gekommen sind, war die Wohnungstüre bereits offen und na ja, so haben wir sie dann vorgefunden.”

“Wir?”, fragt Joe misstrauisch nach. Sally kommt just in dem Moment aus dem Badezimmer und winkt beiden unsicher zu. “Hi. Diese Deppen haben doch allen ernstes mein Glätteisen kaputt gemacht.”

“Sally? Du bist hier?” Joe runzelt die Stirn, als wäre sie ein Phantom oder so.

“Offensichtlich. Als würde ich Mimi in so einer Situation alleine lassen. Man sieht ja, wie gefährlich das hier alles ist.” Kaori steht immer noch vollkommen regungslos im Flur. Langsam betritt sie Tais Wohnung und sieht sich alles an. “War das …?”

“Haruiko? Davon kannst du ausgehen.” Ich gehe zu Tais Schreibtisch. “Hier war sein Laptop - weg, hier waren viele Notizen, wo alles wichtige drauf stand, was er so herausgefunden hat - weg, hier oben …” ich deute auf die nicht mehr vorhandene Pinnwand “waren Fotos und eine Art Stammbaum der Kidos - alles weg. Auch Sallys Laptop ist weg.”

“Er war sehr gründlich”, spricht Sally weiter. Joe und Kaori sehen abwechselnd zwischen Sally, mir und der verwüsteten Wohnung hin und her.

“Hast du es Joe erzählt?” Kaori schüttelt den Kopf. Okay, ich dachte, sie hätte es ihm erzählt. Auch, weil er ihr scheinbar nicht mehr von der Seite weicht. “Was erzählt? Das Haruiko ein Kind hat, dass hast du mir doch schon erzählt.”

Ich sehe zu Kaori, denn sie muss entscheiden, ob Joe die ganze Wahrheit erfahren soll oder nicht. Sie nickt mit dem Kopf. “Joe, was habe ich dir gesagt, wie deine Schwester heißt?”

“Nanami.” Sofort durchzuckt Kaori der Blitz, als sie hört, wie Joe den Namen ausspricht. Ihr ganzer Körper ist angespannt. Ob sie gleich wieder anfängt, zu singen? “Und Kaoris Schwester hieß genauso beziehungsweise heißt.” Noch ehe Joe richtig begreifen kann, was ich ihm erzählt habe, zeige ich ihm die Beweise, die er schon so lange haben wollte, sowie die Beweise, von denen er nicht mal wusste, dass sie existieren. “Aber …”

“Oh man, dafür, dass du Arzt bist, stehst du ganz schön auf dem Schlauch”, setzt Sally an. “Dein Vater und Kaoris Mutter hatten eine Affäre und daraus entstand das Kind und weil das eben nicht sein darf, musste das Kind verschwinden. Man hat es für Tot erklärt und diese Ayaka hat das Kind bis jetzt aufgezogen.”

“Ayaka Yano?” Ich nicke sofort mit dem Kopf. Von dem Kindermädchen hat Joe mir schon erzählt. Er mochte sie, sie hatten gemeinsam gebacken und sie hat ihm vieles beigebracht. “Okay, jetzt weiß ich auch, warum sie damals so plötzlich weg war.” Auch Joe sieht man an, wie geschockt er ist. Kaori steht immer noch an Ort und Stelle, aber etwas ändert sich an ihrem Blick. Irgendwie sieht sie entschlossener aus. “Das muss ein Ende haben. Ein für alle mal. Joe …” Kaori dreht sich zu Joe um und sieht ihn eindringlich an. “Wir müssen deinen Vater endlich aufhalten. Er kennt keine Skrupel. Ich weiß, es wird den Ruf deiner Familie zerstören, genauso wie meine Familie auch, aber das ist egal. Wir dürfen dieses grausame Verbrechen nicht einfach so hinnehmen.” Joe nickt schließlich mit dem Kopf. “Du hattest Recht, Mimi, mit allem. Entschuldige, bitte.” Ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll, denn wenn ich ehrlich bin, ist das alles nichts, was ich gern herausgefunden habe. Es ist grausam. Ein Verbrechen. Und ein gewaltiges dazu. Zu welchen Abgründen ein Mensch fähig ist, zeigt sich wohl erst dann, wenn ein Mensch mit dem Rücken an der Wand steht und keine Hoffnung mehr kennt. “Auch deine Theorie um Tai. Vater hat es zugegeben. Er wollte ihn beseitigen.” Jetzt reiße ich die Augen erschrocken auf. Ich meine, ich wusste es, aber es so zu hören, macht mich so rasend. Wo hat dieser Mensch seine Grenze? Hat er überhaupt eine? Wie weit ist er noch bereit zu gehen, um zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt. “Er hat auch mir gedroht.”

“Was? Womit?” Kaori sieht ihn gleich erschrocken, aber auch mitfühlend an.

“Damit, dass ich nie wieder irgendwo als Arzt arbeiten dürfte, wenn ich Mimi nicht doch heirate und das alles rund um Tai vergesse.” Ich schlucke einen gigantischen Kloß im Hals runter. Langsam setzen sich alle Puzzleteile zusammen und sollte Kaori je Zweifel an allem gehabt haben, was ich gesagt und gezeigt habe, so hat sich das jetzt eindeutig erledigt. “Also, ich habe überhaupt kein Problem damit, meinen Vater zur Strecke zu bringen. Ich will ohnehin kein Kido mehr sein, wenn das alles raus kommt. Das ist kein Name mehr, auf den ich stolz bin.”

“Wow Joe, es tut mir leid. Offenbar macht Haruiko nicht mal vor seinen eigenen Söhnen halt.” Haruiko muss wissen, dass ihm das Wasser bis zum Halse steht. Deswegen ist er auch hier in diese Wohnung gewaltsam eingedrungen und das zeigt wieder einmal, wie gefährlich er ist. “Kaori, du bist dir auch sicher?” Kaori beißt sich auf die Unterlippe. Sie fängt an, an ihren Fingernägeln zu knabbern. “Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich bin heute kein kleines Kind mehr und mein Vater kann mich niemanden mehr wegnehmen. Ich glaube sogar, meine Mutter würde endlich ihre Erlösung finden, denn sie würde nochmal eine zweite Chance bekommen, Na-Na …” Kaori bricht ab. Der Name bedeutet immer noch Schmerz und Kummer für sie. “Na ja, sie kennenzulernen und ich möchte endlich die ganze Wahrheit hören. Ich will wissen, was Haruiko meiner Mutter angetan hat und ich will, dass mein Vater ihn fertig macht und zwar so richtig, denn das ist es, wovor er Angst hat, dass ist seine Schwachstelle und genau da müssen wir ihn zu fassen bekommen.” Ich glaube es nicht, Kaori ist so stark. Ich überwinde die kurze Distanz zwischen uns und umarme sie. “Ich danke dir.” Kaori erwidert die Umarmung, drückt mich dann aber von sich weg und sieht mich eindringlich an. “Ich möchte sie vorher kennenlernen. Ich muss sie sehen. Live und in Farbe. Ich will wissen, wie es ihr geht und wie es ihr ergangen ist.” Ich nicke mit dem Kopf und nehme ihre Hände in meine. Ich kann sie gut verstehen. Denn die ganze Zeit, frage ich mich nichts anderes. “Okay.”

“Aber das wird sicher nicht so einfach” sagt Sally und zieht ihre Stirn kraus. Auch ich nicke. “Die Villa wird sicher streng überwacht. Jetzt mehr denn je. Nanami verlässt nie das Haus. Na ja, außer Cupcake läuft wieder mal weg.”

“Cupcake?” Joe sichtet wieder die Unterlagen und zeigt auf das Foto mit Nanami und der Katze. “Ihr Kater.”

“Ja, so sind wir mit ihr das erste Mal ins Gespräch gekommen. Cupcake kam von einem Baum nicht runter und Tai hat den Kater gerettet, dann hat sie mich entdeckt, aus den Medien und wir haben uns unterhalten. Sie war sehr schüchtern, aber freundlich.”

“Gut, das wird aber nicht nochmal möglich sein”, überlegt Kaori.

“Nein, denke ich auch nicht.” Ich überlege, wir müssten irgendwie in die Villa kommen und da kommt mir doch glatt eine Idee.

“Du Sally, hat Davis eigentlich einen Lieferservice?”

Sally grinst. “Keine Ahnung, aber für uns würde er sicher eine Ausnahme machen.”

“Also das denke ich auch.”

“Mimi? Was hast du für einen Plan?”, hakt Joe vorsichtig nach.

“Na ja, ich bin Stylistin. Ich werde Kaori und mich umstylen, so dass wir nicht zu erkennen sind und liefern Davis sein Essen an die Villa aus. Wir behaupten, Nanami hätte das Essen bestellt.” Kaori klatscht begeistert in die Hände. Sie scheint meinen Vorschlag gut zu finden. “Oh ja, das machen wir.”

“Also ich weiß nicht, ob das funktioniert.” Joe bleibt pessimistisch. “Aber wir können es doch wenigstens versuchen, oder?” Kaori sieht ihn fehlend an und schließlich willigt Joe ein. “Seid vorsichtig, denn ich befürchte, wir alle stehen auch schon auf der roten Liste.” Damit könnte Joe Recht haben. Ich war Haruiko doch schon von Anfang an, ein Dorn im Auge. Er hatte mich unterschätzt und als er dachte, er konnte mich nicht mehr loswerden, musste er sich was anderes einfallen lassen. “Ich werde in die Klinik gehen und ihn dort etwas im Auge behalten. Ihr haltet mich auf dem Laufenden.”

“Das werden wir machen”, versichert Kaori ihm. “Und ich werde gleich mal Davis anrufen”, kichert Sally und wählt auch schon seine Nummer und dreht sich weg. Seit wann hat Sally Davis seine Handynummer? Ich überlege fieberhaft, wie wir nun an Perücken kommen könnten. “Kaori, kennst du einen guten Perückenladen?” Kaori lächelt mich an und nickt. Perfekt. Unser Plan nimmt langsam immer mehr Gestalt an. “Aber bevor wir das machen, können wir noch zusammen Tais Wohnung aufräumen?” So kann es hier nicht weiter aussehen.

“Na klar”, stimmt Kaori mir zu. “Wie heißt es so schön? Viele Hände, schnelles Ende.”

“Ja, ich muss leider los, aber in Gedanken bin ich echt voll bei euch.” Kaori und ich verschränken unsere Arme und sehen Joe herausfordernd an. “Mach, dass du weg kommst”, grinse ich.

“Und Joe, kannst du bitte, bitte ein Auge auf Tai haben? Er kann sich doch gar nicht wehren.” Ich sehe, dass Joe nach wie vor verletzt ist und es ist klar, dass er uns trotz allem nicht verzeihen wird, aber Tai darf nicht sterben. Das würde sich Joe selbst niemals verzeihen. “Ich werde zwischendurch nach ihm sehen, aber ich habe auch Sprechstunde.”

“Ich weiß, danke. Ich werde nachher auch Kari fragen, ob sie da ist und vielleicht schaffe ich es auch ins Krankenhaus.” Ich war gestern schon nicht da und ich will ihn sehen. Er fehlt mir. “Macht aber noch von allen Fotos, also bevor ihr alles aufräumt.” Das ist eine gute Idee. Vielleicht können diese Fotos später immer noch als Beweismaterial gebraucht werden.
 

Bevor Kaori und ich uns nachher verkleiden und zur Villa von Ayaka und Nanami gehen, bin ich bei Tai

im Krankenhaus. Kari sagte mir, dass es eine Stunde gibt, wo niemand bei ihm sein kann. Eine Stunde. Sechzig Minuten. Zu viel Zeit, um für einen Arzt dafür zu sorgen, dass Tai nie wieder aufwacht. Das Risiko ist mir zu hoch. Jetzt wo ich wirklich alles weiß. Na ja, fast alles. Ich weiß nicht zu 100% wie es damals abgelaufen ist, aber sicher werden wir das auch bald erfahren. Vorhin habe ich Yuuko abgelöst. Sie musste ein paar Besorgungen erledigen und kurz zu sich in die Wohnung. Sie hat mir gesagt, dass der behandelnde Arzt heute morgen bei der Visite erzählt hat, dass Tai wieder Augenbewegungen wahrnimmt und auf Stimmen anfängt, mit einer erhöhten Herzfrequenz zu reagieren. Ich bin sicher, dass Tai bald aufwachen wird. Ich spüre richtig, wie er darum kämpft. Kari würde ab Mittags kommen, um mich abzulösen. Sie versteht nicht so ganz, warum ich nicht will, dass Tai keine Sekunde alleine sein kann, aber wie soll ich ihr erklären, warum, ohne sie auch noch in Gefahr zu bringen? Jetzt sitze ich an Tais Bett und erzähle ihm ein bisschen was. “Na ja, auf jeden Fall, sollst du wissen, dass ich nicht aufgebe. Ich kämpfe weiter und ich bin auch nicht alleine. Du musst dir also keine Sorgen um mich machen, ja? Werde du einfach nur wieder gesund und wache auf.”

Ich vermisse ihn. Immer. In jeder einzelnen Sekunde und sogar an seiner Seite. Wer hätte schon gedacht, dass man jemanden vermissen kann, neben dem man sitzt und dessen Hand man hält? Tais Anblick schmerzt immer noch. Immer noch kein Leben in ihm. Kein echtes. Auch wenn ich auf den Monitor starre, während ich seine Hand halte. Es sind jetzt schon sechs Tage wo er in diesem Zustand ist und mit jedem Tag der vergeht, schwindet die Hoffnung, dass er aufwacht und wieder gesund wird. Ich schüttle den Kopf, nein, so darf ich nicht denken. Er wird aufwachen und gesund werden. Er muss einfach. Immerhin sprechen die Ärzte jetzt wohl von einem Wachkoma, weil Taichis Körper Reaktionen zeigen und das ist was gutes. Ein Schritt in die richtige Richtung. Ich streichel über seine Wange, die warm ist und lächel ihn an. Ja, er ist da. Irgendwo da drin. “Ich weiß, dass du zu mir zurückkehren wirst. Ich glaube an dich, sowie ich es immer getan habe.” Ich beuge mich vor und küsse seine Wange. Die Türe öffnet sich und Haruiko steht im Krankenzimmer. Oh Gott, ich starre ihn mit großen Augen an und ich bin ehrlich, ich habe Angst und offenbar fängt mein Körper an, mich zu verraten, denn ich beginne zu zittern. Verdammter Mist, beruhige dich Mimi. Er weiß nicht, dass du es weißt und du darfst dir absolut nichts anmerken lassen. “Mimi? Du hier? Es ist nur noch eine Woche bis zur Hochzeit. Hast du nichts anderes zu tun?”

“Ähm ich … also, doch, deswegen habe ich auch nachher einen Termin bei einem Hairstylistin um meine Brautfrisur zu besprechen.” Gut, Mimi. Haruiko geht um Taichi Bett und steht auf der anderen Seite des Bettes und mir gegenüber. “Gut.” Er sieht zu Tai rüber. “Seine Werte sind stabil. Er zeigt wohl Pupillenreaktionen.” Ich nicke jedoch nur. Ich konnte ihm schon mal mehr die Stirn bieten, aber jetzt fühle ich mich ganz klein und hilflos. Haruiko wendet sich ab und will das Zimmer verlassen, als er zu mir rüberkommt und vor mir stehen bleibt. Er blickt mich an, als wäre ich ein Kaninchen und er die Schlange. “Ich habe von der Affäre erfahren.” Ich schlucke, denn seine Stimme klingt bedrohlich und ich befürchte, jetzt bekomme ich mein Fett weg. “Dir ist doch klar, dass ich so etwas in unserer Familie nicht dulde. Du wirst diesen Jungen nicht wiedersehen."

“Aber … ich…”

“Hörst du schlecht?”

“Nein.”

“Du brauchst ihn auch hier nicht mehr zu besuchen. Ich werde dich sonst einfach rausschmeißen lassen, ist das klar?” Langsam nicke ich mit dem Kopf und ich weigere mich, jetzt in Tränen auszubrechen. “Dann raus hier.”

Aber Kari ist noch nicht hier und ich lasse Tai auf keinen Fall alleine mit Haruiko in diesem Zimmer. “Ich würde mich gerne noch verabschieden. Alleine.” Wow, ich muss größenwahnsinnig sein, doch Haruiko grinst nur. “Du kannst es einfach nicht lassen. Immer noch ein kleines bisschen mehr. Immer noch gucken, wie weit du gehen kannst. Dabei habe ich dir deine Grenze doch gerade klar und deutlich aufgezeigt.” Die Türe öffnet sich erneut und Gott sei Dank kommt Kari in diesem Moment zur Türe rein. “Hey, oh hallo Dr. Kido.” Kari verbeugt sich vor dem Professor und er lächelt Kari an, als wäre sie ein persönlicher Engel und nicht wie ich der Teufel höchstpersönlich. “Kari, wie schön dich zu sehen. Deinem Bruder geht es soweit gut und ich wollte gerade Mimi hinaus begleiten.” Haruiko blickt zu mir. Ich nicke nur und lächle gezwungen. “Ja, ich muss jetzt zum Hairstylistin wegen der Hochzeit.”

“Ach, wie aufregend. Ich bin schon so gespannt, wie du aussehen wirst.” Entweder spielt Kari gerade echt gut mit oder sie glaubt wirklich, dass mir die Hochzeit mit Joe irgendwas bedeutet. “Danke.” Tatsächlich begleitet mich Haruiko nach draußen und bevor er noch irgendwas sagen kann, steht auch schon Joe vor uns und fragt sein Vater irgendwas medizinisches. Danke, halte durch Tai, wenn wir jetzt etwas Glück haben, hat all das bald ein Ende.
 

Wir stehen mit frischen und dampfenden Essen vor der Villa von Ayaka Yano und Nanami. Wir haben uns schnell in einem Copy Shop Davis sein Logo auf zwei einfache weiße Shirts Printen lassen. Kaori hat zusätzlich noch eine lange, weite Strickjacke in rot an, die somit auch ihren kleinen Babybauch vertuschen soll. Kaoris Haare sind zu einem Dutt hochgesteckt und sie trägt eine rote Perücke, dazu habe ich sie geschminkt, aber ganz anders als sie gewöhnlich aussieht. Ich habe ihr sogar ein paar Sommersprossen verpasst und man erkennt Kaori wirklich überhaupt nicht wieder. Ich habe mir selbst eine blonde Perücke mit einer Kurzhaarfrisur ausgeliehen, sowie eine Brille ohne Stärke auf die Nase gesetzt. Meine Haare gehen gerade bis zur Schulter und ich würde behaupten, man erkennt mich auch nicht. Ich halte eine große Tüte in den Händen mit Davis seinem Essen. Auch auf den Tüten ist das Logo von Davis seinem Restaurant zu erkennen. Kaori trägt ein Getränk und man merkt, dass sie wirklich sehr nervös ist, aber sie macht es gut. Wir blicken uns an, kurz bevor wir klingeln. “Bereit?” Kaori nickt. Ich erkenne wieder denselben entschlossenen Gesichtsausdruck, wie vorhin in Tais Wohnung. Ich bin richtig stolz auf sie. Kaori klingelt. Es dauert eine Weile, bis jemand auf das Klingeln reagiert. “Was jetzt?”, flüstert Kaori.

“Wir warten noch.” Kaori klingelt nochmal.

“Wer ist da?” Das ist Ayakas Stimme. Keine Begrüßung, kein freundliches Wort.

“Wir bringen ihre Essensbestellung”, antworte ich und versuche dabei ein wenig meine Stimme zu verstellen. Auch wenn Ayaka meine Stimme gar nicht kennt. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Haruiko auch hier Kameras hat und diese überprüft und er kennt meine Stimme. “Wir haben kein Essen bestellt. Verschwinden Sie.” Und weg ist sie. Verdammt. Kaori klingelt nochmal. Okay, sie will unbedingt Nanami kennenlernen. “Sie sollen doch verschwinden!”

“Hier hat jemand mit dem Namen Nanami zwei Gerichte bestellt und jemand wird uns jetzt bezahlen oder wir müssen leider die Polizei rufen und sie Anzeigen beziehungsweise die Person, die die Bestellung aufgegeben hat.” Perplex starre ich Kaori an. Sie hat gerade mit fester und überzeugter Stimme den Namen Nanami ausgesprochen und sie hat kein Zweifel daran gelassen, dass dieses Essen tatsächlich von Nanami bestellt wurde und selbstverständlich kann sich Ayaka nicht mit der Polizei rumärgern, denn offiziell gibt es Nanami nicht. “Schon gut, dann kommen Sie eben durch und liefern diese blöde Essen aus.” Kaori und ich Grinsen uns an und tatsächlich öffnet sich das Tor. Es erinnert mich irgendwie an längst vergangene Zeiten. Wie eine alte Burg, wo die Prinzessin hoch oben im Turm versteckt wird. Selbst vor den meisten Fenstern sind Gitterstäbe. Es ist wirklich ein Gefängnis. Ich bekomme Gänsehaut. Wir haben es bis ins Foyer geschafft und Ayaka kommt mit ihrem Portmonee auf uns zu. “Was schulde ich ihnen?”

“Das macht 3120 Yen”, antworte ich. Sie überreicht Kaori das Geld und ich ihr die Essensbestellung. “Wir wünschen Ihnen einen guten Appetit.”

“Wir sind dann fertig. Verschwinden sie wieder.”

“Ja, es gibt da nur noch eine Sache. Sie haben sich mal mit meinem Freund getroffen Taichi Yagami und er liegt jetzt im Koma und ich muss in acht Tagen Joe heiraten und das will und werde ich nicht, deswegen sind wir hier, weil wir es wissen und zwar alles.”

Ayaka verzieht keine Miene. “Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.”

“Von Nanami und Haruiko oder auch von Nanami und Misaki. Das können Sie sich jetzt aussuchen.”

“Ja oder auch das Totgelaubte Kind, welches laut Anzeige ein paar Tage nach der Geburt verstorben ist, welches aber gar nicht verstorben ist… also über all diese Dinge”, führt Kaori diesen Satz zuende. “Sie verschwinden auf der Stelle von hier oder sie werden ihrem Freund Taichi bald Gesellschaft leisten. Wissen Sie denn nicht wie ernst alles ist?”

“Und wissen sie nicht, mit wem Sie es hier zu tun haben?” Kaori legt ihre Perücke ab. “Ich bin Kaori Kido, ehemals Minamoto. Nanami ist meine Schwester und ich werde dieses Verbrechen nicht verschleiern. Also entweder koorperien Sie jetzt Ayaka Yano oder mein Vater Dr. Kaito Minamoto wird auch Sie persönlich zur Rechenschaft ziehen. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?” Wow, ich bin baff. Es war sowas von richtig, zu Kaori zu gehen. Wie selbstbewusst und stark sie ist. Sie zeigt überhaupt keine Angst. Wann hat sie diese Stärke gewonnen? Ayaka erkennt, dass sie auf verlorenem Posten steht und willigt schließlich ein. “Nun gut, folgen Sie mir.” Ayaka geht vor und wir betreten das große Wohnzimmer. Es ist klassisch und zeitlos eingerichtet. Mit braunen Möbeln, sehr rustikal und doch Hochwertig. Unter einer großen Fensterfront steht ein schwarzes Piano. Es scheinen sonst keine Menschen hier zu sein. Keine Bediensteten. Nur Ayaka und Nanami. Wo ist sie? “Wo ist Nanami?”, frage ich schließlich und sehe mich nach ihr um.

“Ich würde ihnen gerne erst etwas erzählen, bevor ich Nanami rufe.” Kaori und ich setzten uns hin. Sie bietet uns Tee an, aber ich befürchte er könnte vergiftet sein und beschließe, hier überhaupt nichts zu trinken. Kaori lässt auch alles unberührt. “Ich habe damals von all dem nichts gewusst. Eines Tages kam der Professor zu mir. Er wirkte verängstigt, aber auch irgendwie … kalt. Ich weiß es nicht, er meinte, er hätte eine Tochter bekommen. Ich war sehr irritiert, denn ich wusste das Frau Kido nicht schwanger war.” Ayaka schüttet sich selbst von dem grünen Tee ein und trinkt einen kleinen Schluck daraus. “Er sagte, dass seine Tochter in großer Gefahr schweben wird und sie sterben würde, wenn ich ihr nicht helfen würde.” Kaori und ich blicken uns an. Hatte er sich etwa wirklich um sie gesorgt? “Er hat mir nie irgendwelche Details verraten und ich habe auch nicht gefragt. Dazu hatte ich kein Recht. Ich wusste bis heute nicht, wer die leibliche Mutter des Kindes ist.”

“Aber waren sie denn nicht neugierig?” Also, ich würde doch nicht einfach ein Kind aufnehmen, ohne den genauen Hintergrund zu kennen. “Na ja, der Professor wusste, dass ich selbst keine Kinder bekommen kann, dies aber mein sehnlichster Wunsch war und ich somit die Chance hätte, ein Kind zu bekommen. Er versprach sich immer gut um uns zu sorgen. Er hat die Villa für uns gekauft, wir sind eingezogen und ja, ich habe sehr viel Geld bekommen.” Also doch Bestechung. Und doch ist da mehr dahinter. Ayaka war eine einsame Frau, die sich eine eigene Familie gewünscht hatte. “Erst als ich dann den Vertrag gelesen habe, wurde mir klar, dass das hier wirklich was Großes ist. Stillschweigen. Nanami durfte nur Privatunterricht erhalten. Sie darf die Villa niemals und unter keinen Umständen verlassen. Keine Freunde, keine soziales Leben. Ich wusste, ich sollte dieses Kind im Grunde nur verstecken und doch hatte ich Angst, dass wenn ich es nicht tue, ihr sonst ein schrecklicheres Schicksal bevorstehen würde. Also unterschrieb ich und zog mit Nanami hier ein.” Ich beschließe mir nun doch auch aus der Kanne etwas Tee einzuschenken und mit etwas Zucker zu süßen. “Wie ging es weiter?”

“Na ja, ich wollte dieses kleine Wesen unbedingt beschützen, was jedoch auch bedeutete, dass auch mein Leben sich komplett veränderte. Auch ich durfte nur nach Antrag die Villa verlassen. Musste alle Einkäufe dem Professor vorzeigen. Auch meine Freundschaften musste ich aufgeben und meine Familie habe ich nicht wieder gesehen.” Puh, das ist wirklich mies und ein großes Opfer, welches Ayaka auf sich genommen hat. Frau Yano hat das alles für Nanami gemacht, weil sie sie wirklich liebt, weil eine Mutter wohl eben alles für ihr Kind tun würde.

“War der Professor jemals hier, um nach seinem Kind zu sehen?”

“Nein.” Warum auch, warum sollte ihm überhaupt irgendwas und irgendwer was bedeuten. “Er hat sich am Anfang sporadisch erkundigt und nachher eine Art Jahresbericht erhalten, wie sie sich so entwickelt hat und wie sie aussieht.”

“Sie sagten doch, dass sie die Villa nicht verlassen durften, aber Tai hat sie gesehen. Zusammen, auf dem Tanabata Fest.” Ayaka nickt und sieht sehr nachdenklich aus. “Als Nanami klein war, hat sie vieles einfach akzeptiert. Sie kannte ja nichts anderes, aber ihr Wunsch die Villa zu verlassen wuchs mit jedem Jahr. Sie liebt die Geschichte rund um Tanabata und so hatten wir den Kompromiss, dass wir einmal im Jahr die Villa verlassen, um Tanabata zu feiern. Natürlich weiß der Professor nichts davon. Sie war an dem Tag immer so glücklich. Schon Wochen vorher und es war natürlich das Highlight. Woher wissen Sie, dass sie Nanami heißt?”

“Nanami hat auf dem Sternenfest ihr Taschentuch verloren und Tai hat es gefunden. Mit diesem Taschentuch hatten wir den ultimativen Beweis in den Händen gehabt.”

“Ihr Freund hat gute Arbeit geleistet. Es hätte mir klar sein müssen, das er nicht so einfach aufgibt. Ich hatte ihren Freund gewarnt.” Ayaka sieht mich an, als würde sie mich erkennen. “Er wollte sie beschützen.”

“Ich weiß und jetzt ist es an mir, ihn zu beschützen.” Das bin ich ihm schuldig und noch so viel mehr.

“Und hat sich meine Mutter hier niemals blicken lassen?”, fragt Kaori nach und spielt mit ihrer Perücke. “Nein, wie gesagt, ich wusste nicht, wer die leibliche Mutter ist, aber jetzt wo sie hier sitzen. Wow, diese Ähnlichkeit. Sie sind doch mit Jim Kido verheiratet, nicht wahr?” Kaori nickt, ach ja, Jim, den Vogel gibt's ja auch noch. Wo ist der eigentlich die ganze Zeit? Auch im Krankenhaus habe ich ihn nie gesehen. Kaori hat auch nicht wirklich was über ihn erzählt. Komisch.

“Nun gut, war das alles was sie erzählen wollten? Ansonsten würde ich jetzt gerne meine Schwester sehen.” Nach wie vor ist sie fest entschlossen, aber ich merke, es ist für Ayaka auch nicht einfach. “Für Nanami sind Sie ihre Mutter, nicht wahr?” Ayaka nickt. “Ich habe ihr das alles nie erzählt. Bitte, erzählt ihr noch nicht alles. Sie hat doch immer nur mich gehabt und sie soll es von mir in Ruhe erfahren. Bitte.” Ich lege eine Hand auf Kaoris Schulter, denn ich spüre, dass es ihr schwerfällt, auf Ayakas Vorschlag einzugehen und ich kann sie verstehen. Kaori hatte auch keine Chance bekommen. Sie musste auch den härteren Weg gehen, aber es gibt in dieser Geschichte nur Opfer und Nanami muss nicht heute wissen, wer genau wir sind. “Okay”, antworte ich schließlich. Kaori blickt sofort zu mir, als würde sie Widerspruch einlegen, aber ich lege meine Hand auf ihren Bauch. “Eine jede Mutter tut immer nur das Beste für ihr Kind. Genauso wie du. Du hast heute so viel Stärke bewiesen, wie ich sie noch nie bei dir gesehen habe und wenn du dich schon so stark für deine Schwester machst, wie wird es erst bei deinem Kind sein.” Kaori lächelt mich an und legt ebenfalls ihre Hand auf ihren Bauch. “Nanami wird die Wahrheit erfahren, aber es muss nicht heute sein und nicht durch uns. Frau Yano wird eine Frist von uns bekommen und an diese hat sie sich zu halten.” Ich blicke von Kaori zu Ayaka und sie nickt sofort mit dem Kopf. “Selbstverständlich.”

“Okay, Sie haben unser Wort, dann rufen Sie jetzt Nanami.” Ich bin so gespannt, wie das Aufeinandertreffen zwischen Kaori und Nanami laufen wird. Wird man spüren, dass sie etwas verbindet? Ich halte ihre Hand, denn ich spüre, dass Kaori wahnsinnig nervös ist. Ayaka steht auf und geht in den Flur.

“Nanami, liebes, kommst du bitte? Es gibt was leckeres zu Essen.”

Mimi
 

„Was ist denn, Mama? Es ist doch noch viel zu früh für Abendessen“, hören wir Nanami aus dem Flur rufen. Beim Klang ihrer Stimme, drückt Kaori meine Hand und zieht scharf die Luft ein. Ihr Blick ist erwartungsvoll auf die geöffnete Tür gerichtet.

„Es ist alles gut, Kaori. Du schaffst das“, flüstere ich und sie nickt schwach.

„Das stimmt, aber wir haben Besuch“, erwidert Ayaka.

„Besuch? Aber wir haben nie …“ Nanami betritt das Wohnzimmer und bleibt abrupt stehen, als sie uns sieht. Kurz wirkt sie etwas zerstreut und kann sich keinen Reim darauf machen, warum zwei Fremde bei ihr zu Hause sitzen. Doch dann erhellt sich ihr Gesicht.

„Bist du nicht Mimi?“

„Ja“, sage ich lächelnd. „Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schaue mal nach, ob es Cupcake gut geht.“

Nanami kichert und freut sich offensichtlich mich zu sehen. „Ihm geht es gut, er schläft gerade.“

„Wunderbar. Ist er auch nicht noch mal weggelaufen?“

Nanami schüttelt den Kopf. „Nein, zum Glück nicht. Wer ist das?“

Ihre Augen wandern zu Kaori, die sich sofort anspannt. Wie gebannt fixiert ihr Blick das dunkelhaarige Mädchen, das vor uns steht. Nanami ist etwas kleiner als Kaori und natürlich deutlich jünger. Sie trägt ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz und hat eine Brille. Schon beim ersten Mal ist mir die Ähnlichkeit zu Joe direkt aufgefallen, aber heute sehe ich auch Kaori in ihr. Es ist verblüffend.

Kaori, die Nanami immer noch wie einen Geist anstarrt, schluckt. „Ähm, hallo. Ich bin eine Freundin von Mimi.“

„Das ist Kaori. Ehrlichgesagt waren wir gerade in der Nähe. Und oh … wir haben Essen mitgebracht. Meine Mutter sagt immer: komm nie mit leeren Händen, wenn du irgendwo zu Besuch bist.“ Fröhlich deute ich auf die heißen Suppenschalen vor uns.

Nanami sieht auf das Essen, welches noch eingepackt auf dem Tisch steht und dann wieder zu uns. Eine ihrer Augenbrauen wandert in die Höhe. „Arbeitet ihr etwa für einen Lieferdienst?“

Mit dem Finger deutet sie auf unsere T-Shirts. Gut kombiniert. Wahrscheinlich ist sie genauso schlau wie Joe.

Ich winke lachend ab. „Nur etwas Werbung für einen Freund, der ein Restaurant betreibt.“

„Nanami, Liebes, biete unseren Gästen doch schon mal einen Sitzplatz am Esstisch an, solange ich Schüsseln und Stäbchen hole“, schlägt Ayaka vor und nimmt das eingepackte Essen vom Tisch, um damit in die Küche zu gehen.

„Ja, natürlich.“ Nanami verbeugt sich leicht. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“

Sie ist wirklich sehr höflich, das muss man ihr lassen. Sie scheint eine ausgezeichnete Erziehung genossen zu haben, wie Kaori.

Sie führt uns in einen angrenzenden Raum, mit einem großen, langen Tisch, an dem 12 Stühle stehen. Überall auf den Kommoden und Schränken stehen frische Blumen in edlen Vasen und hier und da auch ein Familienfoto von Ayaka und Nanami. Mir fällt auf, wie Kaori unbewusst stehen bleiben und sie sich ansehen will, aber ich schiebe sie schnell weiter, damit es nicht zu auffällig ist.

Nanami weist uns einen Platz zu und setzt sich uns dann gegenüber. Ich schaue mir die restlichen neun Stühle an und finde es schon wieder traurig. Dieses Haus könnte gefüllt sein mit Leben. Vielen Menschen, die darin wohnen und gemeinsam lachen und zu Abend essen. Stattdessen ist es ein viel zu großes Gefängnis, welches einem immer wieder vor Augen führt, wie einsam und leer es doch hier ist.

Eine unangenehme Stille tritt zwischen uns und keiner weiß so recht, was er sagen soll. Kaori schaut immer wieder zu Nanami, der der viele Blickkontakt offenbar schon etwas unangenehm ist, denn immer, wenn Kaori sie mustert, sieht sie in eine andere Richtung.

Ayaka kommt in den Raum und stellt ein Tablett mit vier großen Schüsseln Nudelsuppe vor uns ab. Sie hat sie umgefüllt und reicht nun jeder von uns eine. Ein herrlicher Duft erfüllt den Raum und mein Magen beginnt zu knurren.

„Ach herrje, ich habe das Wasser vergessen. Bin gleich wieder da“, sagt sie und eilt noch mal aus dem Raum. Nanami sieht ihrer Mutter zweifelnd hinterher.

„Alles in Ordnung?“, erkundige ich mich und sie grinst unsicher.

„Ich finde es nur etwas komisch. Mama lässt sonst nie Fremde ins Haus. Aber ich will mich nicht beschweren. Ich finde es toll, dass du … äh, dass ihr da seid.“ Sie schenkt uns ein schüchternes Lächeln. Sie wirkt gar nicht so recht wie eine 17-Jährige auf mich. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich war, als ich in ihrem Alter war – frech, laut, provokant. Nanami ist nichts von alledem. Sie ist ruhig, fast schon scheu. Als wäre sie immer noch ein kleines Mädchen und gar nicht eine fast erwachsene Frau.

Ayaka kommt mit vier Gläsern und einem Wasserkrug zurück und schenkt allen von uns etwas ein. Danach setzt sie sich und wir beginnen gemeinsam zu essen.

Ayaka sieht uns immer wieder fragend an, weil sie wohl erwartet hat, dass wir Nanami sofort überfallen und mit Fragen löchern, aber nichts davon passiert. Stattdessen sieht Kaori sie nur immer wieder an, betrachtet sie eingehend und studiert ihr Gesicht wie ein Kunstwerk.

Ich lächle unauffällig und finde es irgendwie schön. Vermutlich ist das gerade alles, was sie braucht. Bis gestern wusste sie ja nicht mal, dass Nanami existiert und jetzt sitzt sie leibhaftig vor ihr. Das muss sie vermutlich erst mal sacken lassen.

„Erzähl mal, Nanami“, beginne ich ein Gespräch. Fragend sieht Nanami zu mir auf. „Du gehst doch sicher noch zur Schule, oder?“

Es ist nur kurz, aber mir entgeht das traurige Lächeln, welches Nanami für den Bruchteil einer Sekunde übers Gesicht huscht, nicht.

„Ich nehme Privatunterricht, aber nächstes Jahr schreibe ich meine Prüfungen an einer öffentlichen Schule im Ausland, um meinen Abschluss zu bekommen.“

„Warum im Ausland?“, will ich wissen und merke, wie Ayaka mir einen warnenden Blick zuwirft, nur nicht zu viele Fragen zu stellen.

„Na ja, Mama hat es vorgeschlagen.“ Nanami zuckt mit den Schultern. „Ich muss die Prüfung sowieso an einer staatlichen Schule ablegen, sonst zählt der Abschluss nicht. Und da ich sehr bewandert in Französisch bin, dachte Mama, dass ich vielleicht mein letztes Schuljahr dort verbringen könnte und dann da meinen Abschluss mache.“

Meine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen.

Natürlich – die Zeit wird knapp, Haruiko. Nanami ist bald erwachsen und wird studieren wollen. Danach möchte sie arbeiten. Sie wird nicht ewig ein Kind bleiben und sich nicht für immer einsperren lassen. Deshalb muss sie weg, sobald sie erwachsen wird und zwar so weit weg, wie möglich.

Du elender Teufel. Vermutlich würde Ayaka ihre Tochter dann dazu überreden, gleich in Frankreich zu bleiben und da zu studieren. Warum auch nicht? Ayaka hat selbst gesagt, dass sie keine Familie mehr hier hat, hier hält sie also nichts und Nanami auch nicht.

Wow. Mir wird gerade bewusst, dass es in ein paar Monaten vermutlich unmöglich gewesen wäre, Nanami jemals zu finden. Sie wäre einfach weg gewesen und wir hätten keine Chance gehabt, sie je ausfindig zu machen.

Was für ein grandioser Plan, Haruiko.

Nur zu dumm, dass er nicht aufgehen wird.

„Wow, das klingt fantastisch“, sagt Kaori und Nanami sieht gleich zu ihr. Das ist das erste Mal, dass sie ihre Stimme erhebt. „J’aime la France. Du musst dir unbedingt den Louvre anschauen, wenn du dort bist.“

Nanami nickt begeistert. „Ja, das habe ich vor. Ich interessiere mich sehr für Kunst und Geschichte.“

„So? Was möchtest du denn mal werden?“, frage ich neugierig und erwarte schon, dass sie „Ärztin“ sagt, weil das ja bei allen Kidos so ist. Aber stattdessen sagt sie: „Ich bin mir noch nicht sicher, aber Architektur finde ich interessant.“

Kaori verschluckt sich an ihrem Essen und klopft sich hustend auf die Brust. Sie greift nach ihrem Glas und trinkt schnell einen Schluck davon. „Architektur?“

Auch ich sehe Nanami erstaunt an. Wenn ich mich recht erinnere, hat Kaori das früher mal studiert, als sie noch mit Tai zusammen an einer Uni war.

Nanami nickt wieder. „Ja, wie ich sagte, finde ich Kunst und Geschichte sehr interessant. Und ich dachte, dass sich das in der Architektur ganz gut miteinander vereinen lässt. Alte Gebäude aus der Renaissance finde ich besonders spannend. Für mich sind es künstlerische Meisterwerke. Denkt nur mal an die Kathedrale von Florenz. So etwas ist doch einmalig. Faszinierend.“

Sie gerät richtig ins Schwärmen und ich muss fast schon Schmunzeln, weil ich absolut Joe in ihr wiedererkenne. Ein klein wenig spießig, aber sehr gebildet.

„Das sind tolle Pläne“, sagt Kaori, die offenbar ihre Stimme wiedergefunden hat. „Ich habe selbst mal Architektur studiert, später dann Innenarchitektur. Es ist sehr umfangreich und anspruchsvoll. Du musst viel lernen, damit du gute Noten schreibst.“

„Ich weiß, ich strenge mich an.“

„Das tut sie“, wirft Ayaka nun ein. „Nanami ist sehr zielstrebig und lernt schnell. Sie ist wirklich ein schlaues Mädchen.“

„Ja“, sage ich und schaue wieder zu Nanami. „Das merkt man.“

Sie schlürft genüsslich ihre Suppe und ihre Wangen werden dabei ganz rot von der Wärme der Brühe. „Hmm, einfach köstlich“, schwärmt sie, als sie fertig ist. „Kannst du das bitte auch mal kochen, Mama?“

Ayaka lacht. „Du weißt, ich kann gut kochen, mein Schatz. Aber ich denke, so gut kriege ich es nicht hin. Die Suppe war wirklich außerordentlich lecker.“

„Danke“, sage ich. „Davis, ein Freund von mir, hat sie gekocht. Wenn du möchtest, bringe ich dir bald mal wieder eine vorbei“, schlage ich vor und Nanami lächelt zufrieden.

„Ja, das würde mir gefallen.“

„Hast du denn sonst irgendwelche Hobbys?“, fragt Kaori und lehnt sich ein Stückchen nach vorne. Offensichtlich ist sie nun doch etwas neugierig auf ihre Schwester geworden.

„Ja, einige“, erwidert Nanami und da ist es wieder. Dieses traurige Lächeln. „Ich habe ja nicht so viele Freunde. Um genau zu sein, habe ich nur Cupcake. Daher vertreibe ich mir die Zeit mit malen oder singen oder Instagram. Oder ich lese oder spiele Piano.“

„Oh, Piano?“, hakt Kaori nach. „Meine Mutter hat früher häufiger etwas am Klavier für mich gespielt, als ich noch klein war. Sie ist sehr gut. Ich allerdings war nie sonderlich begabt darin. Irgendwie habe ich wohl zwei linke Hände.“ Wie zum Beweis hebt Kaori beide Hände in die Höhe, als wären sie irgendwie verquer, doch Nanami lacht trotzdem. Es ist ein aufrichtiges, wunderschönes, herzerwärmendes Lachen, was einem sofort unter die Haut geht. Es ist traurig, dass nie jemand dieses Lachen zu hören kriegt.

„Könntest du mir etwas vorspielen?“

Nanami nickt und steht auf. „Klar, wir können zurück ins Wohnzimmer gehen, da steht mein Piano.“

„Macht nur, ich räume solange ab“, meint Ayaka und steht ebenfalls auf.

„Darf ich Ihnen helfen?“, frage ich höflich, doch Ayaka winkt ab.

„Nicht nötig, Sie können sich gerne noch mit ins Wohnzimmer gesellen.“

„Das mache ich, aber würden Sie mir noch sagen, wo ich das Badezimmer finde?“

„Natürlich. Sie gehen zurück in den Flur und dann die Treppe hoch, den Gang entlang und dann die letzte Tür auf der rechten Seite.“

Wow, okay, ob ich mir das merken kann?

Während Kaori ihrer Schwester ins Wohnzimmer folgt, gehe ich nach oben ins Badezimmer und checke kurz mein Handy. Sally schreibt, dass alles okay ist. Sie sitzt in sicherer Entfernung mit Davis im Auto und beobachtet das Haus. Sobald irgendetwas auffällig wäre, würde sie mir sofort Bescheid geben. Aber momentan ist wohl alles ruhig. Sehr gut.

Ich benutze kurz die Toilette und wasche mir dann die Hände. Kurz überlege ich, ob es nicht unklug war, sich zu trennen. Ayaka könnte mir hinter der Tür auflauern und mich um die Ecke bringen. Ich kenne diese Frau schließlich nicht und weiß nicht, wozu sie fähig ist oder wie weit sie tatsächlich gehen würde, um das Geheimnis zu bewahren. Wir haben sie vorhin schließlich ganz schön unter Druck gesetzt. Oder sie hat uns jetzt Gift in die Suppe gemischt und in ein paar Minuten fallen wir beide tot um.

Oh man, Mimi. Deine Fantasie geht mit dir durch. Wahrscheinlich werde ich einfach schon paranoid, weil in letzter Zeit so viele schreckliche Dinge passiert sind und ich niemanden mehr vertrauen möchte. Doch als ich die Badezimmertür wieder öffne, ist da niemand. Erleichtert atme ich aus und schüttle den Kopf. Es sind nicht alle Menschen so schlecht wie Haruiko Kido.

Ich gehe den Gang entlang zurück und komme dabei an einem Zimmer vorbei, was mir eben noch nicht aufgefallen ist. Die Tür steht einen Spalt breit offen und ich kann lilafarbene Tapete erkennen. Ich schiebe die Tür noch ein Stück weiter auf und stelle fest, dass das Nanamis Zimmer sein muss.

Ich muss schmunzeln. Irgendwie ist es genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Viele Bücher, CD’s, Malutensilien, wie Pinsel und eine Leinwand. Sogar eine Geige liegt auf dem Bett.

Und dann … Poster von koreanischen Pop-Sängern an den Wänden. Und nicht wenige. Meine Lippen verziehen sich zu einem echten Grinsen. Egal, wie sie hier aufwächst und wie viel Bildung sie erhält – im Grunde ist sie doch auch nur ein ganz normaler Teenie.

Ich schließe die Tür wieder und gehe nach unten. Aus dem Wohnzimmer höre ich schiefe Töne und lautes Gekicher.

Ich betrete den Raum und sehe sofort, wie Kaori und Nanami am Piano sitzen und Nanami verzweifelt versucht, Kaori ein paar einfache Töne beizubringen. Kaori bekommt es aber nicht hin und drückt immer wieder die falschen Tasten. Dann kichern die beiden wieder und machen Witze darüber.

Ich erlaube es mir für einen Moment inne zu halten und die beiden zu beobachten. Mit verschränkten Armen stehe ich im Türrahmen und alles, was ich sehe, sind zwei Schwestern, die sofort eine Verbindung zueinander haben. Sie selbst bemerken es gar nicht, aber es ist wie verhext.

„Komisch, nicht?“ Ich zucke leicht zusammen, als Ayaka neben mir auftaucht. Auch ihr Blick ist auf die beiden Schwestern gerichtet. „Sie sitzen seit gerade mal zehn Minuten da und es kommt mir so vor, als würden sie sich schon ewig kennen.“

Ich muss lächeln, als Nanami Kaori endlich erlöst und zu spielen beginnt – Clair de lune von Debussy. Romantisch, traurig, melancholisch. Ich lausche den Klängen und genieße den Anblick der beiden. Kaori sitzt ganz still da und schaut Nanami dabei zu, wie ihre Finger jede einzelne Taste berühren.

„Ich kann nicht fassen, dass ich das noch erleben darf“, sagt Ayaka.

„Was meinen Sie?“

Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich weiß nicht, weswegen sie weint. Weil das Stück so schön ist, oder weil Nanami endlich nicht mehr einsam ist.

„Ich dachte, sie würde niemals jemanden aus ihrer Familie kennenlernen. So lieb ich sie auch habe, ich finde, man sollte immer wissen, wo seine Wurzeln sind. Man kann nicht wissen, wer man ist, wenn man nicht weiß, wo man herkommt.“

Ich nicke und frage mich gleichzeitig, ob es insgeheim das ist, worauf Ayaka die ganze Zeit gehofft hat.

Hat sie nur darauf gewartet, dass irgendjemand dem Geheimnis auf die Schliche kommt und Nanami erlöst? Sie liebt ihre Tochter und ich bin mir sicher, dass sie immer nur ihr Bestes wollte. Nur leider waren ihr bis jetzt die Hände gebunden.

„Bitte erzählen sie Nanami alles“, sage ich mit Nachdruck. „Sie haben drei Tage Zeit dafür, sich zu überlegen, wie Sie es ihr am besten beibringen. Vermutlich wird sie Sie hassen. Sie wird Zeit für sich brauchen, um das alles zu verarbeiten und zu verstehen. Aber es ist sowieso bald alles vorbei. Haruiko wird dafür büßen, was er getan hat. Was er allen angetan hat. Ich hoffe für Sie, dass sie nicht angeklagt werden, aber falls es so weit kommt, würde sich ein Geständnis sicher strafmildernd für Sie auswirken. Immerhin hatten Sie keine andere Wahl und wollten stets nur das Beste für Nanami.“

Sie hält den Blick auf den Boden gerichtet und nickt. „Ich weiß nicht, was besser für Nanami gewesen wäre. In ein paar Monaten wären wir in Frankreich gewesen und sie hätte dort ein normales Leben führen können. Jetzt wird ihr Leben alles andere als normal verlaufen und doch wünsche ich es mir für sie. Was bringt ihr die Freiheit, wenn sie weiterhin allein bleibt, ohne Familie?“

Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Sie war nie ohne Familie. Nanami hatte Sie.“

Nun hebt Ayaka den Kopf und sieht mich dankend an, bevor sie ihren Blick wieder auf ihre Tochter richtet und voller Demut den letzten Tönen ihres Stückes lauscht.
 

Eine halbe Stunde später verlassen wir das Anwesen und ich spüre förmlich, wie schwer es Kaori fällt, sich loszureißen. Ich glaube, sie wäre am liebsten noch geblieben und hätte Nanami alle möglichen Fragen gestellt oder sie einfach nur angesehen.

„Es ist nicht leicht, sie zurückzulassen“, sagt sie und an ihrer Stimme höre ich schon, dass es ihr das Herz bricht.

„Nicht mehr lange, Kaori. Nanami wird bald frei sein und du kannst sie besser kennenlernen.“

Kaori nickt und seufzt dann schwerfällig. „Ja, am besten so schnell wie möglich.“

Was das angeht, da hat sie meine vollste Unterstützung.

Wir gehen ein Stück die Straße nach unten und achten dabei darauf, dass uns niemand folgt. Alles wirkt unauffällig, bis auf …

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Abrupt bleibe ich stehen und stemme die Hände in die Hüfte, während ich auf das Auto starre, das vor uns steht. Und auf die zwei Personen, die drin sitzen – und wild rum knutschen.

„Na, warte“, hauche ich verheißungsvoll und stampfe auf den Wagen zu. Ich klopfe laut an die Scheibe. Sally erschrickt so heftig, dass sie Davis sofort von sich stößt und entsetzt herumwirbelt.

„Was zum Teufel glaubt ihr, was ihr da macht?“

Sally kurbelt das Fenster runter und sieht mich entschuldigend an. „Es ist nicht das, wonach es aussieht.“

„Ach, was?“

Sally grinst und faltet die Hände. „Okay, ist es doch. Sorry?“

„Ihr solltet hier Schmiere stehen, verdammt!“, fauche ich sie wütend an, während Kaori hinter mir kichert.

„War auf jeden Fall eine gute Tarnung.“

„Sehe ich auch so“, wirft Davis ein.

„Du, halt die Klappe!“ Ich funkle ihn an und steige dann mit Kaori auf die Rückbank. „Ich habe dir meine beste Freundin anvertraut und du hast nichts Besseres zu tun als über sie herzufallen. Schäm dich, Davis. Schäm dich.“

„Also, um ehrlich zu sein …“, meint Sally ganz kleinlaut, dreht ihren Kopf nach hinten und grinst mich schon wieder entschuldigend an. Ich reiße meine Augen auf. „DU hast angefangen?“

„Noch mal sorry?“

„Ich fasse es nicht“, seufze ich und drücke mir mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken.

„Was soll ich machen?“, sagt Sally jedoch nur schulterzuckend. „Er ist eben heiß.“

„Danke, Babe.“

„Ich kotze gleich.“ Ich mache ein Würggeräusch, während Kaori wieder lacht. Doch Sally grinst mich einfach nur vielsagend an. Dann muss auch ich lächeln. Was soll ich da tun? Wenn Sally sich was in den Kopf gesetzt hat, kann man sie ohnehin nicht davon abbringen. Und diesmal scheint sie sich Davis in den Kopf gesetzt zu haben. Sie scheint eine echte Schwäche für ihn zu haben, wenn sie schon beim zweiten Treffen mit ihm rumknutscht. Ich beuge mich nach vorne und schlage ihm hart gegen die Schulter.

„Aua!“

„Tu ihr ja nicht weh, du Arsch“, drohe ich ihm und Sally lacht laut auf.

„Das Arsch hättest du dir sparen können. Ist ja nicht so, dass wir gleich heiraten wollen“, entgegnet Davis beleidigt und reibt sich die Schulter.

Sally nickt eifrig. „Genau, wir stehen nämlich nicht auf arrangierte Ehen und das ganze Zeug.“

Ich strecke ihr die Zunge raus und dann lachen wir beide. „Außerdem sind wir ja gar nicht zusammen.“

„Noch nicht, Babe.“, sagt Davis und wackelt mit den Augenbrauen. Dieser Kerl … unverbesserlich. An Sally haben sich schon so manch andere Männer die Zähne ausgebissen. Aber hey, soll er sein Glück ruhig versuchen.

„Wie war es bei deiner Schwester?“, will Sally nun wissen und sieht Kaori an. Diese schmunzelt verlegen. „Es war nicht lange und sie weiß auch noch nicht, dass ich ihre Schwester bin, aber es gibt kein Wort dafür, das dieses Gefühl beschreiben könnte.“

Niemand von uns kann sich vorstellen, was gerade in Kaori vorgeht. Sie dachte, ihre Schwester wäre tot. Und nun stand sie ihr heute gegenüber, hat mit ihr gesprochen. Ich kann es kaum erwarten, Tai davon zu erzählen. Auch wenn es uns immer in erster Linie darum ging, meine Freiheit zurückzuerlangen, so bin ich doch froh über das, was wir für Kaori erreicht haben.

Plötzlich legt sich ein Schatten über Kaoris Gesicht und sie senkt den Blick. „Ich bin traurig über die vielen Jahre, die uns genommen wurden. Wir haben so viel verpasst, so viel versäumt, so viel nachzuholen. Deshalb …“ Sie holt ihr Handy hervor. „… werde ich keine einzige Minute mehr verschwenden.“
 

Ich kann es nicht fassen. Es fühlt sich wie ein Traum an. Wie eine nicht reale Wunschvorstellung. Wäre Tai jetzt hier, würde ich ihn bitten, mich mal zu kneifen.

Ich stehe vor dem Anwesen der Minamotos – nicht einmal 24 Stunden später, nachdem Kaori und ich Nanami besucht haben.

Direkt nach dem Treffen hat sie ihren Vater angerufen. Kaori war drauf und dran, das Büro ihres Vaters zu stürmen und ihm alles zu erzählen, aber dieser war beruflich sehr eingespannt, so dass wir es auf den nächsten Tag verschieben mussten. Was gut war. So hatten wir wenigstens eine ganze Nacht lang Zeit, uns zu überlegen, wie wir die Sache angehen sollen. Letztendlich sind wir zu keinem Ergebnis gekommen.

Wie bringt man Bitteschön einem Mann bei, dass seine Frau ihn betrogen und ein uneheliches Kind hat, welches angeblich tot ist, aber nun doch nicht?

Nein. Für so etwas gibt es nicht die richtigen Worte. Niemand würde uns das glauben. Zum Glück habe ich die Beweise alle in der Tasche, Kaori meinte, dass diese besonders wichtig wären. Immerhin ist ihr Vater Staatsanwalt und ohne Beweise würde er uns zum Teufel jagen.

Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich vor den Toren des Minamoto Anwesens stehe und unruhig von einem Bein aufs andere trete.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr.

10.30 Uhr.

Kaori müsste jeden Moment auftauchen.

Gerade, als ich daran denke, dass dieser ganze Spuk in weniger als einer Stunde vorbei sein könnte und wie unfassbar das einfach alles ist, fährt ein schwarzer Mercedes vor. Er hält direkt vor den Toren und Kaori steigt aus.

„Kaori“, sage ich und eile zu ihr. Wir umarmen uns zur Begrüßung. Es tut so gut, sie zu sehen. Ich hoffe, sie hat noch etwas von ihrer Kraft von gestern übrig, denn die wird sie gleich brauchen. Das wird definitiv nicht einfach werden.

„Mimi“, sagt sie und löst sich aus der Umarmung, um mich prüfend anzusehen. „Hast du geschlafen?“

Ich schüttle den Kopf. „Nicht wirklich. Du?“

„Nein“, sagt sie und sieht zum Anwesen ihrer Eltern. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal tun muss.“

„Das hätte niemand von uns je gedacht.“ Kein Wunder. Diese ganze Sache ist ja auch mehr als abgedreht.

Kaori atmet tief ein und aus und strafft dann ihre Schultern, ehe sie mich eindringlich ansieht. „Bist du bereit?“

Ich nicke, auch wenn ich am liebsten kotzen würde. Heute Morgen habe ich keinen Bissen runter gekriegt, auch nicht, als Sally mir mein Lieblingsfrühstück gemacht hat.

„Bereit, wenn du es bist“, sage ich und Kaori schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

„Gut. Lass uns gehen.“

Wir gehen auf das Tor zu, doch gerade, als wir klingeln wollen, hören wir Reifen hinter uns, die die Einfahrt hochfahren. Wir drehen uns zeitgleich um, als noch ein schwarzer Mercedes vor uns hält. Kurz halte ich die Luft an und erwarte schon Haruiko Kido, der von all dem hier Wind gekriegt hat und uns nun … erschießen will? Vor dem Anwesen der Minamotos? Oh Gott, das würde ich ihm zutrauen.

Aber meine Angst ist unbegründet. Ich entspanne mich wieder, als Joe aus dem Wagen steigt.

„Kaori“, ruft er und läuft schnellen Schrittes auf uns zu. Mich beachtet er gar nicht, stattdessen bleibt er direkt vor Kaori stehen und packt sie an den Schultern.

„Wieso bist du einfach aufgebrochen? Ich habe gesagt, ich lasse dich das nicht alleine machen!“

Woah. Okay. Der Ritter in glänzender Rüstung? Was ist denn nun los?

„Und ich habe gesagt, dass ich nicht alleine bin. Ich habe Mimi.“ Sie sieht zu mir und auch Joe schenkt mir einen flüchtigen Blick, widmet sich dann jedoch wieder Kaori.

„Du kannst doch nicht erwarten, dass ich einfach hier stehe und darauf warte, dass du …“

„Joe“, sagt Kaori sanft und wischt seine Hände von ihren Schultern. „Doch, genau das erwarte ich von dir.“

„Aber die Sache geht mich auch etwas an. Sie ist immerhin auch meine …“

Er spricht das Wort nicht aus. Aber er hat Recht. Nanami ist auch seine Schwester. Und ich kann verstehen, dass er besorgt ist.

„Es würde nichts daran ändern, ob du mitkommst, oder nicht. Glaub mir, es ist besser, wenn Mimi und ich alleine gehen. Mein Vater sieht es nicht gerne, wenn Kinder sich gegen die eigene Familie wenden. Es ist schlimm genug, dass ich das tue. Im Moment muss er nicht wissen, dass auch du deine Familie verrätst.“

„Sie haben mich verraten, nicht ich sie“, zischt Joe und Kaori nickt, während sie ihm beide Hände an die Wangen legt. „Und ich weiß das, hörst du. Aber bitte, vertrau mir einfach. Ich weiß, was ich tue.“

Okay. Warum fühle ich mich gerade so, als dürfte ich diesen intimen Moment gar nicht mitkriegen? Wieso kommt er mir überhaupt so intim vor? Ist es die Art und Weise, wie er sie ansieht? Wie er sich Sorgen um sie macht?

Joe seufzt und lässt schließlich den Kopf sinken. „Na, schön. Ich vertraue dir. Du wirst das Richtige tun.“

Kaori schenkt ihm ein Lächeln. „Danke.“

„Aber ich warte hier draußen.“

„Tu das.“

„Passt auf euch auf“, sagt er nun und sieht tatsächlich auch mich an, als hätte er eben erst so richtig Notiz von mir genommen.

„Keine Sorge“, erwidere ich. „Alles wird gut.“ Warum komme ich mir dann gerade vor, als würden wir in die Höhle des Löwen gehen, als wir endlich klingeln und das Tor sich öffnet?
 

Eine Bedienstete bringt uns in das Teezimmer, in dem wir Platz nehmen. Sie reicht uns einen Tee, aber keiner von uns rührt ihn an. Das Herz schlägt mir bis zum Hals und mein ganzer Körper spannt sich an, als endlich Kaito Minamoto, der Herr des Hauses, das Zimmer betritt.

„Nanu?“, sagt er überrascht. „Kaori, du hast mir gestern am Telefon gar nicht erzählt, dass du eine Freundin mitbringst. Mimi, richtig? Die Verlobte von Joe Kido? Wir sahen uns zum Tanabata Fest.“

Ich nicke, als wir kurz aufstehen, um uns zu verbeugen. Dann setzt er sich uns gegenüber und sieht uns erwartungsvoll an.

„Nun, was verschafft mir die Ehre? Wie geht es meiner einzigen Tochter? Verläuft die Schwangerschaft gut?“

„Es ist alles bestens, Vater. Danke der Nachfrage“, erwidert Kaori. Ich muss schon sagen, ihr Umgang miteinander ist wirklich recht distanziert.

„Ich hoffe, Ihnen geht es auch gut, Miss Tachikawa“, richtet Kaito nun das Wort an mich. „Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Gut“, krächze ich und nehme gleich darauf doch einen Schluck von meinem Tee. Meine Kehle ist staubtrocken.

Gott, was tun wir hier bloß?

Ich war so versessen darauf, endlich etwas gegen Haruiko zu finden, das ihn zerstören wird, dass ich keinen Gedanken daran verschwendet habe, dass es zeitgleich auch das Leben anderer zerstören könnte.

Wir werden Kaitos Welt in Grund und Boden erschüttern und auch, wenn ich diesen Mann kaum kenne, so schmerzt es mich, zu wissen, dass sein Leben sich gleich für immer verändern wird – und, dass ich dafür verantwortlich bin. Es wird nie wieder so sein, wie es war. Und trotzdem muss es geschehen. Er hat ein Recht auf die Wahrheit.

„Vater, um ehrlich zu sein“, beginnt Kaori und klingt entschlossen. Aber ich höre auch das Unbehagen raus, was ihr diese Situation bereitet. „Wir sind nicht gekommen, um einfach nur einen Tee mit dir zu trinken. Wir …“ Sie sieht kurz zu mir. „Wir müssen dir unbedingt etwas zeigen.“

Sie nickt mir zu, was wohl mein Stichwort ist. Ich öffne meine Tasche und hole alles hervor. Alle Beweise, die wir gesammelt haben. Einfach alles, was seine gesamte Vergangenheit in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen wird. Ich reiche sie Kaori und sie übergibt sie ihrem Vater. Dieser sieht verwirrt aus. „Was ist das?“, fragt er, doch Kaori deutet nur auf die Zettel.

„Sieh es dir bitte an.“

Er blättert in den Unterlagen, überfliegt Seite für Seite. Wir warten geduldig.

Mit jedem Wort, mit jedem Satz, der zu ihm durchdringt, verfinstert sich seine Miene mehr und mehr, bis sich auf seiner Stirn tiefe Zornesfalten gebildet haben.

„Was soll das sein?“ Er sieht zu uns auf, als er alles durchgegangen ist. „Ist das ein Witz?“

„Keineswegs, Vater“, erwidert Kaori mit fester Stimme. „Wir wussten nicht, wie wir es dir sonst …“

„Was soll das, Kaori?“, wütet er nun drauf los und wir zucken beide zusammen. „Das sind äußerst schwere Anschuldigungen, die du da erhebst. Ist dir das bewusst? Nicht nur Haruiko Kido gegenüber, sondern auch deiner Mutter gegenüber. Hast du dir das gut überlegt?“

Kaori faltet die Hände im Schoß und sieht so aus, als bräuchte sie irgendetwas, um sich daran festzuhalten.

„Ich habe mir das nicht überlegt, wie du es so schön sagst. Und es sind auch keine Anschuldigungen. Es sind Tatsachen!“

„Du … du …“ Kaito steht auf, geht ein paar Schritte, setzt sich dann jedoch wieder hin und haut mit der Faust auf den Tisch. Noch mal zucken wir zusammen und jetzt spüre ich, wie meine Venen pulsieren. Das Herz springt mir gleich aus der Brust. Was, wenn er uns nicht glaubt? Was, wenn wir nichts bezweckt haben? Wenn wir bald noch einen Feind mehr haben, der uns vernichten will?

Kaito öffnet den Mund und sieht uns erzürnt an. Doch gerade, als ich denke, dass er uns gleich seine gesamte Wut entgegenschleudert, ruft er: „Misaki! MISAKI!“

Oh mein Gott. Wenn sie jetzt alles abstreitet … dann war’s das doch, oder? Wieso sollte er seiner eigenen Frau nicht glauben?

„Ich warne dich, Kaori“, flüstert Kaito bedrohlich und zeigt mit dem Finger auf seine Tochter, dann auf mich. „Das gilt auch für dich, Miss Tachikawa. Wenn ihr mir hier eine Lüge auftischt, dann gnade euch Gott.“

Ich schlucke. Ja, mit diesen Beweisen zu Kaito zu gehen, war ein Risiko, das war uns bewusst. Aber ich will mir ehrlichgesagt nicht vorstellen, was passiert, wenn er uns wirklich der Lüge bezichtigt.

„Misaki, verdammt, wo bleibst du?“, brüllt er. Sein Gesicht ist rot angelaufen und er kocht förmlich über vor Wut, als seine Frau endlich den Raum betritt.

„Kaito, warum schreist du so?“ Ihr Blick geht zu Kaori. „Oh, hallo, Kaori. Was machst du hier? Und Miss Tachikawa …“

Sie kommt gar nicht dazu, ihren Gedanken zu Ende zu sprechen, denn Kaito geht direkt verbal auf sie los. „Komm her. Setz dich.“

Irritiert sieht sie ihren Mann an, tut dann jedoch, was er von ihr verlangt. Er schiebt ihr die aneinandergehefteten Blätter rüber. „Lies!“

Misaki hebt misstrauisch eine Augenbraue, nimmt die Schriftstücke an sich und beginnt zu lesen – Seite für Seite. Ihre Augen werden immer größer. Ihre Hände beginnen zu zittern.

Meine Handinnenflächen schwitzen und ich wische sie an meiner Jeans ab, während mein Herz unruhig flattert. Die Luft im Raum ist zum Zerschneiden dünn. Eine angespannte Stille legt sich über uns alle.

Ein dicker Knoten hat sich in meinem Bauch gebildet und ich erwarte jeden Moment, dass Misaki aufspringt. Dass sie uns anschreit, wie wir nur solche Lügen verbreiten können. Dass diese Beweise alle gefälscht sind. Dass …

„Ich kann das nicht fassen“, flüstert sie schließlich und lässt die Unterlagen vor sich auf den Tisch sinken. Ihr Blick geht ins Leere.

Kaito haut wieder auf den Tisch. „Ich wusste es. Alles erstunken und erlogen! Wer von euch ist dafür verantwortlich? Wer steckt dahinter?“

Sein zorniger Blick trifft mich mit voller Wucht. „Bist du es? Hast du unsere Tochter dazu angestiftet, diese schrecklichen Lügen zu verbreiten?“

„Ich …“

„Nein, Vater, Mimi hat …“

„Wie kannst du es wagen, dich gegen unsere Familie zu stellen?“, brüllt er Kaori an. „Haben wir dich so schlecht erzogen? Familie über allem, hast du das vergessen? Was sagt Jim dazu? Weiß er, dass du dabei bist, mit deiner Familie zu brechen?“

Kaori öffnet den Mund, doch nicht ein einziges Wort verlässt ihre Lippen. Ich sehe, wie sie errötet. Vermutlich fragt sie sich gerade selbst, was sie sich dabei gedacht hat? Wie konnte sie mir nur glauben? Wie konnte sie das nur alles mitmachen?

Kaori, bleib stark! Du weißt, dass es die Wahrheit ist!

„Miss Tachikawa“, richtet Kaito nun wieder das Wort an mich, während seine Frau neben ihm immer noch voller Entsetzen auf die Beweise starrt, als wären sie gar nicht wirklich da. Sie wirkt ganz und gar abwesend.

„Vater, bitte, hör uns doch zu“, fleht Kaori, doch dieser will nicht auf sie hören. Stattdessen schreit er weiter mich an.

„Wissen Sie, was auf Verleumdung steht? Ich könnte Sie anklagen und ihr Ruf wäre ruiniert, ehe Sie auch nur das nächste Mal Luft holen könnten. Ich werde mit Haruiko darüber sprechen, welche Betrügerin er sich da ins Haus geholt hat. Das ist ein Skandal. Ich werde Sie verklagen und alle, die mit an diesen gefälschten Beweisen beteiligt waren. Und dich, Kaori, werde ich verstoßen, wenn du auch nur eine Sekunde länger glaubst, dass das, was da steht …“

„Nicht, Kaito.“

Kaito verstummt.

Ich ziehe scharf die Luft ein und halte sie an, während unser aller Blicke gebannt auf Misaki ruhen. Was hat sie da eben gesagt?

„Mutter“, sagt nun Kaori bittend. „Ich flehe dich an.“ Erst jetzt bemerke ich, dass auch sie am ganzen Leib zittert. Eine einzelne Träne rollt über ihre Wange. „Wenn ich dir irgendetwas bedeute … wenn du auch nur den Funken Liebe für mich empfindest … dann sag die Wahrheit. Bitte. Sag Vater, was passiert ist.“

Kaito wirkt wie benebelt, während er seine Frau einfach nur anstarrt. „Mi-Misaki?“

Diese jedoch sagt nichts, kein einziges Wort. Bis sie schließlich völlig unerwartet in Tränen ausbricht.

„Misaki.“

„Es stimmt.“

„Was?“

„Es ist wahr, Kaito. Alles.“ Misaki zerknüllt die Beweise in ihrer Hand und drückt sie sich an die Stirn, während sie unter Tränen „Verdammt“ wimmert. Immer und immer wieder.

„Was soll das heißen?“ Kaito ist wie vor den Kopf gestoßen. Er starrt seine Frau an, wie ein fremdes Wesen, aus einer anderen Welt. Ich kann verstehen, wie er sich jetzt fühlt. Er fragt sich, wie das sein kann? Wie er sie kennen und doch nicht kennen kann? Wie ihm all die Jahre offenbar etwas entgangen ist?

„Ich bin nicht stolz darauf, das musst du mir glauben“, sagt sie unter Tränen. „Aber es ist alles wahr, was hier steht.“

Kaito trifft der Schlag. Seine Augen weiten sich schockiert.

„Nanami ist das Kind von Haruiko und mir.“

Kaito steht wieder auf, beginnt wieder wie verrückt hin und her zu laufen und sich dabei übers Gesicht zu reiben. Er sieht aus als hätte man ihn geschlagen. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn.

„Ich … ich kann das nicht fassen. Ihr hattet wirklich eine …?“

Misaki weint bitterlich, presst sich eine Hand auf den Mund, bringt jedoch nichts weiter hervor, außer ein schwaches Nicken.

Das war’s. Kaito stürmt raus. Ich springe auf, weil ich nicht fassen kann, dass er einfach so verschwindet. Das kann es nicht gewesen sein. Ich bin nicht so weit gegangen, um ihn jetzt einfach mit der Erkenntnis ziehen zu lassen.

Kaori springt ebenfalls von ihrem Platz, um mich am Arm zu packen. „Nicht. Ich rede mit ihm. Gib mir ein paar Minuten.“

Ich halte inne, nicke dann, als Kaori sich auch schon in Bewegung setzt und ihrem Vater hinterhereilt. Auch Misaki steht nun auf und geht Kaori nach, während sie immer wieder unter Tränen verzweifelt den Namen ihres Mannes ruft.

Ich bleibe zurück, zitternd, bebend vor Schreck. Ich wusste, es würde übel werden. Aber mitzuerleben, was Haruikos Abgründe gerade angerichtet haben, wie sie Kaito und Misaki ein für alle Mal zerstört haben, ist auch für mich zu viel.
 

Es dauert eine geschlagene Stunde, bis es im Haus wieder ruhiger wird. Ich bin raus in den Garten gegangen und seitdem sitze ich hier und warte. Die ganze Zeit habe ich sie von drinnen schreien gehört. Misaki. Kaori. Aber vor allem Kaito. Er muss unfassbar wütend gewesen sein. Ich habe nicht jedes Wort verstanden, aber das Wort Scheidung fiel definitiv – mehrmals.

Nun sitze ich hier, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und frage mich, was ich da nur angerichtet habe. Immer wieder muss ich mir ins Gedächtnis rufen, dass nicht ich diese schlimmen Taten begangen habe. Dass ich nicht daran schuld bin. Dass ich nur der Überbringer schlechter Neuigkeiten bin – diesen Job will absolut niemand. Ich komme mir so mies vor.

Kaori … ihre ganze Familie bricht gerade auseinander. Ich hoffe, sie verkraftet es.

„Miss Tachikawa.“

Ich zucke heftig zusammen. Kaitos dunkle Stimme geht mir durch Mark und Bein.

Ich sitze auf der Bank im Garten und drehe mich zu ihm um. Er kommt direkt auf mich zu, seine Miene ist ausdruckslos. Sie verrät mir nicht, ob er mich gleich wieder anschreien, mir einen Orden verleihen oder mich erwürgen will.

„Herr Minamoto.“ Ich stehe auf und verbeuge mich.

„Schon gut“, sagt er und bleibt vor mir stehen. Ich traue mich kaum, ihn anzusehen.

„Kaori, meine Tochter“, sagt er schließlich. „Sie hat mir berichtet, dass Sie es waren, die die Beweise ausfindig gemacht hat. Sie haben auch Nanami aufgespürt.“

Mit Tais Hilfe. Aber das sage ich nicht. Soll er ruhig denken, ich sei alleine für all das verantwortlich. Wenn er einen Schuldigen sucht, dann bin ich es eben allein gewesen.

„Das habe ich.“

„Hmm“, macht er nur und sieht für einen Moment in den Himmel. „Darf ich fragen, was Ihre Intention war? Warum wollten sie meiner Familie etwas anhängen?“

Ich schüttle schnell den Kopf. „Das wollte ich nie. Die Wahrheit ist, dass Haruiko mich bedroht hat. Mich und meine Familie. Er wollte ihnen etwas antun, wenn ich es wagen würde, Joe zu verlassen und die Verlobung aufzulösen. Denn genau das wollte ich. Aber er hat mich unter Druck gesetzt. Mir blieb keine andere Wahl, als im Dreck zu wühlen, um etwas gegen ihn zu finden.“ Ich schlucke schwer. „Ich hatte es nie auf Ihre Familie abgesehen.“ Das muss er mir einfach glauben.

Zu meiner Überraschung nickt er. „Es ging Ihnen also um Ihre Familie.“

Täusche ich mich, oder beeindruckt ihn das ein bisschen? Hat er vielleicht sogar Verständnis für meine Situation?

„Und das ist alles, was Sie wollten? Haruiko zu Fall bringen?“

Mit zusammengekniffenen Augen sieht er mich an. Sein Blick durchbohrt mich, auf der Suche nach der Wahrheit. Ich nicke entschlossen. „Ja, so ist es.“

„Nun, wenn es weiter nichts ist. Diesen Wunsch kann ich Ihnen gerne erfüllen.“

Wie jetzt?

Perplex starre ich ihn an.

„Haruiko Kido ist nicht nur ein Krimineller, er hat mich auch verraten und hintergangen. Damit werde ich ihn nicht davonkommen lassen. Niemand fällt mir in den Rücken. Niemand.“

Seine Worte klingen wie eine Drohung und sind getränkt in purem Hass.

„Diese Freundschaft ist beendet. Ich will nur noch eins: ihn hinter Gittern sehen. Und was meine Frau anbelangt …“

Er sieht wieder gedankenversunken in den Himmel. „Jetzt wird mir auch klar, warum sie den Tod von Nanami nie verarbeitet hat. Nach Trauer kommt normalerweise Akzeptanz, aber ihre Trauer nahm einfach kein Ende.“

Ich habe keine Ahnung, warum er ausgerechnet mir das erzählt. Aber ich vermute, dass auch er sich gerade einfach nur Luft verschaffen möchte. „Ich kenne Haruiko schon seit der Uni. Wir haben zusammen studiert und seitdem sind unsere Familien miteinander befreundet. Dass er ein Auge auf meine Misaki geworfen hatte, wusste ich nicht, da er selbst sehr früh verheiratet wurde. Aber Misaki war schon immer eine Augenweide. Vermutlich gönnte er sie mir nicht, dieser hinterhältige Bastard. Wenn ich daran denke, was sie alles hinter meinem Rücken getrieben haben …“ Er wendet sich ab, kehrt mir den Rücken zu. Sein Gesicht ist zornig, aber auch schmerzverzerrt. Natürlich. Selbst einem Kaito Minamoto tut es weh, wenn seine Frau ihn betrügt. Da kann er noch so hart sein.

„Wie auch immer“, sagt er schließlich, sieht mich jedoch nicht mehr an. „Ich bin Ihnen trotz allem zu Dank verpflichtet. Wären Sie nicht gewesen, hätten mich die beiden noch jahrelang für dumm verkauft. Und niemand hält einen Minamoto zum Narren. Sie können mit der Gewissheit nach Hause fahren, dass Haruiko Kido noch heute von der Polizei abgeholt wird. Ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass dieser Mann nie wieder so etwas wie Glück empfindet. Ich werde ihm das Leben zur Hölle machen. Sie sind also frei, Miss Tachikawa.“

Er geht und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Was hat er da gesagt? Ich bin … frei? Ich kann es nicht glauben. Das ist das Ende? Hier und jetzt?

Aber eine Sache wäre da noch.

„Was ist mit Misaki?“, rufe ich ihm nach. Kaito dreht sich zu mir um und mustert mich mit einem abschätzigen Blick. „Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber sie wird noch heute das Anwesen verlassen. Sie geht vorübergehend zu Kaori, oder besser gesagt, zu Joe. Was sie danach macht, ist mir egal. Sie soll mir nie wieder unter die Augen kommen.“

Eine Gänsehaut erfasst mich. Sein Blick ist starr, kalt und erbarmungslos.

Kaito Minamoto will man nicht zum Feind haben.

Viel Spaß, Haruiko.

Du hast es verdient.

Ich gehe zurück ins Haus und treffe Kaori an, die mir auf dem Flur entgegen kommt.

„Oh, Mimi“, sagt sie und wirft sich in meine Arme.

„Kaori, wie geht es dir?“

Sie schnieft und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Es war schrecklich, aber … meine Mutter und ich, wir haben uns ausgesprochen. Zumindest erst mal. Es gibt noch viel zu bereden, aber ich hatte Mitleid mit ihr und habe ihr angeboten, dass sie erst mal mit zu uns kommen kann. Mein Vater will sie hier nicht mehr haben.“

Ich nicke verständnisvoll. „Ich bin froh, dass wir es hinter uns haben. Es musste sein, Kaori.“

„Ich weiß“, sagt sie, auch wenn sie noch nicht erleichtert wirkt. „Ich muss dringend zu Joe. Er hat mich schon mindestens zehn Mal angerufen.“

Wir verlassen das Anwesen der Minamotos und lassen nichts als Schrecken zurück. Es war klar, dass das so endet. Trotzdem fühlt es sich noch total surreal an.

Auf dem Weg nach draußen klingelt mein Handy.

„Oh, geh ruhig schon vor“, sage ich zu Kaori, die mich fragend ansieht, doch ich sehe, wie Joe ungeduldig vor dem Tor steht und wartet.

Kaori nickt und geht voraus, während ich stehenbleibe und abhebe.

„Hallo?“

„Mimi?“ Das ist die Stimme von Kari. Sofort durchfährt ein Schreck meine Glieder und lässt mich erstarren.

„Kari, was ist? Ist etwas mit Tai? Geht es ihm gut?“

Oh Gott, bitte nicht. Bitte lass es nicht zu, dass Haruiko nun doch zu Ende gebracht hat, was er begonnen hat.

Es vergehen ein paar quälende Sekunden, in denen ich Kari weinen höre, was meine Angst nur weiter schürt. Bis sie endlich mit der Sprache rausrückt und sagt: „Er ist aufgewacht, Mimi.“

Tai
 

Überall ist orange, wie bei einem Sonnenuntergang. Es ist warm und einnehmend. “Tai?” Ich höre, wie meine Mutter meinen Namen ruft. Ich spüre eine warme Hand, die meine ergreift, aber ich kann sie nicht ergreifen. “Tai?” Ich würde so gerne antworten, aber warum können diese Worte meinen Mund nicht verlassen? Da ist wieder diese schöne Frau, in einem langen weißen Kleid. Sie lächelt mich an. Sie ist so schön. Sie hat lange hellbraune Haare und Honiggoldene Augen. Die hat sie wirklich. Sie deutet mit ihrem Finger an, ihr zu folgen. Das macht sie ständig, aber obwohl ich sicher größer und schneller bin, wie sie, so kann ich sie einfach nie fangen. Jedesmal lacht sie, wenn sie mir ausweicht, aber diesmal ist es anders. Diesmal kann ich sie fangen. Ich halte sie fest. “Ich habe dich”, sage ich lachend zu ihr. Sie sagt nichts, sie sieht mich einfach nur an, nickt und dann verschwindet sie. Einfach so. “Nein warte.” Ich will ihr hinterher und öffne meine Augen. Die Frau bleibt verschwunden. Der Traum scheint zu Ende. “Tai?” Alle starren mich an. Wo bin ich?

In einem Krankenhaus?

Aber warum?

Ich kann mich kaum bewegen, alles schmerzt. Ich habe geträumt, aber wie lange? “Oh mein Gott, Tai, du bist wach, du bist wirklich wach.” Meine Schwester. Kari. Ich freue mich, sie zu sehen. Sie umarmt mich vorsichtig und weint. Wegen mir? Warum ist sie denn so außer sich? “Oh, mein Junge, du bist endlich zurück?”

Zurück?

Wo war ich denn?

Meine Mutter. Sie lächelt mich herzlich an und kämpft ebenfalls mit ihren Tränen. Ihre Stimme würde ich immer wieder erkennen. Sie hat mir vorgelesen, in meinen Träumen. Ich weiß nicht was, aber ich weiß, dass sie mir vorgelesen hat. Auch sie umarmt mich. Ein Arzt betritt das Zimmer und fängt an, mich zu untersuchen. “Hallo, Mr. Yagami. Mein Name ist Dr. Yamamoto und ich bin Neurologe. Ich würde gerne ein paar Untersuchungen machen, um ihre Reflexe zu testen.” Er leuchtet mir in die Augen, das Licht ist echt grell. Ich kneife die Augen zusammen und drehe meinen Kopf weg. “Eine sehr gute Pupillenreaktion. Wie geht es ihnen, Herr Yagami?” Ich sehe, soweit es mir möglich ist, an mir herab. Eine Halskrause, ein Bein in Gips, da hängt ein verdammter Schlauch aus der Mitte meines Körper heraus. Schon klar, wo er dran hängt, denn der Beutel mit der hellgelben Flüssigkeit ist Beweis genug. Mein Schädel, ich habe Kopfschmerzen. “Geht so”, murmle ich und ich erschrecke mich über meine eigene Stimme. Das Sprechen fällt mir schwer. Alles ist rau und brüchig. Alles fühlt sich schwammig an. “Können Sie dem Licht der Lampe folgen?” Ich gebe mir Mühe, der Anweisung des Arztes zu folgen und folge mit großer Anstrengung das kleine Licht aus der Lampe.

“Hervorragend.” Hervorragend? Dass ich nicht lache. Ich bin ein Krüppel. Ich kann gar nichts. Nichts. “Können Sie sich an ihren Unfall erinnern?”

Ich hatte einen Unfall? Ich sehe, wie mich alle erwartungsvoll anschauen. Nach dem Motto: Sag jetzt bloß nichts falsches. Natürlich erinnerst du dich, aber nein, ich weiß nicht, warum ich hier bin und was eigentlich mit mir passiert ist. Ich schüttle langsam den Kopf, aber ernsthaft, das verursacht höllische Kopfschmerzen, also lasse ich das lieber schnell bleiben.

“Sie hatten am Set einen Unfall. Einen Arbeitsunfall”, erklärt der Arzt mir. Ich. Hatte. Einen. Arbeitsunfall? Das ist unmöglich. Absolut ausgeschlossen.

Ich schüttel meinen Kopf, weil das Sprechen mir so schwer fällt.

“Es war aber so, also ein Seil ist gerissen und du bist aus einer Höhe von fast sieben Metern auf den Boden geknallt”, erklärt meine Mutter mir ausführlicher. Ich wiederhole mich zwar, aber das kann nicht sein. Im Leben nicht. Es reißt doch niemals einfach ein Seil an einem Filmset. Jedoch weiß ich gerade nicht mal mehr, an welchem Filmset ich zuletzt war. Verdammt, wieso kann ich mich nicht erinnern? “Kann nicht sein”, sage ich krächzend.

“Sie müssen sich nicht direkt an alles erinnern. Vieles kommt auch nach und nach. Können Sie sich einmal aufsetzen?”

Meint der Arzt das ernst? Mein Bein ist in einem Gips und ich habe ne verdammte Halskrause. Also nein, ich kann mich nicht aufsetzen und das ist richtig beschissen.

“Wo ist … wo ist Dr. Joe Kido?” Keine Ahnung, wer dieser Arzt ist, aber ich vertraue ihm nicht und ich will, dass Joe mich untersucht.

“Er ist gerade außer Haus. Wir könnten Professor Kido rufen?”

“Oh ja, eine gute Idee”, sagt meine Mutter gleich, aber warum halte ich das für keine gute Idee? Warum sagt mir eine innere Stimme, dass Haruiko besser nicht zu mir kommen sollte? “Nein”, sage ich jedoch nur. “Ich möchte gerne auf Joe warten.” Er macht das schon und kann mir sicher auch genauer erklären, was hier eigentlich los ist.

“Oh man, ich muss erstmal alle anrufen. Mimi, wird ausrasten.” Kari ist aufgeregt. Ich erkenne, dass ein Ring an ihrem Finger funkelt. Ein Verlobungsring? Wie lange lag ich im Koma? Und wen will meine Schwester da anrufen? “Wie lange? Wie lange lag ich im Koma?”

“Sieben Tage”, antwortet der Arzt. “Am Anfang war ihr Zustand auch sehr kritisch. Sie mussten zweimal eine Blutspende erhalten und mussten einmal wieder belebt werden.”

“Du hast so eine seltene Blutgruppe, Tai. Zum Glück hatte Mimi die passende Blutgruppe und konnte zweimal spenden. Es gab hier keine Vorräte mehr”, führt meine Mutter weiter fort. Schon wieder dieser Name. Wer? Ich kneife meine Augen zusammen und merke, wie schwer mir alles fällt. Selbst das Atmen. “Du solltest etwas trinken.” Meine Mutter schüttet mir ein Glas Wasser ein und will es mir reichen, aber irgendwie kann ich meine Hand nicht danach ausstrecken. Warum kann ich das nicht? Meine Arme scheinen nicht gebrochen zu sein und ich weiß, wie man zugreift, aber ich kann diese einfache Handlung nicht ausführen. Was geschieht nur mit mir?

“Das könnte noch ein wenig zu schwer, für den Patienten sein. Können Sie aus ihren Fingern eine Faust bilden?” Eine Faust? Ich schaue auf meine rechte Hand hinunter. Normalerweise habe ich sehr viel Kraft in dieser Hand, aber jetzt fühlt sie sich gerade nicht wie meine Hand an. Ich konzentriere mich darauf. Ich beginne zu schwitzen. Wie kann diese einfache Handlung mir nur so viel Kraft abverlangen? Ich bin doch so ein sportlicher Mensch. Ich schaffe es, meine Finger einzudrehen und meine Fingernägel berühren die Handinnenfläche ganz leicht, aber mehr geht nicht. “Das ist sehr gut für den Anfang. Die Physiotherapie wird ihnen damit helfen.” Der Arzt holt eine Pinzette aus Holz und hebt einen dicken Wattestäbchen an, diesen steckt er mir in den Rachen und ich beginne zu würgen. Echt, was soll der Mist? Ich will Joe.

“Sehr gut, Herr Yagami.”

“Er wird doch wieder ganz gesund, oder?” Meine Mutter sieht den Arzt erwartungsvoll an.

“Also der Pupillenreflex, der Okulozephale Reflex, sowie der Würgereflex sind alle gut ausgefallen. Das ist sehr wichtig für den Behandlungserfolg.”

Meine Mutter klatscht freudig in die Hände. “Hast du das gehört? Das ist ja super.” Meine Mutter umarmt mich und ich lächle. Die Umarmung erwidern kann ich gerade nicht. Ich fühle mich wie Wackelpudding.

“Der Patient sollte sich jetzt etwas ausruhen und ich schicke nachher Joe zu Ihnen.” Ich lasse meine Hand wieder locker. Ich bin müde. So müde. Ich weiß gar nicht genau, was meine Familie da sagt, da schlafe ich auch schon wieder ein.
 

“Tai, oh mein Gott, Tai.” Jemand ruft mich. Ich kneife meine Augen zusammen und blinzle leicht. Ich öffne langsam meine Augen. Meine Mutter ist noch da, Kari auch, Joe, endlich ein vernünftiger Arzt und eine junge Frau. Keine Ahnung, wer sie ist. Habe ich sie schon mal irgendwo gesehen? “Tai, Tai, du bist wach.” Sie kommt auf mich zu und schmeißt sich allen ernstes auf mich drauf. Ist die irre? “Aua” sage ich jedoch nur.

“Oh, entschuldige, habe ich dir weh getan?” Natürlich. Ist habe eine Halskrause, ein Hirn-Schädel-Trauma und ein gebrochenes Bein und wenn sich dann jemand auf mich drauf schmeißt, tut es weh. Höllisch weh sogar. “Ich bin einfach nur so froh, dass du wach bist.” Sie fängt an zu weinen. Richtig hysterisch, warum weint sie denn so? Ist sie eine Krankenschwester? Aber sie sieht irgendwie nicht so aus. Oh Gott, sie sieht aus, als wenn sie mich küssen wollen würde. Ich drehe meinen Kopf weg.

“Was ist los?” Sie sieht mich irritiert an. “Ich muss dir so viel erzählen. Also erst mal Sally hat Davis geküsst und …”

“Stop!” Die junge Frau verstummt, was irgendwie so wirkt, als wäre es gegen ihr Naturell und sieht mich mit großen Augen an.

“Wer bist du?” Ihre Augen weiten sich panisch. “Tai, lass das bitte.” Was soll ich lassen?

“Tai, kannst du mir sagen, welches Datum wir haben?” Joe stellt sich neben mich. Ich überlege. Wie lange lag ich im Koma? Hat man mir diese Frage bereits beantwortet? Was ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann? “Ähm, ich weiß es nicht.”

“Wir haben den 28. August.” Sollte mir das Datum irgendwas sagen? Ich hatte vor fünf Tagen Geburtstag, aber in meiner Erinnerung lag mein Geburtstag noch in der Ferne. “Oh, okay.”

“Erkennst du Mimi?” Mimi? Wieder dieser Name. Kari, hatte diese Mimi angerufen, nachdem ich aufgewacht bin und sie hat Blut gespendet, aber warum hat sie das getan? Ich bekomme wieder Kopfschmerzen. Das ist mir alles zu viel. Ich weiß nicht, wer das ist, aber ich traue mich nicht, das zu sagen. Ich habe das Gefühl, dass es diese Frau sehr verletzen würde und ich will sie nicht verletzen, aber warum? “Glaub nicht”, antworte ich daher. Ich sehe wieder zu der unbekannten Schönheit. Irgendwas bricht gerade in ihr. Sie taumelt ein paar Schritte zurück und formt ein stummes “oh.”

“Ich denke, Tai leidet an einer Posttraumatischen Amnesie.” Die unbekannte Schöne geht langsam Richtung Türe, sie fängt an zu weinen, öffnet diese und tritt hinaus. Warum geht sie wieder? Hab ich was falsches gesagt? “Das würde auch erklären, warum er aktuell noch kein Glas festhalten kann oder sich an bestimmte Personen nicht erinnern kann. Mimi ist erst seit einigen Monaten in Japan. Uns kennt er fast schon sein ganzes Leben.” Kari nickt Verstehend. Ich verstehe hingegen gar nichts.

“Und bleibt dieser Zustand?” Joe sieht von meiner Schwester zu mir.

“Schwer zu sagen. Es kann sein, dass der Zustand ein paar Stunden, Tage oder Wochen anhält. Manche erinnern sich nie. Es kommt ein bisschen darauf an, was zu dem Unfall geführt hat und ob es etwas gibt, was das Unterbewusstsein versucht zu verdrängen. Keine Sorge Tai, meistens kommt das wieder. Wichtig ist, dass du dich jetzt ausruhst und nicht zu viel Stress ausgesetzt bist.”
 

Mimi.
 

Oh nein, Tai leidet unter einer Amnesie. Er kann sich nicht an mich erinnern. Jetzt bin ich endlich frei und Tai wird mit all diesen Informationen überhaupt nichts anfangen können, weil er nicht weiß, wer ich bin. Ich beginne zu weinen. Ich beginne zu zittern. Joe kommt zu mir. Er verlässt das Krankenzimmer und schließt die Türe hinter sich.

“Mimi, das mit Tais Posttraumatischen Amnesie …”

“Ist richtig scheiße. Das musst dich doch richtig freuen. Ich meine erst betrügen wir dich und jetzt, jetzt weiß Tai nicht mehr wer ich bin.”

“Also erstmal freue ich mich nicht darüber. Ich freue mich darüber, dass er aufgewacht ist und das solltest du auch.”

“Er erinnert sich nicht an mich. Weißt du eigentlich wie das ist?” Wahrscheinlich bin ich der undankbarste Mensch der Welt, denn natürlich sollte ich mich freuen, dass Tai endlich aus dem Koma erwacht ist, aber wenn er keine Erinnerung an mich hat, seine Liebe zu mir vergessen hat, dann war einfach alles umsonst. Das ist so unfair. “Ich würde ihm ja gerne mein Tagebuch geben, aber jemand hat es verbrannt. Wer war das gleich nochmal? Ach ja, du.” Ich ramme meinen Finger unsanft gegen Joes Brust. Ich weiß das er nichts für Tais Situation kann, aber an irgendwem muss ich jetzt meinen Frust auslassen.

“Mimi, das war …” Auf einmal wird es hektisch. Schwestern laufen durch die Flure und mehrere Polizisten treten gerade aus dem Fahrstuhl heraus, während andere durch das Treppenhaus gehen. Vor Joe bleibt ein Polizist stehen. “Wo ist Dr. Haruiko Kido? Es liegt ein Haftbefehl vor.”

“Ähm, da hinten ist sein Büro.” Joe deutet auf ein Büro welches am anderen Ende dieses Flurs liegt. Wir sehen den Polizisten nach und sie stürmen das Büro das Chefarztes. “Was zum …” hören wir nur sagen, doch im nächsten Moment taucht Haruiko in Handschellen im Flur auf. Ein Polizist hält ihn fest und drängt ihn dazu, weiterzugehen. “Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?”, bellt Haruiko. Er geht an uns vorbei, doch vorher bleibt er vor uns stehen. Er verengt seine Augen zu zwei schmalen Spitzen. “Du miese kleine Göre. Hatte ich dir nicht Hausverbot erteilt?”

“Ich habe es selbst aufgehoben.” Ich recke meine Schultern hoch. Er jagt mir keine Angst mehr ein. Denn endlich, endlich wird er verhaftet. Er verdient nichts anderes. Was für eine Genugtuung. Karma hat dir sowas von in die Fresse geschlagen.

“Joe, du kümmerst dich um alles. Ich werde herausfinden, wie hoch die Kaution ist und dann werde ich rauskommen.” Natürlich muss er erstmal angeklagt werden, ehe es einen Prozess geben wird, aber vielleicht bei der Schwere der Vorwürfe, wird er nicht aus der Untersuchungshaft entlassen. Ich meine, er ist schwer kriminell. “Wirst du deinem Vater helfen?” Joe sieht mich nicht wirklich an. Vielleicht geht es mich ja auch nichts mehr an.

“Ich werde meine Mutter darüber informieren. Soll sie entscheiden, ob sie ihm helfen will oder nicht.” Ich sehe aus dem Fenster des Flurs, welches zu den Aufzügen führt. Die Presse steht vor den Eingängen des Hauses und natürlich schießt das Blitzlichtgewitter los. Was für eine Sensation. Kari stellt sich neben mich und schaut sich ebenfalls das Spektakel an. “Okay, erzählt mir endlich einer, was hier eigentlich los ist?” Ich sehe sie an und während Joe wieder geht und bereits sein Handy am Ohr hat, erzähle ich Kari endlich die ganze Geschichte.
 

Tai
 

Ein neuer Tag. Die Nacht war eine Katastrophe. Die Ärzte haben beschlossen, die Schmerzmitteldosis weiter zu senken und ich merke abermals wie sehr alles schmerzt. Besonders mein Kopf dröhnt. Na gut, nicht verwunderlich nachdem ich ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten habe. Was mich jedoch mehr beschäftigt ist die Tatsache, dass ich mich an bestimmte Dinge nicht erinnern kann. Ich habe sogar Probleme damit, mich an meinen Pin von meinem Handy zu erinnern. Alltägliche Dinge fallen mir unendlich schwer oder ich kann sie erst gar nicht richtig ausführen. Ich brauche für alles Hilfe und ich hasse dieses Gefühl der Abhängigkeit. Meine Mutter konnte ich überzeugen, diese Nacht endlich wieder daheim zu schlafen und später wollten meine Eltern wieder kommen. Und dann ist da noch diese Frau. Mimi. Ich denke die ganze Zeit an sie und keiner konnte mir so Recht erklären, zu welcher Beziehung ich zu ihr stehe. Ich muss zugeben, dass ich sie außerordentlich hübsch finde. Ihre Augen faszinieren mich, aber wenn ich versuche, mich zu erinnern, ist da nichts. Nur so ein Gefühl. Ich denke, das ist auch schon etwas, aber ich möchte mich so gerne erinnern. Ich habe Durst, aber ich kann den Deckel vom Flaschenhals nicht abdrehen. Ist das nicht komplett lächerlich? Ich kann nicht mal die blöde Flasche packen und zu mir holen, also betätige ich diesen Notfallknopf, damit es eine Schwester machen kann. Wie jämmerlich. “Mr. Yagami, so schön, dass sie wach sind. Wie war ihre Nacht?”

“Ich habe Schmerzen und ich würde gerne etwas trinken.”

“Selbstverständlich.” Die Schwester dreht die Flasche auf, schüttet mir ein Glas Wasser ein und reicht es mir mit einem Strohhalm. “Es wird gleich Frühstück geben. Ich werde ihnen dann dabei helfen.”

“Nicht nötig.”

“Aber …”

“Ich sagte, nicht nötig.” Ich weiß selbst, dass das falscher Stolz ist und nein, keine Ahnung wie ich alleine frühstücken soll, aber ich werde mich auf gar keinen Fall füttern lassen. Irgendwie wird das schon gehen. Die Schwester verabschiedet sich und ich sehe mich um. Hier stehen viele Blumen und Karten. Viele meiner Freunde haben mir Geburtstags- und Genesungswünsche ausrichten lassen. Ich freue mich darüber. Ich will nach einer Karte greifen. Ich versuche mich langsam aufzusetzen und es fällt mir schwer, aber ich bilde mir ein, dass es schon besser klappt, als gestern. Mit der linken Hand strecke ich mich nach einer Karte aus, als mir ein Armband auffällt, welches mein Handgelenk umschließt. Ich sehe es mir an. Wann habe ich das bekommen und von wem? Schon vor dem Unfall oder danach?

“Guten Morgen, Tai.” Joe betritt das Zimmer und holt mich somit aus meinen Gedanken. Ich freue mich, ihn zu sehen. Er studiert das Krankenblatt und sieht mich dann wieder an. Nicht so wie sonst allerdings. Kommt es mir nur so vor oder wirkt er mir gegenüber irgendwie distanziert? “Sorry, dass ich dir im Moment mit deinen Terminen und der PR nicht helfen kann.” Muss sicher schwer sein, sich plötzlich um alles zu kümmern.” Denn das ist wirklich eine Menge.

“Du erinnerst dich noch immer nicht?” Nein. Verdammt. Ich schüttel frustriert den Kopf. “Verstehe.”

“Wann erinnere ich mich wieder?”

“Ich kann dir das nicht pauschal beantworten. Heute werden wir ein paar Tests machen und auch die Physio wird zu dir kommen. Es ist wichtig, dass wir dich wieder mobilisieren. Wie kommst du mit den Schmerzen zurecht?”

“Ist okay”, lüge ich. Ich will einfach nur wieder funktionieren und zwar so wie vorher. “Sei nicht so streng mit dir und nimm die Hilfe an, Tai. Ich kenne dich und du beweist niemanden was, wenn du versuchst hier alles alleine zu machen.”

Ich rolle mit den Augen, das kann ich immerhin noch. Yeah.
 

Mimi
 

Tai erinnert sich nicht. Tzz. Mir egal. Er wird sich wieder an mich erinnern. So schnell wird er mich nicht los. Auf dem Weg ins Krankenhaus telefoniere ich mit Kaori. Ich hatte gestern keine Zeit mehr gehabt, nachzufragen, wie es ihr inzwischen geht. Sie und Misaki wissen gerade nicht so wirklich, wie sie miteinander umgehen sollen. Beide sind sehr vorsichtig, wollen nichts falsches sagen. Kaori ist verletzt und Misaki fühlt sich wahrscheinlich verraten. Soll ich als Vermittlerin fungieren oder ihnen Zeit geben? Es sind doch noch so viele Fragen unklar, aber Kaori weiß, dass sie mich immer anrufen kann, wenn was ist und bald wird Nanami auch alles erfahren und ich bin sicher, spätestens dann wird es wieder heikel werden, denn sie verdient die Wahrheit auch, was genau damals passiert ist.

Ich stehe vor Tais Krankenzimmer. Scheinbar ist gerade niemand bei ihm, ich klopfe an und betrete sein Zimmer. “Hi, darf ich?” Sein Einverständnis sollte ich mir schon noch holen. Er nickt und ich bin erleichtert, dass er mich nicht wegstößt. Muss komisch sein, sich nicht erinnern zu können. “Wie geht es dir?”

“Geht so.” Ich sehe das sein Frühstück unberührt auf seinem Tablett steht. Ich habe von Kari erfahren, dass er nicht selbstständig trinken konnte. Wahrscheinlich beeinträchtigt ihn noch mehr motorische Fähigkeiten. Ich gehe zu seinem Tablett rüber und beginne ein Sandwichbrot zu schmieren. Ich weiß, dass Tai gerne herzhaft isst, also belege ich eine Hälfte mit Salami und die andere mit Rührei. “Der grüne Tee ist kalt, ich werde dir gleich neuen holen.”

“Brauchst du nicht. Du musst mir auch kein Essen anreichen. Ich habe keinen Hunger.” Ich muss schmunzeln, denn ich weiß das Tai immer Hunger hat. Nachdem ich ihn einfach ignoriert habe, schiebe ich den Wagen so um, dass er genau vor seinem Oberkörper steht. “Geht es so?” Ich sehe ihn an und er kneift seine Augen zusammen. Keine Ahnung, ob er auch Probleme damit hat, nach dem Sandwich zu greifen. Er würde es nicht zugeben, so viel ist klar. Ich nehme das Sandwich in die Hand und halte es direkt vor seinem Mund. Tai kneift die Lippen zusammen.

“Mach Aaahh.”

“Du solltest gehen.”

“Nein, sollte ich nicht.” Und schwupps habe ich das Sandwich in seinen Mund gesteckt. “Und lecker oder? Also kauen musst du schon. Soll ich es dir vormachen? Es geht so …” Ich zeige ihm tatsächlich, wie man kaut und schlucke dann herunter. “Erst kauen, dann schlucken. Du kannst doch schlucken, oder? Also ich schlucke ständig … “ Oh Gott, was fasel ich da nur? Tai verkneift sich ein Schmunzeln, während ich rot anlaufe. Oh Gott, ich kann doch nicht mit Tais übers Schlucken reden. “Also Essen, jetzt, wobei … lassen wir das.” Tai wird wieder ernst, aber das ist mir egal. Er würde niemals zugeben, dass er Hilfe braucht. “Weißt du Tai, wenn ich an deiner Stelle wäre, würdest du nicht von meiner Seite weichen. Ich weiß, dass du dich gerade nicht an mich erinnern kannst und nur dass du es weißt, dass ist scheiße, denn eigentlich magst du mich …” Hoffe ich. Eigentlich glaube ich sogar, dass er sehr viel mehr für mich empfindet. Ich hatte mir so fest vorgenommen, ihm zu sagen, was ich fühle, wenn er wach wird, aber wie soll ich ihm jetzt sagen, dass ich ihn liebe, wenn er nicht mal mehr weiß, wer ich bin? “Ich weiß, dass du nichts dafür kannst …” Nein, denn das ist alles nur meine Schuld, aber das kann ich ihm jetzt auch nicht erzählen. Seit wann kann ich mit Tai nicht mehr über alles reden? In seine Augen zu blicken und nicht diesen, warmen, liebevollen Blick zu bekommen, wie sonst ist schrecklich. Ich vermisse ihn immer noch, weil Tai zwar da und wach ist und doch ist er noch so weit weg. Zumindest weit weg von mir. Vielleicht erinnert er sich wieder. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bleibt unsere Geschichte ein Traum, weil er zu schön ist, um wahr zu sein. “Ich will dich wirklich nicht nerven oder so. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, Hilfe anzunehmen. Vor allem von mir, du weißt ja nicht mal, wer ich bin, aber ich möchte gerne für dich da sein.” Ich halte immer noch das Sandwich vor seinem verschlossenen Mund und frage mich, was ich hier eigentlich tue. Ich lasse das Sandwich sinken und setze mich auf einen Stuhl. Er denkt wahrscheinlich, ich bin komplett übergeschnappt und ich kann es verstehen. Ich wünschte, ich könnte irgendwie zu ihm durchdringen, auf andere Art und Weise. Er trägt noch das Armband, welches ich ihm geschenkt habe. Ich freue mich darüber und lächle es an. “Du hast das von mir bekommen.” Ich deute auf sein Armband und er folgt meinem Blick. “Das ist ein Schutzstein. Der grüne Jaspis schützt vor äußeren Einflüssen, verleiht Mut und lindert den Schmerz. Na ja, ich hoffe, er hat ein bisschen geholfen, bei deiner Genesung beizutragen.” Tai schaut auf den Schutzstein, umrandet mit seinem Daumen den Jaspis, lässt das Armband aber zum Glück an. Vielleicht bedeutet es ihm ja doch was. Das wäre schön.

“Du hast eine tolle Familie und sehr liebevolle Eltern. Ich habe sie erst hier kennengelernt.” Ich fülle das Wasserglas wieder auf und lasse frischen und warmen grünen Tee kommen. “Also möchtest du jetzt doch was richtiges Essen oder weiter durch einen Schlauch gefüttert werden? Das wäre nämlich deine Alternative.” Tai folgt mit seinem Blick einem Beutel, wo eine Flüssigkeit dran befestigt ist. “Also ich würde mal behaupten, dass Essen schmeckt besser. Auch für den Geschmack im Mund. Ich meine sonst ist doch alles so schrecklich fahd…”

“Du redest echt viel …” Ähm, ja, vor lauter Nervosität. Ich nicke jedoch nur.

“Du hingegen nicht so.”

“Man kommt ja auch nicht wirklich zu Wort.” Sucht er Streit mit mir? Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie viel wir uns am Anfang gestritten haben, muss ich lächeln. Er hat echt alles dafür getan, dass ich ihn hasse und dann hat sich alles zwischen uns verändert. “Mittags soll es eine Suppe geben. Ich kann aber auch Davis fragen, ob er dir eine zubereitet und dir vorbeibringen. Kannst du schlürfen? Ich konnte vorher nicht schlürfen, also schon, aber ich habe es nicht gemacht. Du hast es mir beigebracht, zu schlürfen, eine Suppe, meine ich. Ich habe sie vorher mit dem Löffel gegessen, weil na ja, ich …” Oh man, ich sollte echt meinen Mund halten. Tai sein Blick ist einfach nicht zu deuten, ist er amüsiert oder genervt von mir? Oh man, so wird er sich wohl eher nicht in mich verlieben. Ich kratze mir am Hinterkopf. Wieso stellt er denn keine Fragen? Will er gar nichts über mich wissen? “Okay. Willst du, dass ich gehe?” Tai sieht mich einfach nur an. Er sagt nichts. Er nickt aber auch nicht oder schüttelt den Kopf. Er sieht mich einfach nur an, als würde er versuchen, mich zu verstehen oder mich zu erkennen, aber scheinbar gelingt es ihm nicht. Wie schade. “Ich besorge dir eine Suppe von Davis. Der wirst du nicht widerstehen können. Isst du auch etwas anderes gerne dort?” Tai sagt nichts. Oh man, was ist denn sein Problem? “Als wir zusammen im Fußballcamp waren, haben wir am letzten Abend Stockbrot und Marshmallows zusammen gemacht. Das war schön. Möchtest du vielleicht etwas süßes?”

“Du … du warst mit im Fußballcamp?”

Ich nicke ihm zu.

“Du hattest mich eingeladen und da habe ich Davis kennengelernt. Wir waren zusammen … wandern…” Ich werde ein wenig rot bei der Erinnerung, weil das Wandern eigentlich nur Mittel zum Zweck war. “Du siehst nicht aus, als hättest du Ahnung von Fußball.” Wow, das erste was er sagt und gleich eine Klatsche.

“Ich kann ganz gut mit Kindern und es war wirklich eine schöne Zeit.” Er nickt. Wow, wenn wir weiter in diesem Tempo voranschreiten, wird er mich nächsten Monat vielleicht anlächeln.

“Ich … ähm … also würdest du mal dein Handy öffnen? Wir haben Fotos zusammen gemacht? Vielleicht hilft es dir, dich zu erinnern?” Keine Reaktion. Oh man, er ist komplett genervt von mir. Ich lasse meine Schultern sinken und meide den Blickkontakt zu Tai. Irgendwie ertrage ich das gerade nicht. Für mich ist das hier gerade die schlimmste Bestrafung. “Das haben wir nicht verdient. Du und ich, meine ich … Wir haben so viel zusammen durchgestanden und jetzt, jetzt hältst du mich für die größte Nervensäge der Welt. Es tut mir so leid, Tai.” Ich traue mich wieder, zu ihm zu sehen, aber er bleibt stumm. Die Zimmertüre öffnet sich und Tais Physiotherapeutin kommt zu ihm. Das ist dann wohl mein Stichwort. Ich erhebe mich. “Ich lass euch dann mal alleine. Tai?” Tai sieht mich an. Irgendwie undefinierbar. Mein Gott, hat dieser Mann ein Pokerface. “Ich würde gerne später wiederkommen, wenn ich darf? Mit Davis Suppe und danke, dass ich bleiben durfte.” Ich verbeuge mich vor ihm, was irgendwie suspekt ist und warte seine Reaktion ab. Er nickt. Okay, also scheinbar habe ich nicht alles falsch gemacht. Vielleicht will er einfach nur Davis seine Suppe, kein Plan. Ich verlasse Tais Krankenzimmer. Schwer atme ich aus und lege meinen Kopf gegen Tais Zimmertüre. Ich weiß, die Götter da oben haben mir schon viele Wünsche erfüllt und vielleicht ist es gemein, noch einen weiteren zu äußern, aber bitte, bitte, lasst Tai sich an mich erinnern. Danach werde ich nie wieder einen Wunsch äußern. Nur diesen einen noch.

Tai
 

Ich komme mir vor wie der letzte Versager.

Diese Physiotherapie ist die absolute Hölle. Wie kann mein Körper mich nur so im Stich lassen?

Ich kann mich immer noch nicht an den Unfall erinnern. Alle sagen mir, dass ich sieben Meter in die Tiefe gestürzt bin. Dass ich das überlebt habe, grenzt an ein Wunder. Wenn ich allerdings jetzt Jahre damit zubringen muss, zu üben, wie man den kleinen Finger bewegt, dann würde ich mir lieber wünschen, draufgegangen zu sein.

„Sie machen das sehr gut, Taichi.“

Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während mir der Schweiß die Schläfe entlangläuft. Inzwischen sind drei Tage vergangen, seitdem ich aufgewacht bin und heute sitze ich das erste Mal aufrecht auf meiner Bettkante und übe – oh Wunder – wie man eine Faust macht. Unfassbar!

„Immer mit der Ruhe. Wir haben Zeit“, sagt meine Physiotherapeutin, während sie mir auf einem Stuhl gegenübersitzt und jede Übung mit mir mitmacht, damit ich im Tempo bleibe. Wir haben beide so etwas wie Knete in der Hand und drücken in regelmäßigen Abständen kräftig zu.

Es ist die reinste Tortur. Den Arm kann ich immer noch nicht heben und meine Finger schmerzen bei jeder Bewegung.

„Ich denke, das reicht für heute“, sagt sie schließlich und beendet die Übung, aber ich sehe sie nur enttäuscht an. „Das ist alles?“

„Wir haben erst vor zwei Tagen angefangen. Sie sollten es nicht gleich übertreiben.“

Sie tut gerade so, als wäre ich einen Marathon gelaufen, dabei habe ich nur eine verfickte Knete mit meiner Hand gedrückt.

„Wenn Sie möchten, können Sie später allein mit der Übung fortfahren. Ich lasse Ihnen die Knete da. Erst mal kümmern wir uns um Ihre Hände und Ihre Arme, danach ist der Oberkörper dran, sobald sie sich fit genug dafür fühlen. Und wenn ihr gebrochenes Bein verheilt ist, werden wir das Gehen üben. Vielleicht können wir vorher schon ein wenig mit Krücken arbeiten, je nachdem, wie ihr Heilungsprozess voranschreitet. Das sehen wir dann. Wichtig ist, dass Sie sich nicht unter Druck setzen. Ich weiß, es sieht nicht viel aus, aber dass Sie die Knete heute drücken konnten, ist ein großer Erfolg.“

Ein großer Erfolg. Dass ich nicht lache. Ein Dreijähriger könnte das besser als ich.

Sie packt Ihre Tasche und verbeugt sich zum Abschied. „Wir sehen uns morgen wieder.“

Nachdem Sie den Raum verlässt, rutsche ich zurück auf die Matratze und lasse mich frustriert nach hinten sinken. Ich bin echt nicht der Typ für so was. Ich war immer topfit. Und ja, ich weiß, ich kann froh sein, dass ich noch lebe – das sagen mir alle – aber es fällt mir so unfassbar schwer, Hilfe anzunehmen. Ich meine, ich kann nicht mal alleine essen.

Es klopft an meiner Zimmertür und die brünette Unbekannte steckt ihren Kopf rein.

„Hallo, darf ich reinkommen?“

Ich nicke nur, auch wenn das total egal ist, denn sie kommt sowieso jeden Tag her.

Mimi tritt an mein Bett und lächelt mich an. Das tut sie immer. Und ich habe keine Ahnung, wieso. Bisher hab ich auch immer noch nicht herausgefunden, in welcher Beziehung wir zueinanderstehen. Sind wir Freunde? Wohl eher nicht, so, wie sie mich nach meinem Aufwachen überfallen hat und küssen wollte. Wie lange kennen wir uns schon? Woher kennt sie die anderen? Und wieso erzählt mir keiner etwas über sie?

Wie auch immer. Ich frage sie nicht danach. Hin und wieder erzählt sie mir von Dingen, die wir angeblich zusammen erlebt haben, aber ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich an gar nichts. Das alles ist so scheiße frustrierend.

„Wie geht es dir heute? Ich habe dir wieder Suppe mitgebracht“, verkündet sie und hält eine weiße Tüte in die Höhe. Auch wenn ich diese Geste zu schätzen weiß, so schaffe ich es nicht, mich darüber zu freuen.

„Keinen Hunger“, grummle ich nur und schaue woanders hin, während sie schon anfängt, die Suppe auszupacken. Das macht sie irgendwie ständig – sie bringt mir Essen mit. Und dann besteht sie darauf, mich zu füttern, weil ich es ja nicht selbst kann. Wie erbärmlich.

„Ach, Tai“, sagt sie nur und macht unbeirrt weiter. „Du musst essen, wenn du wieder zu Kräften kommen willst. Und ich weiß, dass du die Suppe von Davis sehr magst.“

Da hat sie recht.

Die Suppe ist nicht das Problem.

„Komm schon“, versucht sie weiter auf mich einzureden, öffnet den Deckel der Suppe und nimmt mit zwei Stäbchen die Nudeln auf. Echt jetzt, wenn sie noch einmal versucht, mich wie ein kleines Baby zu füttern, drehe ich durch.

„Ich habe gesagt, ich will nicht“, erwidere ich nur und drehe den Kopf weg.

Mimi seufzt und lässt die Stäbchen sinken. „Du bist wirklich stur.“

„Und du nervst.“

Als sie nichts darauf erwidert, schaue ich sie wieder an und erkenne, dass sie diese Bemerkung gerade verletzt hat. Eine Mischung aus Entsetzen und Traurigkeit legt sich auf ihr Gesicht und prompt tut es mir leid, dass ich so grob zu ihr bin.

Sie kommt jeden Tag her, fragt, wie es mir geht, macht sich Sorgen und will anscheinend nur mein Bestes und ich?

Ich verhalte mich wie ein Arsch und schnauze sie an. Großartig.

„Entschuldige“, sage ich deshalb, doch sie schüttelt nur den Kopf und zwingt sich zu einem Lächeln.

„Schon okay.“

Schon okay? Ist das ihr Ernst? „Ist es dir egal, wie ich dich behandle?“ Immerhin war ich bisher nicht sonderlich nett zu ihr. Aber das liegt nicht an ihr. Ich meine, ja, sie ist aufdringlich und redet unfassbar viel und manchmal geht sie mir damit echt auf die Nerven. Trotzdem glaube ich, dass ich das Problem bin, nicht sie.

„Ich habe viel Verständnis für deine Situation. Ich bin einfach nur froh, dass du wieder da bist. Von daher, ja, das ist mir gerade egal. Hauptsache du bist bei mir.“

Bei mir.

Sie sagt solche Sachen ständig so, als wäre das ganz normal. Als würde ich zu ihr gehören oder so.

Fragend sehe ich sie an. Sehe in ihr hübsches Gesicht, welches ich seit Tagen immer wieder betrachte und mich dabei frage, wie ich so ein Gesicht nur vergessen kann. „Ich habe keine Ahnung, warum du das alles tust.“ Ich bin einfach so verwirrt. Es ist, als hätten alle einen Film gesehen und ich habe die Vorstellung verpasst.

Sie hat sogar Blut für mich gespendet, zwei mal, war jeden Tag an meinem Krankenbett, hat um mich geweint. Warum das alles?

„Weil ich … weil ich dich …“

„Aber ich kenne dich doch überhaupt nicht“, entfährt es mir, weil ich einfach so wütend über diese Situation bin. Da steht diese wunderschöne Frau vor mir, zu der ich offensichtlich eine Verbindung spüren sollte, aber da ist nichts. Keine einzige Erinnerung. Wie kann das sein?

Ich schaue sie an. Dieser Satz hat sie mitten ins Herz getroffen. Auch wenn sie versucht, es zu verbergen, erkenne ich den Schmerz hinter ihren hübschen Augen. Diese Augen … wo habe ich sie schon mal gesehen? Habe ich sie schon mal gesehen?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß es einfach nicht.

Und ich weiß auch nicht, was ich noch sagen soll. Mimi hingegen lässt den Kopf traurig sinken und sieht zu Boden. Es tut mir weh, dass ich sie mit meinen Worten verletzt habe und am liebsten würde ich sie zurücknehmen, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht, warum sie hier ist. Ich weiß nicht, warum sie so liebevoll mit mir umgeht. Ich weiß nicht einmal, wo sie herkommt oder warum sie sich für mich interessiert.

„Ich … ich habe ganz vergessen, dass ich noch was erledigen muss. Ich komme später wieder“, sagt sie plötzlich und verbeugt sich vor mir. Ihre langen Haare fallen ihr dabei ins Gesicht und verschleiern die Tränen, die sie vor mir zu verbergen versucht. Aber ich sehe sie trotzdem und für einen Moment zieht sich mein Herz zusammen.

Sie dreht sich um und geht und ich weiß, dass es wegen mir ist, wegen dem, was ich gesagt habe.

Ich bin so ein Idiot. Am liebsten würde ich jetzt eine Faust machen und auf den Nachttisch schlagen – aber das kann ich ja nicht. Ich Versager.
 

Mimi
 

Ich kann nicht aufhören zu weinen. Ist mir auch egal, dass mir alle Leute hinterherschauen, als ich aus dem Bus steige. Ich bin einfach nach Hause gefahren. Oder besser gesagt, zu Tais Wohnung. Ist ja wohl eine Frage der Zeit, bis er mich rausschmeißt.

Es ist so ungerecht, es ist alles so verdammt ungerecht!

Wie lange haben wir gekämpft, um zusammen sein zu dürfen?

Wie oft waren wir verzweifelt und wussten nicht, ob wir es schaffen?

Durch wie viele Höllen bin ich gegangen, um endlich frei und bei ihm zu sein?

Und jetzt?

Alles Schall und Rauch.

Alles vergessen.

Einfach so.

Ich kann nicht beschreiben, was das für ein Gefühl ist. Ich war schon oft verzweifelt oder hatte keine Hoffnung mehr, vor allem in den letzten Monaten. Aber das toppt wirklich alles. Ich fühle mich so hilflos.

Tai zu sehen, wie er im Koma liegt, war schon schlimm genug. Aber jetzt? Dieser leere, fragende Blick, wenn er mich ansieht, weil er mich einfach nicht erkennt. Das ist schlimmer als jeder Albtraum.

Er hat sie vergessen – unsere Liebe.

Weinend komme ich oben an der Wohnungstür an und will sie gerade öffnen, als mir vom Hausflur lautes Gelächter entgegen schallt. Zwei Leute kommen lachend um die Ecke gebogen, sie halten Händchen, werfen sich verliebte Blicke zu. Es sind Sally und Davis.

„Oh man, du bist echt unmöglich“, lacht Sally.

Davis knufft ihr in die Wange. „Wieso? Nur, weil ich dich damit aufziehe, dass du in der Geisterbahn geschrien hast, wie ein kleines Baby?“

„Ha ha!“, entgegnet Sally nur, da wird sie auch schon von Davis gepackt und herumgewirbelt. Sie stößt einen kurzen Schrei aus, ehe er sie küsst.

Okay. Jetzt muss ich noch mehr heulen.

Und ich heule so richtig los. Nicht leise, nicht heimlich, nein, richtig laut.

Erst jetzt werden die beiden auf mich aufmerksam.

„Mimi?“ Sally lässt von ihrer Eroberung ab und kommt zu mir geeilt. „Was ist denn nur passiert? Ist was mit Tai?“

Ich sehe sie hilflos an. „Keine Ahnung“, schluchze ich und reibe mir verzweifelt über die Augen. „Wenn du damit meinst, dass er mich einfach vergessen hat, dann ja.“

„Ach Mimi, er hat dich doch nicht vergessen. Er kann sich nur gerade nicht an dich erinnern.“

„Ist doch das Gleiche.“ Sollte mich das etwa aufmuntern?

„Oh man“, sagt Sally und zieht mich am Arm in die Wohnung. Davis folgt uns.

Sally schiebt mich zur Couch und drückt mich an den Schultern nach unten, damit ich mich setze. Dann hockt sie sich vor mich und sieht mich an.

„Was hat er denn genau gesagt? Davis? Taschentuch!“

Von hinten reicht Davis mir eins und ich schnaube mich aus. Na toll, jetzt muss ich auch noch an die erste Begegnung mit Tai denken, als ich mir vor allen die Nase geputzt habe. Selbst das hat er vergessen.

„Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, dass ich ihn liebe. Aber er hat gesagt, er kennt mich überhaupt nicht.“

„Autsch“, kommt es von Davis. Selbst er verzieht das Gesicht. „Das tut weh.“

„Ja, tut es“, jammere ich und schniefe gleich noch mal ins Taschentuch, während Sally nur den Kopf schüttelt.

„Mimi, Mimi, Mimi. Nein, das kannst du doch nicht machen. Nicht so. Das ist typisch für dich, immer mit dem Kopf durch die Wand. Ist doch klar, dass ihn deine tiefen Gefühle erst mal abschrecken. Er hat eine Amnesie. Du weißt, was das bedeutet, oder?“

„Ja“, sage ich weinend. „Dass er mich nicht mehr liebt.“

Sally seufzt. „Natürlich liebt er dich noch. Er kann sich nur nicht daran erinnern. Jedenfalls im Moment nicht. Schon klar, dass du ihm nicht einfach die ganze Geschichte erzählen kannst und schwupp ist alles wieder da. Das würde ihn nur überfordern. Ich denke, das beste ist, wenn du ihn das Tempo bestimmen lässt.“

Ich schluchze immer noch, aber ich versuche, Sally zu folgen. „Wie meinst du das?“

Sally legt eine Hand auf mein Knie und schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln. „Als erstes hör mal auf, ihn zu bedrängen und Suppe in ihn reinkriegen zu wollen.“

„Aber er muss doch zu Kräften kommen.“

Sally nickt eifrig. „Ja, schon klar, aber hast du auch mal daran gedacht, dass er sich damit nicht wohl fühlt und ihm das alles zu viel ist? Einfach alles meine ich.“

Na ja, natürlich habe ich versucht mir vorzustellen, wie überwältigend das alles für Tai sein muss. Allerdings war ich so sehr damit beschäftigt, ihm meine Liebe zu beweisen, dass ich mehr darauf und weniger auf seine Bedürfnisse fixiert war. Vielleicht hat Sally recht und ich erdrücke ihn mit meiner Fürsorge.

„Kann schon sein“, gebe ich zu und Sally nickt wieder.

„Er wird sich schon noch an dich und eure gemeinsame Zeit erinnern, Mimi. Ganz sicher. Und die Gefühle sind auch nicht weg. Aber gib ihm etwas Zeit. Und lass ihn das Tempo bestimmen.“

Ich falte meine Hände im Schoß und denke nach. Während Sally geredet hat, habe ich aufgehört zu weinen, denn es ergibt alles Sinn, was sie sagt.

Ich habe ihn ziemlich überfallen. Natürlich weiß er nicht, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Keine Ahnung, was ich mir davon erhofft habe, aber ich dachte, wenn ich nur oft genug bei ihm bin und ihm zeige, wie viel er mir bedeutet, dass er sich dann einfach wieder erinnern muss.

Dass man so etwa unmöglich erzwingen oder beschleunigen kann, wird mir nun auch klar.

„Und du meinst, er liebt mich immer noch?“, frage ich meine beste Freundin.

Sally lächelt. „Ganz bestimmt sogar. Und wenn nicht, dann wird er sich eben neu in dich verlieben.“

Ich muss schmunzeln. Klingt irgendwie romantisch.

„Hört sich für mich alles logisch an“, meint Davis mit verschränkten Armen. „Gott, meine Freundin ist so was von schlau.“ Er wirft Sally einen vielsagenden Blick zu, doch diese verdreht nur lachend die Augen.

Diese beiden … irgendwie beneide ich sie ja.

„Kannst du mir vielleicht noch mal was zum Anziehen leihen?“, frage ich Sally. Sie steht auf und geht zu ihrem Koffer.

„Ich kann dir auch Geld leihen. Dann kannst du dir deine eigenen Klamotten kaufen.“

Leider liegen alle meine Sachen noch immer in der Villa. Ich habe es bis heute nicht gewagt, sie zu holen. Und Geld habe ich im Moment nicht.

„Ist schon gut“, entgegne ich. „Ich werde mir einen Job suchen. Irgendwann muss ich ja wieder arbeiten, jetzt, wo ich nicht mehr reich bin.“

„Wie du meinst, aber bedien dich vorher ruhig an meinen Sachen“, sagt Sally. Ich gehe direkt zu ihr und wir schauen, welche ihrer Teile mir am besten stehen würden. Ich hoffe, es ist etwas dabei, dass Tai so richtig umhaut. Wenn er mich schon nicht mehr liebt, dann soll er mich wenigstens scharf finden.
 

Tai
 

Meeresrauschen.

Ich höre die Wellen aufschlagen. Meine Füße stecken im Sand und ich spüre Wärme auf meiner Haut. Ich hebe den Kopf.

Da ist sie schon wieder. Ich erinnere mich an sie. Ich kenne sie aus meinen Träumen, die hübsche Frau im weißen Kleid. Ihr hellbraunes Haar weht im Wind und die Sonne küsst ihre Haut. Sie sieht so glücklich aus.

Ich trete näher, jetzt läuft sie nicht mehr vor mir weg. Sie bleibt einfach stehen und lässt sich von mir umarmen.

Ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus, als sie ihren Kopf gegen meine Brust legt. So ein Gefühl, das einem sagt: es ist alles gut.

Sie flüstert meinen Namen.

Wer ist sie? Woher kenne ich sie? Ich lehne meinen Kopf auf ihren und atme ihren Duft ein.

„Du riechst gut.“

Sie kichert. Dann flüstert sie wieder: „Tai.“

Ich schließe die Augen und genieße ihre Nähe.

Bei ihr fühle ich mich sicher.

Bei ihr ist alles gut.
 

Doch als ich die Augen wieder aufschlage, ist das Meer verschwunden. Stattdessen laufe ich durch einen Wald.

Ich sehe mich um. So viele Bäume. Und da …

Da ist sie wieder.

Sie steht an einem Wasserfall und deutet mir an, zu ihr zu kommen. Ich klettere über einen Stein zu ihr und als ich vor ihr stehe, zieht sie mich an sich.

Es geht alles so schnell.

Ein Wimpernschlag.

Der Wald ist verschwunden.

Aber sie steht immer noch vor mir. Ihre Hände ruhen auf meinen Armen und meine an ihrer Taille.

Musik setzt ein.

Wir beginnen zu tanzen. Einen Walzer? Keine Ahnung, wieso, aber es fühlt sich ganz natürlich an. Ihre Augen verzaubern mich und ihr Lächeln geht mir unter die Haut.

Mein Herz beginnt wie wild zu klopfen, als ich plötzlich alleine tanze.

Sie ist verschwunden.

Suchend sehe ich mich nach ihr um.

Wo ist sie hin? Ohne sie will ich hier nicht sein.

Da!

Ich entdecke sie in einiger Entfernung. Sie trägt ein wunderschönes Ballkleid, aber ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Sie weint.

Ich will sofort zu ihr, aber meine Beine bewegen sich nicht. Ich bin wie festgefroren.

Jemand legt einen Arm um ihre Schultern. Es ist Joe, ich erkenne ihn. Was tut er da?

Er tröstet sie, oder versucht es zumindest. Aber ihre traurigen Augen haften nur an mir.

Sie entfernen sich von mir und ich verspüre den starken Drang sie beschützen zu müssen.

„Geh nicht“, rufe ich ihr nach, strecke die Hand nach ihr aus. Aber sie ist fort. Ich habe es nicht geschafft, sie zu beschützen.

Warum fühle ich mich plötzlich so leer, so verloren? Es schnürt mir die Kehle zu und ich bekomme keine Luft. Es ist, als würde jemand seine eiskalten Finger um meinen Hals legen und erbarmungslos zudrücken.

Gerade, als ich denke, ich ersticke, tut sich der Boden unter meinen Füßen auf und ich falle in die Tiefe.
 

Ich schnappe nach Luft, als ich endlich die Augen aufschlage. Draußen ist es immer noch taghell. Ich muss wohl eingeschlafen sein.

Scheiße, was war das für ein verrückter Traum?

Und warum war da … Mimi?

Ja, jetzt erkenne ich sie endlich. Sie ist es. Sie ist die Frau aus meinen Träumen. Sie war die ganze Zeit bei mir, in meinem Kopf.

Aber warum? Was hat das alles zu bedeuten?

Diese Träume waren bisher alle so verworren, dass ich sie einfach nicht deuten kann. Ich weiß nur, dass es etwas zu bedeuten hat.

Ich bin mir sicher. Mimi ist mir nicht ohne Grund immer und immer wieder in meinen Träumen erschienen.

Wir waren uns so nah. Alles hat sich so vertraut und natürlich angefühlt. Und doch fühlt sich die Realität so fremd an. Ich habe einfach keine Erinnerung an … Ja, woran eigentlich?

Dass ich sie liebe?

Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Müsste dann mein Körper nicht irgendwie auf sie reagieren?

Kann man Liebe so einfach vergessen?

Ich möchte mir mit der Hand durch die Haare fahren und habe für den Bruchteil einer Sekunde vergessen, dass ich das ja nicht kann, weil ich meinen Arm nicht heben kann. Verdammt.

Ich würde wirklich zu gerne wissen, was mein Kopf versucht, mir zu sagen.
 

Es klopft an meine Tür und gleich darauf kommt Joe herein, gefolgt von … Kaori? Was macht sie denn hier? Ich neige den Kopf und schaue erwartungsvoll zur Tür, ob Jim noch hinterher kommt, aber nein. Sie ist ohne ihn und mit Joe gekommen. Muss ich das verstehen?

„Hallo Tai, wie geht es dir heute?“, fragt Joe, während er in meiner Krankenakte blättert. Ich ziehe jedoch einfach nur eine Augenbraue skeptisch nach oben und beäuge die beiden kritisch.

„Was machst du denn hier?“, frage ich. Sie hat mich zwei Jahre lang gemieden und jetzt kommt sie mich besuchen? Kaori räuspert sich. „Wollte mal sehen, ob du mich noch erkennst.“ Dann lacht sie gequält auf. „Aber sieht wohl so aus.“

Wie bitte? Hatte sie etwa die Hoffnung, ich hätte sie vergessen?

„Ich habe dir etwas mitgebracht“, redet Joe einfach dazwischen, als hätten wir gar nichts gesagt und tritt zu mir ans Bett. Er hält so ein komisches Teil in die Höhe. „Das ist ein Langzeit-Elektrokardiogramm.“

„Ein was?“

„Ein EKG“, vereinfacht Joe seinen Satz. „Es wird innerhalb der nächsten 24 Stunden deine Herzströme messen und aufzeichnen. Damit können wir feststellen, ob du zum Beispiel Herzrhythmusstörungen, Herzrasen oder Schwindel hast. Es wird uns Aufschluss darüber geben, in wie weit du dich von deinem Koma schon erholt hast. Im Grunde eine reine Vorsichtsmaßnahme, nichts Wildes.“

Ich nicke, während Joe näher tritt und auf meine Brust zeigt. „Darf ich?“

Wieder nicke ich, also zieht er mein Shirt hoch, klebt 4 Elektroden auf meinen Brustkorb und hängt dann das Aufzeichnungsgerät an meine Pyjamahose.

„Das war’s schon“, sagt er und lässt mein Shirt wieder nach unten gleiten.

„Danke“, sage ich und er wendet sich sofort wieder ab. Er sieht mich kaum an. Seit er den Raum betreten hat, hat er mir nicht ein Mal in die Augen gesehen.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so angespannt?“, frage ich frei heraus, aber selbst jetzt sieht er mich nicht an. Stattdessen macht er Notizen in meine Akte.

„Alles bestens“, erwidert er nur, während er schreibt. Ich sehe zu Kaori, aber auch sie tut so, als wäre der Fußboden interessanter.

„Ich muss auch gleich weiter“, meint Joe und klappt die Akte zu. „Habe noch Patienten.“

Ich nicke. „Okay.“

Joe geht zur Tür. „Oh, und achte bitte darauf, dass du mit deinem Handy nicht zu nah an das EKG-Gerät kommst. Das Magnetfeld würde die Aufzeichnung beeinträchtigen.“

„Keine Sorge, das wird nicht passieren, weil ich nämlich meinen Pin vergessen habe.“

„Du hast deinen Pin vergessen?“, fragt Kaori verwundert.

„Ja, ich kann mich einfach nicht daran erinnern.“

„Das wird dir schon wieder einfallen“, wirft Joe ein. Diesmal sieht er mich an. Ausdruckslos. Keine Ahnung, was er gerade denkt. Da kommt mir dieser Traum von eben wieder in den Sinn … Joe kam auch darin vor.

„Kannst du mir auch sagen, wann das sein wird?“, frage ich.

Joe zuckt mit den Schultern. „Das kann niemand.“

„Schade. Ich würde mich wirklich gerne wieder an alles erinnern. Dass diese Frau, Mimi meine ich, so tut, als würden wir uns gut kennen, ist mir unangenehm, weil ich mich überhaupt nicht an sie erinnern kann. In welchem Verhältnis stehst du eigentlich zu ihr? Du kennst sie doch auch, oder?“

Etwas flackert in Joes Augen auf. Ich kann es nicht deuten, aber die Art und Weise, wie er mich gerade ansieht, verrät mir, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe.

Aber warum nur? Joe zögert.

„Es wäre besser, wenn wir jetzt nicht über sie sprechen und wenn du dich von selbst wieder an das erinnern würdest, was passiert ist.“

Was passiert ist? Was, zum Teufel, meint er damit?

Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, dreht er sich um und geht. „Ich habe noch Patienten. Bis später, Tai.“

Irritiert schaue ich zur Tür, durch die er grad gegangen ist und frage mich ernsthaft, was hier abgeht. Warum ist er so komisch? Und warum steht Kaori immer noch an meinem Bett?

„Kann ich dir irgendwas bringen? Ein Wasser vielleicht? Oder etwas Süßes?“

Ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung und schaue sie fragend an. Was soll dieser Zirkus?

„Seit wann sind wir wieder Freunde?“ Die Frage meine ich ganz im Ernst. Sonst sind wir doch auch ziemlich gut darin, uns zu ignorieren und jetzt das?

„Ähm“, macht Kaori nur und legt den Kopf schief, als müsste sie erst mal über diese Frage nachdenken. Schon klar, dass sie wahrscheinlich gar nicht weiß, wie man Freunde definiert.

„Ich weiß nicht, ob wir Freunde sind“, gibt sie schließlich ehrlich zu. „Aber ich denke, wir sind auf einem guten Weg dahin.“

Okay. Wie lange lag ich noch mal im Koma?

„Du siehst mich an, als würde ich Schwachsinn reden“, lacht Kaori trocken auf.

„Kannst du’s mir verübeln?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Natürlich nicht. Vor deinem Unfall hatten wir ein Gespräch. Daran erinnerst du dich offensichtlich auch nicht mehr. Wir haben uns ausgesprochen und ich habe mich bei dir für mein Verhalten entschuldigt. Du hast die Entschuldigung angenommen.“

So? Habe ich das? Na, ich muss ja sehr versöhnlich drauf gewesen sein.

„Dann ist ja gut“, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

Kaori nickt zufrieden. „Ja.“

Dann legt sich Stille zwischen uns. Eine unangenehme, peinliche Stille. Keiner weiß so recht, was er sagen soll. Das, was Mimi zu viel quasselt, redet Kaori eindeutig zu wenig.

„Du sagtest, du kannst dich nicht mehr an deine Handy Pin erinnern. Hast du keine Touch ID oder Face ID?“

Ich schiele zu meinem Handy, welches auf meinem Nachttisch liegt. „Nein, ist offensichtlich ausgestellt. Und bei der PIN hab ich schon alles versucht. Meinen Geburtstag, Karis Geburtstag, Mamas Geburtstag. Ich habe sogar den Geburtstag meines ersten Haustieres eingegeben – es war ein Hamster. Nichts. Alles falsch.“

Das ist echt frustrierend. Dieses Teil könnte mir wahrscheinlich Aufschluss darüber geben, was in den letzten Monaten in meinem Leben so abging. Die Antworten liegen vermutlich zum Greifen nahe und ich komme trotzdem nicht ran.

„Hmm“, macht Kaori und überlegt wieder. „Hast du es mit Mimis Geburtstag versucht?“

Mimi.

Warum schon wieder Mimi?

Ist diese Mimi der Schlüssel zu allem?

„Nein und den weiß ich auch nicht.“

„Ich auch nicht. Aber du könntest sie fragen.“

„Ja, vielleicht.“

Nachdenklich starre ich meine Bettdecke an. Das alles zieht mich unfassbar runter. Dass ich eine Amnesie habe, ist fast noch schlimmer, als halb gelähmt zu sein.

„Kannst du mir etwas über Mimi erzählen?“, frage ich Kaori beiläufig, diese jedoch seufzt nur.

„Es wäre besser, wenn du dich von selbst daran erinnerst. Joe hat das auch gesagt.“

„Richtig.“ Trotzdem bin ich es so, so leid.

In meinem Kopf herrscht ein riesiges Chaos. Wie ein großes Puzzle und ich kriege die Teile einfach nicht zusammen.

„Das wird schon wieder, Tai. Du brauchst nur Geduld.“

Geduld, Geduld. Wie viel Geduld soll ich denn aufbringen?

Als ich nichts sage, sondern stattdessen nur ein unzufriedenes Brummen von mir gebe, schmunzelt Kaori.

„Du bist viel zu streng mit dir. Und auch mit allen anderen. Alle meinen es nur gut und wollen dir helfen.“

„Ich habe es einfach so satt, dass mich alle wie ein kleines Baby behandeln und ich einfach nichts dagegen tun kann. Wie würdest du dich fühlen, wenn du vorher von Häusern gesprungen wärst und du jetzt nicht mal ein Glas in den Händen halten könntest?“

Ganz ehrlich, es ist erst drei Tage her, seit ich aus dem Koma erwacht bin, und trotzdem weiß ich nicht, wie ich diesen Zustand noch länger ertragen soll. „Ich will einfach mein altes Leben zurück.“

Kaori kommt einen Schritt näher und setzt sich auf die Kante meines Bettes. Sie sieht mich eindringlich an.

„Und das wirst du auch bekommen, zusammen mit Mimi.“

Ein trauriges Lächeln huscht über meine Lippen. „Keine Ahnung, was du damit meinst, aber sie hat schon verdammt viel Geduld mit mir bewiesen. Trotzdem schaffe ich es nicht, sie an mich ranzulassen, oder von ihr Hilfe anzunehmen.“

Kaori legt den Kopf schief und schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln. „Dann solltest du das vielleicht ändern, vielleicht kommt dann auch deine Erinnerung schneller zurück.“ Sie steht von meiner Matratze auf und legt eine Hand auf ihren Bauch. „Ich muss mich jetzt verabschieden. Ich habe noch einige Sachen zu packen, bevor ich bei Joe ausziehe.“

Überrascht hebe ich den Kopf. „Du wohnst bei Joe?“ Wow, ich muss wirklich einiges verpasst haben.

Sie winkt mit einer Hand ab, die andere lässt sie auf ihrem Bauch ruhen. „Lange Geschichte.“

Erst jetzt fällt mir auf, dass sich unter ihrer Bluse eine kleine Wölbung abzeichnet.

„Kaori, hast du zugenommen?“, frage ich unsicher und erwarte schon, dass sie mir für diese dreiste Frage gleich eine runter haut. Doch stattdessen grinst sie nur.

„So was in der Art.“

Natürlich weiß ich, was das bedeutet. Sie ist schwanger. Und das erste Mal seit Tagen fühle so etwas wie Freude. Ich lächle. „Wie schön für dich“, sage ich und meine es genau so. Ich hege keinen Groll mehr gegen Kaori oder wegen dem, was damals mit uns passiert ist. Nein, im Gegenteil. Unser kurzes Gespräch eben … Es fühlt sich tatsächlich so an, als wäre ich endlich vollkommen im Reinen mit der ganzen Sache. Auch wenn ich nicht weiß, woher dieses Gefühl kommt und ich mich auch nicht daran erinnern kann, dass wir uns ausgesprochen haben.

Wahrscheinlich werde ich das in nächster Zeit öfter haben – ein Gefühl – und keine Ahnung, woher es kommt.

„Ehrlich, herzlichen Glückwunsch.“

„Danke. Ich hoffe, es wird ein Mädchen.“ Ihre Lippen verziehen sich zu einem richtig frechen Grinsen. Auch das ist neu, steht ihr aber.

Sie geht zur Tür und dreht sich noch mal um. „Mach’s gut, Tai. Und bitte sei nicht so streng mit Mimi. Glaub mir, sie würde wirklich alles für dich tun. Und es ist auch keine Schwäche, Hilfe anzunehmen.“

Ich nicke und versuche, ihre Worte zu verinnerlichen. Vielleicht schaffe ich es ja, Mimi ein bisschen entgegenzukommen, wenn ich sie das nächste Mal sehe.
 

Mimi
 

Ich atme noch mal tief durch und versuche mir Sallys Worte ins Gedächtnis zu rufen, als ich am Abend vor Tais Zimmertür stehe.

Bedräng ihn nicht.

Lass ihn das Tempo vorgeben.

Er liebt dich.

Er liebt dich, er liebt dich, er liebt dich. Er weiß es nur nicht mehr.

Ich klopfe an und trete ein. Tai liegt wie immer in seinem Bett und sieht zum Fenster raus.

„Hallo“, sage ich und er dreht den Kopf in meine Richtung. Kein Lächeln. Alles beim Alten.

„Hallo.“ Na, wenigstens eine Begrüßung. Dann mustert er mich und ja, Tai, ich sehe, wie deine Augenbraue in die Höhe wandert.

Ich trage ein sommerliches, weißes Kleid, mit blauem Blumenmuster bestickt. Der Ausschnitt bringt meinen Busen gut zur Geltung und der Stoff endet über meinen Knien.

„Was ist?“, frage ich, als sein Blick schon etwas zu lange an mir hängen bleibt.

„Ach, nichts.“ Der Anflug eines Lächelns schleicht sich auf seine Lippen. Unfassbar.

„Hast du gar keine Suppe mitgebracht?“

Ich verkneife es mir, mit den Augen zu rollen und gehe zu ihm rüber.

„Nein, habe ich nicht. Diesmal möchte ich dich einfach nur besuchen.“ Ich lege meine Tasche auf dem Tisch am Fenster ab und spüre, wie Tais Augen mich verfolgen. Vermutlich gefällt ihm, was er sieht, denn auch, als ich mich wieder zu ihm umdrehe, sieht er mich immer noch an.

„Kannst du …“, beginnt er unsicher. „Kannst du mal herkommen? Ich möchte etwas testen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Klar, was denn?“

Er deutet mir an, dass ich mich zu ihm aufs Bett setzen soll. Ich setze mich auf die Bettkante.

„Näher“, sagt er. Ich runzle die Stirn. Doch ich mache, was er möchte, nehme die Beine hoch und rutsche näher an ihn heran. Unsere Gesichter befinden sich nun auf Augenhöhe und er sieht mir tief in die Augen, ohne auch nur einen Ton zu sagen. Das irritiert mich.

„Was soll das werden?“, frage ich schließlich, als er mich einfach nur anstarrt.

„Psst“, macht er jedoch nur. Ich verstumme.

Weitere Minuten vergehen, in denen wir uns intensiv anschauen. Ich strenge mich echt an, nicht wegzusehen, aber er macht es mir nicht leicht. Dieser Blickkontakt macht mich ganz nervös.

„Kannst du mir sagen …“, setze ich erneut an, aber werde wieder nur angezischt.

Wie albern. Ich muss mir das Lachen verkneifen. Gelingt mir leider nicht sonderlich gut. Ich beiße mir auf die Unterlippe, aber es geht nicht mehr – ich pruste los.

„Oh, man“, seufzt Tai. Keine Ahnung, wie er dabei immer noch so todernst sein kann.

„Okay, ich hab den Anstarrwettbewerb verloren“, lache ich und halte mir den Bauch. „Was sollte das denn, Tai?“

„Ich wollte wissen, ob ich was für dich empfinde, wenn ich dich lang genug ansehe.“

Ich verstumme auf der Stelle. „Du … ähm … und?“

Tai zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Mach’s noch mal“, schlage ich vor und rutsche wieder näher an ihn ran.

Tai überlegt kurz, dann sagt er: „Gut, na schön.“ Er atmet aus und sieht mir dann wieder intensiv in die Augen. Diesmal lache ich nicht. Er versucht sich an etwas zu erinnern und ich will ihm dabei helfen.

Ich nehme mir die Zeit und mustere sein Gesicht. Seine braunen Augen fixieren meine und da liegt noch immer so viel Wärme drin, dass mein Herz wie wild anfängt zu schlagen. Mein Blick wandert hinab zu seinem Mund. Diese Lippen …

„Ich kann dich auch gerne küssen, wenn du willst. Vielleicht erinnerst du dich dann“, schmunzle ich.

Ein lautes Piepen ertönt. Tai und ich erschrecken gleichzeitig.

„Was ist das?“, frage ich, während Tai schon mit einer Hand sein Shirt hochzieht und auf irgendein Gerät drückt, was an seiner Hose befestigt ist.

„Äh, nichts weiter.“ Das Piepen hört auf und ich runzle nur die Stirn.

„Du kannst deine Hand schon so gut bewegen?“, staune ich.

Tai nickt. „Ja, die Physiotherapie ist sehr hilfreich und da mir hier drin stinklangweilig ist, hatte ich die letzten zwei Tage viel Zeit, sie zu trainieren. Zum Glück ist es wohl nicht so schlimm wie anfangs gedacht. Auch meine Arme sollten sich schnell erholen, wenn ich am Ball bleibe.“

Ich reiße die Augen auf. „Wow, damit habe ich gar nicht gerechnet.“ Das sind wirklich gute Neuigkeiten.

„Ich auch nicht. Aber ich möchte so schnell wie möglich mein altes Leben zurückhaben.“

Mein Herz zieht sich zusammen. Wenn er von seinem alten Leben spricht … denkt er dabei auch an mich? Oder komme ich in dieser Vision nicht vor?

„Das verstehe ich“, sage ich einfach nur, weil ich ihn nicht unter Druck setzen will. Ich muss einfach fest daran glauben, dass seine Erinnerung an mich zurückkehrt.

„Danke“, erwidert Tai und sieht betrübt auf seine Bettdecke hinab. „Es fühlt sich alles immer noch so unwirklich an. Als würde ich immer noch träumen. Plötzlich ist alles anders und das ist irgendwie beängstigend.“

Ich nicke und greife nach seiner Hand. Diesmal lässt er die Berührung zu.

„Ich hatte einen Unfall, an den ich mich nicht mehr erinnere und dann wache ich auf, muss feststellen, dass mein Körper ein halbes Wrack ist, ich meinen Geburtstag verpasst habe, meine Schwester verlobt ist …“

„Oh ja, mit Takeru.“

„Ich weiß, wer Takeru ist.“

„Oh, klar weißt du das“, grinse ich verlegen und auch Tai schenkt mir ein Lächeln. Er lächelt mich tatsächlich an. Und es geschieht nicht aus Höflichkeit. Zumindest hoffe ich das.

„Wie auch immer. Man darf nicht aufgeben, richtig?“

Ich nicke. „Richtig. Fürs Aufgeben wärst du auch gar nicht der Typ.“ Ich zwinkere ihm zu und sein Lächeln wird tatsächlich noch ein bisschen breiter.

Dann greift er nach dem Handy, welches neben ihm auf der Matratze liegt. „Du scheinst mich ziemlich gut zu kennen, Mimi Tachikawa. Vielleicht kannst du mir auch dabei helfen.“

„Was willst du denn wissen?“

„Na ja, ich kann mich nicht mehr an meinen Pin erinnern und komme nicht in mein Handy rein. Dumm, oder? Ich erinnere mich nur noch an meinen alten PIN Code, aber ich muss ihn wohl geändert haben“, erklärt mir Tai.

Nachdenklich lege ich den Kopf schief. „Hast du es schon mit Geburtstagen versucht? Vielleicht deinen eigenen oder Kari’s?“

„Das habe ich schon alles durch, aber das war es nicht.“

„Hmm“, mache ich, während Tai mich ansieht.

„Wann hast du denn Geburtstag?“

Ich zeige mit dem Finger auf mich. „Ich? Am 18. Oktober.“

Er tippt mit dem Zeigefinger 1810 ein, aber auch das ist falsch.

Dann überlegt er und sagt schließlich: „Wann haben wir uns kennengelernt?“

Ich runzle die Stirn und lege einen Finger an die Lippen. „Lass mal nachdenken … das müsste der 15. Mai gewesen sein.“

Tai nickt und tippt die Zahlen ein.

1505 – der Bildschirm öffnet sich.

Ich klatsche in die Hände. „Wow, Wahnsinn! Wie dumm von mir, da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Ich bin nämlich auch nicht in deinen Laptop reingekommen, weil der Passwort geschützt war. Hier, möchtest du was trinken?“

Tai sieht überrascht zu mir auf, grinst jedoch immer noch, weil er sich gerade so darüber freut, dass er wieder in sein Handy rein kommt. „Du warst an meinem Laptop?“ Dann nimmt er einen Schluck aus der Tasse, die ich ihm reiche, diesmal ohne zu meckern.

„Ich wohne gerade bei dir. Hast du das schon vergessen?“

„Nein, habe ich nicht und ich finde es echt creepy, dass du bei mir wohnst“, entgegnet er. Ich erwidere sein freches Grinsen.

„Wenn du wüsstest, was wir in deiner Wohnung alles angestellt haben.“

Er verschluckt sich an seinem Tee.

„Na, klingelt da was?“, necke ich ihn, aber er schüttelt nur schnell den Kopf.

„Nein, gar nicht.“ Wird er gerade rot?

„Schade. Aber auch irgendwie schön für dich. Dann kannst du unser erstes Mal ja noch mal erleben. Ich bin fast ein bisschen neidisch“, seufze ich und stelle die Tasse wieder ab.

„Du … Du gehst davon aus, dass wir in der Zukunft miteinander schlafen werden?“

„Oh, nicht nur das“, sage ich, lächle ihn verträumt an und beuge mich zu ihm nach vorne. „Du wirst dich in mich verlieben, Taichi Yagami. Noch mal. Und bevor du fragst, woher ich das weiß … Ich weiß es einfach. Weil du und ich nämlich zusammengehören und ich dich nicht aufgeben werde. Egal, wie lange es dauert.“ Dann stehe ich von seinem Bett auf und hole meine Tasche, ehe ich auf sein Handy zeige. „Das da war eben der Beweis dafür, dass ich dir offensichtlich etwas bedeute. Also …“ Ich gehe zur Tür. „Da du ja meine Nummer nun wieder hast, kannst du mich jederzeit anrufen oder mir schreiben. Ruh dich noch gut aus. Ich muss jetzt gehen, bis dann.“

Tai blinzelt verwirrt. „Äh, ja … ist gut.“

Ein wenig perplex lasse ich ihn zurück, aber diesmal gehe ich mit einem ganz anderen Gefühl nach Hause.

Du wirst dich wieder an mich erinnern, Tai. Da bin ich mir ganz sicher.

Mimi
 

Ein neuer Tag bricht an und zufrieden blicke ich auf den roten Briefkasten. Ich habe einige Bewerbungen als Stylisten verschickt. Auch in normalen Beauty Instituten. Ich muss Geld verdienen, so schnell wie möglich und je eher ich anfangen kann, desto besser. Ich hoffe, dass sich etwas ergibt. Es ist furchtbar, so ganz ohne Geld auskommen zu müssen. Ich bin auf dem Weg zu Kaori. Ich bin noch nie in ihrer Wohnung gewesen und frage mich, wie sie und Jim wohl leben. Mein Handy vibriert und ich ziehe es heraus.

Tai hat mir geschrieben. Sofort erhellt sich mein Gesicht. Es ist mir so schwer gefallen, ihm nicht zu schreiben, aber ich wollte ihm das Tempo bestimmen lassen, sehen ob ich ihm fehle, wenn ich mal nicht auftauche. Gestern war ich nicht bei ihm im Krankenhaus. Ich habe den ganzen Tag nach Stellenangeboten gesucht, meinen Lebenslauf aufgefrischt, mir meine Zeugnisse und Zertifikate von meiner Mutter per E-Mail schicken lassen und meine Bewerbungen geschrieben. Davis hatte mir dafür seinen Laptop geliehen. Insgesamt zehn vielversprechende Stellenanzeigen habe ich ausfindig gemacht, die auf mich und meine Qualifikationen passen und da ich wirklich Geld brauche, musste ich den Tag gestern dafür opfern. Auch wenn ich natürlich gerne bei Tai gewesen wäre. Ich öffne die Nachricht und muss Grinsen.
 

Tai: >Wie soll ich mich wieder in dich verlieben, wenn du mich nicht mehr besuchen kommst?<
 

Schnell tippe ich meine Antwort.

Mimi: >In dem du mich vermisst.<
 

Er tippft und gebannt starre ich auf mein Handy.

Tai: >Hmm … ich würde dich gerne wieder sehen. Würdest du mich heute besuchen kommen?<
 

Ich grinse noch breiter. Er will mich wiedersehen. Keine Ahnung, ob er sich an die alte Mimi erinnert, aber die neue Mimi scheint er nicht aus dem Kopf zu bekommen.
 

Mimi: >Sehr gerne. Mit oder ohne Suppe?<
 

Tai: >Mit, bitte.<
 

Entweder will er mir zeigen, dass er jetzt alleine essen kann oder er ist bereit, Hilfe von mir anzunehmen. So oder so, es ist ein Erfolg.
 

Mimi: >Ich bin jetzt noch anderweitig verabredet. Am frühen Nachmittag komme ich gerne vorbei.<
 

Er antwortet mir nicht mehr, aber das ist auch nicht notwendig. Wenn er sich unsere alten Chatverläufe durchgelesen hat und das hat er ganz sicher, dann weiß er jetzt auch, wie leicht es immer zwischen uns war. Selbst zwischen unseren Zeilen steht so viel geschrieben, dass selbst einer, der Amnesie hat, weiß, dass das was zu bedeuten hat.

Ich möchte gerade mein Handy wieder in meiner Tasche verstauen, als es erneut vibriert, hat Tai mir doch noch geantwortet? Instagram. Meistens ignoriere ich diese Nachrichten, aber ich erkenne den Namen Nanami und das macht mich natürlich stutzig. Tatsächlich Nanami hat mir geschrieben.
 

Mimi, ich weiß alles. Hast du Zeit? Ich halte es hier nicht mehr aus.
 

Oh weia, ich kann mir vorstellen, was in ihr vorgehen muss. Ihr ganzes Leben beruht auf einer riesengroßen Lüge und jetzt ist alles rausgekommen und sie hat niemanden, mit dem sie reden kann, weil sie keine Freunde hat. Nur ihre Mutter und die hat sie ihr Leben lang belogen.
 

Natürlich. Ich schreibe dir, wenn ich da bin.
 

Ich überlege, Kaori wegen Nanami zu schreiben, aber ich bin sicher, es gibt einen Grund, warum sie zuerst mir geschrieben hat und ich weiß ja nicht genau, was Nanami weiß, daher schreibe ich Kaori nur, dass es später wird.

Es dauert dreißig Minuten, bis ich die Straße von der Villa einbiege. Nanami wartet bereits draußen vor dem Tor. Oh, es zerreißt mir das Herz. Sie wirkt so verloren. Nicht wissen, wohin. Sie kennt sich hier in der Stadt nicht aus und war noch nie wirklich draußen. Sie blickt auf, sieht mich, läuft auf mich zu und umarmt mich. Ich halte sie fest, während sie anfängt zu weinen. Ich kenne das Gefühl so gut, sich nicht mehr halten zu können. Kurz vor einer Panikattacke zu stehen oder sogar davon überrannt zu werden. Ich versuche sie gerade einfach nur zu halten, in einer Welt, in der nichts mehr für sie sicher scheint. “Alles wird wieder gut”, sage ich leise.

“Aber wie denn? Wie soll je alles wieder gut werden? Mein ganzes Leben ist eine reine Lüge. Es gibt mich gar nicht.” Ich schüttel den Kopf und zwinge sie, mich anzusehen. “Es gibt dich. Ich sehe dich. Ich weiß, es ist schrecklich, was dir angetan wurde und das ist nicht zu entschuldigen, aber wir holen dich zurück. Du bekommst deine Identität wieder. Ich verspreche es dir.” Nanami nickt zaghaft und ich weiß gar nicht so Recht, was ich jetzt mit ihr machen soll. “Was hat deine Mutter dir erzählt? Hast du noch irgendwelche Fragen? Ich weiß nicht, ob ich sie dir alle beantworten kann, aber ich bemühe mich.”

Ich führe sie ein wenig mit mir. Hier in diesem Viertel sind viele teure Geschäfte und Cafés. Ich kann Nanami leider nicht auf ein Getränk einladen, obwohl ich es echt gerne machen würde. Stattdessen setzen wir uns auf eine Bank, die vor einem Brunnen steht und sehen uns eine Zeitlang das Wasser an. Es wirkt irgendwie beruhigend. “Dass sie mich immer lieb haben wird und ich immer ihre Tochter sein werde, dass sie mich aufgezogen hat, weil ich wohl nur das Ergebnis einer schrecklichen Affäre war und ein Unfall der vertuscht werden musste.”

“Ich bin überzeugt, dass Ayaka dich immer lieben wird. Sie ist auch nur ein Opfer von Haruiko. Wie jeder hier.”

“Warum konnte er mich nicht lieben?”

Darüber muss ich nicht lange nachdenken. Haruiko und Gefühle? Gibt es überhaupt jemanden, den er liebt, außer sich selbst?

“Weil er ein Monster ist. Er kennt keine Liebe. Er weiß nicht, was das ist und ich glaube, er hat sie auch selbst nie erfahren.”

“Und meine leibliche Mutter?” Über Misaki kann ich überhaupt nichts sagen. Ich kenne sie zu wenig und ich weiß nicht genau, was damals passiert ist. Wäre es sehr übergriffig, sie jetzt einfach mit zu Kaori zu nehmen? Misaki ist bei ihr und vielleicht tut das allen gut, sich wieder kennen zu lernen, aber vielleicht bekommen sie auch alle eine Panikattacke und schreien sich an. “Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie damals sehr darunter gelitten hat und in eine schwere Depression gefallen ist. Ich glaube nicht, dass sie irgendwas dazu beigetragen hat, aber wenn du es genau wissen willst, musst du sie selbst fragen. Ich weiß, wo sie aktuell ist, wenn du bereit bist.” Nanami schweigt eine Weile und ich frage mich wirklich, was sie gerade denkt. Mensch, wenn ich mir eine übersinnliche Fähigkeit aussuchen könnte, wäre es auf jeden Fall Gedanken Lesen, dann wüsste ich auch immer, was Tai gerade denkt. Nanami legt ihren Kopf in den Nacken und sieht sich die weißen Wolken an. “Die eine Wolke sieht aus ein Hund, der den Kopf einzieht …” sagt sie auf einmal. Ich folge ihrem Blick in den Himmel und ja, ich weiß welche Wolke sie meint. “Ja.”

“Ich glaube, ich habe lange genug hinter den Wolken gelebt. Es wird Zeit, die Sonne in mein Leben zu holen und dafür muss ich den Regen hinter mir lassen.”

Sie ist ein ganz tolles Mädchen. Ich lächle und reiche ihr meine Hand. “Na komm, ich bringe dich zu Kaori. Sie wird dich danach wahrscheinlich eh nicht mehr gehen lassen, aber tue mir einen Gefallen und schreibe Ayaka. Sie wird vor Sorge durchdrehen.” Nanami, kämpft mit sich, aber nickt schließlich mit dem Kopf.
 

Tai
 

Mittlerweile habe ich mit meiner Physiotherapeutin einen Therapieplan erstellt und wir arbeiten sowohl im Vormittags- wie auch im Nachmittagsbereich intensiv miteinander.

Bewegungstherapie

Manuelle Therapie

Lymphdrainage

Faszien und Bewegungstechniken.

All das soll mir helfen, möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen. Auch wenn man mir schon mitgeteilt hat, dass ich nach dem Krankenhausaufenthalt, direkt in eine Reha kommen werde. Wenn mir das aber hilft, wieder der alte zu werden, ist mir das nur Recht. Mimi hat mich gestern nicht besucht und irgendwie fand ich das sehr schade. Jedesmal wenn die Türe sich geöffnet hatte, habe ich die Hoffnung gehabt, dass Mimi es ist, aber sie kam nicht. Ich hätte ihr schreiben können, aber nachdem ich mein Handy entsperrt habe und ich erstmal alle alten Chats gelesen habe - besonders die mit Mimi - ist mir klar geworden, dass ich sie wirklich sehr gemocht habe und dennoch ist auch ein anderer Name oft in den Chats vorgekommen. Joe. Ich will endlich wissen, was das alles zu bedeuten hat und ich bin sicher, dass Mimi es mir erzählen wird, wenn ich sie drauf anspreche. Neben den Nachrichten ist mein Handy auch so voll mit Mimi. Fotos, unzählige Fotos. Nur sie, wir zusammen. Meine Güte, wie wir uns anlächeln. Selbst in meiner Notizapp gibt es eine Rubrik mit ihr. Alles unter dem Namen: ‘Prinzessin’. Wie konnte ich sie nur vergessen?

Ich habe letzte Nacht wieder von Mimi geträumt.

Von Tanabata und wie ich ihr die Sterne zeige.

Vom Fußballcamp und wie sie mit den Kindern spielt.

Waren das Träume oder Erinnerungen? Das Gefühl, welches ich dabei empfand, war anders - neu. Es war intensiv. Ich fühlte mich zu ihr verbunden.

Kari erzählte mir wenigstens mal etwas und zwar dass sie mit Mimi hier im Krankenhaus ein Fest für die Kinderstation organisiert haben und sie in einem Elsa Kleid am Klavier saß und das Stück ‘Let it go’ zum Besten gab. Es wurde bei YouTube hochgeladen und ich habe es mir gestern etliche Male angesehen. Ihre Stimme ist atemberaubend und wie sie das Lied sang - als würde ihr Leben davon abhängen, als würde sie ihre Geschichte herausschreien und dann ganz plötzlich hatte ich eine Frequenz: wie ich selbst in diesem Publikum stehe, ihr die Noten organisiert habe und sie begeistert anfeuere. War das real? Ich muss sie einfach heute sehen. Ich spüre, dass irgendetwas in mir anfängt, sich wieder zu erinnern und ich weiß, dass ich diese ganzen wirren Puzzleteile mit Mimis Hilfe zusammensetzen kann.
 

Mimi
 

Wir stehen vor Kaoris Wohnung. Nanami hält meine Hand fest. Richtig fest. Sie ist unfassbar nervös und ich kann sie so gut verstehen. Ich hoffe, sie bricht hier nicht noch zusammen. Wie muss es wohl sein, jetzt das erste Mal vor der leiblichen Mutter zu stehen, von der man vor ein paar Tagen noch gar nichts wusste? Selbst ich bin nervös. Kaori öffnet ihre Türe und schenkt beiden von uns ein Lächeln. “Kommt doch bitte rein.” Nanami zögert noch ein wenig, ich gehe einen Schritt voraus und halte ihr meine Hand hin. “Du musst keine Angst haben, Nanami.” Sie sieht mich mit großen Augen an, aber sie scheint mir zu vertrauen. Sie nickt und ergreift meine Hand, wie einen Rettungsanker. Sie ist wirklich sehr tapfer. Wir ziehen unsere Schuhe aus und folgen Kaori durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer. Beige. Die Farbe dominiert hier. Die Wände, der Boden. Wow. Die Shoja, die als japanische Türen bekannt sind passen farblich perfekt hier rein. An den Seiten hängen lange Stoffbilder herunter, vor den jeweils eine dunkle Kommode steht. Hier ist wirklich nichts dem Zufall überlassen. Man merkt, dass Kaori sehr traditionell aufgewachsen ist, denn hier ist keine klassiche Couch, sondern ein Bodensofa und ein niedriger Tisch. Dennoch steht auch hier eine modernes Sideboard in dunkelbraun mit einem großen Flatscreen. Misaki, entdecke ich hier nicht. Kaori bittet uns Platz zu nehmen und so setzen wir uns auf das Bodensofa. Man, ist das gemütlich, da versinkt man ja drin. Ich frage mich, wie Kaori hier hoch kommen will, wenn der Bauch was größer wird. Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit. “Schön, dass ihr hier seid.” Kaori stellt Tassen auf den Tisch und hat grünen Tee vorbereitet. Nanami sitzt angespannt neben mir. “Wie geht es dir, Nanami?”, erkundigt sich Kaori bei ihr. Sie zuckt mit den Achseln und ihr Blick bleibt starr auf den Boden gesenkt. “Sie ist noch sehr aufgewühlt.” Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es okay ist, wenn ich für sie spreche.

“Verständlich, es ging mir schließlich nicht anders. Ich versuche das Ganze immer noch zu verarbeiten, aber es wird Zeit brauchen. Viel Zeit.” Ich nicke und drücke Nanamis Hand. Sie atmet sehr flach und ich mache mir wirklich ein wenig Sorgen. Ist das vielleicht nicht doch alles ein bisschen zuviel? Zu schnell? “Möchtest du bleiben oder gehen?”, frage ich sie daher sicherheitshalber nochmal. Nanami sieht mich wieder an und ich bin froh, dass sie nicht irgendwelche Kinderlieder singt oder sich sonst irgendwie neben der Rolle verhält. “Nein, ist, ist Misaki hier? Ich will wissen, was damals passiert ist, wie es soweit kommen konnte.” Wow. Respekt. Sie will es wirklich wissen und ist bereit, sich mit Misaki auseinanderzusetzen. Beachtlich. Kaori nickt.

“Ja, sie wartet im Schlafzimmer. Sie wusste nicht, ob du sie sehen willst, ob du dafür schon bereit bist.”

“Das werde ich nie sein. Daher versuche ich die Pflastermethode: Kurz und Schmerzlos.” Ich bin jedoch nicht sicher, ob das Schmerzlos von statten gehen wird.

“Dann hole ich sie. Du kannst aber jederzeit abbrechen, wenn es dir zuviel wird, ja?” Kaori legt ihr auch eine Hand auf ihre Hand und lächelt sie an. Nanami scheint ihr auch zu vertrauen. Sie nickt ihr zu und erwidert ihr Lächeln halb. Kaori steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Ich spüre förmlich, wie Nanami die Luft anhält. “Atme, immer gleichmäßig, durch die Nase ein, durch den Mund aus. Wir machen es zusammen, okay?” Ich mache es ihr vor und Nanami macht es nach. Wir atmen zusammen und sie macht das wirklich toll. Wir hören Schritte und Nanami packt meine Hand und drückt diese wieder kräftig zu. “Es wird alles gut”, sage ich nochmal und ich glaube an meine Worte: Jetzt wird endlich alles gut. Kaori kommt herein, dicht gefolgt von Misaki. Sie sieht sehr verheult aus. Sie blickt direkt zu Nanami und sie hebt ihren Kopf. Ihre Blicke treffen sich. Ich bekomme Gänsehaut. Überall. Ich weiß gar nicht, ob ich befugt bin, bei diesem Intimen Moment dabei zu sein, aber vielleicht ist es auch gut, dass ich als neutrale Person dazwischen gehen kann und als Mediator fungieren kann. “Na-Nanami”, haucht Misaki und beginnt zu weinen. Auch Nanami weint und ich lege meinen Arm um sie, um ihr zu zeigen, dass ich immer noch da bin. Ich bin sowas von Team Nanami. “Du … du siehst so wunderschön aus”, schluchzt sie. Auch Kaori beginnt zu weinen. Oh man, ihre Schwangerschaftshormone machen sie eh total sentimental. Ich stehe auf und versuche, das Gespräch irgendwie ans Laufen zu bringen. “Ich würde mal vorschlagen, wir setzen uns erstmal alle hin.” Kaori und Misaki nicken und sitzen uns gegenüber auf zwei Sitzkissen.

“Okay, gut. Nanami hat heute erst erfahren, was überhaupt passiert ist. Auf der einen Seite steht sie noch unter Schock, auf der anderen Seite hat sie Fragen und ich finde, es ist ihr gutes Recht, diese zu stellen.” Misaki nickt und sieht zu ihrer jüngsten Tochter, die gegenüber von ihr sitzt. Sie mustert sie, als würde sie sich jeden Millimeter genau einprägen.

“Ich will wissen, wie es dazu kommen konnte. Warum, warum man mich einfach weggebracht hat, wie ein Tier mit welchem man schlussendlich überfordert war und einfach im Wald ausgesetzt hat. Noch dazu wurde ich für tot erklärt. Für tot.” Die letzten Worte schreit Nanami raus. So viel Kummer in ihren Worten. So viel Schmerz. Ich reiße mich zusammen, denn hier weinen sowieso schon alle und irgendwer muss hier die Fassung bewahren, sonst läuft das alles hier aus dem Ruder. Misakis Stimme zittert, weil sie selbst versucht nach den richtigen Worten zu suchen, falls es diese überhaupt gibt.

“Ich hatte ungefähr zwei Jahre lang was mit Haruiko und ich weiß heute selbst nicht mehr wieso.” Misaki schafft es nicht länger Nanami anzusehen. So viel Schuld in ihren Augen. So viel Wehmut. “Er machte mir ständig Komplimente, Geschenke. Seine Blicke und irgendwie auch das Verbotene. Ich war noch so jung, als ich verheiratet wurde. Gerade 19 Jahre und ein paar Jahre später war ich auch schon schwanger mit Kaori. Kaito war zwar immer gut zu mir, aber ich hatte nie diese Anziehung zu ihm verspürt und irgendwie war es bei Haruiko anders.” Ihre Hände umschließen ihren langen Faltenrock. Sie sucht Halt, um nicht von ihrer Vergangenheit verschluckt zu werden. “Ich war schwach und habe mich auf ihn eingelassen. Es war so dumm, denn das er auch ganz anders sein konnte, hab ich dann schnell am eigenen Leib erfahren.”

Bei der Erinnerung daran, verzieht sich ihr Gesicht qualvoll. “Als ich herausfand, dass ich schwanger war, wollte Haruiko das ich abtreibe. Er hat mich immer wieder dazu gedrängt, aber ich habe mich gewehrt. Es bestand immerhin die Chance, dass Kaito der Vater sein könnte und selbst wenn nicht, ich hätte das niemals übers Herz gebracht.”

Nanami verkrampft und zischt. Ich weiß nicht, ob sie Misaki glauben schenkt, aber auf mich wirkt es nicht so, als würde sie lügen. “Aber ein Kind sich selbst überlassen und für Tot erklären lassen, das ging.”

Misaki fängt wieder an zu weinen und schüttelt verzweifelt ihren Kopf. “Nein, so war das nicht. Nanami, du kamst viel früher als geplant. Ich bin gerade so in die 37. Schwangerschaftswoche gekommen, als plötzlich heftige Wehen anfingen. Kaito war nicht in der Stadt, weil er einen wichtigen Prozess in Kyoto hatte. Ich habe dann Frau Kido angerufen, die sich während der Geburt um Kaori gekümmert hat und ich habe den Krankenwagen gerufen. Im Kreißsaal ist dann direkt die Fruchtblase geplatzt und grünes Fruchtwasser trat heraus. Nanami kam so schnell, die Schmerzen waren so schlimm und ich war ganz allein.” Man spürt, wie sehr die Geschichte Misaki auch heute noch aufwühlt. Es ist schrecklich, wenn man in so einer Situation komplett auf sich alleine gestellt ist. Ich halte weiterhin die Hand von Nanami und Kaori, da beide wirklich am Ende sind. “Nanami wurde direkt nach der Geburt weggebracht. Sie hatte eine Neugeboreneninfektion. Ich habe sie aber weinen gehört und durfte sie am ersten Tag noch besuchen. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Es hieß ihr Gesundheitszustand hätte sich drastisch verschlimmert und in der dritten Nacht sei sie dann verstorben. Gesehen habe ich sie nicht mehr. Bis heute nicht. Bis jetzt.” Wir alle drei sitzen geschockt da und können kaum glauben, was wir da hören. Kaori hält sich den Bauch vor Schmerzen und verlässt das Wohnzimmer, ob sie Angst hat, dass man ihr das auch antun könnte? Nanami scheint die Welt noch weniger zu verstehen, als vorher und ich … ich wusste ja schon, dass Haruiko ein Monster ist, aber das … Einfach das Kind wegnehmen und es der Mutter komplett vorzuenthalten. Nicht mal die Möglichkeit bekommen, sich zu verabschieden? Er hatte damals schon das sagen in den Krankenhäusern und viel Macht. Wer hätte sich im Krankenhaus ihm schon widersetzen sollen? “Als ich entlassen wurde, habe ich mehrmals versucht Haruiko anzurufen. Er hat mich immer wieder weggedrückt. Ich habe ihn gefragt, wo Nanami ist, was ist mit ihr passiert ist? Warum ich mich nicht verabschieden darf. Er meinte nur, so etwas würde eben passieren und das wars. Ich wusste nicht, dass du hier in Tokyo bei anderen Frau aufgewachsen bist. Wenn ich das gewusst hätte, du kannst mir glauben, dann hätte ich dich daraus geholt.”

Schock lass nach. Wie grausam. Wie konnte Haruiko nur so weit gehen? Auch Nanami steht der Schock ins Gesicht geschrieben. “Ich dachte du wolltest mich nicht, weil ich nur ein Unfall bin.” Misaki schüttelt ihren Kopf.

“Du und Kaori war das was ich mir gewünscht habe. Ich war bereit, alles zu verlieren. Kaito, meinen Wohlstand, aber euch beide wollte ich nicht zurücklassen. Ich weiß es wäre schwer geworden und vielleicht hätte Kaito mir das Leben auch zur Hölle gemacht und mir Kaori vorenthalten, aber ich hätte immer um euch gekämpft.” Dass Haruiko soweit geht. Nur um zu verbergen, was wir damals hatten, ist einfach nur abscheulich.” Nanami bricht neben mir zusammen. Sie weint und ich halte sie fest. Auch ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie, wie konnte dieser Mann nur so weit gehen? So vielen Menschen so viel Leid zufügen? Ich halte Nanami weiter und deute Misaki an, zu mir rüber zu kommen.

Es ist wichtig, diesen Schmerz zuzulassen, aber eines steht fest: Sie alle brauchen eine Therapie. “Darf ich?”, richtet Misaki die Frage an Nanami. Sie lässt von meinem Oberkörper ab, aber schüttelt den Kopf. Sie ist noch nicht so weit. Die Wunden sind einfach noch zu frisch. Sie bluten und brennen. Ich warte noch eine Zeit bis ich Nanami loslasse und auf die Suche nach Kaori gehe. Im Schlafzimmer finde ich sie. “Hey.”

“Hey”, murmelt sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. “Jetzt weiß ich auch, warum meine Mutter all die Jahre so war. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich niemals in diese Familie eingeheiratet. Ich meine, ich habe diesen Mann mal verehrt und weißt du, was das Schlimmste ist?” Ich schüttle den Kopf, während ich mich neben sie setze. “Ich glaube, Jim weiß das.”

“Wie kommst du darauf?”

“Als ich ihn das alles erzählt habe, war er nicht überrascht oder schockiert.”

“Tzz. Wo ist Jim?” Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen und finde das schon seltsam und bereitet mir ein ungutes Gefühl.

“Offiziell ist er die letzten drei Wochen in China gewesen, aber irgendwie glaube ich das nicht. Er kommt in den nächsten Tagen zurück. Dass er eine Schwester hat, hat ihn nicht weiter interessiert. Ich weiß nicht, irgendwie will ich nicht das er zurückkommt. Der Gedanke mit ihm alleine zu sein macht mir ehrlich gesagt Angst. Ich will mein Kind nicht in einem Krankenhaus zur Welt bringen, wo die Kidos ihre Finger im Spiel haben. Ich will es nicht mal hier auf die Welt bringen. Lieber in Kyoto oder Osaka. Irgendwo anders, aber nicht Tokyo.”

“Ich kann dich so gut verstehen. Ich werde dich auf jeden Fall unterstützen.”

“Danke Mimi, für alles. Was du für meine Familie getan ist, ist unbezahlbar.”

“Glaube mir, diese Geschichte werde ich auch niemals vergessen. Ich wollte Haruiko nur aufhalten, aber das … ich bin fassungslos. Glaub mir, wir müssen beide aus dieser Familie raus. Du auch.”

Kaori beißt sich auf die Unterlippe. Sie starrt auf den Ring an ihrem Finger. Fühlt es sich für sie auch an, wie eine persönliche Fessel? “Ist nicht so einfach für mich”, nuschelt Kaori.

“Dein Vater ist ein hochrangiger Anwalt. Es gibt eine Möglichkeit, glaub mir.”

“Vielleicht.”

Ich nehme sie noch einmal in meine Arme.

“Ist es okay, wenn ich euch jetzt alleine lasse?”

“Du willst sicher zu Tai, oder?”

Ich seufze. “Ja, er hat mir sogar heute geschrieben, dass ich ihn besuchen soll.”

“Wow. Vielleicht erinnert er sich?”

“Mal sehen. Es wäre schön. Ich vermisse meinen Tai, aber ich würde mich immer wieder in ihn verlieben, weil ich einfach weiß, was für ein Mann in ihm steckt.”

“Das hast du schön gesagt und ich finde, ihr passt auch sehr gut zusammen.”

“Danke.” Ich stehe auf und schaue auch nochmal kurz zu Nanami. “Nanami, ich würde jetzt gehen, ist das okay?” Sie nickt.

“Ich würde gerne noch bleiben, wenn das in Ordnung ist?”

“Natürlich, du gehörst doch zu uns”, antwortet Kaori ihr und ich freue mich, diese drei starken Frauen zurück zu lassen, mit dem Gefühl, dass sie zum Glück noch eine zweite Chance bekommen haben.
 

Tai
 

Wo bleibt sie? Es ist bereits halb fünf und ich kann nur noch an Mimi denken. Sie wollte doch am frühen Nachmittag kommen, aber sie ist nicht da. Kommt sie noch? Soll ich ihr nochmal schreiben?

Ne, das ist ja lächerlich. Vielleicht hat sie aber auch kein Interesse mehr? Ich meine ein Krüppel wie ich, der sie auch noch vergessen hat, dazu war ich die ganze Zeit extrem unfreundlich zu ihr. Es wäre nur zu verständlich, wenn sie keine Lust mehr auf mich hat. Doch warum schmerzt das so? Der Gedanke, ich könnte sie verlieren, obwohl ich doch aktuell gar nicht so genau weiß, wie wir zueinander stehen. Das macht mich kirre. Ich will nochmal in diese Augen blicken. In diese Honiggoldenen Augen. Man, wieso bin ich nur immer so blöd zu ihr gewesen? Dabei hat sie mir sogar das Leben gerettet. Ich bin frustriert. Ich nehme mir mein Handy und tippe den Code ein: 1505. Der Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind, aber wie sind wir uns begegnet? Leider weiß ich das nicht mehr. Hätte ich sie auch einfach mal fragen können. Ich doof. Ob ich sie doch anrufen soll? Es klopft an meiner Zimmertüre. Schon wieder geht mein Blick Hoffnungsvoll zur Türe und tatsächlich Mimi steckt ihren Kopf durch. Sofort fängt mein Herz an wie wild zu schlagen. Sie ist gekommen. “Hey, entschuldige die Verspätung.”

“Kein Ding.” Ich starre sie an. Ich starre wirklich. “Wie geht es dir?” Ihre obligatorische Frage, aber irgendwas ist anders. Ihre Augen? Sie sehen traurig aus. Hat sie geweint? “Besser. Wie geht es dir?” Ich habe nie gefragt, wie es ihr geht. Als ob andere Menschen keinen Kummer hätten. Wie töricht. Sie schaut mich an und kommt näher an mich ran. “Darf ich?” Sie möchte sich zu mir ans Bettende setzen. Ich schüttle den Kopf und sie steuert geknickt auf den Stuhl zu. “Nein, ich meine …” Oh man, ich glaube ich werde rot. “Komm näher.” Ich sehe sie an und Mimi schaut mich mit großen Augen an. Ich möchte, dass sie sich direkt vor mich setzt. Ganz nah. “Sicher?”

Ich nicke und lächle sie an. Sie erwidert es und bereitet mir damit eine Gänsehaut. “Also nochmal: wie geht es dir?”

Noch immer wirken ihre Augen traurig. Wegen mir? “Ich würde gerne wissen, was in deinem hübschen Köpfchen so vor sich geht.” Ja, ich habe die Worte bewusst gewählt und es zeigt seine Wirkung. Mimis Lächeln wird breiter und es erreicht fast, aber auch nur fast ihre Augen.

“Darf ich dich umarmen? Ich glaube, das würde gerade helfen.” Ich setze mich mit großer Anstrengung auf, aber es gelingt mir jeden Tag besser. Ich sitze aufrecht. Ich breite meine Arme aus und Mimi lässt sich fallen. Sie weint. Ich streichle über ihren Rücken, so gut ich kann und irgendwie fühlt sich diese Geste wahnsinnig vertraut an.

“Was ist los?”

“Ich würde es dir gerne erzählen, aber du würdest kein Wort verstehen”, schluchzt Mimi und reibt sich über die Augen. Es nervt mich so. Wieso erinnere ich mich nur nicht, an die letzten Monate meines Lebens? “Erzähl es mir trotzdem.”

Mimi schüttelt ihren Kopf, während sie sich langsam aus der Umarmung löst.

“Das ist leider nichts, was man mal einfach so erzählen kann. Sonst würde ich es tun.”

Ich nicke verstehend. Ich habe schon mitbekommen, dass hier komische Dinge passiert sind. Haruiko ist verhaftet worden, die Presse schweigt noch darüber, was genau passiert ist und leider weiß ich nicht, ob ich es mal wusste. “Okay, wo ist meine Suppe?”

“Oh, entschuldige, die habe ich ganz vergessen.” Mimi schaut runter auf den Boden. Es scheint ihr unangenehm zu sein.

“Ach was, schon gut. Ich wollte dir auch eigentlich nur was zeigen.”

Sie sieht wieder zu mir auf und sieht mich interessiert an. “Und was?” Ich greife nach meinem Wasserglas und trinke selbständig daraus. Es klappt, ich zittere sogar immer weniger dabei und merke, dass ich wieder ein besseres Gefühl in meinen Fingern und Händen habe. Ja, schon klar ist nichts Großartiges, aber das kann ich seit der Bewegungstherapie heute morgen und das wollte ich Mimi gerne zeigen.

“Wow, Tai, das ist unglaublich.”

“Na ja, ich kann noch keine Flasche aufdrehen und mir selbst einschenken, aber das Trinken geht seit heute wieder.” Mimi strahlt übers ganze Gesicht und diesmal erreicht es auch ihre Augen. “Doch, das ist eine ganze Menge. Ich bin stolz auf dich, wirklich.” Sie umarmt mich wieder und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Das ist echt harte Arbeit und es ist ein schönes Gefühl, dass auch Mimi davon berührt ist.

“Erzähl mir alles über uns.” Mimi sieht mir in die Augen, ihre Arme sind aber noch immer um meinen Hals gelegt. “Bist du sicher?” Unsere Gesichter sind sich so nah und ja, es erweckt ein Gefühl in mir, dass ich sie küssen möchte.

“Und wie.” Ich will mich erinnern. Ich will wissen, ob meine Träume Erinnerungen sind oder ich es schaffe, mich dadurch wieder zu erinnern. Aber Mimi hat Recht so oder so, ich verliebe mich auch so wieder in sie. Sie ist immerhin die Frau meiner Träume. “Okay.” Sie löst ihre Arme um meinen Hals. Ich gebe mir große Mühe, ein wenig zu rutschen und möchte Mimi Platz machen. “Setz dich neben mich.” Mimi grinst wieder unsicher.

“Kannst du dich an mich erinnern?”

“Hmm … ich glaube schon. Noch sind es Bruchstücke und vieles ist noch sehr wirr und deswegen möchte ich, dass du mir unsere Geschichte erzählst und bitte alles.”

Mimis Lächeln ist so schön, dass ich überzeugt davon bin, dass ich niemals etwas Schöneres gesehen habe. Sie zieht ihre Schuhe aus, legt ihre Beine hoch und setzt sich direkt neben mich. Ein schönes Gefühl.

“Ich hoffe, du hast Zeit.”

“Ach weißt du, ich habe gerade eh nichts anderes vor.” Sie lacht und legt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Etwas, was ich auch gerne wieder können möchte. Bei ihr. Wieso kommt es mir gerade so vor, als würde ich mich bereits erinnern?

An sie.

An uns.

Nur ohne den ganzen gewaltigen Inhalt.

“Okay, am 15.05 bin ich nach Tokyo geflogen. Ich bin zwar in Tokyo geboren, aber seit meinem zehnten Lebensjahr lebe ich in New York. Im letzten Jahr sogar in L.A.”

“Oh wow, okay und hast du hier Urlaub gemacht?” Sie schüttelt ihren Kopf und seufzt. “Ich sagte ja, du brauchst Zeit.”

“Die habe ich.”

“Du hast mich am Flughafen abgeholt.” Ich sehe sie irritiert an. Warum habe ich sie abgeholt? Mimi überlegt, wie sie ihre nächsten Worte sagen soll. “Ich bin als potenzielle Verlobte von Joe Kido nach Tokyo geflogen.”

“Was?” Mimi vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. “Ja, ich versuche einfach ein bisschen was zu erzählen. Ich komme eigentlich aus einer wohlhabenden Familie, aber mein Vater hat Gelder veruntreut und ich wollte meinem Vater helfen, aus dieser Situation rauszukommen und ich dachte und ich weiß, wie dumm das war, einen reichen Mann heiraten das könnte die Lösung sein. Mein Vater kennt Haruiko von früher und wusste, dass er einen ledigen Sohn hat, der im heiratsfähigen Alter war und ich dachte, cool, ein Arzt gibt schlimmeres. Zu dem Zeitpunkt in meinem Leben bin ich absolut orientierungslos gewesen und hielt dies für meine beste Option und ich dachte, komm Mimi, was ist schon dabei? Na ja, es war der Anfang vom Ende und obwohl ich zu Beginn sämtliche Knigge Regeln gebrochen habe, so hat Haruiko mich trotzdem abgesegnet. Das war wahrscheinlich der größte Fehler seines Lebens.”

“Okay, klingt spannend. Erfahre ich am Ende der Geschichte, warum er verhaftet wurde?”

“Oh ja.”

“Okay, krass.”

“Du wirst dich wundern, Yagami. Du wirst dich wundern. Du fandest mich übrigens

total doof. Ich weiß natürlich, warum du arrangierte Ehen hasst und warst überzeugt, dass ich nur hinter Joes Geld her bin. Du hast dich mir gegenüber wirklich von deiner schlimmsten Seite gezeigt und ich war überzeugt davon, dass du ein Arsch bist.” Darüber muss ich nachdenken. Mimi kam als Verlobte von Joe ins Land. Sie sollte ihn heiraten? Joe, aber wieso ist sie dann bei mir und nicht bei ihm? Ist Joe deswegen mir gegenüber so distanziert?

“Das erklärt, warum unsere Nachrichten am Anfang so abgehakt und kurz angebunden waren.”

“Ja, deine Aufgabe war es, mich in japanischen Traditionen zu unterrichten. Mir die Familie Kido und deren Bräuche näher zu bringen. Du hast auch gerne dafür gesorgt, dass ich ins Fettnäpfchen trete.” Ja, sowas sieht mir ähnlich.

“Eigentlich hast du mich aber auch die ganze Zeit gewarnt, dass ich für sowas nicht gemacht bin und warum ich alles aufgebe? Du konntest es nicht verstehen und du hattest Recht. Immer und mit allem: Ich bin sowas von nicht dafür geschaffen. Der Presserummel, ein Leben mit so vielen Regeln zu führen, nicht arbeiten zu dürfen, was ich möchte. Dieser goldene Käfig und die Kontrolle über mich.”

Ich schließe meine Augen, während ich Mimi weiter zuhöre. Meine Gedanken versuche, zu sortieren. Kommt mir irgendwas davon bekannt vor? Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht.

“Wie genau habe ich dich unterrichtet?”

“Wie man isst …”

“Moment, wie man isst?” Ich öffne meine Augen wieder und blicke zu Mimi. Sie schaut mich ebenfalls an und schmunzelt. “Na ja, scheinbar war meine Ausführung mit den Stäbchen nicht so korrekt. Dann noch mein Umstyling. Ich bin wohl etwas zu freizügig gewesen.” Ich habe schon gemerkt, dass Mimi hier gerne in interessanten Klamotten zu mir kam. Dagegen hatte ich nichts, aber für die Kidos. Ja, für die ganz sicher. Irgendwas schleicht sich an die Oberfläche, aber was? “Erzähl weiter.”

“Ich musste langweilige Ärzte und Politiker kennenlernen und den gesamten Stammbaum der Kidos. Würg. Ehrlich. Dann haben wir zusammen getanzt.”

“Stop.” Wieder schaue ich zu Mimi. Wir haben zusammen getanzt? Das kommt mir bekannt vor.

“Einen Walzer?”

“Ja, woher weißt du das?”

“Ich habe davon geträumt.”

“Ehrlich?” Ich nicke. Wovon habe ich noch geträumt? Es waren so viele. Ich wollte sie aufschreiben, aber das konnte ich nicht.

“Du solltest mir den Walzer beibringen, wegen den ganzen Wohltätigkeitsveranstaltungen und weil ich eine sehr talentierte Tänzerin bin, habe ich dir Salsa beigebracht. Irgendwie waren unsere Berührungen wie Stromschläge. Wir sind uns das erste Mal näher gekommen. Sehr nah. Ich meine tanzen halt und ich glaube, wir haben da beide zum ersten Mal gemerkt, dass wir uns anziehend finden. Aber zugegeben haben wir es natürlich nicht. Immerhin fanden wir uns ja doof.” Ich erinnere mich wieder an den Traum, wie wir zusammen tanzen. An das Gefühl und wie gut wir harmoniert haben.

“Weiter.”

“Na ja, dann kam jedoch alles raus. Also die Geschichte mit meinem Vater.”

“Die Kidos wussten davon nichts?” Mimi schüttelt ihren Kopf. Es scheint ihr sehr unangenehm zu sein, darüber zu reden, aber ich spüre, dass es anfängt in mir zu brodeln, auch wenn ich die Erinnerungen noch nicht alle zu fassen bekomme.

“Nein, ich dachte irgendwie nicht, dass das rauskommt.”

“Das war dumm.”

“Das weiß ich heute auch. Wie gesagt, den Presserummel habe ich deutlich unterschätzt und das Interesse an meiner Person erst recht. Als alles rauskam, dachte ich, das war's. Super, Mimi, du hast auf ganzer Linie versagt. Du, na ja, du hast dich für mich eingesetzt, die Kidos davon überzeugt, dass sie all das wussten und mich und meine Familie unterstützen würden. Nach außen haben wir geschlossen zusammengehalten.”

“Aber hinter den Kulissen?”

Mimi seufzt erneut. Dabei kann ich mir die Antwort selbst ausmalen. Die Kidos, besonders der Senior sind nicht gerade zimperlich. “Absolute Kontrolle, Ausgangssperren und irgendwie entmündigt worden. Es war der Horror, aber irgendwie dachte ich da noch, ich könnte jederzeit gehen, wenn ich es nur sage. Ich weiß, dass der Professor mich niemals hätte gehen lassen. Der gute Ruf und so. Wie wichtig ihm dieser ist, oh ja, wichtiger als jede Ethik dieser Welt, habe ich da noch nicht kommen sehen.”

“Okay, ich brauche eine Pause.” Ich muss tief ein und ausatmen. Denn irgendwie glaube ich, dass alles, was jetzt kommt noch schlimmer sein wird.

“Sollen wir morgen weitermachen?”

“Nein, es ist nur … ich habe so viele Bilder in meinem Kopf und überlege, wie das alles zusammen passt.” Ich trinke nochmal einen Schluck. “Magst du bitte, da unten die Schranktür von dem Beistelltisch öffnen?” Mimi nickt, steht auf und eine ganze Menge Süßkram fällt ihr entgegen.

“Kari hat mich eingedeckt. Snack gefällig?”

“Oh ja und wie.” Chips, Salzstangen und Schokolade. Mimi macht auf dem Beistelltisch Platz und dreht diesen dann wieder zu uns um. “Gar nicht mal so unpraktisch”, lacht Mimi. Sie hält mir eine Salzstange entgegen und ich beiße mit meinem Mund rein. Sie kichert, als ich einen weiteren verlange. “Okay, ich denke, es kann weitergehen.”

“Joe, war zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht gut auf mich zu sprechen. Er hat mich die meiste Zeit ignoriert und eigentlich warst du nur noch nett zu mir. Ach, jetzt fanden wir uns übrigens nichts mehr so doof.” Ich blicke zu ihr herüber. In den paar Monaten scheint Mimi bei den Kidos eine ganze Menge erlebt zu haben.

“Wegen der offiziellen Verlobungsfeier sind wir nach New York geflogen, damit meine Eltern dabei sein können und beim Hinflug hätten wir uns dann beinahe das erste Mal geküsst.” Ich halte meine Augen wieder fest geschlossen, höre Mimis Worten genau zu und es lichtet sich etwas bei mir. Ich sehe was: Eine Kabine, Bodenlichter, Mimis Lippen und Turbulenzen und wie wir auf den Boden fallen. “Haben wir aber nicht, wegen Turbulenzen?”

“Ja, woher weißt du das jetzt wieder?”

“Ich habe gerade Bilder im Kopf.” Mimi scheint es die Sprache verschlagen zu haben, denn ich sie bleibt stumm und atmet so gut wie gar nicht. Hat sie Angst, sie könnte mich stören? Sie ist doch der Grund, warum ich überhaupt Bilder im Kopf habe. “Was passierte dann?” Ich will mehr Bilder, mehr Erinnerungen.

“Frau Kido hat uns dabei gesehen und dich nach dem Flug zur Rede gestellt. Du solltest dich von mir fernhalten und daran hast du dich zunächst auch gehalten.”

“Die ganze Familie scheint involviert zu sein?”

“Ja, mehr oder weniger. Wobei Frau Kido keine bösen Absichten hatte.”

Ne, sie ist ein guter Mensch, das war auch immer mein Eindruck.

“Und dann?” Mimi steckt mir noch eine Salzstange in den Mund und ich höre ihr wieder gebannt zu.

“Wir waren dann bei meinen Eltern, Auftritt: Sally.”

“Sally?” Sie nickt wie wild mit dem Kopf und ich erkenne, wie Mimis Augen anfangen zu strahlen. “Sally ist meine beste Freundin und da sie dachte, ich heirate Joe, hat sie dich angemacht und ich schwöre, ich war so eifersüchtig.” Mimi kramt aus ihrer Handtasche ihr Handy heraus und zeigt mir ein Foto von Sally.

“Das ist sie. Kommt sie dir irgendwie bekannt vor?” Ich schaue mir das Foto an, auf dem Mimi zusammen mit einem blonden Mädchen zu sehen ist, aber nein, noch nie gesehen. Zumindest erinnere ich mich nicht an sie. Ich schüttel den Kopf. “Auf der Verlobungsfeier selbst hat Sally dann versucht, uns zu helfen, zueinander zu finden. Wir waren auf der Damentoilette und da haben wir uns dann Schlussendlich auch richtig geküsst. Wir haben uns ausgesprochen und wollten zusammen sein. Ich wollte die Verlobung mit Joe lösen und in New York bleiben. Du auch.” Wow, ich bin bereit gewesen, in den USA zu bleiben, wegen einer Frau. Okay, ich muss absolut verrückt nach ihr gewesen sein. Wobei je länger Mimi hier sitzt und mir unsere Geschichte erzählt, desto leichter fällt mir das zu glauben.

“Aber wir sind in Tokyo. Also was ist dann passiert?” Mimi schweigt. Sie nimmt sich mehrere Chips in ihre Hand und stopft sich alle gleichzeitig in den Mund. Respekt.

Ich gebe ihr den Moment, denn ich spüre, jetzt braucht Mimi eine Pause. Oh man, ich muss mich endlich erinnern. Dann könnte ich ihr all das ersparen. “Ich wollte die frohe Botschaft meinen Eltern übermitteln. Sie haben sich gefreut und waren mir auch nicht böse, dass ich Joe doch nicht heiraten kann. Doch Haruiko hat diese Unterhaltung leider mitbekommen und ehe ich Joe was sagen konnte, hat Haruiko mich in einen Abstellraum geschleift. Er hat mich gewürgt und mir gedroht, jeden Menschen umbringen zu lassen, der mir etwas bedeutet, wenn ich Joe nicht doch heiraten sollte.” In mir brodelt es gewaltig und keine Ahnung, was in dem Moment mit mir passiert, aber ich balle eine Faust mit meiner linken Hand und boxe mit aller Kraft gegen die Matratze unter mir. Über diesen Ausbruch erschrecke ich mich, denn eigentlich kann ich das gar nicht mehr. Überrascht sieht Mimi mich an und ich starre auf meine Faust. “Tai …”

“Ich …”

“Du hast …”

“Ich weiß …”

Diese Wut in mir gegen Haruiko und da ist wieder dieses Gefühl, dass ich Mimi beschützen möchte. War es vor ihm? Wie konnte er Mimi gegenüber nur handgreiflich werden? Ich bin immer noch so wütend und beginne zu zittern, während ich noch immer eine Faust bilde. Mimi legt ihre Hände um meine zitternde Faust.

“Es ist alles gut, Tai, aber ich denke für heute ist es genug.”

“Nein, erzähl mir mehr.”

“Tai, du zitterst am ganzen Körper. Ich will auf keinen Fall, deinem Behandlungserfolg im Weg stehen.”

“Nein, ich erinnere mich wieder schemenhaft und ich kann Dinge, die ich vorher noch nicht konnte. Du hilfst mir.” Mimi lächelt mich sanft an und sorgt dafür, dass ich meine Finger aus der Faustposition wieder löse. “Es ist für heute gut. Wir machen morgen weiter versprochen. Vielleicht verarbeitest du das bis hier erstmal.”

“Du hattest ein pinkes Kleid an, oder?”

“Ja, das stimmt.” In meinem Traum habe ich sie so gesehen, aber es war kein Traum, sondern eine Erinnerung. Ich weiß noch, wie ich das Gefühl hatte, jemand drückt meinen Hals zu. Es war eine Metapher, weil es Mimi passiert ist. Sie trug ein wunderschönes Ballkleid in Pink. Ihr Gesicht tränenüberströmt und sie in Joes Armen. Es zerriss mir das Herz.

“Dann habe ich von diesem Abend geträumt. Wahrscheinlich hast du Recht und wir machen für heute eine Pause.” Mimi nickt mit dem Kopf und legt ihren Kopf auf meine Schulter. “Tai, eines sollst du wissen. Du und ich, wir beide, das ist was gutes. Etwas wertvolles und egal was ich bei den Kidos erlebt habe, ich bin dankbar, denn es brachte mich zu dir.” Ich lege meinen Kopf auf ihren ab und lasse ihre Worte nachspüren. Wir schweigen, aber es ist keine unangenehme Stille. Es ist ein gemeinsames Schwelgen in Erinnerungen, während meine noch undeutlich sind. So bleiben wir eine ganze Zeit liegen, bis die Nachtschwester Mimi bittet für heute das Zimmer zu verlassen. Noch lange hänge ich meinen Gedanken nach, meinen Träumen, meinen Erinnerungen. Schaffe ich es aus diesem Labyrinth endlich raus?

Kapitel 54

Mimi
 

Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen. Auch mich plagten Träume der Erinnerung, vor allem die Schlechten. Immer wieder wurde ich von ihnen geweckt und jedes Mal, wenn das passierte, schrieb ich Tai eine Nachricht, ob alles in Ordnung sei.

Tai schien ebenfalls viel wach gewesen zu sein, denn er antwortete immer sofort auf meine Nachrichten. Ich hatte einfach Angst, dass das alles zu viel für ihn sein könnte. Wie er gestern gezittert hat …

Das alles hat ihn so aufgewühlt und ich hoffe, ich habe keinen Schaden bei ihm angerichtet. Ich weiß nicht, was okay ist. Allerdings wollte er es unbedingt hören und ich kann ihn gut verstehen. Ich würde auch wissen wollen, was passiert ist, wenn ich mein Gedächtnis verloren hätte.

Gleich nach dem Aufwachen, schreibe ich ihm wieder. Es ist noch früh am Morgen, aber ich muss wissen, ob es Tai gut geht.
 

>Guten Morgen, wie hast du geschlafen? Geht es dir gut?<
 

Senden.
 

Tai tippt.

Antwort: >Das hast du doch letzte Nacht schon mindestens fünf mal gefragt. Ja, es geht mir gut – immer noch. Und geschlafen habe ich nicht viel, aber du ja anscheinend auch nicht, wenn du mitten in der Nacht Zeit hast, mir alle 30 Minuten zu schreiben ;)<
 

Seufzend rolle ich mich in Tais Bett auf die Seite. Sally schlummert neben mir noch tief und fest wie Dornröschen.
 

>Tut mir leid.<
 

>Nein, entschuldige dich nicht. Ich bin dankbar, dass du mir alles erzählt hast. Kommst du mich heute wieder besuchen? Mit Suppe?<
 

Ich grinse. >Natürlich komme ich, das weißt du doch.<
 

Tai: >Ich freue mich darauf.<
 

Jetzt grinse ich noch breiter, so sehr, dass ich quieken muss und das Handy fest an meine Brust drücke. Er freut sich auf mich. Tai freut sich auf mich.

Okay. Vielleicht meint er auch die Suppe. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir gegenüber nicht abgeneigt ist. Nicht wie am Anfang.

Schnell tippe ich noch eine Antwort ein: >Ich mich auch.< Ich füge noch ein Herz mit hinzu, lösche es aber gleich wieder. Nicht übertreiben.
 

„Oh, Davis“, seufzt Sally plötzlich neben mir und rollt sich von einer Seite auf die andere.

Ich verdrehe die Augen. Dann drehe ich mich zu ihr und tippe sie mit dem Finger an.

Sofort reißt sie ihre Augen auf und sieht mich verwirrt an. „Du bist nicht Davis.“

„Oh, sorry, not sorry. Hattest du einen wilden Traum?“

„Und wie wild der war“, grinst sie verschmitzt. „Heute Abend ist er fällig, ich schwör’s.“

„Igitt“, huste ich und winke ab. „Aber bitte nicht hier. Das ist immerhin Tais Bett.“

Sally schnalzt mit der Zunge. „Ob du’s glaubst oder nicht, Davis hat eine eigene Wohnung.“ Sie macht eine Grimasse und springt dann voller Motivation aus dem Bett.

Echt keine Ahnung, wo diese Frau ihre Energie hernimmt.

Wir stehen gemeinsam auf und machen uns Frühstück. Sally zaubert einen Obstsalat, den ich mir mit Müsli und einem Joghurt vor dem Fernseher schmecken lasse.

Bis ich mich beinahe daran verschlucke.

„Sally!“, röchle ich und winke sie zu mir. Sie steht gerade in der Küche und schenkt sich ihre zweite Tasse Kaffee ein. „Schnell, das musst du dir ansehen!“

Sally kommt zu mir und wir starren wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem die Nachrichten des Tages übertragen werden. Mein Herz rutscht mir in die Hose.
 

„Haruiko Kido, der vermutlich bekannteste und einflussreichste Chefarzt und Besitzer von fünf Krankenhäusern in Tokyo, wurde vor wenigen Tagen wegen Betrug, Bestechung, Erpressung und Nötigung, sowie anderer illegaler Delikte verhaften.“
 

Ein Bild von Haruiko erscheint im Fernsehen, es lässt mich nach wie vor erschaudern. Dann eine Szene, wie er vom Krankenhaus abgeführt wird. Ich schlucke schwer und greife nach Sallys Hand.
 

„Weswegen er genau angeklagt wird, wird noch unter Verschluss gehalten. Der Angeklagte beteuert jedoch seine Unschuld und beschuldigt stattdessen zwei Frauen. Er selbst weist sämtliche Vorwürfe zurück.“
 

Zwei Bilder werden eingeblendet – ein Foto von Misaki und eins von Ayaka. Oh mein Gott. Dieser Mistkerl! Er zieht sie da mit rein? Vor allem Misaki … hat er ihr nicht schon genug angetan?

„Ruhig, Mimi“, flüstert Sally und drückt meine Hand, weil ich am ganzen Leib zu zittern beginne.
 

„Es ist unklar, was an den Anschuldigungen dran ist, doch soeben erreichte uns die Meldung, dass sowohl Misaki Minamoto, als auch Ayaka Yano festgenommen wurden und sich nun ebenfalls in Untersuchungshaft befinden. Beide Frauen pflegten eine private Beziehung zu dem Chefarzt. Einzelheiten zu dem Fall liegen uns nach jetzigem Stand noch nicht vor, aber man versicherte uns, dass die Beweise gründlich geprüft werden – so die Staatsanwaltschaft.“
 

Es folgen die Sportnachrichten und ich schalte ab, ehe ich die Ellenbogen auf dem Tisch vor mir abstütze und meinen Kopf in meinen Händen vergrabe.

„Das ist eine Katastrophe.“

„Dieser widerliche Drecksack. Hat er denn nie genug?“, schimpft Sally drauf los, während ich auf meinem Daumennagel rum kaue.

„Es war klar, dass er versuchen wird, sich rauszureden. Aber, dass er versucht, es Misaki und Ayaka anzuhängen … das geht zu weit.“ Ich stehe auf und hole mein Handy aus dem Schlafzimmer. Sofort wähle ich Kaoris Nummer.

„Hier ist der Anschluss von Kaori Kido …“ Fuck, Mailbox.

„Verdammt“, fluche ich und beiße mir auf die Unterlippe. Dann schreibe ich Nanami eine Nachricht.
 

>Habe es gerade in den Nachrichten gehört. Wo bist du? Ist alles okay?<
 

Wenn Ayaka verhaftet wurde, was haben sie mit Nanami gemacht? Sie ist minderjährig und darf nicht alleine wohnen.

„Mimi, was machen wir denn jetzt?“, fragt Sally und klingt dabei genauso verzweifelt, wie ich mich fühle. Angespannt fahre ich mir durch die offenen Haare. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Natürlich hat Ayaka sich irgendwie mit schuldig gemacht, indem sie diesen Plan unterstützt hat und nicht zur Polizei gegangen ist. Sie liebt Nanami und trotzdem hat sie zugelassen, dass sie ihr Leben lang weggesperrt wurde. Es war fast klar, dass nun so etwas passiert. Als ob Haruiko jetzt noch hinterm Berg halten würde. Aber dass er Misaki das antut …

Dieser Mann kennt wirklich keine Skrupel.

Mein Handy vibriert. Nanami.
 

>Kannst du mich bei Kaori abholen?<
 

Schnell tippe ich eine Antwort. >Bin unterwegs.<
 

„Sally, ich muss weg. Nanami braucht meine Hilfe.“

„Ist gut“, sagt sie. „Aber bitte, pass auf dich auf.“

„Ja, du auch auf dich. Und geh zu Davis, sobald du kannst.“
 

Ich mache mich sofort auf den Weg und eine halbe Stunde später biege ich in Kaoris Straße ein. Nanami steht bereits vor der Tür und wartet auf mich. Wieder ist ihr Gesicht tränenverschmiert. Wie oft muss dieses Mädchen noch leiden?

„Mimi.“ Sie kommt auf mich zugerannt und umarmt mich.

„Nanami, geht es dir gut?“

„Geht so“, sagt sie und wischt sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen. „Sie haben Mama mitgenommen. Einfach so. Und Misaki auch. Zum Glück war ich gerade bei Kaori, als es passierte, sonst hätten sie mich wahrscheinlich auch gleich weggeschleppt und vorläufig in ein Heim gesteckt, oder so.“

Ich nicke. Was für eine schreckliche Vorstellung. „Mama hat mich angerufen, nachdem sie sie abgeholt haben und mir gesagt, dass alles gut ist und ich mir keine Sorgen machen soll. Aber ich mache mir Sorgen. Auch um Misaki. Es ging alles so schnell und ich konnte mich bei Kaori verstecken, als die Polizei kam, aber … aber …“ Ihre Stimme bricht. „Es ist alles meine Schuld. Wäre ich doch einfach mit Mama nach Frankreich geflogen, so, wie sie es geplant hatte. Dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation. Nur meinetwegen ist sie im Gefängnis.“

Die Tränen laufen ihr übers Gesicht und die pure Verzweiflung spricht aus ihr.

„Ach, Nanami“, sage ich mitfühlend und es zerreißt mir das Herz, sie so zu sehen. Ich umfasse ihr Gesicht mit beiden Händen und streiche ihr mit dem Daumen behutsam über die Wange. „So etwas darfst du nicht mal denken. Nichts von dem, was hier gerade passiert ist deine Schuld. Es ist allein Haruikos Schuld. Niemand sonst trägt die Verantwortung dafür“, sage ich mit Nachdruck und hoffe, dass sie mir glaubt. „Ich kann dir nicht versprechen, dass du deine Mutter bald wiedersiehst, aber ich bin mir sicher, dass Kaoris Vater dafür sorgen wird, dass dieser Mann für seine Verbrechen bezahlen wird. Für alles, was er dir angetan hat. Und Misaki. Und deiner Mutter. Einfach allen. Okay? Du trägst keine Schuld daran, Nanami. Du am allerwenigsten.“

Sie schluchzt und wischt sich abermals die Tränen aus den Augen, wobei sie ihre Brille etwas hochschiebt. Schließlich nickt sie.

„Was willst du nun tun?“, frage ich sie. Nanami atmet tief durch, ehe sie weiterspricht.

„Kaori hat angeboten, dass ich erst mal bei ihr wohnen kann. Ich kann ja schlecht alleine in der großen Villa leben. Ich … ich habe keine Ahnung vom Leben oder was man tut, wenn man alleine ist.“

Gott, die Arme. Sie tut mir unendlich leid. Trotzdem bin ich froh, dass sie nun eine Schwester wie Kaori hat, die für sie da ist.

„Möchtest du, dass ich mit dir nach Hause gehe und wir ein paar Sachen für dich einpacken?“, frage ich und Nanami nickt wieder. Sie schnieft noch ein letztes Mal und ich streiche ihr übers Haar.

„Danke, Mimi.“

„Nicht dafür. Komm.“
 

Wir fahren mit dem Bus zu Nanami nach Hause. Ich versuche, sie ein wenig abzulenken und erzähle ihr von Tai und dass er vergessen hat, wie er ihren Kater gerettet hat. Aber selbst das heitert Nanami nicht auf. Sie ist ganz in Gedanken versunken. Sie ist so ein tapferes Mädchen, aber natürlich kann sie die Sorge nicht verbergen, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelt.

Wir packen eine kleine Tasche für Nanami und auch Cupcake nehmen wir mit. Der arme Kerl kann ja schlecht alleine bleiben. Fast schon wehmütig blickt Nanami sich in ihrem Zimmer um, welches sie nun erst mal hinter sich lässt. Vermutlich sieht sie etwas anderes darin als ich sehe. In meinen Augen war es all die Jahre ihr Käfig, ihr Gefängnis. In ihren Augen ist es einfach ihr zu Hause. Ihr Reich, welches sie nun verlassen muss. Wer weiß, ob sie es je zurückbekommt.

Wir nehmen denselben Bus zurück und fahren auf direkten Weg wieder zu Kaori.

„Weißt du, ob du deine Mutter besuchen kannst?“

„Ich habe keine Ahnung“, zuckt sie mit den Schultern, als wir vor Kaoris Wohnung stehen.

„Hey, sag mal, hast du Joe eigentlich schon kennengelernt?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, ich denke auch nicht, dass er so bald vorbeikommen wird.“

So? Will er seine kleine Schwester denn gar nicht kennenlernen?

„Das liegt sicher an Jim“, fügt Nanami noch hinzu, während sie einen Code in ein Display an der Tür eingibt.

Überrascht schaue ich sie an. „Jim ist wieder da?“

Noch ehe ich die Frage zu Ende formuliert habe, höre ich von Drinnen zwei Stimmen, die sich anschreien. Nanami öffnet die Tür, augenblicklich werden die Stimmen lauter.

„Das kann nicht dein Ernst sein! Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Das ist Jim und ja, er ist ganz offensichtlich wieder da.

„Was erwartest du von mir? Soll ich sie auf die Straße setzen und sich selbst überlassen? Sie ist auch deine Schwester“, schreit Kaori zurück. Ein lautes Knallen, als hätte jemand mit der Hand gegen eine Tür geschlagen. Wir zucken beide zusammen, während wir immer noch unschlüssig im Flur stehen und nicht wissen, ob vor oder zurück.

„Verdammt! Das interessiert mich einen feuchten Dreck. Wann kapierst du das endlich? Ich will nichts mit ihr zu tun haben.“

„Aber ich.“

Sie streiten wegen Nanami. Ich schaue zu ihr, sie zittert am ganzen Körper und ihre Augen werden feucht. „Das ist meine Schuld“, wispert sie.

„Nein“, sage ich nur und drücke ihre Hand. „Komm.“ Ich ziehe sie hinter mir her ins Wohnzimmer, aber Jim kriegt uns gar nicht mit. Stattdessen redet er weiter wie ein Irrer auf seine Frau ein. Sein Gesicht ist rot angelaufen vor Wut.

„Trotzdem kannst du sie nicht einfach hier beherbergen, wie einen normalen Gast. Ihre Mutter ist eine Straftäterin. Sie ist dran schuld, dass mein Vater im Gefängnis sitzt und jetzt willst du diesen Bastard bei uns aufnehmen, als würde sie zu unserer Familie gehören? Hast du völlig den Verstand verloren, Kaori? Was ist nur mit dir los?“

„Aber sie gehört zu unserer Familie, Jim. Hör endlich auf, das zu leugnen.“ Kaori hält sich den Bauch und ist sichtlich aufgewühlt. Ihre Augen wandern zu uns und auch sie hat gerade erst bemerkt, dass wir zurückgekommen sind. Jim folgt ihrem Blick und in Sekundenschnelle verändert sich sein Gesichtsausdruck. Kurz wirkt er überrascht, vor allem mich hier zu sehen, aber auch Nanami, die alles mit angehört hat.

„Du …“, zischt er, sieht dabei mich an. Ungehalten kommt er auf mich zu, doch ich weiche keinen Zentimeter zur Seite, sondern schiebe stattdessen Nanami ein Stück hinter mich.

„Du warst es. Gib es zu! Du hinterhältige, kleine Schlampe.“ Er spuckt mir die Wörter entgegen, als sei ich die Pest. Jim schäumt gerade so über vor Wut. Seine Nasenflügel beben und er hat sich kaum noch im Griff. Ich stehe immer noch kerzengerade, obwohl ich darauf warte, dass er mir gleich eine reinhaut. Aber er tut es nicht. Stattdessen ballt er nur die Hand zur Faust und dreht sich dann wieder zu Kaori.

„Wieso machst du mit diesem Miststück gemeinsame Sache? Ich kann nicht fassen, dass du dich mit ihr zusammenschließt und meine Familie verrätst. Du bist eine Kido!“

Kaori sieht ihren Mann unbeirrt an und ich verstehe nun, dass sie schon viel zu weit gegangen ist, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Nein, das würde sie nicht tun. Sie hat endlich ihre Mutter wieder und sogar ihre Schwester. Das würde sie niemals mehr aufs Spiel setzen, auch nicht für Jim.

„Vielleicht will ich ja keine Kido mehr sein.“

Innerlich schnappe ich nach Luft. Plötzlich ist es im Raum still. So still, dass man eine Stecknadel fallen hören würde. Alle Blicke sind ungläubig auf Kaori gerichtet und ich kann selbst nicht fassen, was sie gerade gesagt hat.

Jim, der seine Frau fassungslos ansieht, durchbricht diese Stille mit einem Schnauben. „Was?“

„Du zwingst mich dazu.“

„Ich zwinge dich zu gar nichts.“

„Doch, das tust du. Du und deine Familie, die ganze Zeit.“

„Du hast es unterschrieben.“

„Hör endlich auf mit diesem verfickten Vertrag“, schreit Kaori ihn an. Jim reißt die Augen auf und selbst ich … ich habe Kaori noch nie „verfickt“ sagen hören. Ich wusste gar nicht, dass sie solche Wörter kennt.

„Du vergisst, dass mein Vater Anwalt ist. Ich verstehe nichts von Jura, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er diesen lächerlichen Ehevertrag für ungültig erklären kann.“

Jetzt fängt Jim an zu lachen. Laut. Und aus vollem Halse. Als würde er sich über sie lustig machen wollen. „Kaori, was denkst du dir? Das haben schon ganz andere Frauen versucht und du meinst, du bist die Erste, die aus dieser Nummer unbeschadet rauskommt? Ist dir denn dein Kind so egal?“

Kaori legt schützend ihre Hände auf ihren Bauch und funkelt Jim kampfeslustig an. Sie wirkt wie eine Löwin, die gerade ihr Junges verteidigt. „Lass unser Kind aus dem Spiel.“

Jim geht auf sie zu, kommt ihr ganz nah und sieht bedrohlich von oben auf sie herab. Wieso habe ich gerade ein Déjà-vu?

„Kann ich nicht, denn es ist auch mein Kind, das du da in dir trägst. Und solltest du es wirklich wagen, diesen Schritt zu gehen, wirst du es niemals zu Gesicht bekommen, sobald es auf der Welt ist. Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.“

Okay. Das reicht.

Ich gehe zu Kaori und stelle mich schützend vor sie. „Genug der netten Worte, findest du nicht, Jim? Was willst du deiner Frau noch alles antun?“

„Misch dich da nicht ein. Seit du in unsere Familie gekommen bist, hast du nichts als Ärger gemacht.“ Sein Blick ist erbarmungslos auf mich gerichtet, doch ich werde nicht zurückweichen. Nicht vor ihm. Nicht vor einem Kido. Nie wieder!

„Ich habe lediglich die Verbrechen aufgeklärt, die dein Vater begangen hat. Und ich bin noch nicht fertig damit.“ Denn ich bin immer noch überzeugt davon, dass Tais Unfall kein Versehen war. Jemand wollte ihn umbringen und es gibt nur eine Person, die genügend Gründe dafür gehabt hätte.

Plötzlich schleicht sich ein diabolisches Grinsen auf seine Lippen. „Dachte ich mir doch, dass du das alles warst. Kaoris Vater hat meinen zwar angezeigt und die Beweise der Polizei übergeben, aber er hätte keinen Grund gehabt, Nachforschungen über ihn anzustellen. Kaori genauso wenig. Die hattest nur du, du kleines Miststück.“

Ich zische verächtlich und lache trocken auf. „Nenn mich von mir aus so oft Miststück oder Schlampe wie du willst, das ist mir egal. Es ändert leider rein gar nichts daran, dass dein Vater ein Verbrecher ist und für den Rest seines Lebens hinter Gittern sitzen wird.“ Das Grinsen, dass ich hinterherschiebe, facht ihn nur noch weiter an und lässt ihn fuchsteufelswild werden. Eine Ader an seinem Hals pulsiert gefährlich, während er die Hand gegen mich erhebt. „Du …“

Ich kneife schon die Augen zusammen und erwarte den Schlag in mein Gesicht, doch Kaori schiebt mich zur Seite. Jims Hand erstarrt in der Luft, als er ihren bohrenden Blick auf sich spürt.

„Du wirst Mimi kein Haar krümmen, oder du bist der Nächste, der von der Polizei abgeführt wird.“

Seine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen und er presst die Lippen aufeinander, ehe er die Hand sinken lässt. Empört sieht er sie an.

„Das soll’s also gewesen sein, Kaori? Das Ende unserer Ehe? Du stehst hinter ihr und nicht hinter mir?“

„Ich stehe zu Nanami und zu meiner Mutter. Du bist derjenige, der entschieden hat, nicht hinter mir zu stehen, wie ein Ehemann es für seine Frau tun sollte. Du weißt, ich empfinde immer noch etwas für dich, egal, was passiert ist. Aber wenn du mein Kind oder Nanami bedrohst, dann ja … dann ist es das Ende unserer Ehe. Und dann sei dir sicher, dass du es warst, der den ersten Stein geworfen hat. Denn ich werde nie mehr zulassen, dass mir auch nur noch ein Mensch genommen wird, der mir etwas bedeutet. Auch nicht von dir, Jim.“

Kurz sehe ich in seinem Gesicht den Anflug einer Emotion. Als würde ihn das tatsächlich treffen, was sie gesagt hat. Aber er hat sich schnell wieder im Griff. Dafür ist er viel zu sehr ein echter Kido. Ganz der Vater.

„Wie du meinst“, presst er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Dann beherberge von mir aus dieses Bastardkind. Verbrüdere dich mit dieser Betrügerin oder heule dich bei meinem Bruder aus, ist mir egal.“ Er dreht sich um und rauscht an Nanami vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. „Ich bin hier fertig.“ Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss und wir zucken alle drei zusammen, bis wir endlich aufatmen können.
 

Tai
 

Wo bleibt sie nur? Ungeduldig sehe ich auf die Uhr und jedes Mal, wenn jemand anklopft, denke ich, Mimi kommt rein, aber es sind immer nur die Schwestern.

Hat sie mich vergessen? Nein, sicher nicht. Ob ihr was zugestoßen ist? Warum meldet sie sich nicht?

Es ist schon später Nachmittag und ich hatte Mimi viel früher erwartet. Vor zwei Stunden hat sie geschrieben, dass sie gleich da ist, aber wo steckt sie dann? Ich spüre, wie ich innerlich unruhig werde und beginne mit dem Zeigefinger auf der Matratze zu trommeln. Stutzig sehe ich hinab auf meine Hand. Dann grinse ich. Das konnte ich bis eben noch nicht, diese Bewegung. Aber Mimi bringt mich einfach dazu, Dinge zu tun, die ich eigentlich noch gar nicht können sollte. Sie ist meine Motivation und ich schwöre, wenn sie nicht gleich hier auftaucht, schwinge ich meinen Hintern aus dem Bett und suche sie, und wenn’s im Rollstuhl ist.

In diesem Augenblick öffnet sich die Tür und Mimi kommt herein. Sofort erhellt sich mein Gesicht.

„Da bist du ja“, sage ich, aber mein Lächeln erstirbt gleich wieder. „Du siehst traurig aus.“

„Tut mir leid“, entgegnet Mimi und stellt mit einem äußerst geknickten Gesichtsausdruck die mitgebrachte Suppe auf meinem Beistelltisch ab.

Mitfühlend sehe ich sie an. „Was denn? Dass du traurig bist? Dafür musst du dich nicht entschuldigen.“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin nicht traurig. Eher frustriert.“

„Auch dafür musst du dich nicht entschuldigen. Hmm, das riecht gut.“ Ich rümpfe die Nase und rieche jede einzelne Zutat dieser köstlichen Suppe heraus, auf die ich mich schon den ganzen Tag gefreut habe.

„Hast du Hunger?“, fragt Mimi mit einem Lächeln, während sie weiter die Suppe auspackt.

„Ich habe immer Hunger.“

„Ja, so kenne ich dich. Möchtest du alleine essen?“

„Ich denke, das kann ich.“

Ich richte mich ein wenig auf und Mimi schiebt mir den Tisch näher ans Bett ran. Ich hebe den Arm und greife nach dem Besteck. Mit Stäbchen essen kann ich leider noch nicht. Es kostet mich immer noch einige Anstrengung, vor allem das Essen zu meinem Mund zu führen. Aber es geht. Mimi setzt sich auf die Bettkante und sieht mir begeistert dabei zu, wie ich esse, als würde ich gerade ein Wunder vollbringen.

Ihre Augen leuchten förmlich, als ich den letzten Rest Suppe weggeschlürft habe.

„Bravo“, sagt sie und ich komme mir vor wie ein Zauberkünstler. Trotzdem lächle ich zufrieden.

„Das ist mit Abstand die beste Suppe der Welt. Das kannst du Davis sagen. Einfach super köstlich.“ Ich lecke mir über die Lippen, die immer noch nach Dashi schmecken, während Mimi grinst. „Richte ich gerne aus.“

Ich schiebe den Tisch wieder etwas von mir und lehne mich zurück. „Also, was ist heute passiert? Wo warst du so lange?“

Mimi stößt die Luft aus und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Sie sieht wirklich ganz schön mitgenommen aus.

„Misaki und Ayaka wurden verhaftet.“

Nachdenklich ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „Sollte ich wissen, wer das ist?“

Mimi zuckt mit den Schultern. „Eigentlich schon“, sagt sie. „Misaki ist die Mutter von Kaori und Ayaka ist …“

Plötzlich verstummt sie und sieht mich beinahe hilfesuchend an. Ich sehe ihr an, dass sie gerade keine Ahnung hat, wie sie mir das erklären soll.

„Egal. Jedenfalls hat mich das heute sehr aufgewühlt“, meint sie dann jedoch nur kopfschüttelnd und sieht traurig zu Boden.

In mir regt sich etwas. Schon wieder. Ich mag es nicht, sie so zu sehen. Alles in mir schreit danach, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Ich will für sie da sein, sie beschützen und auffangen. Ich will, dass sie mir vertraut. Ich will ihr Licht in der Dunkelheit sein. Der einzige Mensch, der in ihren Kopf und in ihr Herz blicken darf.

Und diesmal gebe ich dem Drang nach.

„Komm her, Mimi.“ Ich strecke die Arme nach ihr aus und deute ihr an, dass es völlig okay ist. Erst ist sie ein wenig unsicher, doch dann zieht sie ihre Schuhe aus, nimmt die Beine aufs Bett und rutscht doch noch zu mir rüber, um sich in meine Arme zu legen.

Ich halte sie, so gut es mein Körper zulässt und ein wohliges Gefühl macht sich in mir breit. Es weitet sich direkt in meinem Herzen aus und flutet von dort aus jede Vene, jeden Muskel, jede Pore.

Mimi in meinen Armen zu halten fühlt sich so natürlich wie Atmen an. Ich spüre diese Verbundenheit, die mit jedem Traum von ihr wächst. Als würde sich etwas zurück an die Oberfläche kämpfen wollen, was lange geschlafen hat.

„Erzählst du mir heute wieder von uns?“

Mimis Kopf ruht auf meiner Brust, genauso wie ihre Hand. Ich kann den Duft ihrer Haare riechen – süße Orangen und Zedernholz. So betörend.

„Soll ich?“, fragt sie und ich lache auf.

„Ich bitte darum.“ Als hätte ich nicht den ganzen Tag genau darauf gewartet. „Was ist passiert, nachdem Haruiko dich angegriffen hat und du dich nicht von Joe trennen konntest?“

Joe. Ich habe ihn heute nicht gesehen. Keine Ahnung, ob er frei hatte oder zu beschäftigt war, aber er kommt generell nur zu mir, wenn irgendwelche Untersuchungen anstehen. Er kommt nie, um mich einfach nur zu besuchen, wie Freunde es für gewöhnlich machen. Und ich habe die Vermutung, dass ich heute erfahre, warum das so ist.

„Also“, beginnt Mimi zu erzählen und ich höre ihr aufmerksam zu. „Joe hat die Polizei gerufen, aber ich konnte denen ja schlecht erzählen, was passiert ist und Joe auch nicht. Haruiko hat meine Eltern bedroht. Ich war mir sicher, dass es das jetzt war. Dass wir nie zusammen sein können und ich Joe einfach heiraten muss. Aber du hast mir versichert, dass du eine Lösung finden wirst. Du wolltest wissen, ob Haruiko irgendwelche Leichen im Keller hat und hast Nachforschungen angestellt, als wir wieder zurück in Tokyo waren. In der Zwischenzeit stellte sich heraus, dass Joe wohl Gefühle für mich entwickelt hatte.“

Jesus, Maria – ich ahne schlimmes. Oh nein, das klingt gar nicht gut.

„Du hast gesehen, wie er mich geküsst hat.“

Als sie die Worte ausspricht, regt sich wieder etwas in mir, aber diesmal ist es nichts Gutes. Es ist eklig und hässlich und besitzergreifend.

„Du warst sehr eifersüchtig“, erklärt mir Mimi und ja. Das kommt dem Gefühl, welches ich gerade empfinde, am nächsten.

„Ich bin zu dir gegangen, habe dir erklärt, dass da nichts ist und ich nur dich will und dann haben wir das erste Mal … haben wir …“

Was ist? Warum redet sie nicht weiter? Ich schaue nach unten auf ihr hübsches Gesicht und sehe, dass ihre Wangen sich rot verfärbt haben. Sie glühen förmlich.

„Aah, verstehe“, grinse ich. „Wir hatten Sex.“

„Oh man, Tai.“ Sie schlägt mich gegen den Oberarm und ich lache. Allein die Vorstellung davon, Mimi nackt in meinem Bett zu haben und mit ihr tun zu können, was ich will …

Nur ein Idiot würde das vergessen.

Fick dich, Amnesie!

„Okay. Nun verstehe ich, dass Joe nicht gut auf mich zu sprechen ist. Verdammt. Hat er es rausgefunden?“

Mimi schüttelt ihren Kopf und schmiegt sich dann wieder an meine Brust.

„Zuerst nicht. Wir waren ziemlich gut im Verstecken unserer Gefühle, selbst Frau Kido war besänftigt. Auch Joe hat uns vertraut und uns oft zu zweit allein gelassen. Er hat mich sogar mit zu deinem Fußball-Camp fahren lassen.“

Umso schlimmer, dass wir dieses Vertrauen wissentlich missbraucht haben. Ernsthaft Tai, was für ein Arsch bist du? Betrügst deinen Freund für … für wen? Die Frau deines Lebens? Denn nichts geringeres muss sie sein, wenn ich für Mimi bereit war, so weit zu gehen.

„Wir hatten eine schöne Zeit im Camp und waren uns sehr nahe.“ Mimi beginnt mit dem Zeigefinger Kreise auf meine Brust zu malen. Sie wirkt ganz verträumt. Selbst das finde ich irgendwie anziehend.

„Du hast mich mit zum Wandern genommen und mir einen Wasserfall gezeigt.“

„Moment“, unterbreche ich sie und werde hellhörig. „Einen Wasserfall? Davon habe ich geträumt. Was hat es damit auf sich? Ist da was komisches passiert?“

Ich meine die Frage ganz ernst, denn es interessiert mich brennend. Aber Mimi hebt nur den Kopf und sieht mich fragend an, ehe sich wieder dieses leichte rosa auf ihre Wangen schleicht.

„Nein, was komisches ist da nicht passiert. Nur, dass wir …“ Bei mir macht es Klick.

„Echt jetzt? Wir hatten dort auch Sex? Man, wir sind ja wie zwei wilde Tiere, die permanent übereinander herfallen. Jetzt verstehe ich auch, warum du mich so überfallen hast, als ich wach wurde. Du kannst einfach nicht die Finger von mir lassen.“

Mimi klappt der Mund auf und wenn sie eben noch rosa war, dann läuft sie gerade feuerrot an. Süß. Meine Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, weil ich es witzig finde, sie so in Verlegenheit bringen zu können.

„Du bist echt unmöglich, Tai. Und nur fürs Protokoll: du warst derjenige, der mich in der Küche der Kidos verführt hat, der mich im Auto fast auf die Rückbank gezogen hat und du warst auch derjenige, der sich beim Wasserfall nackt ausgezogen hat.“ Sie plustert sich richtig auf, wie ein Hamster, woraufhin ich echt lachen muss.

„Und wenn ich nackt bin, kannst du mir eben nicht widerstehen, schon klar. Aber welches Auto meinst du? Daran kann ich mich auch nicht erinnern.“

Irgendwie erwarte ich gleich die nächste schlüpfrige Geschichte, aber plötzlich wird ihr Gesicht ernst. Zu ernst.

„Wir haben in deinem Auto das Haus von Nanami beobachtet“, sagt sie und ich sehe sie nur verwirrt an.

„Wer ist Nanami?“

Mimi pustet angestrengt die Luft aus und seufzt. „Jetzt kommen wir wohl zum unangenehmen Teil der Geschichte.“ Sie kuschelt sich wieder an mich und ich schließe sie in meine Arme, als wäre es ganz normal. Ich weiß nicht, ob es an den Geschichten liegt, die sie mir von uns erzählt hat, aber ich fühle mich ihr irgendwie verbunden. Es fühlt sich einfach gut an, sie hier zu haben. Bei mir.

„Ich hatte dir ja erzählt, dass du nach dem Vorfall in New York felsenfest davon überzeugt warst, irgendetwas gegen Haruiko zu finden. Und du hast es gefunden.“

Gespannt halte ich die Luft an.

„Es war Tanabata und du hast auf dem Fest zufällig Ayaka Yano getroffen. Du hattest dich kurz zuvor mit ihr verabredet, sie war früher Dienstmädchen im Hause Kido, bis sie vor 17 Jahren gekündigt hat“, sagt Mimi, aber bei mir klingelt immer noch nichts. Keine Erinnerung, kein Flash Back oder so. Gar nichts.

„Sie war mit ihrer Tochter auf dem Fest. Du hast sie eine Weile verfolgt, aber Ayaka hat dich erkannt und ist quasi vor dir geflüchtet. Allerdings hat Nanami ein Taschentuch fallen lassen und mit Hilfe dessen konnten wir einen Gentest durchführen. Nanami sieht Joe einfach so ähnlich, das konnte kein Zufall sein. Und du lagst mit deiner Vermutung richtig. Nanami ist die Schwester von Joe und das uneheliche Kind von Dr. Haruiko Kido.“

Scheiße, tritt mich doch ein Pferd. Was, zum Teufel, erzählt Mimi mir da? Ein geheimes Kind?

„Und keiner weiß von dieser Nanami?“, frage ich.

„Oh, doch, inzwischen schon“, lacht Mimi nun auf. „Alle wissen von ihr und das ist auch der Grund, warum Haruiko verhaftet wurde. Er hatte eine Affäre mit Misaki, der Mutter von Kaori und …“

„Oh mein Gott“, unterbreche ich sie. Das ist doch wie ein schlechter Krimi. „Willst du mir gerade sagen, dass Joe, Jim und Kaori eine gemeinsame Schwester haben? Wie krank ist das denn?“

Aber Mimi nickt trotzdem. „Ja, so ist es. Haruiko hat Nanami von Ayaka großziehen lassen. Er hat sie versteckt, sie durfte auf keine normale Schule gehen und niemand kennt sie wirklich. Du hast das Ganze aufgedeckt und deshalb …“ Mimi stockt, sucht nach den richtigen Worten.

„Was ist denn?“, frage ich unsicher. Ich streiche ihr mit der Hand übers Haar, aber sie seufzt nur. Sie hebt ihren Kopf und sieht mich eindringlich an. „Deshalb hattest du auch diesen Unfall.“

Ich begreife es immer noch nicht ganz, was sie mir damit sagen will, verstehe die Zusammenhänge nicht. Ich habe keine Erinnerung an den Unfall, daher …

„Warte, warte.“ Irgendwas regt sich in meinem Unterbewusstsein. Ich spüre es ganz deutlich.

Der Sturz.

Das Geräusch des reißenden Seils.

Der Fall ins Leere.

Der Aufprall.

Mein letzter Gedanke – Mimi.

„Tai? Tai …“

Ich sehe in Mimis panische Augen, spüre, dass meine Hände zu zittern beginnen. Meine Atmung geht viel zu schnell und die Hitze steigt mir zu Kopf.

„Oh Gott, es tut mir leid, Tai“, fährt Mimi erschrocken hoch und hält meine Hände fest, die unaufhörlich zittern. „Ich hätte dir das nicht erzählen sollen. Es war zu viel für dich, es tut mir leid.“

Doch ich kneife die Augen zusammen und schüttle nur den Kopf. Ich will es so. Ich will das alles wissen und ich spüre mit jedem Wort von ihr, dass ich der Wahrheit näherkomme – auch wenn sie verdammt weh tut.

„Ist schon gut“, presse ich stöhnend hervor und lasse mich zurück in mein Kissen sinken. Meine Hand umgreift die von Mimi und ich drücke sie mit der letzten Kraft, die ich aufbringen kann. „Ich bin froh, dass du mir alles erzählst.“

„Wir sollten Schluss machen für heute“, höre ich Mimi noch sagen, während mir schon die Augen zufallen.

„Ja“, hauche ich. „Ich bin müde. Bitte bleib bei mir.“

„In Ordnung“, flüstert Mimi und streicht mir sanft über die Wange. Ich merke, wie ich wegdrifte und mich der Schlaf einnimmt, ehe die nächste Erinnerung, der nächste Traum, mich überwältigt …
 

Diesmal ist das Bild ganz klar. Nicht verschwommen, nicht verworren, ich weiß genau, wo ich mich befinde. Ich stehe auf dem Fenstersims eines Hauses, unter mir die Tiefe. Ich weiß, was zu tun ist, das ist mein Job. Ich mache alles, wie es im Drehbuch steht, hake mich an einem Seil ein und hole Schwung. Dann springe ich, fliege quasi durch die Luft. Jemand ruft meinen Namen, ich drehe mich um. Wer ist der Kerl? Ach ja. Ein neuer Kollege?

„Schöne Grüße von Haruiko.“

Meine Augen weiten sich vor Schreck. Haruiko, dieser Mistkerl. Ich höre, wie das Seil reißt. Fuck, es wurde manipuliert. Ich denke an alles, was ich gelernt habe und weiß, ich komme nicht unbeschadet davon. Ich weiß, ich werde es vielleicht nicht überleben. Und dann denke ich an Mimi. Wie sehr ich sie liebe. Und dass ich sie retten will. Dann wird es dunkel.
 

Ich reiße meine Augen auf, spüre meinen Puls, wie er rast, wie mir der Schweiß über die Stirn läuft. Ich greife mir an die Brust, die sich so schnell hebt und senkt, als wäre ich einen Marathon gelaufen.

„Tai, was ist? Was hast du?“

Ich drehe den Kopf und erkenne in der Dunkelheit Mimi, die neben mir sitzt und vom Schein der Nachttischlampe angestrahlt wird. Sie sieht panisch aus.

„Es … es geht schon“, keuche ich, fahre mir mit der Hand übers Gesicht, um wieder klar zu kommen. „Nur ein Traum. Alles gut.“

„Wirklich?“, fragt sie besorgt. „Ich kann einen Arzt rufen, wenn du willst.“

„Nein, es geht schon“, sage ich und lege mich zurück ins Kissen. Mimi greift meine Hand und hält sie ganz fest. „Versuch einfach weiter zu schlafen. Ich bin hier.“

Ich nicke und schließe die Augen.

Fuck.

Ich weiß es wieder.

Und zwar alles.

Tai
 

Es ist alles wieder da. Die Erinnerungen wieder so zusammensetzen zu können, fühlt sich auf der einen Seite großartig und auf der anderen Seite ohnmächtig an. Die gesamte Nacht lag ich da und habe über alles nachgedacht. Nochmal alles Revue passieren lassen. Haruiko wurde wirklich verhaftet. Nanami ist frei und … “Hey, hast du noch etwas schlafen können?” Mimi. Sie gähnt ausgiebig und reibt sich danach den Schlaf aus den Augen. Unglaublich, was sie die letzten Wochen alles durchgemacht haben muss. Ich ziehe sie so weit es mein Körper zulässt, fest in meine Arme. Oh Gott, wie sehr ich diese Frau liebe. Wie konnte ich das und sie nur vergessen? Wie schlimm es für sie gewesen sein muss, dass ich sie nicht erkannt habe und trotzdem ist sie jeden Tag zu mir gekommen, hat mich nicht aufgegeben.

“Nicht mehr so viel und du?”

“Ehrlich gesagt, besser als die letzten Nächte. Es … es war schön, in deinen Armen einzuschlafen.” Ihre Wangen färben sich leicht rosa und ich finde es echt niedlich. Sie ist einfach nur süß.

“Ach Prinzessin.”

“Prin …?” Etwas irritiert sieht mich Mimi an. “So hast du mich lange nicht mehr genannt.” Ich grinse sie breit an, doch scheint Mimi immer noch nicht ganz zu verstehen.

“Du hast vergessen zu erwähnen, dass Yolei die nötigen Informationen herausgefunden hat und du hast auch nicht erwähnt, wie schlecht du Ramen kochen, dafür aber hervorragend backen kannst.”

“Ähm …”

“Und dass du Sexträume mit mir hattest. Ich war gut, nicht wahr?”

“Aber … also … ähm … kannst du etwa?”

“Und wieso hast du mir nicht einfach dein Tagebuch gegeben?”

“Hilfe, du erinnerst dich?” Ich grinse noch breiter und Mimi fängt an zu weinen, während sie ihre Hände an ihr Gesicht hält. “Du weißt wieder alles?”, haucht sie und ich nicke. “Oh man, Tai.” Sie fällt in meine Arme und weint weiter. Ich halte sie fest, denn ich kann mir gut vorstellen, was jetzt alles von ihr abfallen muss. “Hey, es ist alles gut, okay?” Ich streichle immer wieder von ihrem Hinterkopf über ihren Rücken, bis Mimi sich langsam wieder beruhigt. “Erzähl mir bitte was danach passiert ist. Ich meine, als ich im Koma lag. Ich konnte dir nicht mehr sagen, was Yolei mir gezeigt hatte. Wie um alles in der Welt hast du es herausgefunden?”

“Also erstmal konnte ich da gar nicht dran denken. Immerhin warst du in Lebensgefahr und glaub mir, nichts ist schlimmer gewesen, als der Gedanke, dich zu verlieren.”

“Ach Mimi …”

“Ich glaube, die Art und Weise, wie ich hier im Krankenhaus ausgeharrt habe und sofort Blut spenden wollte, hat Joe wohl misstrauisch gemacht. Ehrlich gesagt, war mir das auch egal. Ich wollte einfach nur zu dir, aber am Anfang ließ mich keiner, weil ich ja nichts sagen konnte.” Ich streichle ihr wieder über die Haare. Sie sind noch ganz wild und ungekämmt. Ich liebe es ihren perfekt unperfekten Look zu sehen. “Joe hat dann schließlich mein Tagebuch gefunden.”

Jetzt verstehe ich, wie Joe das alles herausgefunden hat. Er hat es gelesen. Autsch. Und ich weiß so in etwa, was drin steht. Zumindest am Anfang.

“Und vor lauter Wut verbrannt.”

“Er hat es echt verbrannt?” Sie nickt. Okay, ich werde mit Joe ein Gespräch führen müssen. “Ich habe Joe dann alles erzählt, aber er hat mir zunächst kein einziges Wort geglaubt, dann hat er mich aus der Villa geworfen und natürlich die Verlobung gelöst.” Klar, würde ich auch tun.

“Aber Haruiko hatte wieder ganz andere Pläne.” Schon alleine diesen Namen zu hören, lässt eine unbändige Wut in mir zum Vorschein kommen. “Er hat dann auch ihm gedroht und dann die Hochzeit sogar vorverlegt.” Panisch sehe ich zu Mimi. Oh Gott, sie ist doch nicht etwa verheiratet?

“Keine Sorge, ich wusste von dem Zeitpunkt an, dass ich einfach so gar keine Zeit mehr habe und habe mit Sally wirklich viel nachgearbeitet. So habe ich an deinem Geburtstag hier im Zimmer auch Yolei getroffen.”

“Wo ist sie eigentlich? Es geht ihr doch gut, oder?” Es würde mich fertig machen, wenn ihr oder ihrer Familie etwas zustoßen würde.

“Sie ist mit ihrer Familie nach Europa gereist. Es geht ihr gut. Kari hat mir sogar Fotos gezeigt.”

“Okay.”

“Sie ist wirklich unheimlich clever und ohne sie wäre ich verloren. Durch eine verschlüsselte Botschaft habe ich in einem Bankschließfach einen USB-Stick gefunden und da war schlussendlich alles drauf.” Ja, das sieht ihr ähnlich. Auf alles vorbereitet und immer noch ein Aß im Ärmel.

“Ehrlich gesagt, war das alles echt schwer. Ich wusste nicht, was du vor hattest, was ich jetzt mit all diesen Informationen machen soll und habe mich schlussendlich dazu entschieden, zu Kaori zu gehen.”

Mimi hat also diesen Weg gewählt. Diese Option habe auch ich kurz in Erwägung gezogen, hatte mich dann aber dagegen entschieden. “Ich wollte danach zu Ayaka gehen, ohne mich nochmal abwimmeln zu lassen und wäre dann mit allen Beweisen plus der Aussage von Ayaka zur Polizei gegangen. Ich hatte mit Ken darüber gesprochen, ob das genügend Beweise sind. Mit Ayakas Geständnis hätte es ausgereicht.”

“Ah okay, wir waren auch da. Also bei Nanami Zuhause.”

“Ja?”

“Kaori wollte Nanami unbedingt sehen. Den ultimativen Beweis sozusagen. Das war schon krass, als ich ihr das alles erzählt habe, sie war wie ausgewechselt. Sie war gar nicht mehr wiederzuerkennen. Sie hat nur Kinderlieder gesungen und mir sogar eine gescheurt.”

“Oh weia. Sie war bestimmt total überfordert.” Kaori hat eben nie gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen, ihnen dafür Raum zu geben, schlimmes, gar traumatisches zu verarbeiten, daher wundert mich ihre Reaktion auch überhaupt nicht. “Aber irgendwann habe ich sie zum Glück erreicht. Sie hat mir zugehört und mir gleich geglaubt. Dann sind wir zusammen zu Kaito gegangen.”

Ich sehe Mimi voller Stolz an.

“Mein starkes Mädchen. Es tut mir leid, dass du dich ganz alleine darum kümmern musstest.” Mimi schüttelt ihren Kopf.

“Nein Tai, es war meine Aufgabe, zuende zu bringen, was du begonnen hast und beinahe sogar dein Leben gekostet hätte. Außerdem wollte ich diesen Widerling einfach stoppen. Er durfte nicht einfach so davon kommen.” Wieder spanne ich mich an. Nein, das darf er wirklich nicht.

“Du glaubst auch, dass dies ein Mordanschlag von Haruiko war, nicht wahr?”

“Na ja, indirekt hat Joe es sogar bestätigt. Er hat es ihm wohl sogar gesagt, aber mir war es vorher schon klar. Es war leichtsinnig von dir den Namen Nanami so rauszuhauen, Tai.”

“Ja, ich weiß, aber es war eine einmalige Chance für mich, die Reaktionen der beiden zu testen und ich wusste von dem Zeitpunkt an, dass Misaki wirklich die Mutter von Nanami ist, dass diese verrückte Theorie, die Yolei aufgegriffen hat, wirklich stimmt. Ich musste dieses Risiko einfach eingehen.” Mimi kommt mir ganz nah und ich verliere mich fast wieder in ihren wunderschönen Augen. Die Türe öffnet sich und die Morgenschwester betritt das Zimmer. “Guten Morgen, Mr. Yagami, Frühstück?”

“Ja, sehr gerne.” Schon stellt die Krankenschwester ein Tablet auf den Beistelltisch ab und nickt erst mir dann Mimi zu. “Kommt heute Dr. Kido zu mir? Ich habe ihm was wichtiges zu sagen.”

“Ich werde es ihm ausrichten.” Die Schwester verbeugt sich und verschwindet wieder. “Komm wir teilen uns das Frühstück.”

“Nein, du musst zu Kräften kommen. Ich hole mir gleich ein Kaffee, das reicht.”

“Prinzessin, ich sehe, dass du abgenommen hast, hast du dich überhaupt um dich gekümmert?” Mimi springt vom Bett auf, macht sich schnell einen Dutt und schlüpft wieder in ihre Schuhe rein. Augenblicklich vermisse ich ihre Nähe.

“Es geht mir gut, Tai.” Sie hebt den Deckel und fährt den Tisch vor mir.

“Jetzt sieh mich nicht so an. Ich hole mir gleich was, versprochen.” Mimi beschmiert mein Brot mit Margarine und Aufschnitt und schüttet mir frischen Tee ein. Außerdem tauscht sie die Wasserflaschen aus und schüttelt mein Kopfkissen aus. Sie macht das wirklich gut und ich schmunzle. “Ich meine das doch nicht böse, ich will nur, dass es dir gut geht.”

“Glaub mir Tai, es ging mir nie besser. Du bist wieder zurück und ich bin frei.”

“Na ja …” Ich werde rot und kratze mir etwas unbeholfen am Hinterkopf. Oh, seit wann kann ich das denn? Wie schafft Mimi das nur immer wieder? Dass ich Dinge tue, die ich doch eigentlich noch gar nicht kann? “Also ich hoffe doch, dass du jetzt ganz offiziell meine Freundin bist.” Mimi lächelt, während sie mir einen Traube in den Mund steckt. “Das war ich doch die ganze Zeit, du Idiot.” Sie drückt mir einen Kuss auf den Mund, doch unterbricht diesen viel zu schnell wieder.

“Wo gehst du hin?” Sie lächelt mich wieder an und mein Herz fängt augenblicklich an, etwas schneller zu schlagen. “Du hast doch gleich deinen ganzen Therapien und ich muss auch noch ein bisschen was erledigen, aber wir sehen uns heute Nachmittag, okay?”

Ich nicke.

“Prinzessin, hast du genug Geld?”

“Ich habe vor zwei Tagen Bewerbungen geschrieben und hoffe, dass sich bald jemand meldet.”

“Das finde ich zwar super, beantwortet aber meine Frage nicht. Wie willst du dir etwas zu Essen holen, wenn du kein Geld hast?” Ich weiß, dass Mimi noch nie in dieser Situation war, aber ihre Konten sind leer oder eingefroren und von den Kidos wird sie auch keinen Cent mehr kriegen.

“Na ja, Sally hat mir etwas geliehen”, gibt Mimi schließlich zu.

“Du solltest erstmal ein Konto hier in Japan eröffnen, das geht schnell und dann kann ich dir so viel Geld überwiesen, wie du brauchst.”

“Aber …”

“Du bekommst eh noch deinen Lohn, dafür dass du zwei Wochen mit im Camp warst.”

“Ich habe das doch nicht des Geldes wegen gemacht.”

“Prinzessin, nimmst du das jetzt bitte einfach an? Damit ich mir darüber keine Sorgen machen muss?”

“Na gut”.

“Sehr gut. Dann mach das bitte heute. Immerhin brauchst du das eh, wenn du hier arbeiten willst.” Gott, diese Frau ist immer so stur. Ich grinse, schön, dass sich manche Dinge nie ändern.
 

Mimi
 

Tai zurückzulassen fällt mir wirklich mehr als schwer. Vor allem jetzt, wo er sich an alles erinnern kann. Was das wohl für ein gewaltiges Gefühl sein muss? So viele Emotionen, Bilder und vor allem mit den ganzen Skandalen zurechtzukommen. Das muss unendlich schwer sein. Ich verlasse gerade den Fahrstuhl, als ich mich dem Ausgang nähere und unzählige Reporter vor dem Krankenhaus sehe. Oh mein Gott, wie um alles in der Welt, soll ich hier raus kommen, ohne dass die mich wie ne Made zerquetschen? Ich gehe zur Information und warte darauf, dass die Empfangsdame Notiz vor mir nimmt.

“Entschuldigen Sie, aber können Sie nicht die Polizei rufen? Das hier ist ein Krankenhaus und die Patienten brauchen alle ihre Ruhe. Es kann doch nicht sein, dass hier alle so belagert werden?”

“Was meinen Sie, was ich hier die ganze Zeit versuche? Es interessiert sie nicht.” Ich rolle mit den Augen. Wie komme ich nur hier raus? “Gibt es hier noch einen anderen Ausgang?”

“Ja, den fürs Personal.”

“Und wo ist der?”

“Gehören Sie zum Personal?”

“Nein, aber …” Die Frau nimmt das nächste Telefonat entgegen und lässt mich stehen. Wütend knirsche ich mit den Zähnen. Das darf doch nicht wahr sein. Doch, es gibt noch einen anderen Ausgang. Muss, also begebe ich mich auf die Suche, dann frage ich eben irgendeinen, der sich hier auskennt und nicht so unfreundlich ist.

Okay, wie kann man sich nur in einem Krankenhaus verlaufen? Jetzt bin ich in der Radiologie gelandet und habe immer noch keinen Plan, wie ich hier raus kommen soll, ohne zerfleischt zu werden. Ob Joe überhaupt schon hier ist? Ist er ins Krankenhaus reingekommen? Klar, sie warten bestimmt auf ihn und auf Jim, denn der müsste schließlich heute auch wieder arbeiten. Ob Kaori auch unter Beschuss steht? Es gibt mittlerweile so viele Schlagzeilen, dass ich den Überblick verloren habe. Ich nehme mein Handy hervor und scrolle durch das Twitter Profil der Kido Familie. Es gibt einige Statements, die Tai aber unmöglich geschrieben haben muss. Offenbar ist er bereits ersetzt worden.

In der offiziellen Erklärung heißt es, dass alle Vorwürfe gegenüber Dr. Haruiko Kido haltlos sind und deswegen jetzt alles für seine Unschuld getan wird. So etwas würde Tai niemals schreiben.

Hier ein Statement über Kaoris Schwangerschaft, mit einem Bild, wo Kaori und Jim sich glücklich in den Armen liegen. Was ist das für ein Pressesprecher? So viele Lügen. Erst sollte Kaori sich verstecken, bloß nicht auffallen, aber jetzt wo sie positive Publicitiy gebrauchen können, wird die Story um ihre Schwangerschaft veröffentlicht. Widerlich, diese Familie macht ständig alles so, wie es ihnen in den Kram passt. Was mich wundert, dass nichts über die Trennung von Joe und mir steht. Morgen wäre eigentlich die Hochzeit. Wieso steht hier nichts über unsere Trennung?

Eine Schwester geht an mir vorbei und ich spreche sie an. “Entschuldigen Sie, aber ich muss hier raus, ohne den Haupteingang zu benutzen. Ich bin … ich kann nicht auf die Presse treffen. Können Sie mir helfen?”

“Selbst der Nebeneingang ist bereits voll.”

Ich bin früher mit Joe über die Tiefgarage raus gekommen. Nur, steht da unten kein Wagen für mich bereit.

“Der Personalausgang?”

“Ist auch der Lieferanteneingang. Sie müssen in das erste Untergeschoss fahren und von da aus Richtung Wäscheabteilung gehen, von da kommen sie auch raus.” Okay, ich werde mich ganz klar verlaufen und lande schließlich im Leichenkeller. Gruselig. Mimi verirrt im Leichenschauhaus. Dann doch lieber die Presse, oder? “Könnten Sie mir das zeigen?”

“Ich muss zum nächsten Patienten. Es tut mir Leid.” Sie verbeugt sich und ich nicke mit dem Kopf. Ich beschließe den Nebeneingang zu nehmen, den die Schwester mir gezeigt hat und ja, da stehen bereits Reporter, aber nicht so viele, wie am Haupteingang. Ich werde für einen weiteren Skandal sorgen und offiziell die Trennung bekannt geben. Warum immer dies bisher nicht passiert ist, es ändert sich heute. Ich zähle ungefähr sechs Reporter. Die Türe öffnet sich automatisch, die Köpfe drehen sich in meine Richtung und es geht los.

Foto, Frage: “Miss Mimi, wie fühlen Sie sich einen Tag vor ihrer Hochzeit?”

Foto, Frage: “Was sagen Sie zu den Anschuldigungen bezüglich ihres Schwiegervaters?”

Foto, Frage: “Wieso tragen Sie keinen Verlobungsring mehr?” Ich kneife meine Augen zusammen und versuche die Reporter zu beruhigen. Mir wird niemand mehr Worte in meinen Mund legen. Ich bin dieser Familie nichts mehr schuldig. Selbst Joe nicht. “Joe und ich haben uns einvernehmlich getrennt. Es wird keine Hochzeit geben.” Die sechs Reporter schießen unendlich viele Fotos und stellen weitere Fragen, auf die ich nicht weiter eingehe. Ich dränge mich an den ersten vorbei. “Haben Sie sich wegen des Skandels getrennt?”

“Sie meinen wegen dem Verbrechen?” Denn um nichts anderes handelt es sich hier.

“Wir hatten uns bereits vorher getrennt.” Mehr sage ich nicht und natürlich nehmen Sie die Verfolgung auf. Fotos, Fragen und das immer wieder. Teilweise landet die Kamera direkt in meinem Gesicht und es wird mir zu viel. Ich bekomme Panik, weil Sie jetzt schon anfangen, mich festzuhalten. “Lassen Sie mich los”, schreie ich und versuche meinen Arm aus den Fängen eines Reporters zu bekommen.

“Lassen Sie die Frau sofort los oder sie werden alle verhaftet.” Diese Stimme … die kenne ich doch irgendwo her. Ich drehe meinen Kopf um und erkenne Ken in seiner Polizeiuniform. Die Reporter lassen von mir ab und Ken zieht mich zu sich rüber. Etwas ungläubig schaue ich ihn an.

“Alles in Ordnung?” Ich nicke nur.

“Seit wann seit ihr zurück?”

“Seit gestern. Tai hat mich vorhin angerufen. Er will eine Aussage machen.”

“Verstehe.”

“Ich bringe dich erstmal hier weg und dann gehe ich zu Tai.” Ich setze mich zu Ken und einem Kollegen auf die Rückbank von dem Streifenwagen. “Sie ist eine Freundin. Ich muss sie kurz außer Gefahr bringen.”

“Natürlich.” Er fährt mich tatsächlich zu Tais Wohnung, als ich mich an etwas erinnere. “In Tais Wohnung ist eingebrochen worden.”

“Was? Wann?”

“Es war … vor einer Woche.”

“Warum hast du keine Anzeige erstattet?”

“Weil die Geschichte rund um Nanami noch nicht öffentlich war.”

Ken versteht und nickt, er weiß warum ich nicht zur Polizei konnte. “Ich habe Fotos gemacht, kann ich die Anzeige auch noch in Nachhinein machen?”

“Klar, du kannst ja auch behaupten, du hättest unter Schock gestanden.”

“Ist nicht mal ne Lüge. Sie haben auch Sachen mitgenommen.”

“Und was?”

“Tais Laptop und die ganzen ausgedruckten Unterlagen rundum Nanami und die Kidos.”

“Dann muss man wohl nicht lange grübeln, wer dahinter steckt. Wir könnten aufgrund der aktuellen Beweislage ein Durchsuchungsbeschluss beim Richter veranlassen.”

“Ja, das ist sicher auch in Tais Sinne.” Ken folgt mir in die Wohnung. Sally scheint nicht da zu sein, aber ich erinnere mich, dass sie ja bei Davis übernachten wollte.

“Da vorne ist sein Schreibtisch, da stand sein Laptop und auch alles voller Notizzettel, Stammbaum der Familie, Fotos, nichts mehr da. Auch Sallys Laptop ist gestohlen worden.”

“Wer ist Sally?”

“Sally ist meine beste Freundin aus New York und übrigens die neue Freundin von Davis.”

“Von Davis? Davis hat eine Freundin? Was ist denn bitte passiert, als wir eine Woche in Spanien waren?”

“Eine ganze Menge.”

Ich zeige Ken noch alle Fotos, die wir vom Einbruch festgehalten haben und sende ihm diese weiter. Er nimmt alles auf, genauso wie die Zeugen. Schließlich haben Sally, Joe und Kaori das Ausmaß des Einbruchs ebenfalls gesehen. “Ich würde sagen, die Luft wird dünner für den Professor”, grinst Ken.

“Dann warte mal ab, was Tai dir gleich zu sagen hat.”

“Er erinnert sich wieder?”

“Ja, an alles.”

“Das freut mich. Ich fahre dann jetzt direkt zu ihm.” Ich nicke und verabschiede mich von Ken. Haruiko, du hast dich mit den falschen angelegt.
 

Tai
 

Die Lymphdrainage tat sehr gut. Jetzt habe ich eine Pause und habe nachher nochmal eine Stunde Bewegungstraining. Die Physiotherapeutin ist sehr zufrieden mit mir und auch wenn ich selbst der Meinung bin, dass alles viel zu langsam voranschreitet, so bemerke ich jeden Tag eine Verbesserung und jetzt sind sogar meine Erinnerungen zurück. Es entwickelt sich alles in die richtige Richtung. Es ist jetzt kurz vor Mittag und ich bin froh, als Ken das Krankenzimmer betritt. “Hey Tai, wie geht es dir?”

“Hey, was für eine Fügung, dass ihr wieder zurück seid.”

“Na ja, Yolei hat natürlich alles verfolgt, was hier passiert ist und als sie wusste, dass Haruiko verhaftet wurde, war klar, dass wir außer Gefahr sind. Wir sind doch außer Gefahr, oder?”

“Keiner weiß, dass ihr uns geholfen habt. Eure Namen sind nie erwähnt worden.”

Ken nickt und lächelt. “Ein Mann wie Haruiko zu stürzen ist eben nicht ohne …”

“Wo wir direkt beim Thema sind.”

“Stimmt, du wolltest eine Aussage machen? Das heißt du erinnerst dich wieder an alles?”

Ich nicke. “Ich will Haruiko anzeigen. Ich bin sicher, dass er für meinen Unfall verantwortlich ist. Ich habe vorhin mit meinem Kollegen Genji telefoniert. Der hatte einen Tag vor den Dreharbeiten, wo er mit mir hätte arbeiten sollen, einen ‘Unfall’ gehabt und sich dadurch den Arm gebrochen. Er sagt, ein Auto habe ihn verfolgt. Er war joggen und es war schon recht spät am Abend und ehe er sich versah, musste er dem Auto ausweichen. Genji hatte sich mit den Händen und Armen abgestützt und sich dabei seinen rechten Arm gebrochen. Ein Tag später wurde er durch Haruto ausgetauscht. Ich habe noch nie von diesem Haruto als Double gebört. Angeblich sei er bei der Agentur Double & More unter Vertrag. Ich bezweifle, dass das stimmt.”

“Okay, hast du auch einen Familiennamen für mich?” Ich schüttel frustriert den Kopf. Er hat sich nicht ganz vorgestellt und ich habe dummerweise nicht nachgefragt. Einer von vielen kleinen Flüchtigkeitsfehlern, die mir unterlaufen sind und zum Verhängnis wurden. “Ich bin auch einige Wochen vor Abreise von einem Auto verfolgt worden. Einmal ist er nur haarscharf an mir vorbei gefahren. Wahrscheinlich eine Art Warnschuss an mich.”

“Was für ein Auto?” Komm, denk nach Tai. Was war das für ein Auto? Ich massiere mir die Schläfe und versuche mich an die Verfolgungen zu erinnern.

“Ein Toyota Corolla in schwarz. Kennzeichen konnte ich mir nicht merken.”

“Okay, das ist alles sehr dünn für eine Anzeige. Auch wenn ich dir natürlich glaube.”

“Klar, du brauchst Beweise.”

“Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir diese finden. Bei dir in der Wohnung wurde eingebrochen.”

“Was?” Ich setze mich aufrecht hin. Mimi hat mir nichts davon erzählt. Um Gottes Willen ist sie etwas da gewesen, als es passiert ist? “Vor einer Woche. Dein Laptop ist weg und alle Notizen rundum Nanami.”

“Es kann nur ein Auftrag von Haruiko sein. Meine Wohnung ist nichts besonderes und wenn all diese Dinge fehlen, ist es klar, dass er es war. Er wollte seine Spuren verwischen.”

“Wahrscheinlich hat er auch schon alles vernichtet, aber wir können mit dem Einbruch einen Durchsuchungsbeschluss verhängen und irgendwas werden wir sicher finden. Immerhin hat er sich bis zum Schluss sicher gefühlt.”

“Mimi meinte, dass Haruiko zu Joe wohl zugegeben hat, dass es ein Mordanschlag an mich war.”

“Dann werde ich ihn auch befragen müssen.”

“Wird es mir vor Gericht was bringen?” Ken zögert und auf seiner Stirn bilden sich kleine Falten.

“Schwer. Ehefrau und Kinder können von einem uneingeschränkten Zeugnisverweigungsrecht gebrauch machen.” Würde Joe soweit gehen und seinen Vater in Schutz nehmen? Früher war ich überzeugt, dass das niemals passiert, aber jetzt, wo ich der Grund bin, warum er Mimi nicht heiraten wird, bin ich mir da nicht mehr sicher.

“Wir müssen diesen Haruto finden. Ich denke, wenn ich Kontakt zur Produktion aufnehme, werden sie sicher die Personalien von ihm haben und so kriegen wir ihn.” Ich nicke. Gute idee.

“By the Way, du könntest auch die Produktionsfirma anzeigen. Es ist am Ende immer auch ihre Verantwortung, alles zu kontrollieren, damit so etwas nicht passiert. Ich habe mir den Bericht von den Kollegen bereits durchgelesen. Ich glaube, sie wollen es vertuschen.”

Okay, das würde mich extrem treffen. Immerhin arbeiten wir schon seit Jahren zusammen. Ich werde wohl einen Anwalt brauchen. Soll ich damit zu Kaito Minamoto gehen? Kann ich mir so einen Anwalt überhaupt leisten?

“Okay, sag mir Bescheid, wenn du etwas Herausgefunden hast.”

“Ja, das mache ich.”
 

Ken verabschiedet sich von mir und ich bin gespannt, ob er was herausfinden wird. Mein Handy vibriert und Mimi hat mir geschrieben. Sofort lächle ich. Ich kann noch gar nicht begreifen, dass wir endlich zusammen sind. Auch wenn der Weg bis dahin unendlich schwer und hart war. Es hat sich gelohnt.
 

Mimi: >Konto eröffnet :). Wie geht es dir? Vermisst du mich schon?<
 

Tai: >Immer. ;)<
 

Mimi: >Wie lief das Gespräch mit Ken?<
 

Tai: >Durchwachsen. Es fehlen Beweise. Warst du beim Einbruch dabei?<
 

Mimi: >Nein, es ist Tagsüber passiert. Wir kamen erst spät abends zurück.<
 

Tai: >Da bin ich froh. Schick mir bitte noch deine Kontoverbindung.<
 

Erleichtert atme ich aus. Ich will mir nicht mal vorstellen, was da alles hätte passieren können. Ein weiteres Mal öffnet sich die Türe und Joe kommt herein. Noch weiß er nicht, dass ich mich erinnere und ich weiß nicht, ob er nochmal zu mir ins Zimmer kommt, wenn ich es ihm gleich mitteile. “Hallo Tai, du wolltest mich sprechen?” Er kommt direkt zum Punkt.

Er scheint einfach nur sein Programm herunter zu spulen, um möglichst schnell wieder wegzukommen. “Ja, ich kann mich an ein paar Sachen erinnern.”

“Tatsächlich an was?”

“An den Unfall oder eher an den Mordanschlag.” Joe sieht mich direkt an, aber sagt nichts. “Ken war bereits hier. Ich habe Anzeige erstattet. Auch den Einbruch haben wir bereits angezeigt. Du wirst beide Male als Zeuge von der Polizei eingeladen werden.”

“Nett.”

“Ist ein Einbruch und ein Mordschlag nett?”

Ich muss mir meine Worte gut überlegen. Doch auch Joe scheint sich nicht mehr zurückhalten zu wollen. Er steht direkt gegenüber von mir und sieht wütend aus.

“Ist Fremdgehen nett oder belogen zu werden?”

“Ah, da kommen wir ja endlich zum Wunden Punkt. Du weißt doch mittlerweile, dass sich die Geschichte ganz anders zugetragen hat und dass es niemals soweit gekommen wäre, wenn dein Vater Mimi nicht bedroht und angegriffen hätte.” Mimi sollte deswegen den Professor auch noch anzeigen.

“Und doch hättet ihr mit mir reden können.”

“Und dann? Du hast Mimi doch eh schon nicht geglaubt und offenbar hast du es ja selbst danach nicht geschafft, die Verlobung zu lösen.” Er spannt sich an. Ich sehe, wie eine Ader an seinem Hals pulsiert.

“Du bist als Assistenz und PR Sprecher der Familie fristlos gefeuert.”

“Oh nein, wirklich? Ich darf nicht mehr für diese tolle Familie arbeiten? Wie soll ich das verkraften?”

“Na ja, als Stuntman wirst du sicher so schnell auch nicht arbeiten und ohne Geld wirst du auch nicht weit kommen.”

“In eurer Welt dreht sich immer alles nur ums Geld, nicht wahr? Als ob das das Wichtigste wäre.” Ich habe so viel Geld in den letzten Jahren gespart. Er soll mal lieber nicht so überheblich sein.

“Es war nie unsere Absicht, dich zu verletzen, Joe. Alles was ich getan habe, hat sich nur gegen Haruiko gerichtet.”

“Aber damit hast du trotzdem auch mir geschadet.”

“Also wäre es dir lieber, wir hätten die ganze Geschichte rund um Nanami niemals ausgegraben und öffentlich gemacht? Dein Vater hat schlimme Dinge getan.”

“Mir ist das bewusst und natürlich soll er sich dafür verantworten, aber du hast mich trotzdem verraten. Ich habe das von Mimi erwarten können, aber nicht von dir. Wir sind seit unserer Kindheit befreundet und du hast es einfach weggeworfen.”

“Einfach? Du glaubst, deine Freundschaft bedeutet mir nichts? Da irrst du dich, aber ich habe auch noch nie so etwas für eine Frau empfunden. Ich habe noch nie solche intensiven Gefühle für jemanden gehabt und Joe, wenn du einmal solche Gefühle für eine Frau empfindet, dann kannst du mich vielleicht auch besser verstehen und ich konnte nicht mit ansehen, was direkt vor meinen Augen mit Mimi passiert ist.”

Kurz sieht er mich an, als müsste er über meine Worte nachdenken, doch er fängt sich schnell wieder. Auch er ist eben ein Kido. Auch wenn er einer von den guten ist. “Dieses Thema ist für mich durch. Genau wie du.”

“Schade, aber wenn das dein Wille ist, werde ich das respektieren.” Mir ist schon klar, dass wir niemals wieder so Freunde sein können, wie wir es vorher waren und doch hätte ich mir gewünscht, nochmal von vorne anfangen zu können oder zumindest höflich miteinander umzugehen, aber wahrscheinlich hätte ich an seiner Stelle genauso gehandelt. “Und ob. Wir werden die Behandlung hier noch etwas fortsetzen. Wir müssen noch ein Kontroll MRT und CT bei dir machen und da jetzt auch deine Erinnerungen wieder da sind, können wir dich wahrscheinlich in zwei Woche in die stationäre Reha entlassen. Dies wird allerdings der Neurologe entscheiden.” Alles ist besser als Krankenhaus. Hier wird man Depressiv. “Ich habe noch eine Frage, ich würde gerne mal das Zimmer verlassen. Ist das möglich?” Mir fällt so langsam die Decke auf den Kopf. Ich verlasse nur dann das Zimmer, wenn eine Untersuchung ansteht. Die Sonne scheint und ich würde gerne mal nach draußen. “Mit dem Rollstuhl kann dich sicher eine Begleitperson oder Schwester in den Außenbereich bringen. Waren das alle Fragen?”

“Ja.”

“Gut. Ich muss weiter.” Joe dreht sich um und ehe ich noch etwas sagen kann, hat Joe bereits das Zimmer wieder verlassen. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn er zukünftig nicht mehr ins Zimmer kommt. Wir brauchen beide Abstand und werden beide viel Zeit benötigen, um die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen zu verarbeiten. Vielleicht kann man sich dann nochmal über alles unterhalten und einen neuen Weg zueinander finden. Das würde ich mir wünschen.

Kapitel 56

Mimi
 

Es ist alles noch so unwirklich, obwohl schon über eine Woche vergangen ist, seit Tai sich wieder an alles erinnert.

Seit er mich wieder mit diesem Blick ansieht – nicht mit dem: ich-kenne-dich-nicht-Blick – sondern mit dem: Du-bist-die-Frau-meines-Herzens-Blick, ist alles anders.

Er ist wieder er und wir sind wieder wir. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich noch mehr in ihn verlieben kann, als in dem Moment, wo er mir gesagt hat, dass er sich wieder an mich erinnert.

Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir das alles überstanden haben. Dass Tai es überlebt hat und wieder ganz der Alte ist, zumindest fast. Wenn er sich heute bei der Therapie gut anstellt, darf er schon in drei Tagen das Krankenhaus verlassen und zur Reha gehen. Die ist glücklicherweise in Tokyo. Aber selbst, wenn sie am anderen Ende der Welt wäre, ich würde mit ihm gehen, denn ich habe mir geschworen, ihn nie mehr allein zu lassen. Ich bin endlich frei und kann tun, was ich will. Und alles, was ich will, ist bei Tai zu sein.

Gestern habe ich mit meinen Eltern telefoniert. Sie haben viel Verständnis gezeigt und auch wenn es mir unendlich leid tut, dass ich das Geld nicht auftreiben konnte, um meinen Vater zu entlasten, so sind sie doch nicht sauer auf mich. Mama hat geweint und sich so gefreut, dass ich Tai endlich wieder habe. Und Papa hat gesagt, dass nächsten Monat der Prozess gegen ihn startet, er aber bereits alles zugegeben und sich reumütig gezeigt hat und dass ihm das vor Gericht strafmildernd ausgelegt werden könnte. Gut so. Er steht zu seinen Fehlern. So wie Ayaka es gerade tut. Ich weiß von Kaori, dass Misaki morgen aus der Untersuchungshaft entlassen wird, weil die Beweise gegen sie nicht ausreichen. Außerdem hatte sie nichts mit der ganzen Sache zu tun, sie wird also morgen zu Kaori nach Hause zurückkehren. Nanami wurde inzwischen ebenfalls von der Polizei vernommen und hat natürlich zu Gunsten von Ayaka ausgesagt. Trotzdem ist die Beweislast erdrückend. Ayaka sitzt mindestens genauso tief in der Tinte wie Haruiko. Sollte es wirklich zur Anklage kommen, wovon Tai, ich und auch Ken und Yolei ausgehen, wird das alles auch für Ayaka Konsequenzen haben. Allerdings hat sie inzwischen alles gestanden und zeigt sich gegenüber der Polizei und Staatsanwaltschaft kooperativ, was man von Haruiko nicht behaupten kann. Er weist weiterhin jegliche Vorwürfe von sich.

Es ist ein Trauerspiel.

Ein schlauer Mann wie er sollte wissen, wann er verloren hat.

Und sobald Ken denjenigen ausfindig gemacht hat, der für Tais Unfall verantwortlich ist, gehts ihm ohnehin an den Kragen.

Ich persönlich hoffe ja, dass dieser Mistkerl die Gefängnismauern nie wieder von außen sieht.
 

Heute bin ich mit Kaori verabredet. Sie hat eine Untersuchung im Krankenhaus – zum Glück nicht in dem, in dem Jim arbeitet. Dieser lässt sich ja nicht mehr Zuhause blicken und Nanami, die inzwischen auf eine öffentliche Schule geht, hat keine Zeit dafür. Misaki kommt erst morgen zurück, also habe ich mich angeboten, Kaori bei der Untersuchung zu begleiten, da sie nicht alleine gehen wollte. Wenn alles gut geht, erfährt sie heute das Geschlecht des Kindes – auch ohne Fruchtwasseruntersuchung.

Sie ist sichtlich aufgeregt, denn sie wippt die ganze Zeit unruhig mit ihrem Bein, während wir im Wartebereich sitzen. Eine Hand ruht auf ihrem Bauch und ihr Gesichtsausdruck ist irgendwie gequält.

„Mach dir nicht so viele Sorgen“, sage ich. Kaoris Kopf schnellt in meine Richtung, als hätte ich sie eben aus einem Tagtraum gerissen.

„Es ist sicher alles gut mit dem Baby.“

„Das hoffe ich auch“, sagt sie, wirkt jedoch ein wenig zweifelnd. „Aber ich hatte in letzter Zeit so viel Stress. Ich hoffe wirklich, dass es dem Baby nicht geschadet hat.“

Ich lege eine Hand auf ihre und sehe sie mitfühlend an. „Bestimmt nicht. Hast du was von Jim gehört?“ Dieser Mistkerl geht mir zwar am Arsch vorbei, aber er ist immerhin der Vater ihres Kindes. Und ihr Ehemann. Ich denke, Kaori schmerzt es immer noch, dass er nicht hinter ihr steht, sondern hinter seinem Vater.

Wie ich erwartet habe, schüttelt sie den Kopf. „Nicht wirklich. Zwischen uns herrscht Eiszeit. Aber er will heute Abend ein paar Sachen aus der Wohnung holen. Ich dachte, ich zeige ihm dann das Ultraschallbild. Vielleicht überdenkt er ja dann alles noch mal, wenn er sieht, um was es hier wirklich geht.“

Wenn er sieht, was er verliert? Oh, Kaori. Sie hat immer noch Hoffnung.

Hoffnung, dass er sich ändern könnte.

„Ja, vielleicht“, entgegne ich nur, weil ich Kaori diese Illusion nicht nehmen will. Sie hat so viel durchgemacht, die letzten Wochen waren wirklich hart. Wenn sie diesen Strohhalm braucht, lasse ich sie. Es ist nicht meine Aufgabe, sie auf den Boden der Tatsachen zu holen – das wird Jim schon selbst erledigen.

Jede Mutter wünscht sich einen liebevollen Vater für ihr Kind. Daher kann ich Kaori durchaus verstehen.

„Aber du solltest nicht alleine mit ihm sein. Nanami ist auch da und ich traue ihm nicht über den Weg.“ Vor allem nicht, nachdem er die Hand gegen mich erhoben hat. Wäre Kaori nicht dazwischen gegangen, hätte er, in seinem blinden Hass auf mich, zugeschlagen. Da bin ich ganz sicher. Zu meiner Überraschung nickt Kaori.

„Nein, ich möchte auch gar nicht allein mit ihm sein.“

„Wenn du willst, komme ich heute Abend vorbei“, biete ich an, aber Kaori runzelt die Stirn.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Er könnte es als Provokation auslegen, wenn er dich dort antrifft.“

„Vermutlich hat du recht, aber ich könnte mich auch im Hintergrund halten. Nur für den Fall der Fälle.“

Auf keinen Fall will ich, dass er Kaori gegenüber handgreiflich wird. Oder Nanami das Opfer seiner Wut wird. Diesem Mann ist nicht zu trauen.

„Ja, das wäre eine Möglichkeit.“ Kaori sieht unruhig auf die Uhr. Ihr Termin war schon vor einer halben Stunde, aber wir warten immer noch.

Ich schreibe schnell eine Nachricht an Tai, dass es später wird, denn ich wollte ihn gleich im Anschluss besuchen.
 

>Mach dir keinen Stress, Prinzessin. Ich warte auf dich, egal, wie lang es dauert. Außerdem kann ich ja eh nirgendwo hin :P<
 

Ich grinse. Blödmann.

Trotzdem ist es schön, dass er wieder fast der Alte ist. Zumindest seinen frechen Humor hat er zurück. Ist doch ein gutes Zeichen.
 

Endlich wird Kaori aufgerufen und ich begleite sie in das Untersuchungszimmer. Die Ärztin erkundigt sich erst mal nach ihrem Zustand, aber Kaori berichtet, dass alles in bester Ordnung sei und sie sich sehr wohl mit der Schwangerschaft fühle. Sogar die Übelkeit hat aufgehört.

Dann legt sie sich auf eine Liege und während die Ärztin das Ultraschallgerät startet, macht Kaori ihren Bauch frei. Ich setze mich auf einen Stuhl neben sie.

Kaori sieht mich aufgeregt an. „Kannst du bitte meine Hand halten?“

Ich nicke und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Na, klar. Deshalb bin ich doch hier.“

Kaori erwidert das Lächeln, wenn auch etwas verkrampft und versucht sich dann ganz auf die Untersuchung zu konzentrieren.

Ich schaue mir das Bild genau an und ich muss ehrlich sagen: würde die Ärztin nicht die ganze Zeit erklären, was da zu sehen ist, würde ich denken, das alles ist Wackelpudding.

Wobei: die kleine Hand mit den fünf Fingern daran kann ich sehr gut erkennen, denn sie winkt uns zu.

„Oh, da möchte jemand hallo sagen“, meint die Ärztin, während Kaori auflacht. Allmählich scheint sie sich zu entspannen, vor allem, weil bis jetzt alles super aussieht.

„Das sieht nach einem kerngesunden Baby aus“, verkündet die Ärztin zufrieden und ich höre Kaori leise seufzen. „Möchten Sie das Geschlecht erfahren? Es liegt gerade sehr günstig.“

Kaori und ich tauschen einen kurzen Blick, dann nickt sie auch schon. Ihre Finger schließen sich fest um meine, als die Ärztin das Ultraschallgerät noch mal weiter nach unten bewegt.

„Ist ziemlich eindeutig. Es ist ein Mädchen.“

„JA!“, ruft Kaori wie vom Teufel aufgeschreckt oder als hätte sie gerade einen Preis gewonnen. Ich zucke zusammen. Beinahe habe ich Angst, dass sie von der Liege springt.

Die Ärztin lacht laut auf. „Okay, ich nehme an, das war ein Freudenschrei.“

„Und ob das einer war“, lache ich ebenfalls und endlich tritt ein unfassbares Funkeln in Kaoris Augen, das ich die ganze Zeit vermisst habe. Sie hatte es so schwer und irgendwie ist das für die Kidos definitiv ein Schlag ins Gesicht, denn die wollten ja unbedingt einen männlichen Erben. Gedanklich zeige ich ihnen den Mittelfinger. Fickt euch doch ins Knie, ihr frauenverachtenden Bastarde!

Kaori dreht den Kopf und grinst mich breit an. „Frauenpower, was?“

„Das kannst du laut sagen!“, grinse ich zurück und stelle mir bereits vor, wie diese drei starken Frauen bald schon eine weitere Verbündete in ihrer Mitte begrüßen können.

„Du wirst eine ganz tolle Mutter, Kaori“, bestärke ich sie und diesmal nickt sie mir zu. „Danke, Mimi.“

Die Ärztin beendet ihre Untersuchung und gibt Kaori noch ein paar Flyer mit, mit der Aussage, dass sie sich bis zum nächsten Termin schon mal einige Krankenhäuser oder Geburtshäuser anschauen soll, damit sie dann alle offenen Fragen beantworten kann, falls welche auftauchen.

Wir verlassen das Untersuchungszimmer und gehen zurück zum Eingangsbereich. Ich steuere noch mal die Toilette an und als ich wieder raus komme, sehe ich wie Kaori im Gang wartet und etwas auf ihrem Handy eintippt.

Ein fettes Grinsen ist in ihr Gesicht eingebrannt, während sie ein Foto von dem Ultraschallbild macht und dann weiter schreibt.

„Schickst du das Foto an Jim?“, frage ich sie, als ich mich ihr nähere.

„Nein, an Joe“, rutscht es ihr heraus. Für einen Moment starren wir uns an.

„Äh, an Joe?“

„Ja.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Er wird Onkel und freut sich immer über Neuigkeiten rund um das Baby.“

„Ja. Ach so“, sage ich jedoch nur und lasse es auf sich beruhen. Was das angeht, stelle ich besser keine Fragen.

Wir gehen zum Ausgang.

„Zwischen Tai und ihm herrscht dicke Luft, so wie ich mitbekommen habe“, sagt sie. „Aber das ist auch kein Wunder.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wieso hat das immer so einen negativen Beigeschmack, wenn jemand von Joe spricht? Der arme Joe, der betrogen wurde. Der böse Tai, der die Freundschaft einfach so weggeworfen hat. Der ihn hintergangen hat.

Man muss nicht lange überlegen, wer von den beiden in der Geschichte das Opfer darstellt.

„Ich meinte damit nicht, dass ich Tai und dich verurteile“, fügt Kaori schnell noch hinzu, weil sie meinen Gesichtsausdruck offenbar registriert hat. „Im Gegenteil, ich bewundere euch sogar ein bisschen.“

Wir gehen zur Limousine, die auf dem Parkplatz auf uns wartet. Der Tag ist so wunderschön und das Wetter herrlich. Die Sonne scheint auf uns herab und es weht ein lauer Wind. Ich glaube, ich werde nachher mit Tai eine Runde im Park drehen.

„Ach ja?“, entgegne ich ungläubig.

„Ja, weil ihr euch einfach allen Widrigkeiten widersetzt habt, um zusammen sein zu können. Ihr habt für eure Liebe gekämpft und standet immer füreinander ein. Auch wenn es im Geheimen war. Ihr habt euch nie aufgegeben, auch nicht, als es hart auf hart kam. Das kann nur wahre Liebe sein.“ Ein trauriges Lächeln umspielt ihre Lippen. „Trotzdem kann ich auch Joe verstehen. Er kannte Tai lange, bevor du ihn kanntest. Er hat das einfach nicht kommen sehen. Es ist absolut verständlich, dass er sauer ist und sich verraten fühlt.“

„Ja, ich weiß.“ Ich nicke schwach, als wir bei der Limousine ankommen und der Chauffeur uns die Tür aufhält. Wir steigen ein, während meine Gedanken abgeschweift sind. Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid mit Joe habe. Wir hätten ihm direkt nach der Verlobungsfeier die Wahrheit gesagt, wenn Haruiko nicht gewesen wäre. Alles hätte anders kommen können. Vermutlich wäre er auch dann verletzt gewesen, aber sicher nicht so wie er es jetzt ist.

„Soll ich dich noch bei Tai im Krankenhaus absetzen?“, schlägt Kaori vor, als ich nichts mehr auf ihre Worte erwidere.

„Danke, das wäre nett. Hast du was von deinem Vater gehört?“, wechsle ich schnell das Thema, während die Limousine vom Parkplatz rollt.

In den Nachrichten haben sie nichts darüber gebracht, ob Kaito Minamoto in dem Fall involviert ist, aber ich denke nicht, dass er Haruiko einfach so davonkommen lässt.

„Allerdings“, sagt Kaori und wieder tritt ein verheißungsvolles Funkeln in ihre Augen. „Er ruft regelmäßig an und fragt, wie es mir geht. Ich denke nicht, dass er in irgendeiner Form einen Groll gegen mich hegt. Der richtet sich allein gegen meine Mutter, was es nicht einfacher macht. Aber er hat mir versprochen, sich aus ihren Angelegenheiten rauszuhalten und ihr nichts nachzutragen. Ich weiß, er kann sehr kalt und herzlos wirken und oft ist er das auch. Aber ich war ihm schon immer wichtig. Vermutlich ist sein Kind das Einzige, was ihm wirklich am Herzen liegt. Alles andere, na ja …“

„Und was macht er mit Haruiko?“, hake ich interessiert nach, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Kaito sich so einfach zurücklehnt und abwartet, bis die Show vorbei ist. Nein, er will mitmischen und zwar an vorderster Front.

„Er tritt als Staatsanwalt gegen Haruiko im Prozess an, das war ihm ein persönliches Anliegen. Niemand schlägt meinem Vater etwas aus“, bestätigt Kaori meinen Verdacht. Innerlich lache ich laut auf. Kaito gegen Haruiko im Prozess? Das wird dein Untergang sein, Dr. Kido.

„Außerdem hat er noch andere Dinge ans Tageslicht gebracht, die Haruiko belasten. Es gab wohl vor etwa zehn Jahren mal eine Anklage gegen Haruiko, die aber wieder fallengelassen wurde. Angeblich habe er bei einer OP gepfuscht. Es sollen Schweigegelder geflossen sein.“

Warum wundert mich das jetzt nicht? Diese Familie regelt einfach alles mit Geld. Kein Wunder, dass sich dieser Mann wie ein unbesiegbarer Gott vorkommt.

„Die Liste der Anklagepunkte ist lang, sagt mein Vater.“

Ich nicke. Es war so eine gute Entscheidung erst Kaori und dann Kaito in alles einzuweihen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn Haruiko sich jetzt noch rausreden könnte. Allerdings hat Tai immer noch keine Nachricht erhalten, dass sie denjenigen geschnappt hätten, der für seinen Unfall verantwortlich ist.

„Das sind spannende Neuigkeiten“, sage ich und werfe einen Blick aus dem Fenster. Wir müssten gleich schon bei Tais Krankenhaus sein. „Wann soll ich heute Abend bei dir sein?“

Ich kann Kaori unmöglich allein lassen, wenn Jim nach Hause kommt. Obwohl … vielleicht überrascht er uns ja alle und bittet sie um ein klärendes Gespräch. Ganz vernünftig.

Ich lege den Kopf schief. Na ja, wohl eher doch nicht.

„Jim wollte gegen 20 Uhr kommen“, meint Kaori. „Nanami schicke ich auf ihr Zimmer, wenn er da ist. Ich will nicht, dass sie noch mal in sein Visier gerät. Außerdem hat er so gemeine Sachen über sie gesagt, das muss sie sich wirklich nicht antun.“

Ich finde es schön, wie Kaori ihre Schwester beschützt und verteidigt. Blut ist manchmal doch dicker als Wasser. Aber manchmal eben auch nicht …

„Ich verstehe nicht, wie er so zu ihr stehen kann“, sage ich. „Sie ist doch auch seine Schwester. Und sie kann nichts dafür, dass es sie gibt oder dass Haruiko sie nicht als seine Tochter anerkennen wollte.“

„Tja“, meint Kaori seufzend und lehnt sich zurück. „Nanami passt eben nicht in diese perfekte Familie, in diesen perfekten Plan hinein.“

Genauso wenig wie ich – denke ich. Deshalb wollte er auch mich loswerden. Ich war ein Störfaktor für Joes Vater, genauso wie Nanami. Und Störfaktoren müssen beseitigt werden.
 

Tai
 

Als Mimi bei mir im Krankenhaus ankommt, macht sie gleich den Vorschlag raus in den Park zu gehen, was ich super finde. Die frische Luft tut mir verdammt gut und ich habe nicht mehr so das Gefühl, eingesperrt zu sein. So ein Krankenhaus kann einen echt depressiv machen. Aber Mimi bringt jeden Tag Licht in diese trostlosen Tage.

„Hast du etwas von Ken gehört?“, erkundigt sie sich, während sie mich im Rollstuhl durch den Park schiebt.

„Nein“, sage ich. „Das heißt, ja, schon. Aber einen Durchsuchungsbefehl beim Richter zu bekommen gestaltet sich schwieriger als gedacht. Ken sagt, normalerweise dauert das einen Tag, aber hier dauert es schon über eine Woche. Er denkt, dass Haruikos Anwälte da die Finger im Spiel haben. Er konnte bis jetzt nur einen Durchsuchungsbefehl für sein Büro hier im Krankenhaus bewirken. Es wurde alles einkassiert. Aber ich denke nicht, dass Haruiko Beweise mit zur Arbeit genommen hat. Vermutlich liegen die eher irgendwo in der Villa oder in einem Safe.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist so lästig. Wir sind so weit gekommen und selbst aus dem Knast heraus macht dieser Mann uns noch das Leben schwer.

„Wenn du willst, gehe ich noch mal in die Villa und schnüffle da rum. Ich kann mir eine Ausrede einfallen lassen, meine Klamotten holen oder so. Es ist schließlich alles noch da und vielleicht lassen sie mich rein“, schlägt Mimi vor, aber ich schüttle sofort entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich will, dass du nie wieder einen Fuß über diese Schwelle setzt, hörst du?“

Sie seufzt zwar, aber sagt dann: „Verstanden.“

„Braves Mädchen.“

„Ich bin kein Hund.“

Ich grinse. „Nein, bist du nicht.“ Ich stoppe den Rollstuhl mit meinen Händen, sodass auch Mimi stehen bleiben muss. Dann greife ich nach hinten an ihr Handgelenk und ziehe sie zu mir rum. Sie landet auf meinem Schoß und ich lege beide Hände um ihre Taille, während ich ihr in die Augen schaue. Diese wundervollen Augen, die ich so sehr vermisst habe.

„Du bist meine Prinzessin, das weißt du doch.“

„Und du weißt, dass ich diesen Namen nicht mag“, lacht sie. Ich lege den Kopf schief und schmunzle. „Wie wäre es dann mit Frau Yagami?“

Mimi schürzt die Lippen und mustert mich. Natürlich war das nur ein Witz, aber irgendwie möchte ich doch ganz gerne abchecken, wie sie zu diesem Thema steht.

„Klingt verlockend“, sagt sie schließlich. „Aber von Hochzeiten habe ich erst mal die Nase voll.“ Sie lehnt sich nach vorne und küsst mich. Ich erwidere den Kuss und ziehe sie näher an mich. Es tut so gut, ihre Nähe zu spüren. Aber vor allem tut es gut, unsere Liebe inzwischen offen zeigen zu können. Sie nicht mehr verstecken zu müssen. Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten, auch wenn andere das anders sehen. Aber wir lieben uns und das ist unumstößlich.

Als wir uns voneinander lösen, grinst sie mich an.

„Ich habe mir schon gedacht, dass du so etwas sagen wirst“, gestehe ich ihr. „Und das ist völlig in Ordnung für mich.“

„Danke“, kichert sie und gibt mir einen Stups gegen die Nase. „Außerdem müssen wir uns erst mal richtig kennenlernen, bevor wir vom Heiraten sprechen. Als du im Koma lagst und ich deine Eltern das erste mal gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass ich so gut wie nichts über dich weiß. Ich meine, klar, ich kenne deinen Namen und deinen Beruf und ich kenne sogar deine Ex-Freundin.“

Ich lache auf. Ich kann mir schon denken, worauf sie hinaus will.

„Aber irgendwie fehlt mir da noch so einiges. Was ist dein Lieblingsessen? Was findest du eklig? Wer sind deine Freunde? Hast du überhaupt welche?“

„Willst du mich beleidigen?“

„Ich meine ja nur“, zuckt sie unschuldig mit den Schultern. Ich schüttle grinsend den Kopf. „Wenns weiter nichts ist. Lieblingsessen: Ramen.

Eklig: Vanilleeis, würg.

Freunde: sind vorhanden.

Wer? Also da wären Yolei, Ken, Davis, Izzy, Matt …“

Joe lasse ich aus. Der ist ja nach wie vor nicht gut auf mich zu sprechen. Keine Ahnung, ob wir das je wieder hinkriegen, nach allem, was passiert ist.

Mimi schlägt mich unerwartet gegen den Oberarm. „Siehst du? Wer ist dieser Izzy? Wer ist Matt? Ich kenne sie alle gar nicht.“

„Die wirst du schon noch kennenlernen.“

„Na gut“, gibt sie sich vorerst geschlagen. „Was wolltest du werden, als du klein warst?“

Da muss ich nicht lange überlegen. „Polizist.“

„Echt jetzt?“

„Jep.“

„Ken ist Polizist.“

„Ja, er lebt meinen Traum“, sage ich und lege theatralisch den Handrücken an meine Stirn. Mimi lacht herzhaft auf und wie immer, wenn sie das tut, geht es mir direkt unter die Haut. Ich lächle, wobei mir auffällt, dass ich genauso wenig von ihr weiß, wie sie von mir.

„Was wolltest du denn werden, als du klein warst?“, frage ich sie.

„Prinzessin“, platzt es aus ihr heraus. Sofort schlägt sie sich die Hand vor den Mund.

„Dann ist der Name ja doch sehr passend für dich.“

„Oh man, jetzt hab ich mir wohl ein Eigentor geschossen“, grinst sie verlegen, was ich unfassbar süß finde. „Allerdings war ich da fünf. Mit neun wollte ich dann Astronautin werden, mit zehn Volleyball-Star und mit zwölf Supermodel.“

„Wow“, sage ich. „Das ist ne‘ lange Liste.“

„Wann war dein erster Kuss?“, fragt sie mich weiter aus und so langsam beschleicht mich das Gefühl, dass wir das hier noch den ganzen Tag tun könnten.

„Hmm“, mache ich und lege nachdenklich den Kopf in den Nacken. Der Himmel ist heute sonnenklar und ein lauer Wind weht durch unsere Haare. „Den hatte ich, als ich vierzehn war. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft fand mich wohl süß und hat mir zum Valentinstag Schokolade geschenkt. Dann hat sie mich einfach so geküsst. Ich kannte sie gar nicht wirklich, aber es war trotzdem ganz gut. Sie war schon zwei Jahre älter und hatte schon Erfahrung beim Küssen.“

Mimi gibt ein anerkennendes Pfeifen von sich. „Nicht schlecht, Yagami.“

„Wann war denn dein erster Kuss?“, gebe ich die Frage zurück und wieder kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen, als wäre sie ein offenes Buch. „Fünfte Klasse, Halloween Party, Jess Brody.“

„Warte“, sage ich und ziehe eine Augenbraue hoch. „Ist Jess ein Junge oder ein Mädchen?“

Sie schlägt mich wieder. „Ein Junge natürlich.“

„Schade“, grinse ich ein bisschen zu breit, woraufhin Mimi eine Augenbraue nach oben zieht.

„Ähm, wo wir grad beim Thema ‚versaute Vorstellungen‘ sind“, sagt sie und sieht mich ausdruckslos an. „Als wir deine Wohnung nach Beweisen durchfühlt haben, haben wir deine Pornos gefunden.“

Au Backe. Ja, das ist es, was ein Mann von seiner Freundin hören möchte. Wie unangenehm. Doch Mimi hebt nur den Kopf und schürzt die Lippen.

„Ich habe Sally gesagt, sie kann sie alle wegschmeißen, weil du ja jetzt mich hast.“

Okay. Ich pruste los. Mimi plustert sich auf wie ein Vogel. „Hey, warum lachst du?“

„Ich habe irgendwie nichts anderes von dir erwartet, Prinzessin. Und ganz nebenbei erwähnt, sind das Überreste aus der Uni-Zeit gewesen. Als ob ich so etwas noch brauche.“ Ich schenke ihr ein anzügliches Lächeln und sofort schleicht sich dieses leichte Rosa auf ihre Wangen, was ich so süß finde.

„Okay“, wispert sie und ich grinse.

„Würdest du jetzt bitte von mir runter gehen? Ich würde dir nämlich gerne was zeigen.“

„Oh, was denn?“ Neugierig sieht Mimi mich an und rutscht von meinem Schoße runter. Ich habe extra die Krücken mitgenommen. Mimi soll die Erste sein, die es sieht.

„Reichst du mir die mal?“, frage ich und deute nach hinten, wo Mimi sie vorhin an der Rückseite des Rollstuhls befestigt hat.

Sie runzelt die Stirn. „Bist du sicher, dass du das schon kannst?“

Ich erwidere ihre Skepsis mit einem vielsagendem Blick und strecke weiter die Hand aus. „Jetzt gib schon her.“

„Na schön“, sagt sie und holt sie endlich nach vorne. „Aber wenn du auf die Nase fällst, stehst du selbst wieder auf.“

Wenn sie wüsste, wie oft ich mit den Dingern beinahe auf die Nase gefallen wäre, weil ich so versessen war, damit zu üben. Ich meine, wer will sich schon gerne von seiner super attraktiven Freundin im Rollstuhl rumfahren lassen? Wie so ein alter Tattergreis.

Ich ramme die Krücken in den Boden und stütze mich nach oben. Es kostet mich einige Anstrengung. Das Aufstehen ist immer das Schwierigste, danach geht es. Mein Bein ist immer noch gebrochen, aber das macht mit den Krücken nur wenig aus. Ich setze sie nach vorne und hüpfe hinterher und so mache ich einen Meter nach dem anderen, bis ich mich wieder zu Mimi umdrehe. Sie steht mit offenem Mund da und sieht mich mit großen Augen an.

„Tai, du …“

„Ja. Überrascht?“ Während ich breit grinse, sehe ich, wie in Mimis Augen Tränen funkeln. Sie kommt auf mich zugestürmt und fällt mir um den Hals, woraufhin ich fast das Gleichgewicht verliere und nach hinten kippe. Aber ich kann mich noch halten. Ich lasse eine Krücke zu Boden fallen und lege den freien Arm um ihre Taille, ziehe sie an mich, spüre, wie ihre Brust bebt. Sie weint.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, schluchzt sie. „Es macht mich so glücklich zu sehen, dass du so gute Fortschritte machst. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, nicht so schnell.“

„Tja“, sage ich und streiche über ihren Rücken. „Die Therapeuten auch nicht. Wenn es nach denen gehen würde, würde ich immer noch im Bett liegen und könnte mich mit Suppe von dir füttern lassen. Aber du bist mein Ansporn, das alles wieder hinzukriegen. Es ist so hart und kostet mich viel Kraft, aber je mehr ich trainiere, umso fitter werde ich. Das habe ich alles dir zu verdanken, Mimi. Du motivierst mich.“

Ich drücke sie fester an mich, vergrabe mein Gesicht in ihrer Halsbeuge und atme ihren Duft ein. Allein, dass wir gerade so hier stehen, ich sie in meinen Armen halte … das wäre noch vor ein paar Tagen undenkbar gewesen und doch ist es möglich. Mit Mimi an meiner Seite ist einfach alles möglich.

„Oh, Tai“, flüstert sie. „Ich liebe dich.“

Wie vom Blitz getroffen reiße ich die Augen auf, lasse von ihr ab und erhebe mich ein Stück, um sie anzusehen. Ihre Wangen sind nun mehr als gerötet und in ihren Augenwinkeln glitzern Tränen. Sie wischt sie sich schnell mit dem Finger weg. „Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen. Ich hatte es mir fest vorgenommen, bevor du den Unfall hattest. Ich wollte unbedingt, dass du weißt, was ich für dich empfinde. Und dann ging es nicht mehr.“ Ein trauriger Schleier legt sich über ihre Augen und es zerreißt mir das Herz. Was muss sie die letzten Wochen über gelitten haben.

„Ich …“, setzt sie erneut an, doch ich komme ihr zuvor.

„Ich liebe dich auch.“

Überrascht hebt sie den Kopf und sieht mich an. „Du glaubst gar nicht, wie sehr“, füge ich noch hinzu, beuge mich zu ihr nach unten und küsse sie.

Sie legt ihre Hände an meine Brust und kommt mir entgegen, während unsere Lippen dieses Geständnis besiegeln. Als wir wieder voneinander ablassen, lächelt sie mich glücklich an.

„Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du das sagst.“

Ich grinse schief. „Ich habe es dir schon lange gesagt. Du hast nur nicht richtig zugehört.“

Jetzt zieht sie fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Was meinst du damit? Hättest du ‚ich liebe dich‘ zu mir gesagt, hätte ich das ja wohl mitbekommen.“ Empört sieht sie mich an, als wolle ich einen Scherz machen. „Hast du aber nicht“, lache ich und beschließe, sie diesmal nicht länger auf die Folter zu spannen, obwohl es echt verlockend wäre, sie noch ein wenig in ihrer Ungewissheit schmoren zu lassen. „Tanabata. Ich sagte zu dir, der Mond ist schön. Das sagen wir Japaner, wenn wir ‚Ich liebe dich‘ sagen wollen.“

Ihr Mund öffnet sich und in ihrem Gesicht zeichnet sich Verwunderung ab. Danach Verärgerung.

„Man!“, schimpft sie und schlägt mir gegen die Brust, woraufhin ich lachend etwas taumle.

„Warum könnt ihr nicht einfach ‚ich liebe dich‘ sagen? Warum muss es schon wieder so kompliziert sein? Der Mond ist schön? Ernsthaft? Das hast du dir doch eben ausgedacht.“

„Nein“, erwidere ich lachend. „Es ist so, wie ich sage: ich habe dir zuerst gesagt, dass ich dich liebe. Zwar nicht direkt, aber es zählt trotzdem.“

Mimi zieht einen Schmollmund und sieht dabei unfassbar süß aus.

„Na toll“, meint sie leicht geknickt. „Und ich habe mir voll die Gedanken gemacht, ob du es auch sagen würdest, wenn ich es dir sage. Dabei hast du das schon längst … unfair.“

Ich lache und lege eine Hand an ihr Gesicht. Ich beuge mich zu ihr runter und will sie gerade küssen, als plötzlich mein Handy klingelt. Wir zucken beide zusammen.

„Ausgerechnet jetzt“, brumme ich und bin verärgert über die Unterbrechung.

„Vielleicht ist es Kari.“

„Es ist sicher nichts Wichtiges“, sage ich, nehme das aber sofort zurück, als ich das Handy aus meiner Hosentasche ziehe und Kens Namen lese. Sofort hebe ich ab.

„Ken? Was gibt’s?“

Ich nicke ein paar mal, höre ihm aufmerksam zu und sage dann: „Um 18 Uhr? Geht klar. Ja, das ist kein Problem. Bis später.“

Dann lege ich auf. Mein ganzer Körper ist angespannt. Mimi sieht mich so erwartungsvoll an, als würde sie jeden Moment vor Aufregung platzen.

„Was hat er gesagt?“

„Sie haben ihn“, sage ich und stecke das Handy zurück in die Hosentasche. „Den Mann, der für meinen Unfall verantwortlich ist. Genau genommen haben sie drei Personen festgenommen. Ken hat den Namen über die Produktionsfirma herausgefunden und nun soll ich heute Abend zu einer Gegenüberstellung aufs Polizeirevier kommen. Er holt mich nachher ab.“

Mimis Augen weiten sich ungläubig. „Wow, soll das etwa heißen, dass wir Haruiko endlich für den Mordversuch dran kriegen?“

„Das hoffe ich“, sage ich und möchte mich lieber nicht zu früh freuen. „Vorausgesetzt, der Typ legt ein Geständnis ab.“
 


 

Mimi
 

Abends gegen 19 Uhr komme ich bei Kaori an, aber ich kann mich kaum konzentrieren, weil ich die ganze Zeit auf einen Anruf von Tai warte. Er soll mir endlich sagen, dass wir ihn haben, es muss so sein! Seit Ken vorhin angerufen hat, kribbeln meine Fingerspitzen vor Aufregung. Dieser Haruto ist der Nagel zu deinem Sarg, Dr. Kido. Von mir aus kannst du im Knast verrotten.

Ich gebe den Türcode für Kaoris Wohnung ein und wundere mich darüber, dass sie ihn noch nicht geändert hat. Wahrscheinlich weiß sie aber auch, dass es nur noch mehr Stress mit Jim geben würde, wenn er nicht mehr uneingeschränkten Zugang zu seiner eigenen Wohnung hat.

Ich bin mehr als überrascht, als ich den Flur betrete und ein männliches Paar Schuhe im Flur entdecke. Ich frage mich, ob Jim doch schon früher gekommen ist, aber dann höre ich Lachen aus dem Wohnzimmer zu mir dringen und bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht sein kann.

Ich ziehe meine Schuhe aus, verstaue sie aber gleich in einen der Schränke, damit Jim gar nicht erst mitbekommt, dass ich auch da bin. Dann gehe ich ins Wohnzimmer und bleibe im Türrahmen stehen, um das Bild, was sich vor meinen Augen abspielt, für einen Moment wirken zu lassen.

Kaori und Joe sitzen jeweils links und rechts neben Nanami auf der Couch. Auf Nanamis Schoß liegt ein dickes Fotoalbum und alle sind ganz vertieft in die Bilder darin. Joe hat sich leicht zu Nanami rüber gebeugt und zeigt mit dem Finger auf etwas, während sich Kaori den Bauch vor lachen hält und sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt. Aber auch Nanami hat ein fettes Grinsen im Gesicht.

„Und hier ist Kaori in den Pool gefallen, als sie 12 war und Jim Geburtstag hatte“, erzählt Joe sichtlich amüsiert.

Nanami kichert. „Sie sieht aus wie ein Panda.“

„Hey“, beschwert sich Kaori lachend und hebt einen Arm hinweg über Nanamis Schulter, um Joe einen Klaps zu geben. „In diesem Sommer habe ich mich das erste Mal an Make Up versucht. Und es hat mir keiner gesagt, dass wasserfestes Make Up besser geeignet ist. Außerdem bist du dran schuld gewesen, dass ich in den Pool gefallen bin.“

„Ach was“, entgegnet Joe und ein belustigtes, aber auch verschmitztes Grinsen legt sich auf sein Gesicht. „Ich hab dich nur ein ganz kleines bisschen geschubst.“

Ich muss ein paar mal blinzeln. Es ist schon erstaunlich die drei so zu sehen, zu wissen, dass sie Geschwister sind und gerade dabei sind, sich richtig kennenzulernen. Und offenbar hat Joe deutlich mehr Interesse an Nanami als Jim. Aber ich habe auch nichts anderes von ihm erwartet. Anscheinend haben sie sogar zusammen gegessen, denn drei leere Pappkartons eines Lieferdienstes stehen auf dem Tisch und der Raum riecht noch nach gebratenen Nudeln.

Ich komme mir direkt völlig Fehl am Platz vor.

Nanami ist die Erste, die ihren Kopf hebt und mich erblickt. „Oh, hallo Mimi.“

Ich hebe die Hand zur Begrüßung. „Hey.“

Joe und Kaori blicken gleichzeitig zu mir auf und während Kaori mich freudig anlächelt, erstirbt Joes Lachen, als er mich sieht. Ein Schatten legt sich über seine Augen.

Verdammt. Hätte ich gewusst, dass er auch hier ist, wäre ich gar nicht gekommen.

„Hallo, Mimi“, begrüßt mich auch Kaori, Joe sagt nichts.

„Tut mir leid, dass ich einfach reingekommen bin. Ich dachte, das wäre in Ordnung.“

„Das ist es auch, das sagte ich dir ja schon“, meint Kaori und steht auf, um in die offene Küche zu gehen. „Möchtest du etwas trinken?“

„Nein, Danke.“

Sie geht trotzdem weiter zum Kühlschrank und schenkt stattdessen sich selbst ein Glas Orangensaft ein, während ich einfach nur dumm da stehe und gar nicht so recht weiß, wohin mit mir.

„Schaut ihr euch alte Fotos an?“, frage ich Nanami, was eigentlich völlig bescheuert ist, denn es ist ja ganz offensichtlich, dass sie das tun. Aber irgendetwas muss ich ja sagen.

„Ja, Joe und Kaori wollten mir zeigen, wie sie so aufgewachsen sind.“

„Na, das war sicher lustig“, rutscht es mir heraus. Erst, als die Worte meinen Mund verlassen haben, merke ich, wie sarkastisch das geklungen haben muss. Dabei war es gar nicht so gemeint. Aber Joe fasst es offensichtlich als Provokation auf, denn er funkelt mich verächtlich an. „Sicher nicht so lustig wie deine Kindheit. So als Mädchen reicher Eltern hattest du sicher eine Menge Spaß und hast dir immer genommen, was du wolltest.“

Mir klappt der Mund auf. Spielt er damit auf Tai an?

„Ich habe mir nichts einfach so genommen. Manchmal passieren Dinge einfach im Leben, komm damit klar.“

Ups. Auch das ist mir so rausgerutscht. Aber er hat doch mit der Stichelei angefangen.

Nanami, die nun sichtlich verwirrt ist, weil sie gar nicht weiß, worum es hier eigentlich geht, sieht fragend abwechselnd von Joe zu mir. „Äh, na ja, wie gesagt, es waren schöne Fotos.“

„Könntet ihr bitte für eine Minute das Kriegsbeil begraben?“, seufzt Kaori, die diese feindselige Stimmung im Raum ebenfalls wahrgenommen hat. War ja auch nicht zu übersehen. Joe sieht sie an und zuckt dann mit den Schultern. „Klar, ich wollte sowieso gerade gehen.“ Er steht auf, doch plötzlich schrecken wir alle zusammen, weil jemand den Türcode eingibt und sich eine Sekunde später die Tür zur Wohnung öffnet.

Ich sehe zu Kaori. Ihr Blick verrät mir, dass das nur Jim sein kann. Verdammt, der Kerl ist eine Stunde zu früh dran.

Ich überlege nicht lange und verdünnisiere mich.

„Nanami, geh in dein Zimmer“, sagt Kaori leise und auch sie steht auf, um zur Treppe zu gehen.

Ich gehe in einen der angrenzenden Räume, das Badezimmer, und lasse die Tür einen Spalt breit offen. Gerade so weit, dass ich alles gut sehen kann, man mich aber nicht sofort entdeckt. Joe steht wie vom Donner gerührt da, als auch schon Jim hereinkommt.

Seine Schritte sind tollpatschig und unkoordiniert. Ich sehe ihn wanken. Scheiße, ist er betrunken?

„Na, wen haben wir denn da?“ Die Überraschung in seinem Blick, als er seinen kleinen Bruder erkennt, verflüchtigt sich schnell und weicht einem diabolischen Grinsen. Er lallt. Fuck, das ist doch echt ein Worst Case. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Ich kann mir schon denken, dass er nicht sonderlich gut auf Joe zu sprechen ist und habe keine Ahnung, ob die beiden sich seit der Verhaftung ihres Vaters überhaupt schon gegenüberstanden.

„Noch ein Familienverräter. Dich hätte ich hier nicht erwartet“, höhnt Jim und augenblicklich checkt sein verklärter Blick den Raum ab.

Er sieht das Essen.

Er sieht das Fotoalbum.

Er sieht Joe und Kaori an.

„Schwelgt ihr in Erinnerungen, oder was? Was läuft hier, hah?“ Er wankt auf Joe zu.

„Hier läuft gar nichts.“

„Wieso kommst du betrunken hierher, Jim? Was soll das?“, fragt Kaori und tritt an Joes Seite. Ihr Ehemann sieht beide hasserfüllt an. „Ich dachte mir schon lange, dass ihr zwei was am Laufen habt.“

„Red keinen Unsinn.“ Joe klingt äußerst gefasst und bestimmt. Er will sich von seinem Bruder nicht einschüchtern lassen. Da packt Jim ihn auch schon am Kragen. „Du Verräter.“

„Lass das!“, ruft Joe und schubst ihn von sich. „Du bist total betrunken. Komm am besten ein andermal wieder.“

„Pah“, gurgelt Jim und aus seiner Kehle dringt ein höhnendes Lachen. „Als ob ich mich von dir aus meiner eigenen Wohnung schmeißen lasse.“

Er torkelt rüber zum Weinregal, was reichlich bestückt ist und greift nach einer Flasche Rotwein.

„Jim, muss das sein?“, bittet Kaori ihn, doch er sieht sie nur verächtlich an. Er dreht den Verschluss der Weinflasche auf und setzt sie an seine Lippen. Joe und Kaori lässt er keine Sekunde aus den Augen, während er sich ein paar hastige Schlucke genehmigt. Dann wischt er sich mit dem Ärmel seines Anzugs über den Mund. Ich verziehe das Gesicht. Gott, er sieht fix und fertig aus. Zerzauste Haare, zerknittertes Hemd, was ihm halb aus der Hose hängt, schmutzige Hosenbeine. Himmel, wo hat der sich rum getrieben?

Er zeigt mit der Flasche in Richtung Joe und funkelt ihn wütend an.

„Du bist das Allerletzte, kleiner Bruder“, lallt er. „Wie kannst du Vater nur so in den Rücken fallen und eine Aussage gegen ihn machen? Hast du völlig den Verstand verloren?“

Ich horche auf. Joe hat eine Aussage bei der Polizei gemacht? Gegen Haruiko?

„Nein, ich sehe ganz klar“, erwidert Joe gelassen. Er steckt die Hände in die Hosentaschen. „Ich habe nur das Richtige getan.“

„Das Richtige“, lacht Jim plötzlich völlig hysterisch auf. Wie ein Verrückter. „Du Moralapostel. Spiel dich nicht so auf. Das Richtige … das ist doch lächerlich. Das Richtige wäre gewesen, dich nicht von deiner Familie abzuwenden und diese Schlampe loszuwerden, als du noch die Chance dazu hattest. Das Richtige wäre gewesen, zu deinem Vater zu halten. Alles, was du bist, hast du ihm zu verdanken. Und das Richtige wäre gewesen, nicht mit meiner Frau zu vögeln.“ Die letzten Worte schreit er heraus und ich sehe, wie Kaori zusammenzuckt.

„Oh mein Gott“, entgegnet Joe jedoch nur ruhig. Er wirkt ein wenig genervt von diesem Schauspiel. „Hörst du dir eigentlich selbst zu? Das ist absolut beschämend, selbst für dich.“

Jims Kopf wird knallrot und seine Augen treten vor Wut hervor. Ich glaube, er platzt gleich.

„Wieso? Wer weiß, ob das Kind überhaupt von mir ist. Wie lang geht das schon bei euch beiden?“ Anklagend zeigt er auf seine Frau und dann auf seinen Bruder. Ich halte die Luft an. Er ist komplett wahnsinnig.

„Das ist Schwachsinn, Jim, und das weißt du“, sagt Kaori, aber ihre Stimme zittert. So klingt sie nicht sehr glaubhaft. Vermutlich ist sie den Tränen nahe. Ich weiß nicht, wie lange ich mir das noch angucken kann.

Jim zischt verächtlich, wie eine Schlange, stellt die Flasche auf den Tisch und fängt an unruhig auf und ab zu gehen. Fahrig fährt er sich durch das strähnige Haar. Ein Knurren dringt aus seiner Kehle.

„Willst du dich nicht lieber erst mal beruhigen?“, schlägt Kaori sanft vor und macht einige Schritte auf ihn zu. „Von mir aus leg dich hin, schlaf deinen Rausch aus und morgen früh reden wir in Ruhe über alles.“

Sie will ihn am Arm berühren, ihn irgendwie beruhigen, doch er schlägt sie zurück. „Fass mich nicht an!“

Sofort ist Joe zur Stelle, packt Kaori an den Schultern und schiebt sie zur Seite.

„Was soll das?“, faucht Jim und stolpert einen Schritt nach vorn. Voller Wut hebt er die Faust und will Joe ins Gesicht schlagen, aber der weicht aus. Jims Faust schlägt in die Luft, er taumelt nach vorne.

„Jim, jetzt lass doch endlich gut sein“, sagt Joe. Offenbar merkt er, dass das alles keinen Sinn macht.

„Klar“, meint Jim daraufhin. Seine Stimme klingt zuckersüß. Er richtet sich auf und lächelt Joe an. „Lasst uns alle einfach eine große, glückliche Familie sein.“ Theatralisch breitet er die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. Aber sein Lächeln ist so falsch wie sein Charakter.

Seine Augen blitzen auf. Er dreht sich weg, oder deutet es zumindest an, nur, um im nächsten Moment völlig unerwartet herumzuwirbeln und auszuholen.

Ich japse, schlage mir die Hand vor den Mund, als Jim seinen Bruder mitten ins Gesicht trifft. Joes Brille fliegt in hohem Bogen durch die Luft und Kaori stößt einen lauten Schrei aus.

Okay. Das reicht mir, mehr muss ich nicht sehen.

Kaori ist sofort an Joes Seite und stützt ihn. „Jim, bist du verrückt?“, ruft sie völlig entgeistert, während ich aus dem Bad stürme.

„Verschwinde“, rufe ich durch den Raum. Jims Kopf schnellt in meine Richtung und als er bemerkt, dass ich auch anwesend bin, verhärten sich seine Gesichtszüge.

„Verschwinde von hier, auf der Stelle! Oder ich rufe die Polizei“, drohe ich ihm und halte mein Handy in die Höhe, um ihm zu zeigen, dass ich keine Scherze mache. „Dann kannst du deinem Vater im Knast Gesellschaft leisten.“

Jim verzieht die Lippen zu einem ekligen Grinsen, welches sein Gesicht wie eine unheimliche Fratze wirken lässt. Er setzt sich in Bewegung und kommt auf mich zu, aber ich weiche keinen Schritt zur Seite. „Jim, nicht.“ Kaori will ihn aufhalten, aber er schüttelt sie ab. Direkt vor mir bleibt er stehen. Seine Alkoholfahne schlägt mir ins Gesicht und ich muss fast würgen. Er sieht auf mich herab, so wie er es schon immer getan hat, die ganze Zeit über. Nur mit noch mehr Hass.

Diesmal ist es Joe, der Jim von hinten packt und von mir weg zieht. Dieser stolpert rückwärts und landet beinahe auf dem Fußboden.

„Lass sie einfach in Ruhe und geh endlich“, sagt Joe bedrohlich. Über seinem Auge ist eine kleine Platzwunde, aus der Blut quillt. Nicht viel, aber es reicht, um Kaoris Teppich zu ruinieren.

„Das ist mein Ernst“, sagt er noch mal mit Nachdruck. „Oder ich verliere den letzten Funken Respekt, den ich vor dir als älteren Bruder noch habe.“

Kurz sieht Jim uns der Reihe nach an. Der blanke Hass spiegelt sich in seinem Gesicht wieder. Diesen Ausdruck kenne ich – von seinem Vater. Die beiden könnten sich ähnlicher nicht sein.

Doch trotz, dass er so betrunken ist, scheint er noch einen Rest an Vernunft zu haben, denn er richtet sich auf und wankt in den Flur.

„Fahrt zur Hölle. Ihr alle.“

Dann ist er weg und Kaori bricht weinend zusammen.
 

Tai
 

Ken hat mich aus dem Krankenhaus abgeholt und wir fahren zum Polizeirevier, für die Gegenüberstellung.

„Wie gesagt“, sagt Ken, als wir reingehen. Ich versuche mich wieder an den Krücken, kann aber kaum mit ihm Schritt halten. „Wir haben drei Personen mit dem Namen Haruto Tsunoda ausfindig machen können. Sie müssen dich nicht direkt sehen und du musst nicht mit ihnen reden. Es reicht uns völlig, wenn du uns sagst, welcher von den Typen der Haruto ist, den wir suchen.“

Ich nicke verstehend, kann aber nichts darauf erwidern, weil ich damit beschäftigt bin zu keuchen. Das mit den Krücken ist anstrengender als es aussieht und meine Kondition ist nach der OP auch nicht mehr die Beste.

Ken führt mich in einen Raum, der etwas abgedunkelt ist. Vor uns ist ein großes Fenster, durch das wir in einen weiteren, hell beleuchteten Raum blicken können. Kenne ich alles vom Filmset. Gleich führen sie die Verdächtigen rein, stellen sie in einer Reihe auf.

„Bist du soweit? Und keine Sorge, sie sehen uns nicht“, erklärt Ken mir noch mal.

„Kann losgehen.“

Gespannt warte ich auf die drei Männer, die gleich darauf den Raum betreten. Meine Augen suchen bereits fieberhaft nach dem Gesicht, was ich zuletzt gesehen habe, bevor ich in die Tiefe gestürzt bin.

Sie kommen herein, einer nach dem anderen, stellen sich der Reihe nach auf und blicken in den Spiegel. Ich trete näher an die Scheibe heran, runzle die Stirn. Der erste Kerl ist klein und etwas dicklich, trägt eine Halbglatze und ist sicher bereits Mitte 50. Er hat absolut nichts mit dem Haruto gemeinsam, den ich kenne. Und ganz nebenbei sieht er auch nicht wie ein Stuntman aus. Der zweite trägt einen Vollbart, ist groß und muskulös und guckt grimmig. Von der Figur her wäre er als Stuntman auf jeden Fall durchgegangen, aber nein, er ist es auch nicht. Der Dritte ist der typische Japaner, ungefähr mein Alter, allerdings …

„Ken?“

„Ja?“

„Bist du dir sicher, dass das alle mit dem Namen Haruto Tsunoda sind?“, frage ich.

„Ja, alle, die wir finden konnten.“

Tatsächlich? Das sind alle? Wut kocht in mir hoch und am liebsten hätte ich gegen die Wand geschlagen.

„Was ist, Tai? Welcher ist es?“

„Keiner von ihnen“, knurre ich und drehe mich um.

„Bist du dir sicher?“, hakt Ken nach und blättert noch mal in einer Akte, die auf dem Schreibtisch liegt. „Das sind doch aber alle mit diesem Namen.“

„Das ist nicht sein Name.“

„Was?“

„Er hat einen falschen Namen benutzt, dieser Drecksack!“ Ich fluche so laut, dass ich denke, die Männer hinter der Scheibe müssen mich gehört haben. Aber sie stehen immer noch reglos da. Falsche Verdächtige und in keinem Fall ist einer von ihnen mein potenzieller Mörder. Verdammte Scheiße, Haruiko! Natürlich ist er mir auch diesmal einen Schritt voraus. Es wäre zu leicht gewesen …

„Wir gehen noch mal alles durch“, sagt Ken und gibt seinen Kollegen ein Zeichen, dass sie die Verdächtigen abführen können. „Wir haben alle Unterlagen aus Dr. Haruikos Büro beschlagnahmt, inklusive aller Laptops. Irgendwo muss ein Hinweis darauf sein, wer dieser Haruto wirklich ist. Und vielleicht sollten wir versuchen ein Phantombild zu erstellen und zur Fahndung rauszugeben. Vielleicht finden wir ihn auch so.“

Ich nicke schwach, glaube aber selbst nicht wirklich an den Erfolg dieser Mission.

Wie soll das gehen? Wie soll man die Stecknadel im Heuhaufen finden? Er könnte überall sein.

Mimi

 

Der Abschied naht und nicht nur für mich ist das Ganze mehr als schwer. Sally verlässt heute Tokyo wieder. Sie war ja nur hergekommen, um mir mit Tai und dem Kampf gegen Haruiko beizustehen, im Anschluss hatte Sally noch ein paar Tage dran gehangen, weil sie sich mit Davis so gut versteht, aber jetzt ist ihr Urlaub wirklich aufgebraucht und Sally muss Montag wieder in ihrem normalen Job als Heilpädadogin arbeiten. Jetzt steht sie vor ihrem gepackten Koffer und schlagartig wird auch mir bewusst, dass ich jetzt wieder mal keine Klamotten mehr habe. “Soll ich dir noch etwas hier lassen?”, fragt sie mich mit einem Lächeln, aber ich merke, wie schwer es ihr fällt, all das hier hinter sich zu lassen. “Nein, es ist ja nicht so, dass ich nichts habe, ich komme da nur nicht dran, aber jetzt … ich werde einfach Frau Kido anrufen und sie bitten mich noch ein letztes Mal in die Villa zu lassen, damit ich meine Klamotten packen kann oder meinetwegen kann sie sie mir auch gegen den Kopf werfen. Hauptsache ich bekomme meine Sachen zurück.” Sie nickt und seufzt schwer.

“Ach Sally.”

“Ich hätte nie gedacht, dass es mir so gut gefällt.”

“Sprichst du von Tokyo oder von Davis?” Mit geröteten Wangen blickt Sally von ihrem Koffer zu mir. “Wohl eher von Davis. Ich meine, ich wusste ja, dass ich wieder zurück muss und es nur eine Urlaubsflirterei ist, aber jetzt wo ich nicht weiß, ob ich ihn je wiedersehe, stimmt es mich traurig.”

“Und wenn du einfach hier bleibst?”

Sally sieht mich mit diesem: Ja-wenn-es-sonst-nichts-ist-Blick an. “Ich spreche nicht mal die Sprache und auch wenn es Spaß gemacht hat, als Kellnerin zu jobben, so sehe ich darin nicht die Erfüllung meines beruflichen Lebens.”

“Ja okay, das verstehe ich.”

Schwere Situation. Berufliche Chance auf der einen Seite, die große Liebe auf der anderen Seite. “Was ist mir dir? Fliegst du zurück?”

“Ich?” Ich schüttel sofort meinen Kopf. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es mit mir und Tai weitergeht und was uns die Zukunft bringt, aber ich weiß, dass wir zusammengehören und ich nicht wieder von Tai getrennt sein will. “Von meinen Bewerbungen habe ich leider noch nichts gehört, aber ich hoffe, dass da noch etwas kommt.” Auch weiß ich nicht, wie sich Tai seine Zukunft vorstellt. Zumindest die Berufliche, ob er wieder als Stuntman arbeiten will? Doch wieso bin ich dagegen? Zu groß die Angst, dass so etwas nochmal passieren könnte? Wahrscheinlich.

“Ich weiß nur, dass ich bei Tai bleiben werde. Alles andere wird sich schon irgendwie finden, aber eines weiß ich und dazu musste ich beinahe die ganze Welt bereisen. Tai, ist meine große Liebe und es wäre verrückt, diese jetzt ziehen zu lassen, jetzt wo wir endlich alles haben können.”

“Ich dachte mir, dass du so etwas sagst und habe großen Respekt davor.”

“Würdest du nicht für die große Liebe hierbleiben?” Sally verkrampft sich. Ich verstehe, dass unsere Situation nicht die gleiche ist. Ich bin Japanerin, Sally ist es nicht. In Tokyo habe auch ich meine Wurzeln. Gut, Tai musste mir helfen, diese wieder zu entdecken, aber ich bin stolz auf meine Herkunft.

“Ich bin durch und durch Amerikanerin. Im ernst, ich darf hier nicht mal niesen und immer dieses Verbeugen, da wird mir ja ganz schwindelig von.” Unwillkürlich muss ich lachen. Ich verstehe schon, dass all das für Sally ein Kulturschock sein muss. So wie es andersherum sicher genauso wäre. “Und ich kann nichts lesen. Nichts. Diese Schriftzeichen, also, als Tattoo finde ich das ja cool, aber ich könnte ja nicht mal irgendwas davon entziffern.”

Ich verstehe Sally. Auch ich habe meine Schwierigkeiten damit und muss vieles auffrischen. Man vergisst eben einiges, wenn man sich nicht täglich damit auseinandersetzt und in den USA wollte ich so schnell wie möglich Englisch lernen, sodass wir auch zuhause bald nur noch Englisch geredet haben. “Daher, werde ich Davis wohl eher nicht mehr Wiedersehen.”

“Oh man, Davis hat irgendwie auch kein Glück in der Liebe.” Irgendwie stimmt es mich traurig, dass aus den beiden wohl doch nichts wird. Es kann wohl nicht immer und für jeden ein Happy End geben.

“Siehst du Davis heute nochmal?”

“Ja, wir gehen nochmal zusammen essen und dann bringt er mich zum Flughafen.”

Das ist wohl ihr Stichwort. Sally erhebt sich und auch ich tue es ihr nach. “Danke. Keine Ahnung, wie ich all das überstanden hätte, wenn du nicht da gewesen wärst.” Sally lächelt mich an und wir umarmen uns. “Immer wieder gerne. Wozu hat man denn eine beste Freundin?”

“Komm gut heim und melde dich, wenn du angekommen bist oder du Liebeskummer hast. Dieser Mist schmerzt ganz schön.”

Sally nickt und löst sich langsam von mir. Wir ziehen uns unsere Jacken und Schuhe an und verlassen Tais Wohnung. Draußen steht bereits Davis und sieht auch nicht glücklicher aus. “Hey”, begrüßt er Sally und auch sie umarmen sich. “Hey, noch ist es nicht so weit”, versucht Sally Davis aufzumuntern, aber es ist doch eher ein schwacher Versuch. “Schon klar.”

Sally dreht sich nochmal zu mir um und ich reiche ihr den Koffer, den ich mit runter genommen habe. “Danke. Ich rufe dich an, wenn ich in New York bin.”

“Mach das. Ich wünsche euch einen schönen letzten Tag zusammen.” Die Beiden nicken und ich sehe ihnen ganz wehmütig hinterher. Ach Mensch, es ist so traurig, dass sie sich verabschieden müssen, obwohl sie offenbar Gefühle füreinander hegen. Allein der Gedanke, dass mir das mit Tai bevorstehen würde, würde mein Herz erneut brechen.

 

Mit klopfendem Herzen stehe ich vor der Kido-Villa. Sofort jagt mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Flashbacks.

Ich zittere. Unglaublich, wie mein Körper auf diesen Ort reagiert, als ob er mich versuchen würde zu warnen.

- Geh nicht weiter -

- Dreh dich um -

- Du gehörst nicht hierher -

Keine Sorge, ich habe nicht vor länger zu bleiben, als notwendig. Ich hätte vielleicht anrufen sollen. Aber, ich will doch nur meinen Koffer wieder haben, mehr nicht. Diesbezüglich wird Frau Kido sicher mit sich reden lassen.

Ich nehme mein Handy aus meiner Tasche, um Tai eine WhatsApp zu schicken. Er macht sich ständig Sorgen, dass noch irgendetwas passieren könnte, aber was soll schon geschehen? Haruiko sitzt im Gefängnis. Er ist genau da, wo er hingehört. Joe wohnt wieder in seiner Wohnung und Frau Kido … Sie wird natürlich auch wütend auf mich sein, aber sie wird mir nichts antun oder dergleichen. So ist sie nicht. Und jetzt, wo Sally wieder abreist, ist es der perfekte Moment meine Klamotten zu holen. Ich weiß, ich habe Tai versprochen, das nicht zu tun, aber ich brauche nun mal mein Zeug und hoffe inständig, dass sie meine Sachen nicht schon verbrannt haben.

 

>Hi Liebster, ich bin kurz in der Villa, um meine Klamotten zu holen. Mach dir keine Sorgen. Ich melde mich danach. Kuss.<

 

Ich warte noch einen Moment, aber Tai scheint gerade keine Zeit zu haben, um zu antworten. Also hole ich tief Luft, straffe meine Schultern und klingel.

“Ms. Tachikawa?”

“Hallo Ansgar, wäre es möglich, dass ich meine Klamotten abhole?”

Die Lautsprecherfunktion wird abgebrochen.

Rauschen.

Stille.

Okay. Wollen die mich jetzt einfach Ghoasten?

Auf einmal öffnet sich das Tor. Ich sehe mich zwar um, kann aber nichts und niemanden erkennen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trete ich immer näher an die Villa heran.

 

Nur deine Sachen holen, Mimi, mehr nicht, du schaffst das.

 

Ansgar eilt auf mich zu. Irgendwie sieht er sehr angespannt aus. Falls man das überhaupt sagen kann. “Sie sollten Ihre Kleidung besser zu einem anderen Zeitpunkt abholen.” Ich verstehe nicht, was das Ganze soll, denn offenbar scheint es Frau Kido gerade Recht zu sein.

“Keine Sorge, Ansgar, ich beeile mich. Ich schmeiße alles schnell in den Koffer und werde dann ganz zügig wieder verschwinden.” Ich will das einfach nur hinter mich bringen, wie ein Pflaster abreißen: kurz und schmerzlos. Also los.

 

 

Tai

 

Seit drei Tagen bin ich bereits in der Reha. Ein Fortschritt, immerhin kein Krankenhaus mehr. Ich muss nicht mehr jeden Tag Joe sehen und aktuell ist es besser, wenn etwas Abstand zwischen uns entsteht. Das Gehen mit den Krücken ist zwar immer noch anstrengend, aber in der Reha kann ich endlich wieder etwas für meinen Muskelaufbau machen. Gerade hatte ich meine erste Stunde im Fitnessraum und es ist eine Katastrophe gewesen. Wie viele Jahre meines Lebens habe ich trainiert? Fünfzehn Jahre? Und ein Unfall, eine Woche Koma und drei Wochen Krankenhaus machen aus meinen Muskeln Wackelpudding. Auch meine Kondition lässt stark zu wünschen übrig. Das muss sich dringend wieder ändern. Der Reha-Ablauf ist aber wirklich kein Urlaub. Den ganzen Tag habe ich Programm. Auch Theorie wie Ernährungslehre und sogar Stunden beim Psychotherapeuten stehen auf dem Programm. Um vier Uhr habe ich dann endlich Feierabend. Man sagte mir bereits, dass ich wohl einen Monat hier bleiben werde und auch dann werde ich noch ambulant Krankengymnastik brauchen. Wie lange es wohl im gesamten dauert, bis ich wieder der Alte bin? Werde ich überhaupt wieder dahin kommen? Ich hoffe es. Ich wünsche es mir und ich werde alles dafür tun.

Im Fitnessraum kam tatsächlich eine Sondermeldung im Fernsehen, dass Professor Dr. Haruiko Kido heute auf Kaution das Gefängnis verlassen hat und zunächst unter Hausarrest steht. Das heißt, dieser Dreckskerl darf in die Villa zurück. Tzz. Unglaublich, dieser Kerl ist sowas von schuldig, aber nichts was ein bisschen Geld nicht wieder richten würde. Fassungslos schüttel ich den Kopf, wenn ich an diesen Bericht zurück denke. Warum, hat man sich bei ihm überhaupt auf eine Summe geeinigt? Weiß Kaito davon? Sicher wird er das. Er ist immerhin Staatsanwalt. Ich nehme mir gerade das erste Mal das Handy wieder, als ich sehe, dass Mimi mir geschrieben hat.

Sicher ist ihr der Abschied von Sally schwer gefallen. Sie wird nachher bestimmt Trost brauchen. Doch dann fällt mir fast alles aus dem Gesicht. Sie ist in der Villa. Mimi. Mein Mädchen und Haruiko unter einem Dach? “Scheiße”, schreie ich raus und rufe sofort Mimi an. Keine Verbindung.

Keine Verbindung? Was zum … Erneut schreie ich wütend meinen Frust raus.

Eilig tippe ich eine Nachricht an sie, doch es ist bereits eine halbe Stunde her, dass sie mir geschrieben hat. Eine halbe Stunde. Dreißig Minuten. Viel zu viel Zeit, in der viel zu viel passieren kann. Ich will laufen. Ich will zu ihr, aber mein Körper zwingt mich in die Knie. Ich kann gerade mal zehn Schritte gehen, mit Krücken. “Argh!” Verzweifelt schmettere ich meine Faust gegen die Wand. Ken.

Ich wähle sofort Kens Nummer und zum Glück geht er gleich an. “Tai? Wie läuft die Reha? Ich habe leider noch …”

“Ken! Du musst sofort mit Verstärkung zur Kido Villa.”

“Warum das denn?”

“Mimi ist da.”

“Aber … Haruiko steht doch seit heute unter Hausarrest, weiß Mimi das denn nicht?”

“Nein! Sie wird es rund um den Abschied von Sally nicht mitbekommen haben. Ich habe es ja vorhin selbst zufällig über die Medien erfahren.”

“Verdammt, dann schwebt sie in großer Gefahr.” Ken legt auf. Verdammt, verdammt. Was soll ich nur tun? Ich kann auf keinen Fall hier sitzen und abwarten. Ich greife nach meinen Krücken und verlasse mein Zimmer. Ich rufe mir ein Taxi und fahre ebenfalls zur Kido-Villa. Oh Mimi, bitte, es darf dir nichts passiert sein.

 

 

Mimi

 

Da bin ich wieder, in meinem alten Zimmer oder eher in meinem persönlichen Gefängnis. Ich kann es nicht fassen, wie lange ich es hier ausgehalten habe. Ich bekomme mal wieder eine Gänsehaut und weiß nur, ich will hier so schnell wie möglich wieder raus. Dieses Kapitel ein für alle mal abschließen. Meine Klamotten liegen tatsächlich alle noch an Ort und Stelle. Keiner hat sie angerührt. Ich öffne meinen Koffer, die Schranktüren und werfe alle meine Sachen da rein. Die Klamotten, die mir im Zuge der Verlobung neu gekauft worden sind, lasse ich zurück. Diese komischen Fummel waren sowieso nie meins und ich würde sie eh nie wieder anziehen. Nachdem ich im Schlafzimmer soweit fertig bin, eile ich ins Bad und packe meinen Kulturbeutel. Meinen Föhn, Glätteisen. Einfach alles. Bloß, keine Zeit verlieren. Ich drehe mich um und erschrecke mich, als plötzlich Frau Kido vor mir steht. Ich drücke die Sachen nah an meine Brust, da sie beinahe auf den Boden gefallen wären. “Oh.” Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Frau Kido sieht nicht, wie ich erwartet habe, sauer aus. Nein, irgendwie eher besorgt?

“Ich …” Sie war immer so gut zu mir und ich wollte ihr auch niemals schaden oder weh tun, aber wie hätte ich ihr wieder unter die Augen treten sollen, nachdem was alles war?

“Mimi. Du hättest nicht einfach herkommen sollen.”

“Ich bin ganz schnell wieder weg und werde euch dann nie wieder belästigen.”

“Das meine ich nicht. Jetzt kann ich nichts mehr für dich tun.”

“Für mich tun?” Frau Kido verschwindet und ist genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen ist. Was war das denn? Erst ist Ansgar so komisch gewesen und jetzt Frau Kido. Ich schüttel meinen Kopf. Alles muss irgendwie in diesen Koffer passen und dann verlasse ich diese verdammte Villa. Ich setze mich auf den Koffer und schließe den Reißverschluss mit aller Kraft zu. Fertig. Super. Den Blick zurück kann ich mir sparen. Ich laufe aus dem Zimmer und renne geradewegs in und ich kann kaum glauben, dass das geschieht, in den Professor rein. Sofort gehe ich ein paar Schritte zurück. Wie kann das sein? Warum ist Haruiko hier und nicht im Gefängnis? “Du hier? Dass du es wagst”, knurrt er und sieht mich feindselig an.

Nein, ich habe keine Angst mehr vor ihm. Nie wieder. Diese Zeiten sind vorbei.

“Ich weiß nicht, warum Sie hier sind, aber gehen Sie mir aus dem Weg. Ich habe nur meine Sachen geholt. Alles andere habe ich da gelassen.”

“Du gehst ganz sicher nirgends hin. Es muss wohl eine Fügung des Schicksals sein, dass du heute hier in der Villa aufgetaucht bist.”

“Sie wissen, dass Sie schuldig sind. Was versuchen Sie hier?”

Er grinst. Dieser Teufel. Wie kann er nur so selbstgefällig grinsen? Ihm sollte doch schon lange das Lachen vergangen sein. Doch wieso bekomme ich das Gefühl, als würde ich gleich nichts mehr zu lachen haben?

“Ich hatte nur einen Wunsch, als ich im Gefängnis saß: noch einmal die Gelegenheit zu bekommen, auf dich zu treffen. Dir alles heimzuzahlen.”

“Ich bin nicht für ihre Sünden verantwortlich.” Er alleine ist der Grund warum er heute am Ende ist. Tai und ich haben ihn nur gestürzt und zu Fall gebracht, aber die Straftaten hat er allein begangen. Sein Blick ändert sich. Sein Grinsen verschwindet. “Wenn du nicht gewesen wärst, wäre all das niemals passiert.” Er kommt näher auf mich zu, ich taumle weiter zurück. Er will ernst machen. Mit was? Mich zur Strecke zu bringen? “Wie läuft eigentlich Taichis Reha? Muss schwer für ihn sein.”

“Sie …” Wie kann er es wagen? Ihn erst umbringen wollen und ihn dann noch auslachen. So ein Mistkerl. Doch wie soll ich mich im direkten Kampf gegen Haruiko behaupten? Ich habe doch keine Chance.

“Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich.” Was meint er damit? Ich habe das Ende des Flurs erreicht und spüre die Wand hinter meinem Rücken. Haruiko steht direkt vor mir und ich stehe hier, wie das Kaninchen vor der Schlange. “Du elende …”

“Argh.” Er ist so Feige. Wieder packt er mich am Hals und fängt an, mich zu würgen. Ich bekomme kaum Luft. Mein Körper wird schlaffer, kann sich immer weniger gegen den Angriff wehren und Panik steigt unwillkürlich in mir auf.

“Stopp, das reicht”, höre ich Frau Kidos Stimme. Haruiko lässt jedoch nicht von mir ab. Er ignoriert seine Ehefrau, aber wundern tut es mich nicht. Als würde ihn je interessieren, was seine Frau oder überhaupt eine Frau zu sagen hat. Die Luft wird dünner, aber ich werde ihm nicht diese Genugtuung geben und ihn anflehen. “Haruiko, lass das.” Er drückt noch fester zu, aber lässt dann doch von mir ab. Ich japse nach Luft. Ich weiß, er hat mich nicht wegen seiner Ehefrau losgelassen. Nein, er will, dass ich leide, sonst wäre es ja viel zu schnell vorbei und wo wäre dann der Spaß? “Weißt du, vielleicht hast du Recht und ich lande für den Rest meines Lebens im Gefängnis, aber weißt du, was das Gute daran ist?” Seine Stimme klingt bedrohlich wie ein Schwert. Ich wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln und versuche seinem Blick standzuhalten. Auch wenn ich nicht weiß, wo ich die Kraft dafür hernehme.

“Ich habe nichts mehr zu verlieren, aber zu wissen, ich ziehe dich mit runter, treffe somit auch Taichi, ist Genugtuung pur für mich. Ich gehe vielleicht unter, aber ich nehme euch mit.”

Ich bin noch immer dabei, Luft in meine Lungen zu saugen, als ich diese wieder anhalte.

Der Professor holt aus einer hinteren Gesäßtasche ein Messer hervor. Ein Messer mit einer scharfen Klingel. Jetzt werden meine Augen doch größer. Okay, er meint es Ernst. Jetzt erledigt er seine Drecksarbeit zumindest selbst.

Ich will nicht so zu Ende gehen. Das darf einfach nicht passieren. Ich bin angespannt, aber ich werde kämpfen.

“Du hättest dich nicht mit mir anlegen sollen. Ich hatte dich gewarnt, aber offenbar willst du es unbedingt auf die harte Tour lernen.”

“Haruiko …”, höre ich die flehende Stimme von Frau Kido, aber nichts wird ihn von seiner Tat abbringen. Ausweichen kann ich nicht so gut, wehren, ein Versuch, vielleicht der Einzige. Wieder schellt seine Hand in meine Richtung, ich gehe in Deckung. Er grinst. “Es fängt an mir richtig Spaß zu machen.” Er schlägt mit dem Messer nach unten, ich springe zur Seite. Hilfe. Haruiko steht wieder vor mir und ich hocke in der Ecke. Wie komme ich hier nur aus der Situation raus? So kann und darf ich nicht draufgehen. Tai hat so viel riskiert. Ich habe so viel riskiert. Wir sind zu weit gekommen, um jetzt alles zu verlieren. Sagt man nicht: Angriff ist die beste Verteidigung? Ich muss wahnsinnig sein oder es schießt zuviel Adrenalin durch meinen Körper, egal was, aber ich gebe nicht auf. Ich greife mit meinen Händen an seine Waden, packe meine langen Fingernägel ins Fleisch und schaffe es zwar nicht, ihn umzuwerfen, aber zumindest, dass er strauchelt. Das reicht, ich stemme mich nach oben und laufe an ihm vorbei. Haruiko fängt sich aber schnell wieder und schlägt mit dem Messer nach mir aus. Er streift damit meinen linken Arm. Ich blute sofort. Es brennt, es schmerzt. Ich versuche mit der anderen Hand die Blutung zu stoppen, aber der Schnitt ist zu tief. Egal, ich muss hier weg. Ich darf nicht darüber nachdenken, was hier passiert, denn sonst würde mich die Erkenntnis lähmen und ich könnte nicht mehr kämpfen. “Du Schlampe.” Haruiko nimmt natürlich die Verfolgung auf, aber Frau Kido stellt sich ihm in den Weg. Ich drehe mich um.

“Stopp, Haruiko, es reicht.”

“Geh mir aus dem Weg.” Er packt seine Frau grob an den Schultern und schubst sie gegen die Wand. Frau Kido fällt. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu realisieren, was ich da gesehen habe. Dann stürmt Haruiko los und ich auch. Die Treppenstufen kommen mir ewig lang vor und ich bin froh, als ich irgendwie das Foyer erreiche. Die Haustür, sie ist nicht mehr weit weg. Das werde ich sicher schaffen. Gleich bin ich draußen und dann kann der Professor mir nichts mehr anhaben. Die Fußfessel über seinem Knöchel habe ich eben gesehen. Ich drücke die Haustür auf, aber es tut sich nichts. Abgeschlossen. Was? Die war noch nie abgeschlossen. Ich drehe mich um. Haruiko ist gleich wieder bei mir. “Du wirst hier nicht raus kommen. Alle Türen und Fenster sind verschlossen. Die Mühe kannst du dir also sparen.”

Ich schlucke. Wo soll ich jetzt hin? Wieder nach oben laufen und mich in meinem alten Zimmer einschließen? Nein, ins Wohnzimmer? In die Küche? Oh man, mir gehen die Möglichkeiten aus. Denk nach, Mimi, denk nach. “Und gibst du auf?”

“Niemals.” Wieder steht er so feige da. Mit einem Messer in der Hand und bereit, es gegen mich einzusetzen. Er kommt vor mir zum Stehen und schon wieder bin ich in die Ecke gedrängt worden. Okay, ich wollte keine Angst mehr haben, aber jetzt habe ich sie. Wieso musste ich auch nur diese Villa aufsuchen. Ich hätte einfach auf Tai hören sollen. “Das ist besser als erwartet.” Er schlägt wieder nach mir mit seinem Messer aus und wieder versuche ich auszuweichen. Er hat jedoch damit gerechnet und streift nun meinen anderen Arm. Dann schleudert er mich herum, packt mich am Hals und hebt mich an, als wäre es nichts für ihn. Er würgt und zwar direkt ganz fest. Ich habe Schmerzen, an meinen Armen, an meinem Hals, aber am meisten in meinem Herzen. Die Klinge des Messers streicht über meinen Hals. Mein Herz schlägt wie wild gegen meine Brust. Ich bekomme keine Luft mehr.

Ich habe Angst.

Er könnte es jetzt wirklich beenden. Ein wenig tiefer der Schnitt und das wäre es. Ich spüre einen brennenden und beißenden Schmerz an meinem Hals und bekomme erneut Panik. So hilf mir doch jemand. Tai, es tut mir leid. So, so leid. “Noch ein paar letzte Worte?“

“Fahr zur Hölle.”

Denn da gehört er hin. Er grinst und als ich denke, dass es das gewesen ist, höre ich einen dumpfen Knall. Der Professor hält inne, fällt schließlich auf die Knie und dann zu Boden. Hinter ihm steht Frau Kido mit einer großen Vase, die jetzt zerbrochen ist.

Ich starre sie mit großen Augen an. Sie hat mich gerettet und sich gegen ihren Mann gestellt. Sie lässt die Vase fallen und bückt sich zu ihrem Mann hinunter. Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Ist er …?

Auf einmal sehe ich Blaulicht. Die Polizei bricht die Tür auf. Zwei Streifenwagen und ein Krankenwagen stehen vor der Einfahrt. “Mimi?” Ken steht vor mir. “Sie ist verletzt”, ruft er nach hinten. Ich starre immer noch auf den Boden, während Blutspritzer den ganzen Boden bedecken. Was ist mit Haruiko? Ein Sanitäter geht zu dem liegenden Professor. Ein anderer kommt zu mir. Der Sanitäter zieht mich nach draußen. Er setzt mich auf eine Liege und legt ein steriles Tuch auf meine offene Wunde am Hals. Ich starre noch immer in den Flur. Er darf nicht tot sein. Er muss doch noch für all seine Sünden bestraft werden, denn das wäre die schlimmste Strafe für ihn. “Geht es Ihnen gut?” Ich kann mich kaum auf den Sanitäter konzentrieren, alles verschwimmt vor meinen Augen. Das Adrenalin in meinem Körper lässt nach. Ich sehe an mir herab, überall Blut. Blut, welches an meinen Armen runterläuft. Blut, welches meine Kleidung einnässt. Blut, welches meine Haarspitzen rot verfärbt und dann wird mir schwummrig. Es fällt mir schwer, meine Augen aufzuhalten. “Legen Sie sich vorsichtig hin.”

“Haru …?” Ist er? Ich muss es wissen. Dann höre ich ein Jaulen, er ist wach. Welch eine Erleichterung, ich schließe meine Augen. Ich habe einfach keine Kraft mehr.

 

 

Tai

 

Das Rehazentrum ist am Stadtrand und natürlich muss ich einfach ans andere Ende der verdammten Stadt. Wie sehr würde ich mir wünschen, ich könnte fliegen oder mich beamen. Nach fast einer Stunde erreiche ich das Kido Anwesen. Die längsten sechzig Minuten meines Lebens. Wenn Mimi sich nur ansatzweise so gefühlt hat, als ich im Koma lag, weiß ich annähernd, welche Höllenqualen sie durchlitten haben muss. Ich habe noch unzählige Male versucht, sie anzurufen, aber natürlich ging nie jemand ran. Selbst Ken hat sich noch nicht gemeldet. Er muss doch wissen, dass ich hier vor Sorge umkomme. Doch dann bin ich endlich da. Ich sehe Blaulicht, unendlich viele Menschen. Polizei, einen Haruiko der gerade wieder in einen Streifenwagen verfrachtet wird und Frau Kido die weinend auf dem Boden liegt. Aber wo ist Mimi?

“Mimi?”, rufe ich schließlich nach ihr. Ken eilt auf mich zu. “Tai, Mimi ist im Krankenwagen. Sie wird behandelt. Es …” Ich höre Ken gar nicht weiter zu. Sofort sprinte ich mit meinen Krücken los und mein Herz setzt für den Bruchteil einer Sekunde aus, als ich Mimi verletzt auf der Liege liegen sehe. Überall ist Blut. Schnittwunden. Mimi trägt einen Verband um ihren Hals. “Mimi?” Ihre müden Augen finden mich und sie fängt an zu weinen. Mein Herz bricht. Ich stemme mich die zwei Stufen nach oben und setze mich zu ihr. Ich nehme sie in meine Arme und weine mit. Das halte ich fast nicht aus. Dieser Anblick und der Gedanke, was alles hätte passieren können, ist schlimmer als die Zeit nach dem Koma. Ich halte sie so lange fest, bis Mimi sich einigermaßen beruhigt hat. “Es tut mir leid, dass ich hierher gekommen bin. Ich wollte doch nur meine Sachen wieder haben.”

“Ach Prinzessin.” Ich tröste sie erneut, streichle über ihren Kopf. Gerade bin ich einfach nur froh, dass mein Mädchen noch lebt. Auch wenn ich noch nicht weiß, was hier passiert ist und wie knapp wohl alles gewesen sein muss. Sie lebt. Ich lebe. Er hat uns beide versucht zu töten. Er wollte uns beide loswerden und doch sind wir Überlebende.

Denn wir haben die Hoffnung nie aufgegeben. Hoffnung ist ein starkes Gefühl, aber auch Hoffnung kann zerstört werden und in Verzweiflung und Hass übergehen. Haruiko war fast auf dem Weg zu gewinnen, weil er so blind vor Wut auf uns war, aber wir haben nicht aufgegeben.

Wir gegen den Rest der Welt. Das sind wir. Das ist unsere Stärke und Haruiko wird niemals eine Chance dagegen haben.

Kapitel 58

Mimi
 

Ich stolpere eine große Treppe hinunter. Überall auf den weißen Marmorstufen hinterlasse ich Blutflecke. Es rinnt über meinen Arm und tropft lautlos zu Boden, während lediglich mein hektischer Atem die Stille durchbricht – und die Stimme hinter mir.

„Weglaufen ist zwecklos“, sagt sie in diesem selbstgefälligen Ton, bei dem Übelkeit in mir aufsteigt.

Trotzdem haste ich weiter die Treppenstufen hinab und renne zur Tür. Eine Hand presse ich auf die Wunde an meinem Arm, mit der anderen drücke ich die Türklinke runter, immer und immer wieder. Ich ziehe wie verrückt daran, doch nichts tut sich.

Panik ergreift von mir Besitz. Wieso komme ich hier nicht raus? Ich lasse von der Tür ab und wirble herum, nur, um im nächsten Moment eine kalte, scharfe Klinge an meinem Hals zu spüren. Ich schreie auf …
 

… und starre mit weit aufgerissenen Augen an eine weiße Wand, die von einem gedämmten Nachtlicht angestrahlt wird. Mein Puls geht viel zu schnell, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen – oder um mein Leben gerannt.

„Hey Prinzessin, ich bin hier.“ Das ist Tais Stimme. Ich blicke zur Seite und sehe in seine warmen, braunen Augen. „Ich bin hier“, wiederholt er noch einmal ruhig und legt eine Hand an meine Wange. „Alles ist gut. Du hast nur geträumt. Du bist in Sicherheit.“

Meine Muskeln entspannen sich, meine Atmung wird flacher. Nur ein Traum? Aber als ich auf meine Arme hinab blicke und mit den Fingern über meinen Hals fahre und den Verband ertaste, wird mir klar, dass das nicht so ganz stimmt. Dieser Traum ist die Nachwirkung dessen, was ich heute erlebt habe. Es hat mich noch nicht losgelassen und ist definitiv nicht spurlos an mir vorbeigegangen – wie man an meinen verwundeten Armen erkennen kann. Ich sehe wieder Tai an. „Du bist geblieben“, stelle ich fest und frage mich, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, seit sie mich ins Krankenhaus gefahren haben. Es müssen mehrere Stunden sein, denn draußen ist es finstere Nacht. Aber Tai ist immer noch hier. Er sitzt an meinem Bett, hellwach und hält meine Hand. Seine Krücken sind an der Wand neben seinem Stuhl angelehnt.

„Natürlich.“ Er streicht mir liebevoll eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. „Meinst du, ich lasse dich alleine, nachdem, was passiert ist?“

Ich schüttle den Kopf, auch wenn das etwas schmerzt. „Aber du musst dir keine Sorgen mehr machen. Haruiko wurde doch wieder verhaftet, oder? Er kann mir nichts mehr antun.“

„Stimmt schon“, sagt Tai, doch sein Blick ist ernst. „Aber trotzdem. Haruiko hat zu viele Kontakte und es kann uns niemand garantieren, dass er nicht jemand anderen schickt, um seinen Anschlag auf dich zu Ende zu bringen. Außerdem läuft Jim hier auch noch irgendwo im Krankenhaus herum. Ich traue hier keinem Kido mehr über den Weg. Na ja, bis auf Joe vielleicht.“ Tai deutet mit den Augen auf meine verbundenen Arme und erst jetzt fällt mir auf, dass es gar nicht mehr weh tut, obwohl die Wunden so tief waren und furchtbar gebrannt haben. „Er hat deine Schnitte genäht und dir ein starkes Schmerzmittel verabreicht. Erinnerst du dich noch daran?“

Ich nicke zaghaft. So langsam kommt die Erinnerung zurück. Nachdem dieser ganze Horror vorbei war, haben mich die Sanitäter ins Krankenhaus gebracht. Joe hatte gerade Dienst in der Notaufnahme und durfte seine Künste als Chirurg unter Beweis stellen. Er wollte mich für eine Nacht hierbehalten, nur, um sicherzustellen, dass mit mir auch wirklich alles in Ordnung ist.

Ich werde seinen Blick nicht vergessen, als er erfahren hat, was geschehen ist. Wer würde schon gern hören wollen, dass sein Vater so ein Monster ist? Auf jeden Fall hat er gar nicht weiter mit uns gesprochen, sondern einfach meine Wunden versorgt und weg war er. Das musste er wohl alles erst mal verarbeiten.

„Es ist lieb, dass du geblieben bist. Auch wenn du es nicht hättest tun müssen. Ich bin schon ein großes Mädchen.“

Ein Lächeln umspielt Tais Lippen. Sofort wird mir warm ums Herz.

„Ich weiß. Trotzdem. Du bist eben mein Mädchen und ich habe mir Sorgen gemacht. Ehrlich gesagt kann ich nun ansatzweise nachempfinden, wie du dich in den letzten Wochen gefühlt haben musst, als du jeden Tag um mein Leben bangen musstest.“

Diese Erinnerung versetzt mir einen Stich, aber ich versuche sie schnell wieder abzuschütteln. Vor allem, weil Tai gerade aussieht, als hätte man ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Sein Lächeln ist verblasst und einer tief traurigen Miene gewichen.

„Hey“, sage ich und versuche aufmunternd zu klingen. „Es geht mir gut. Hör bitte auf, dir Sorgen zu machen.“

Zaghaft kehrt das Lächeln auf seine Lippen zurück und er sieht mich an, während er meine Hand hält.

„Wenn du das sagst, Prinzessin.“

„Was ist mit Haruiko passiert?“, wechsle ich schnell das Thema, um seine schlechten Gedanken zu vertreiben. Außerdem hatten wir noch keine Gelegenheit, uns über ihn zu unterhalten.

„Was wohl?“, zischt Tai verächtlich. „Er ist wieder dort, wo er hingehört und ein weiterer Anklagepunkt ist hinzugekommen. Diesmal wird er das Gefängnis nicht mehr auf Kaution verlassen. Bei versuchtem Mord verstehen die keinen Spaß. Ken will, dass du so schnell wie möglich eine Aussage machst, sobald du fit genug dafür bist. Vorausgesetzt du erinnerst dich noch an alles.“

Soll das ein Scherz sein? Natürlich erinnere ich mich noch. An jedes grauenvolle Detail. An seine Worte, an sein verheißungsvolles Grinsen. An den Ausdruck in seinem Gesicht, als er entschlossen war, mich zu töten.

Oh ja, ich erinnere mich noch lebhaft daran, so lebhaft, dass meine Hände zu zittern beginnen. Tai bemerkt dies natürlich sofort und drückt sie ganz fest, damit sie sich beruhigen. Ich entspanne mich wieder.

„Möchtest du mir erzählen, was genau geschehen ist?“

Ich nicke und sehe ihn schuldbewusst an. „Ja, aber bitte sei nicht sauer. Ich weiß, du hast gesagt, ich soll nie wieder einen Fuß in diese Villa setzen und ich habe es doch gemacht.“

„Seit wann hörst du auch auf das, was ich dir sage? Das wundert mich gar nicht.“

Ich schmunzle peinlich berührt, wohingegen Tai schon ein kleines bisschen sauer aussieht – was ich ihm nicht verübeln kann.

„Trotzdem tut es mir leid. Das war dumm von mir. Aber ich wusste ja nicht, dass er auch da sein würde. Ich wollte nur schnell alle meine Sachen holen und dann wieder verschwinden. Und plötzlich stand er da, direkt vor mir. Er hat mich sofort bedroht und erst dachte ich, wenn ich ihm zeige, dass ich keine Angst vor ihm habe, dann lässt er mich in Ruhe.“ Meine Stimme beginnt zu brechen, während Tai mich mitfühlend betrachtet.

„Ich wusste, ich kann mich nicht wehren, also wollte ich ihm ausweichen, als er mich zurückgedrängt und dann ein Messer gezogen hat.“

„Dieser feige Bastard“, presst Tai hervor.

„Er hat mir keine Chance gelassen. Ich bin weggelaufen, aber alle Fenster und Türen waren verriegelt. Es gab kein Entkommen. Wäre Frau Kido nicht gewesen …“

„Ich habe mitbekommen, dass sie dich gerettet hat.“

„Das hat sie“, sage ich und wundere mich selbst darüber. „Ich denke, sie weiß immer noch, was richtig und falsch ist. Hätte sie ihm nicht eins übergezogen, wäre ich jetzt tot.“

Tai nickt, während er mit den Fingern sanft über meinen Handrücken streicht. „Ich denke, dieser Feigling hat gedacht, er hat nun nichts mehr zu verlieren, deshalb wollte er dich ein für alle mal zum Schweigen bringen. Sein Hass und seine Wut haben ihn blind gemacht.“

Ganz sicher ist es so wie Tai sagt. Haruiko ist von Hass zerfressen. Wir haben all seine Gräueltaten ans Licht gebracht. Bis ich aufgetaucht bin, dachte er, er würde sein Leben lang damit davonkommen.

„Ich bin trotzdem froh, dass alles so gekommen ist“, sage ich schließlich und spüre eine tiefe, innere Befreiung in mir. Wie ein seidenes Tuch, dass sich langsam aber sicher auf alles legt, was geschehen ist. Als wäre nun endlich alles gut. „Ich bin froh, dass wir Nanami gerettet haben. Das war’s wert, das alles, meine ich. Sie hat ein normales Leben verdient. Und auch alle anderen können endlich ihren Frieden damit machen.“ Ich muss an Kaori und Misaki denken, sogar an Joe und Kaito. Jeder hat etwas verloren und doch etwas viel wertvolleres gewonnen. Alle, bis auf einer – und der kann von mir aus in der Hölle schmoren.

„Ja, du hast recht“, pflichtet Tai mir lächelnd bei. „Und ich bin froh, dass wir nun endlich zusammensein können. Selbst, wenn wir meinen potentiellen Mörder niemals finden sollten, so kann ich doch meinen Frieden mit all dem machen. Haruiko hat sich sein eigenes Grab geschaufelt und wird seine gerechte Strafe bekommen. Das Wichtigste ist, dass du bei mir bist. Das ist alles, was zählt.“

Er beugt sich nach vorn und küsst mich, erst auf den Mund und dann auf die Stirn. Sofort breitet sich ein wohliges, warmes Gefühl in mir aus. Es flutet meinen ganzen Körper und fühlt sich wie flüssiges Glück an, das mir bis in die Fingerspitzen fließt und dort ein angenehmes, aber auch aufgeregtes Kribbeln hinterlässt. Ich freue mich auf das Leben mit Tai. Von nun an – gemeinsam!
 

Am nächsten Morgen, als ich aufwache, ist Tai immer noch da. Wer hätte das gedacht? Er hat tatsächlich im Sitzen geschlafen und über mich gewacht.

Es ist seltsam, aufzuwachen, und zu wissen, dass alles vorbei ist. Dass wir es überstanden haben und immer noch hier sind.

Tai weicht nicht von meiner Seite. Auch nicht, als die Schwester kommt, um die Verbände zu wechseln. Ich möchte am liebsten nicht hinschauen, denn Haruiko hat mich schwer verletzt. Die Stellen, die er getroffen hat, wurden zwar genäht, aber es werden vermutlich Narben bleiben. Lediglich die Wunde am Hals ist nicht sonderlich tief, sodass sie vermutlich einfach verblassen wird, sobald sie verheilt ist. Trotzdem bin ich nicht traurig deswegen, denn ich weiß, es hätte alles viel schlimmer ausgehen können.

Nach dem Frühstück kommen Kari, Takeru und Yuuko vorbei und bringen mir Blumen. Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass Tai und ich zusammen sind, daher kann Yuuko es sich nicht verkneifen, ständig schmunzelnd zwischen ihrem Sohn und mir hin und herzusehen. Ich glaube, sie freut sich für uns. Am Ende ihres Besuches lädt sie uns noch zum Essen ein, sobald Tai und ich bereit dafür sind. Sie möchte mich näher kennenlernen und auch ich bin super gespannt darauf, zu erfahren, wie seine Eltern so privat sind. Wo er wohl aufgewachsen ist? Ob viele Fotos von ihm als kleines Kind an den Wänden hängen? Wie sieht wohl sein altes Zimmer aus?

Kari und Takeru wollen auch kommen und während Tais Schwester noch von ihren Hochzeitsplänen erzählt, sitze ich einfach nur da, höre zu und lächle beseelt vor mich hin.

Es ist unfassbar, wie normal sich so etwas anfühlen kann. Seit ich in Japan gelandet bin, war rein gar nichts normal. Es war eine andere Welt, in der ich mich zurechtfinden musste. Eine Welt, in die ich nicht reinpasste. Aber in diese hier passe ich. Und zwar so perfekt, dass es schon fast erschreckend ist.

„Alles in Ordnung?“ Tai greift nach meiner Hand und sieht mich fragend an, doch ich nicke nur glücklich. „Ja, alles bestens.“ Und das ist es. Das ist es wirklich. Ich habe mich lange nicht mehr so wohl gefühlt. Ich bin endlich angekommen.
 

Als Kari, Takeru und Yuuko sich verabschiedet haben, bekomme ich meinen Entlassungsbrief, mit der Bitte, täglich im Krankenhaus zum Verbandswechsel zu erscheinen. Tai hilft mir, mich anzuziehen und gleich wollen wir noch aufs Polizeirevier fahren, um meine Aussage aufzunehmen.

„Musst du nicht eigentlich zur Reha?“, frage ich Tai, während er mir dabei hilft, in die Ärmel meiner Jacke zu kommen, ohne, dass es all zu sehr weh tut.

„Ja, schon. Aber ich pausiere. Nur heute. Nur, bis ich dich sicher bei mir zu Hause abgesetzt habe. Morgen geht’s dann weiter.“

„Sehr gut“, sage ich. „Vielleicht können wir ja noch zusammen essen, wenn du schon mal da bist.“

Tai schmunzelt verwegen. „Klingt verlockend. Wir haben lange nicht mehr zu zweit gegessen.“

Gerade, als wir fertig sind und aufbrechen wollen, öffnet sich die Tür zu meinem Zimmer und Joe betritt den Raum.

Tai und ich bleiben stehen und schauen ihn entgeistert an. Mit ihm habe ich jetzt nicht gerechnet. Er trägt nicht mal seinen Arztkittel wie sonst, sondern Alltagskleidung, was mir verrät, dass er gerade nicht im Dienst sein muss.

„Hallo“, sage ich und will ihn schon fragen, ob er sich in der Tür geirrt hat, aber nein. Er macht sie hinter sich zu. Er sieht uns nicht direkt an und räuspert sich, während er einige Schritte auf uns zu macht.

„Hallo, ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht, Mimi.“

Ich blinzle mehrmals verwirrt. „Äh … gut, danke.“

„Schön.“

Ich schiele zu Tai, der nur die Achseln zuckt.

„Ich äh …“, redet Joe weiter und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. „Ich war eben bei der Polizei. Sie sagten mir, dass der Prozess meines Vaters, auf Grund der Schwere der Tat, nun vorverlegt wurde. Er findet bereits in zwei Wochen statt. Offenbar hatte Kaito da seine Finger im Spiel. Er kann es anscheinend gar nicht abwarten, meinen Vater hinter schwedischen Gardinen zu wissen.“

Ich nicke leicht. Ja, so wie wir alle. Dieser Mensch hat allen nur Unglück gebracht.

Joe räuspert sich wieder und sieht mich nun direkt an. „Ich möchte mich gerne bei dir entschuldigen, Mimi. Für alles, was dir meine Familie, besonders mein Vater, angetan hat.“

Beinahe klappt mir der Mund auf. Sprachlos starre ich ihn an.

„Ich denke, das ist längst überfällig. Und auch ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich weiß, ich habe dich nicht immer richtig behandelt. Das tut mir leid“, sagt Joe und ich kann ihm ansehen, wie schwer ihm dieses Geständnis fällt.

Ich schlucke schwer, während er sich unbeholfen am Hinterkopf kratzt. Wahrscheinlich hat es ihn ordentlich Überwindung gekostet, überhaupt hierher zu kommen.

„Ist schon gut“, sage ich. Joe sieht verwundert zu mir auf. Seine Stirn ist gerunzelt. „Wirklich?“

„Ja, ich … ähm …“ Ich sehe zu Tai, der mir einen kurzen Blick zuwirft. „Ich meine, wir … wir wollten uns auch noch mal bei dir entschuldigen. Ganz offiziell. Vielleicht war es falsch, dich nicht von Anfang an in alles einzuweihen, was wir wussten. Wir waren uns eben nicht sicher, ob du uns glauben würdest. Allerdings …“ Und nun bin ich diejenige, die verlegen zu Boden sieht. „Allerdings tut es uns wirklich leid, dass wir dich hintergangen haben. Es war nie Teil des Plans, dich zu verletzen. Wir wollten lediglich zusammen sein und wäre Haruiko nicht gewesen, …“

Joe hebt eine Hand und bringt mich somit zum Schweigen. Er schüttelt langsam den Kopf, als wäre es nicht nötig, dass ich die ganze Geschichte noch mal im Detail erzähle. „Ist in Ordnung, Mimi. Du musst dich nicht mehr vor mir rechtfertigen. Heute geht eine Pressemitteilung raus, dass unsere Verlobung offiziell und einvernehmlich gelöst ist. Ich denke, die Medien werden dann nach und nach das Interesse an dir verlieren und dann könnt ihr beide ganz ungestört zusammen sein. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Es tut mir wirklich leid, was meine Familie dir angetan hat. Ich hoffe, du kannst uns vergeben.“ Joe schließt gequält die Augen und verbeugt sich ganz höflich. Doch eine Sache frage ich mich: warum redet er immer von „uns“?

Er richtet sich auf und dreht sich zum Gehen um, aber ich muss ihm noch etwas sagen. Etwas sehr wichtiges.

„Joe?“

„Ja?“

„Warum entschuldigst du dich im Namen deiner Familie bei mir? Ich dachte, du möchtest kein Kido mehr sein?“

Ein kurzes Grinsen huscht über seine Lippen und etwas blitzt in seinen Augen auf. Etwas Neues, das vorher noch nicht da war. „Richtig. Ich kann zwar meinen Namen nicht einfach so abschütteln, aber ich werde mich öffentlich von meiner Familie distanzieren. Ich …“ Er wirft einen Blick zur Tür, als könnte er durch sie hindurchsehen. Als würde hinter dieser Tür etwas Großes auf ihn warten. Eine neue Zukunft. „Ich habe jetzt eigene Pläne. Ich brauche den Namen Kido nicht, um meinen Weg zu gehen.“

Mein Mund verzieht sich zu einem zufriedenen Lächeln und ich nicke. „Gut so. Denn ich wollte dir nur sagen, dass ich deinem Vater niemals vergeben werde. Was er getan hat, ist einfach unverzeihlich, egal, wie oft du dich dafür entschuldigst. Aber dir vergebe ich immer, Joe. Habe ich schon längst und ich würde es immer wieder tun. Es war nicht alles schlecht und du bist ein guter Mensch. Ich könnte dir niemals böse sein.“

Ich werfe einen Blick zu Tai.

Joe hat Tais Leben gerettet und das nicht nur ein Mal. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein, ganz egal, was zwischen uns vorgefallen ist. Ich hege keinen Groll gegen Joe. Das habe ich nie.

„Ich weiß, dass du deinen Weg finden wirst. Du bist stärker als du denkst“, sage ich und mein Lächeln wird noch breiter, als er mich erst überrascht und dann erleichtert anschaut.

„Ich danke dir, Mimi.“ Seine Augen wandern kurz zu Tai, dann wieder zu mir. „Ich wünsche euch alles Gute.“

Dann verlässt er das Zimmer und lässt nicht nur alles, was geschehen ist, hinter sich, sondern auch die Scherben einer langjährigen Freundschaft, von der keiner weiß, ob sie je wieder heilen wird.

„Ich bin ein bisschen stolz auf ihn“, gibt Tai plötzlich von sich. Ich schaue zu ihm auf, wie er da steht und mit einem zufrieden Lächeln auf den Lippen und feuchten Augen zur Tür sieht.

„Tai, heulst du?“

„Quatsch.“ Er schnappt sich seine Krücken und humpelt los. „Lass uns endlich abhauen. Ich will dieses Krankenhaus nie wieder von innen sehen.“
 

Die Aussage bei der Polizei fiel mir nicht leicht. Ich musste alles noch mal im Detail schildern, den ganzen Tathergang, alles, was Haruiko gemacht oder gesagt hat. Dabei habe ich auch gleich angegeben, dass er mich schon mal gewürgt und bedroht hat. Damals hat die Polizei in New York meine Aussage aufgenommen und Ken wird sich diesbezüglich mit ihnen in Verbindung setzen. Allerdings bat ich ihn inständig, nichts davon an die Medien durchsickern zu lassen. Ich möchte mit Haruikos Verhaftung nicht in Verbindung gebracht werden. Ken hat mir versprochen, dass das nicht passieren wird.

Das alles ist jetzt drei Tage her und ich bin gleich mit Kaori in einem Café verabredet. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit Jim so durchgedreht ist. Ich hoffe, es geht ihr gut.

Ich bin gerade auf dem Weg zu unserem Treffpunkt, als mein Handy klingelt. Ich krame es aus meiner Tasche und sehe sofort, dass es Sally ist.

„Hey Sally“, sage ich freudestrahlend ins Telefon, werde jedoch nur angeschnauzt.

„Na, du hast ja gute Laune. Bist du eigentlich völlig irre gewesen, direkt nachdem ich abgereist bin, in die Villa der Kidos zurückzugehen? Hast du dein Hirn rausgenommen und in irgendeiner zwielichtigen Gasse in die Tonne geworfen? Denn anders kann ich mir dein Verhalten nicht erklären.“

Ich kneife die Augen zusammen. Autsch. Man, sie ist echt richtig sauer.

„Davis hat dir wohl alles erzählt“, schlussfolgere ich kleinlaut.

„Natürlich hat er es mir erzählt. Du hast mich nicht mal angerufen und Tai auch nicht. Mit ihm muss ich noch ein Hühnchen rupfen. Er passt überhaupt nicht auf dich auf. Ich habe das Gefühl, dass du ohne mich in Tokyo einfach nicht klarkommst. Kaum bin ich weg, lässt du dich fast von diesem Psychopathen umbringen. Du machst wirklich nur Dummheiten, Mimi.“

Jetzt muss ich aber schmunzeln, weil es fast schon ein bisschen süß ist, wie sie sich aufregt. „Du musst dir keine Sorgen machen, ich komme klar.“

„Na, das sieht man.“

„Wenn du denkst, ich brauche dich hier ganz dringend, musst du wohl doch wieder herkommen“, necke ich Sally und höre sie am anderen Ende der Leitung mit der Zunge schnalzen.

„Sei froh, dass ich nicht da bin, sonst hätte ich dir für diese Aktion den Hintern versohlt.“

Ich muss lachen.

„Aber ich freue mich, dass es dir gut geht.“ Nun klingt ihre Stimme wieder etwas sanfter. Sie hat sich wohl abreagiert. „Ich freue mich, dass du noch lebst.“

„Ich mich auch“, sage ich und biege dabei in die nächste Straße ein. Da hinten sehe ich bereits das Café, in dem Kaori wahrscheinlich schon auf mich wartet.

„Wie fühlst du dich denn in New York? Vermisst du Davis?“

Kurz herrscht betretenes Schweigen am Telefon. Dann sagt sie: „Und wenn es so wäre?“

„Hmm“, mache ich nachdenklich. „Dann würde es die Sache deutlich komplizierter machen.“

Sally seufzt schwerfällig. „Was du nicht sagst. Er rief mich vorhin an und nachdem er mir von deinem Beinahe-Tod erzählt hat, hatte er die glorreiche Idee, dass wir uns erst mal nicht wiedersehen sollten.“

„Halt mal, das verstehe ich jetzt nicht. Vermisst er dich denn gar nicht?“ Irgendwie hätte ich gedacht, dass sie einander mehr bedeutet hätten. Habe ich mich so getäuscht?

„Doch, schon“, sagt Sally und klingt etwas unschlüssig. „Aber er meinte, dass wir uns ja auch gerade erst voneinander verabschiedet hätten. Klar kreisen unsere Gedanken noch um den jeweils anderen. Aber er sagte, bevor wir jetzt etwas riskieren und am Ende nur enttäuscht sind, sollten wir lieber abwarten.“

„Aha, und worauf?“

„Ob wir uns in ein paar Monaten immer noch vermissen.“

Ich runzle die Stirn. „Okay, ergibt das Sinn?“

„Irgendwie schon. Auf eine komische Art und Weise. Man traut es ihm nicht unbedingt zu, aber Davis ist sehr vernünftig. Und er ist realistisch. Er sagt, wenn wir es schaffen, in den nächsten 6 Monaten den Kontakt zu halten … also, wenn wir uns dann immer noch vermissen … dass wir dann wohl zusammengehören. So oder so ähnlich hat er sich ausgedrückt.“

„Wow“, sage ich gedehnt. „Klingt ja tiefgründig. Aber schon irgendwie vernünftig. Was hältst du von der Idee?“

Ich kenne meine beste Freundin. Sie gehört nicht zu den Frauen, die auf einen Typen warten. Entweder man erobert sie im Sturm oder man hat verkackt. Daher wundert es mich umso mehr, als Sally gar nichts antwortet.

„Sally?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie klingt wirklich unsicher. Okay. Das ist neu.

„Oh Sally“, lache ich. „Der Mann hat’s dir aber angetan.“

„Argh! Schrecklich, oder?“, beschwert sich Sally sofort, als könnte irgendjemand etwas dafür. Wobei … Ich habe die beiden ja einander vorgestellt. Na super, jetzt bin ich auch noch daran schuld, wenn meine Freundin Liebeskummer hat.

„Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Aber es klingt sehr unverbindlich. Eigentlich sollte ich mich nicht darüber beschweren, aber irgendwie …“

Ich nicke, als ich vor dem Café angekommen bin. „Ich verstehe dich. Hör einfach auf dein Herz, es wird dir sagen, was das Richtige ist.“

Ich höre Sally schmunzeln. „Ja, vermutlich.“

„Ich muss jetzt leider auflegen, Sally. Ich treffe mich noch mit Kaori.“

„Oh, ist gut, dann richte ihr liebe Grüße aus.“

Wir verabschieden uns und ich betrete das Café, in dem Kaori bereits an einem der Tische auf mich wartet.

„Hallo, Kaori“, begrüße ich sie und setze mich ihr gegenüber. Ich staune nicht schlecht, dass direkt vor Kaori ein riesen großer Schokoladeneisbecher steht.

„Oh, hallo Mimi“, sagt sie und leckt sich Schlagsahne vom Mund.

Ich grinse. „Du lässt es dir ja gutgehen.“

Kaori erwidert mein Grinsen. „Ich hatte so einen Heißhunger auf Schokolade. Hach, schlimm, diese Gelüste.“

Ich kichere, weil ich es immer noch herrlich erfrischend finde, sie so normal und losgelöst zu erleben. Es ist immer noch etwas ungewohnt, aber es steht ihr. Diese Schwangerschaft tut ihr gut.

„Schon gut“, sage ich und hebe abwehrend die Hände. „Wegen mir musst du dich nicht zurückhalten.“ Von mir aus kann sie zehn Eisbecher verdrücken. Für jeden Tag, an dem die Kidos sie unterdrückt und über ihr Leben bestimmt haben eine Kugel Eis – ist doch das Mindeste. „Ich soll dich von Sally grüßen. Wir haben eben telefoniert.“

„Danke, das ist lieb.“

„Sie hat sich tierisch darüber aufgeregt, was passiert ist.“

„Oh man, Mimi.“ Plötzlich huscht ein mitleidiger Ausdruck über ihr Gesicht und sie mustert meine Arme, die immer noch verbunden sind. Ich habe zwar extra ein Shirt angezogen, aber unter den kurzen Ärmeln, sieht man es trotzdem etwas heraus.

„Es tut mir so leid, was dir passiert ist. Joe hat mir davon erzählt. Er war echt fertig deswegen. Zum Glück ist es nicht in die Medien gelangt, sonst wärst du jetzt Schweinefutter.“

Ich nicke zaghaft. Ich kann mir gut vorstellen, wie schockierend es für alle gewesen sein muss. Außer Tai und mir hat es Haruiko wohl niemand zugetraut, so weit zu gehen.

„Hast du was von Frau Kido gehört?“, erkundige ich mich.

„Ja, es geht ihr soweit gut und sie musste ebenfalls eine Aussage bei der Polizei machen. Aber …“ Kaori verzieht das Gesicht und rollt mit den Augen. „Sie will sich nicht von ihrem Mann trennen. Egal, was passiert ist. Ich habe keine Ahnung, was in ihr vorgeht, aber sie steckt wohl zu tief in diesem kranken Familienkonstrukt drin. Außerdem würde sie sonst, wie meine Mutter, vor dem Nichts stehen. Sie haben sich beide Jahrzehnte lang von ihren Männern abhängig gemacht und nie gelernt, ein eigenes Leben zu führen. Frau Kido weiß gar nicht, wie das geht.“

Ich senke den Blick. Ja, vermutlich hat Kaori recht. Trotzdem ist es schade und tut mir für Frau Kido leid. Joe hätte ihr sicher geholfen und unter die Arme gegriffen.

„Warum wolltest du dich mit mir treffen?“, frage ich und sie schiebt mir zwei Umschläge über den Tisch.

„Joe bat mich, dir das zu geben. Willst du auch ein Eis?“ Die Kellnerin ist zu uns an den Tisch getreten, um meine Bestellung aufzunehmen.

Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich nehme nur einen Kaffee, danke.“ Dann nehme ich die Umschläge an mich. „Was ist das?“

„Mach es doch auf“, meint Kaori grinsend und verliert plötzlich ganz und gar das Interesse an ihrem Eis.

Auf einem Umschlag steht „Tai“. Auf dem anderen steht mein Name. Ich mache den Umschlag auf und greife hinein.

„Was …“ Ich ziehe ein kleines, dickes Buch heraus. Überrascht blinzle ich. Der Einband ist weiß, mit goldenem Glitzer darauf. Ich schlage es in der Mitte auf. Die Seiten sind leer, nur ganz vorne steht mit Hand geschrieben:
 

Tut mir leid, dass ich dein Tagebuch verbrannt habe. Ich hoffe, du kannst hier neue, schönere Erinnerungen festhalten.

Joe.
 

Ich sehe zu Kaori auf. Sie grinst mich an.

„Nett von ihm, oder?“, sagt sie. „Und es war ganz allein seine Idee. Wir waren neulich bummeln und als er es gesehen hat, hat er es einfach gekauft.“

Ich bin völlig perplex. Damit habe ich absolut nicht gerechnet. Erst die Entschuldigung und jetzt das? Macht Joe gerade einen Sinneswandel durch?

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, antworte ich ehrlich, doch Kaori schüttelt nur lächelnd den Kopf und widmet sich wieder ihrem Eis, das schon langsam schmilzt. „Ist schon gut. Er brauchte es wohl einfach für sein Gewissen. Den anderen Umschlag gibst du besser Tai.“

Allerdings. Ich weiß gar nicht, was ich von dieser netten Geste halten soll, denn ehrlich gesagt bin ich immer noch ziemlich sauer darüber, dass Joe einfach so mein Tagebuch verbrannt hat. Aber immerhin versucht er, es wieder gutzumachen. Ich bin natürlich super neugierig, was in Tais Umschlag steckt, packe ihn jedoch ganz brav in meine Tasche.

„Wie geht es denn Joe so?“, erkundige ich mich, weil es mich wirklich interessiert.

Kaori zuckt mit den Schultern. „Er hat im Krankenhaus gekündigt.“

Beinahe wäre ich vom Stuhl gekippt. „Er hat, WAS?“

„Ja“, nickt sie nur, als wäre es keine große Sache. „Er nimmt sich ein Jahr Auszeit. Bis er weiß, was er wirklich machen will. Er überlegt, eine eigene Praxis zu eröffnen, aber ist sich noch nicht sicher.“

Man, okay. Das hätte ich irgendwie nicht erwartet.

„Na schön, und wie geht es dir?“

„Ganz gut, denke ich“, sagt sie und wirkt irgendwie ziemlich geläutert. Als wäre sie mit sich selbst ins Reine gekommen. „Es ist erleichternd, wenn man endlich einsieht, woran man ist und was man zu erwarten hat. Jim’s Auftritt neulich …“ Sie verzieht das Gesicht, als würden die Erinnerungen an diesen Abend noch immer zu sehr schmerzen. „ … hat mir klar gemacht, dass es so nicht weitergehen kann – mit dieser Ehe, mit diesem Leben. Ich will nicht, dass mein Kind in so eine kaputte Familie hineingeboren wird. Jim wird sich nicht ändern. Nicht für mich. Und auch nicht für unsere Tochter. Daher habe ich entschieden … also, ich denke, es ist das Beste, wenn wir uns scheiden lassen.“

Nun klappt mir der Mund auf. Schon wieder weiß ich nicht, was ich sagen soll. Aber ich weiß, dass eine Scheidung so etwas wie eine Todsünde in der Familie Kido darstellt.

„Ja, so hat Joe auch geguckt, als ich es ihm erzählt habe“, lächelt sie immer noch zufrieden und ich wundere mich, woher sie diese Gelassenheit nimmt. Vor ein paar Monaten hätte sie so etwas niemals gesagt. Sie hätte sich nicht mal getraut, an das Wort ‚Scheidung‘ überhaupt zu denken!

„Ich, ähm … Ich bin stolz auf dich, Kaori. Nein, wirklich. Es kommt nur so unerwartet.“

„Ja, ich weiß“, sagt sie und wirft einen Blick auf ihre Hand. Erst jetzt fällt es mir auf. Sie hat ihren Ehering abgelegt. Ein eindeutiges Zeichen. „Ich hätte auch nie gedacht, dass es möglich ist. Dass ich auf eigenen Beinen stehe. Dass ich mich nicht mehr von dieser Familie abhängig mache. Aber ich habe erkannt, dass ich stärker bin als das alles und Nanami hat mir gezeigt, was ich wirklich will.“

„Und das wäre?“

„Ich will sie“, antwortet Kaori entschlossen. „Ich will sie als meine Schwester und ich will meine Mutter. Ich will, dass wir wieder eine Familie werden. Und ich will, dass mein Kind frei und selbstbestimmt aufwachsen kann. Und ich will …“ Sie unterbricht sich in ihrer Euphorie und lehnt sich zurück. „Ich will einen Mann, der mich verdient hat. Nicht einen, der mich nur besitzen will, weil er es kann.“

Ich nicke, wenn auch ein wenig sprachlos. Es ist unfassbar, welchen Wandel diese Frau in den letzten Wochen vollzogen hat. Sie ist überhaupt nicht wieder zu erkennen. Ich lächle sie aufmunternd an. „Das klingt alles wunderbar. Du wirst das Richtige tun, Kaori. Weiß Jim schon, was du vorhast?“

Sie schüttelt den Kopf und sieht nun doch ein wenig befangen aus. „Nein, aber ich habe mit meinem Vater gesprochen. Er wird ein Schreiben aufsetzen. Momentan möchte ich nicht mit Jim persönlich reden.“

Ich nicke und schlürfe meinen Kaffee. Ich verstehe das sehr gut.

Wir reden noch eine ganze Weile über Nanami und Misaki und dass die beiden sich nun auch langsam annähern. Das braucht natürlich alles Zeit, aber Nanami scheint sich in diesem neuen Leben sehr wohl zu fühlen. Sie geht jeden Tag auf eine öffentliche Schule und so, wie ich es mitbekommen habe, hat sie sogar schon ein paar Freunde gefunden. Nur Ayaka vermisst sie sehr. Sie sitzt, wie Haruiko, bis zum Prozess in Untersuchungshaft, allerdings möchte Kaito dafür sorgen, dass sie in den nächsten Tagen auf Kaution freigelassen wird. Schließlich geht von ihr keine Gefahr aus und da sie alles gestanden und die ganze Geschichte offengelegt hat, besteht auch kein Grund zur Annahme eines Fluchtversuchs.

Mich freut das alles wirklich sehr und als wir uns verabschieden, weitet sich mein Herz bei dem Gedanken daran, dass nun auch Kaori in eine komplett neue Zukunft aufbricht. Unfassbar, was Tai und ich alles erreicht haben, dabei wollten wir nur zusammen sein. Jetzt scheint es so, als hätten einfach alle davon profitiert.
 

Ich mache mich auf den Weg zum Park, wo Tai bereits auf mich wartet. Der Park befindet sich ganz in der Nähe seiner Reha-Klinik und wir treffen uns abends oft dort, um noch eine Runde spazieren zu gehen. Tai gibt sich wirklich Mühe mit seinem Reha-Programm, er ist eben sehr ehrgeizig und inzwischen ist er auch mit den Krücken etwas schneller. Den Rollstuhl braucht er gar nicht mehr, worüber er sehr froh ist. Und ich auch.

Er kommt mir entgegen und strahlt übers ganze Gesicht, als er mich erblickt.

„Hey, Prinzessin“, begrüßt er mich. Ich bleibe vor ihm stehen, gehe auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen Kuss. „Hey“, sage ich. „Wie war dein Tag?“

„Wie immer. Viel Training, viele Therapeuten. Wollen wir ein Stück gehen?“

Wir schlendern durch den Park und die Dunkelheit bricht langsam über uns herein. Während die Straßenlaternen bereits angehen und uns den Weg leuchten, erzähle ich ihm von Sally und Davis. Und auch davon, dass ich mich mit Kaori getroffen habe. Das wusste er schon, aber was er noch nicht wusste, war …

„Kneif mich mal.“

„Wieso?“

„Machst du Scherze?“ Tai sieht mich fassungslos an. „Sie will sich scheiden lassen? Von Jim?“ Dann schüttelt er den Kopf. „Nein, das macht sie niemals, das glaube ich nicht.“

Ich zucke mit den Schultern. „Doch, sie klang sehr entschlossen. Sie hat sich wirklich sehr verändert. Aber das haben wir wohl alle.“

Tai nickt zwar, zieht aber dennoch zweifelnd eine Augenbraue in die Höhe. „Da könntest du recht haben. Wir warten es mal ab.“

„Ich habe dir was mitgebracht“, sage ich und ziehe den Umschlag, den Kaori mir gegeben hat, aus meiner Tasche. „Der ist von Joe. Keine Ahnung, was drin ist.“

Ich sehe, wie Tai die Stirn runzelt und auf den Umschlag starrt, als wüsste er nicht so ganz, was er davon zu halten hat. Er schaut sich suchend im Park um und sagt dann: „Wollen wir uns kurz setzen?“

Wir gehen zu einer freien Parkbank und machen es uns bequem. Tai legt die Krücken zur Seite und sieht mich fragend an. „Soll ich mal aufmachen?“

„Ja, ich würde zu gern wissen, was drin ist, aber vermutlich kein Tagebuch.“

„Hä?“

„Ach, nicht so wichtig.“

Tai zieht mit den Fingern am Einband und öffnet diesen. Er greift rein und holt einen Haufen Zettel hervor.

„Was ist das?“, frage ich verwirrt, während Tai bereits zu lesen beginnt. Dann sieht er mich ungläubig an.

„Das ist mein Arbeitszeugnis.“

„Wie jetzt?“

Tai wirft noch mal einen prüfenden Blick darauf, um auch ganz sicher zu gehen, dass er sich nicht verlesen hat. „Joe muss das geschrieben haben. Er … er lobt mich und meine Arbeit als persönlichen Assistent und Pressesprecher in höchsten Tönen und bedankt sich für die langjährige Arbeit.“ Er blättert auch die anderen Seiten durch und überfliegt sie. „Das ist eine Liste, mit allen Aufträgen, mit denen Joe mich während meiner Arbeitszeit betraut hat. Jedes Event, jede Pressemitteilung. Dieser kleine Spießer hat doch tatsächlich alles aufgeschrieben, was ich je getan habe.“

Ich rücke dichter an Tai heran und schiele auf das Papier in seinen Händen. Wirklich – Joe hat alles akribisch aufgelistet. Jede Arbeit, die Tai für ihn oder für die Familie ausführen musste. Aber mein Blick bleibt lediglich an einem Auftrag hängen – an seinem Letzten:
 

Das unterrichten von Mimi Tachikawa in japanischer Kultur. – ausgezeichnet
 

Ich runzle die Stirn. Ich checke es einfach nicht. „Das klingt alles ziemlich professionell.“

„Ja, offenbar soll das meine Qualitäten untermauern. Aber warum das Ganze?“

Da bin ich überfragt.

Obwohl … sagte Kaori nicht, er hätte auch mein Tagebuch gekauft, um sein Gewissen zu beruhigen? Ist es das?

„Joe steht wohl an einem Scheideweg in seinem Leben. Kaori meinte, er hat sogar im Krankenhaus gekündigt. Ich denke, er versucht nur irgendwie das Richtige zu tun.“

„Kann schon sein.“ Tai sieht wieder auf das Schreiben in seiner Hand.

„Was wirst du nun damit machen?“, frage ich ihn. Er seufzt schwer. „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, ob ich je wieder als Stuntman arbeiten kann. Aber ich weiß auch sonst nichts mit meinem Leben anzufangen. Stuntman war alles, was ich hatte. Na ja, und die Anstellung bei Joe, aber auch so ein Job kommt für mich definitiv nicht mehr in Frage.“

Ich lege den Kopf an seine Schulter und schließe kurz die Augen, um seinen Duft einzuatmen. Gott, wie habe ich das vermisst, als er nicht bei mir war.

„Das kann ich verstehen. Lass dir einfach Zeit. Du kannst ganz in Ruhe einen Schritt nach dem anderen machen.“

„Hmm“, macht Tai und klingt sehr nachdenklich. Schließlich sagt er gequält: „Ich denke, ich kann das nicht annehmen.“

Mein Kopf schnellt in die Höhe. „Was? Warum nicht?“ Ich schaue in Tais Gesicht und sehe sofort die Schuld darin, die immer noch an ihm nagt – auch wenn er es manchmal nicht zugeben möchte.

„Joe ist viel zu nett. So ein gutes Arbeitszeugnis hab ich nicht verdient“, murmelt er traurig. „Er war doch mein Freund und ich habe ihm wehgetan. Warum tut er jetzt so was?“

Ja, das habe ich mich tatsächlich auch schon gefragt und kann Tai sehr gut verstehen. Er hat ein schlechtes Gewissen, wegen dem, was alles vorgefallen ist.

„Nimm es einfach an, Tai“, sage ich und lege behutsam eine Hand auf seine. „Ich denke, damit tust du Joe im Moment den größten Gefallen. Er versucht, sein Leben neu zu ordnen und vielleicht hat er diesen Abschluss gebraucht, um nach vorne sehen zu können.“

Tai nickt zaghaft. „Ja, vielleicht hast du recht.“ Dann hebt er den Kopf und sieht hinaus in den Himmel, der langsam aber sicher in ein kühles Blau wechselt. Ein Grinsen kehrt auf seine Lippen zurück. „Mir fällt grad ein, ich habe noch etwas für dich.“

„Oh? Was denn?“

Tai greift in die Tasche seiner Sweatshirt Jacke und holt ein Armband heraus. Ich runzle die Stirn. „Das kenne ich doch.“

Es ist das Armband mit dem grünen Jaspis, welches ich Tai geschenkt habe, als er im Koma lag. Er trägt seins immer noch und hat nun offensichtlich ein zweites gekauft.

„Ich wollte, dass du auch eins hast“, sagt er, greift nach meinem Handgelenk und legt es mir um. „Damit du immer an mich denkst.“

Ich lächle zufrieden, als ich unsere beiden Armbänder betrachte. „Als ob ich das nicht ohnehin ständig tue. Danke.“ Ich beuge mich nach vorne und küsse ihn. Tai schmunzelt. „Gerne, Prinzessin.“ Dann lege ich wieder meinen Kopf an seine Schulter und halte seine Hand. Wir sitzen noch eine ganze Weile so da und genießen die Nähe des anderen. Es ist schon erschreckend, wie schnell ich mich an dieses Leben hier gewöhnen könnte. Es fühlt sich wie Glück an – in seiner reinsten Form. Hier bei Tai zu sein, mit ihm zusammen zu sein, ist alles, was ich brauche.

Mimi

 

Ich liege noch in Tais Bett und liebe es, hier zu sein. Mittlerweile ist Tai schon seit zwei Wochen in der stationären Reha. Ich kann es kaum erwarten, dass er entlassen wird und auch endlich hier mit mir wohnen wird. Ich bin irgendwie sogar aufgeregt deswegen. Wie wir wohl so harmonieren, wenn wir tagtäglich aufeinander hocken? Aber ich glaube, wir werden das super machen.

Er und ich. Wir beide. Mein Handy klingelt. Meine Mutter. Ja, die muss noch völlig fertig sein. Meine Eltern wissen natürlich, was hier passiert ist und machen sich große Sorgen. Sie wollen, dass ich nach Hause komme, aber ich habe ihnen erklärt, dass ich jetzt endlich Zuhause bin.

Sie verstehen, dass ich mit Tai zusammenbleiben will, aber würden es natürlich besser finden, wir würden gemeinsam in New York leben. Meinen Eltern ist auch nichts geschehen. Ich habe mir ehrlich gesagt schon Sorgen gemacht, ob Haruiko sich durch meine Eltern an mir rächen wird und glaube auch, dass das noch passieren könnte, aber ich denke, so langsam muss er einsehen, dass er verloren hat und jetzt nur noch alles schlimmer machen kann. Der Prozess von meinem Vater beginnt in einigen Wochen und Haruikos sogar schon in einer. Nur noch so wenig Zeit und dann ist er weg. Denn er wird hoffentlich nie wieder rauskommen und das ist auch gut so. “Hallo Mama.”

“Mimi, Schatz, wie geht es dir?”

“Gut, das sagte ich doch schon.” Sie erkundigt sich jeden Tag bei mir und natürlich war das alles ein Schock, aber so langsam schaffe ich es, alles zu verarbeiten. Der Verband am Hals ist weg, genau wie die an meinen Armen. Wenn ich mir die Narben anschaue, ist dies wohl der Preis, den ich für meine Freiheit bezahlen musste. Die Wunden an meinen Armen sind schon recht tief gewesen und auch wenn die Narben noch blasser werden, verschwinden werden sie nicht. Ich habe viel mit Tai gesprochen. Er hilft mir, das alles durchzustehen und ich weiß, dass mich all diese Erfahrungen nur stärker machen werden.

“Es ist so grausam! Und du bist dir sicher, dass du vor Haruiko sicher bist?”

“Ja, er wird nicht mehr die Gelegenheit bekommen, auf Kaution frei zu kommen und ich werde sicher nie wieder in die Villa gehen.”

Meine Sachen hat mir Ken schlussendlich in Tais Wohnung gebracht und ich habe alles wieder. Sogar die Klamotten, die ich zurücklassen wollte, weil sie mich verkleidet und mir nie gefallen haben. Selbst die teuren Kimonos waren in den Kartons dabei, darüber freue ich mich sehr. Ich hätte sie selbst nicht mitgenommen, weil ich sie mir nicht selbst gekauft habe, sondern Joe, aber scheinbar weiß Frau Kido auch nicht, was sie mit den Klamotten sonst machen soll. Daher werde ich die Kimonos behalten und die Oma-Sachen spenden. Was soll ich nur mit Frau Kido machen? Eigentlich würde ich mich gerne nochmal mit ihr treffen. Immerhin verdanke ich ihr mein Leben. Sie wird doch sicher jetzt auch schrecklich einsam sein. Wenn sie es nicht eh schon all die Jahre war. Jim ist Jim und Joe, er wird bestimmt Kontakt zu seiner Mutter behalten, denn sie kann ja schließlich auch nichts dafür, aber dennoch wird es die Familie zerrütten. “Das will ich dir aber auch geraten haben. Ihr müsst trotz allem noch vorsichtig sein. Ihr beide.” Ich rolle mit den Augen, nicke aber brav. “Ja, Mama.”

Ich weiß ja, dass sie sich nur Sorgen macht, aber ich glaube, so langsam habe selbst ich es begriffen.

“Okay, das beruhigt mich. Ich soll dich lieb von Papa grüßen. Er wird auch immer nervöser wegen seinem Prozess.”

Das glaube ich sofort. Wer wird schon gerne angeklagt? “Papa wird das schaffen. Er ist mutig, weil er zu seinen Taten steht und wirkliche Reue zeigt. So sind nicht alle.”

“Ja, ich bin auch stolz auf ihn. Er benimmt sich wieder fast so, wie zu unseren Kennenlernzeiten. Er ist wieder so aufmerksam, charmant und …”

“Okay, Mama, ich glaube, ich habe es verstanden.” Bevor ich etwas höre, was ich lieber nicht hören will, unterbreche ich meine Mutter lieber. “Ich muss jetzt auch auflegen. Wir telefonieren die Tage, okay?”

“Alles klar. Pass auf dich auf.”

“Ja, ihr auch.”

Ich lege auf und schüttel lachend den Kopf. Meine Mutter ist schon ne Marke. Ich strecke mich durch und stehe auf, als mein Handy erneut klingelt. Wieder meine Mutter?

Eine unbekannte Nummer. Etwas zögerlich nehme ich das Gespräch entgegen. “Tachikawa.”

“Ms. Mimi Tachikawa?” Oh nein, die Presse? Haben sie meine Handynummer rausbekommen? Bitte nicht. Ich will schon panisch auflegen, als die fremde Frauenstimme weiter spricht. “Wie schön, dass ich sie gleich erreiche. Ich melde mich bezüglich ihrer Bewerbung. Hier spricht Tomoko Ogawa von Sin Den.”

Oh? Oh.

Au man, das gibt es ja gar nicht. Ich dachte schon, es hätte niemand Interesse an mir, weil sich jetzt ewig niemand auf meine Bewerbung gemeldet hat.

“Wie schön.”

“So eine Bewerbung mit persönlichem Anschreiben und in Papierform habe ich schon lange nicht mehr erhalten.”

Na super, ich wusste nicht genau, wie man sich diesbezüglich verhält. Aber klar, Japan ist sowas von digitalisiert. Hätte ich mir echt denken können.

“Ich fand, das war irgendwie eine nette Abwechslung.”

Puh, nochmal Glück gehabt. “Danke.”

“Da wir viele internationale Kundinnen haben, ist es für uns sehr wichtig, dass die Mitarbeiter neben Talent und exzellenten Service auch fließend Englisch sprechen können und da Sie viele Jahre in New York gelebt haben, wird das ja sicher kein Problem darstellen.”

“Da können Sie sicher sein.” Ich freue mich gerade richtig und fange schon langsam an, hin und her zu tanzen.

“Sehr gut. Wir arbeiten eng mit Beautysalons aus New York und Los Angeles zusammen und waren sogar schon für das Styling der Fashion Week in New York verantwortlich.” Mega.

“Das klingt ja alles total spannend.“

“Ist es. Haben Sie spontan Zeit? Heute Mittag?”

“Auf jeden Fall.”

“Sehr gut, dann sind Sie pünktlich um zwölf da.”

“Vielen Dank. Bis später.”

Sofort schreibe ich Tai eine WhatsApp, dass ich heute ein Bewerbungsgespräch habe und tanze durch die Wohnung. Und dann: Was soll ich anziehen? Meine hippen: Ich bin Mimi Tachikawa aus New York und ziehe an, was immer mir gefällt oder doch etwas seriöser und etwas, was normalerweise nicht zu meinem Kleidungsstil gehört?

 

>Taaaaiiiiii, was soll ich nur anziehen? Den Mimi, American Girl Look oder doch eher, das, was die Kidos auch immer aus mir machen wollten?<

 

>Du bist perfekt, so wie du bist ;) Na ja, vielleicht nicht ganz so einen kurzen Rock für ein Bewerbungsgespräch :D Das darfst du mir dann gerne privat zeigen ;) <

 

Ich rolle die Augen, aber ich verstehe was Tai sagen will. Ich will mich nicht verstellen, aber es ist ein Bewerbungsgespräch und kein Mädelsabend. Also öffne ich die vielen Kartons und meinen Koffer und überlege, wie ich mich am besten präsentieren möchte. Ich wähle eine enge schwarze Jeanshose, ziehe ein weißes Top und einen beigen Blazer über. Die Jeans und das Top sind aus meiner Heimat und den Blazer habe ich beim Umstyling mit Tai gekauft. Na ja, vielleicht ist nicht alles ein Oma-Look. Ein Blazer geht eigentlich immer. Dazu auffallende rote High Heels, um dem Look ein wenig mehr Pepp zu verleihen. Ich schminke mich und ziehe feine Korkenzieherlocken mit meinem Lockenstab. Ich denke, das Outfit kann sich sehen lassen. Zum Schluss trage ich meinen roten Lippenstift auf, mache ein Selfie von mir und schicke das Bild Tai zu. Natürlich lässt die Antwort nicht lange auf sich warten.

 

>Du hast den Job.<

 

Grinsend verstaue ich das Handy in meiner Tasche und mache mich auf den Weg.

 
 

Tai

 

Sechs Wochen trage ich nun schon meinen Gips am Bein. Heute sollte die letzte Nachuntersuchung sein und Trommelwirbel: der Gips kommt endlich ab. Ich muss sagen, ich kann es kaum erwarten. Ich durfte bisher so gut wie kein Sport machen, weil der Schweiß unter dem Gips sonst nur für Hautirritationen gesorgt hätte, dabei war die Physiotherapie auch nicht gerade ohne. Egal, heute kommt er ab und dann fühle ich mich wieder ein Stück weit normaler. Es wundert mich etwas, als die Türe aufgeht und Jim in den Behandlungsraum kommt. “Was machst du denn hier?”

“Ich bin Chirurg und werde deinen Gips abnehmen”, sagt er selbstverständlich und fängt an, sich die Hände zu desinfizieren.

“Ganz sicher nicht. Ich verlange einen anderen Arzt. Du wirst mich nicht behandeln. Du darfst nicht mal ein verdammtes Pflaster an irgendeiner Stelle aufdrücken.”

Jim verharrt in seiner Bewegung. Ich wundere mich schon, dass er nicht kontert, aber noch mehr, dass er überhaupt hier ist, um mich zu behandeln.

“Ich wusste das mit dir und Kaori.”

Jim dreht sich zu mir um. Ich hätte das im Leben nicht gedacht, denn wir haben uns selten in der Öffentlichkeit blicken lassen.

“Meinst du wirklich, ich hätte meine zukünftige Frau nicht die ganze Zeit beschatten lassen?”

Ich schüttel den Kopf. Kontrolle von Anfang an. Aber warum kommt er jetzt damit? Kaori und ich sind schon lange nichts mehr. Ich habe Mimi und Kaori lässt sich von diesem Arsch scheiden und damit habe ich überhaupt nichts zu tun. Das hat er ganz allein verbockt. Nicht, dass ich das nicht immer wusste, dennoch tut es mir für Kaori leid, dass sie das alles durchmachen muss und nicht mehr Glück in der Liebe hat.

“Nur deswegen habe ich überhaupt die Ehe vorgezogen. Eigentlich war es später geplant, aber das mit euch musste ich sofort unterbinden. Du warst mir schon immer ein Dorn im Auge.”

Ich grinse überheblich. Nicht, dass mich dieses Geständnis in irgendeiner Form überrascht, aber selbst Jim muss einsehen, dass ich in dieser Geschichte der Gewinner bin. “Du magst das mit uns damals vielleicht beendet haben. Dennoch hatte sich Kaori freiwillig für mich entschieden und mir ihr Herz geschenkt, obwohl sie wusste, dass sie dich heiraten wird. Du hast alles erzwungen und sie immer nur kontrollieren wollen und trotz aller Verträge, ist sie dir schlussendlich abgehauen. Wahrscheinlich hat sie die ganze Ehe über sowieso nur an mich gedacht.” Ich zwinkere ihm frech zu, was ihn rasend macht. Erkenne ich in Jims Augen tatsächlich so etwas wie Reue? Mimi hat mir erzählt, dass Kaori die Scheidung veranlasst hat. Doch er lässt mich nicht lange auf sein Inneres blicken. Er fängt sich. Applaus. “Joe wollte sie schon immer und jetzt nimmt er sie mir sicher weg. Sie hat immer nur mir gehört.” Er spannt seine Hand zu einer Faust und scheint immer noch nichts verstanden zu haben. “Sie sind ständig zusammen, aber wenn er denkt, Papa für mein Kind zu spielen, wird er mich kennenlernen.” Wütend feixe ich Joes älteren Bruder an. “Falsch. Du lässt die beiden in Ruhe. Siehst du nicht, wie falsch dieser Weg ist? Wenn du hättest Kaori zurückerobern wollen, hättest du dir mehr einfallen lassen müssen, als Drohungen aussprechen und Panikmache. Du wirst es nicht glauben, aber darauf stehen Frauen nicht.”

“Tzz.”

“Aber wahrscheinlich hattest du einfach nur ein schlechtes Vorbild.”

“Halt meinen Vater da raus.”

“Ach du, ganz ehrlich. Diese ganze Geschichte hat sich in einer Woche eh erledigt und vielleicht ist das auch das Beste, was dir passieren konnte und jetzt will ich einen anderen Arzt. Sofort.” Notfalls verlasse ich jetzt dieses Krankenhaus und lasse diesen Gips woanders entfernen. Jim setzt an, um etwas sagen zu wollen, schließt aber wieder seinen Mund und dampft ab. Was war das denn? Wollte er mich damit verletzen, dass er der Grund war, warum das mit Kaori so plötzlich vorbei war? Ich meine, es wäre so oder so darauf hinausgelaufen. Ob jetzt ein Jahr früher oder später, spielt dann auch keine Rolle mehr.

 

Die Tür öffnet sich erneut und diesmal taucht Joe auf. Ernsthaft, gibt es hier keine anderen Ärzte?

“Kam Jim gerade aus diesem Behandlungszimmer?”

“Jap.” Joe zieht seine Augenbrauen zusammen. “Was wollte er?”

“Mir ähm …” Joe weiß nicht, dass ich mal was mit Kaori hatte. Oh man, er wird mich jetzt wahrscheinlich für einen noch größeren Lügner halten. “Bevor Kaori und Jim sich verlobt hatten, war ich mit Kaori ein halbes Jahr zusammen.” Mit großen Augen schaut Joe mich an.

“D-du? W-waaas?” Ich zucke mit den Schultern. “Es war heimlich und Kaori meinte immer, dass unsere Beziehung ein Ablaufdatum hätte, ich wusste aber nie wieso. Ich wusste auch nicht, dass sie Jim versprochen war. Ich habe sie an der Uni kennengelernt, als ich noch studiert hatte.”

Joe setzt sich auf den Hocker und sieht irgendwie so aus, als wäre er gerade ganz woanders. “Wolltest du deshalb damals den Job als Assistenten? Wolltest du sie zurück?”

“Nein.” Ein ganz klares Nein. Kaori hatte mich damals verletzt und mein Ego gekränkt. “Ich verstand nicht, was passiert war und alles, was ich wollte, war eine Erklärung und Entschuldigung, aber ich wollte sie nicht zurück. Ich hatte mit ihr abgeschlossen, als sie damals ohne jedes Wort gegangen ist.” Mittlerweile haben wir alles geklärt und die Geschichte hinter uns gelassen. Ich muss daran denken, was Jim gesagt hat. Könnte da was dran sein? “Magst du Kaori?”

“Was, ich?” Sofort läuft Joes Gesichtsfarbe rot an und er kreischt in einem ziemlich hohen Tonfall. “Also … so ein Unsinn. Sie ist meine Schwägerin.”

“Na ja, noch, wenn sie geschieden ist, ist sie nicht mehr deine Schwägerin.”

“Ist das für dich immer so leicht? Sich zu nehmen, was einem nicht gehört?” Ich rolle mit den Augen. Oh man, echt jetzt? Aber scheinbar habe ich einen wunden Punkt getroffen. Vielleicht weiß es Joe noch nicht oder er will es nicht zugeben, aber so oder so, Kaori ist ihm nicht egal. “Wenn du sie magst, solltest du es ihr sagen. Vielleicht empfindet sie ja auch so für dich. Ihr habt zuletzt viel zusammen durchgemacht. So etwas schweißt zusammen.”

“Ich kümmere mich nur um sie, weil ich Onkel werde, das ist alles.”

“Okay, wenn du das sagst. Nimmst du mir jetzt den Gips ab oder kommt nochmal ein Arzt rein, der mich von diesem Ding erlöst?” Joe steht auf, wäscht und desinfiziert sich die Hände und kommt mit einem komischen Gerät auf mich zu.

“Was ist das?”

“Keine Sorge, das ist ein Gipsspreizer, damit lässt sich das Gips am besten durchtrennen.”

“Na dann, Leg los. Ich will das Ding endlich loswerden.”

“Wir sind nur Freunde”, setzt Joe erneut an und greift das Thema von vorhin wieder auf. Ich dachte, es wäre nichts bei ihm. Hmmm.

“Mimi und ich waren auch erst ‘nur Freunde’.” Joe schneidet weiter und weiter und ich spüre, wie das Blut wieder anfängt, richtig zu fließen. Es kribbelt. Das Gips ist durchtrennt und die Reste landen im Müll. Noch ist mein Bein etwas geschwollen. Unter meinem Knie komplett über meinem Schienbein ist eine lange Narbe. Man sieht noch viele kleine schwarze Punkte und es sieht auch noch ziemlich bläulich aus.

“Die Schwellung wird in ein paar Tagen von alleine abklingen.”

“Okay und darf …”

“Ich meine, ich bin es ihr auch irgendwie schuldig, dass ich mich um sie kümmere. Jim hat sie nicht gut behandelt. Mein Vater auch nicht.” Kaori ist also wieder Thema, dabei würde ich gerade lieber über mein Bein reden. “Ja, da hast du natürlich Recht”, pflichte ich ihm bei und hoffe jetzt endlich über mein Bein reden zu können.

“Darf ich jetzt wieder Sport machen? Also alles normal?”

“Und dann ist da auch noch Nanami. Ich meine, sie bedeutet Kaori ne Menge, aber sie ist ja auch meine Schwester und ich will sie ja auch kennenlernen und zufällig wohnt sie nun mal bei Kaori.” Oh man, ich werde die Antwort sicher googlen können.

“Ja, dein gutes Recht”, antworte ich und versuche aufzustehen, aber scheiße, so leicht ist das alles nicht. Es schmerzt. “Tai, du wirst die Krücken bestimmt noch ein- zwei Wochen brauchen. Du darfst nicht direkt losgehen.”

“Was, aber? Oh man.”

“Jetzt beginnt der Wiederaufbau der Muskulatur und Koordination. Es dauert etwa drei Monate bis die normale Belastbarkeit wiederhergestellt ist.”

“Drei Monate?” Enttäuscht setze ich mich wieder auf die Liege. “Du darfst natürlich vorher wieder mit Sport anfangen. In der Reha werden sie dir sicher gute Übungen zeigen, aber dein ganzes Schienbein war durch und das braucht auch nach Gips noch etwas Zeit.”

Zeit, Geduld, Verständnis. Das habe ich alles schon seit sechs Wochen. Ich arbeite jeden Tag hart an mir, um endlich wieder ich zu sein. Der Weg ist noch so weit und ob ich je ganz wiederhergestellt sein werde, weiß keiner. Das ist so frustrierend.

“Ich denke, Kaori hätte auch gerade gar kein Interesse an einer Beziehung. Ich meine …”

“Joe. Ich meine das jetzt wirklich als Freund. Geh zu ihr und rede mit ihr.”

“Worüber?” Oh man, fragt der das wirklich?

“Du fängst immer wieder mit Kaori an.”

“Du hast doch als erstes damit angefangen.”

“Ich habe es aber beendet. Du nicht.” Im wahrsten Sinne des Wortes. “Weißt du, ich hätte auch nichts tun können, bei Mimi, meine ich. Ich hätte mich meinem Schicksal fügen und zusehen können, wie die Frau die ich liebe, einen anderen Mann heiratet. Ich wäre gegangen. Das hätte ich mir nicht aus nächster Nähe angetan und wäre wohl einsam gestorben oder ich kämpfe und zwar so, wie ich es noch nie zuvor getan habe. Für niemanden. Mimi ist es wert. Das alles meine ich.” Ich deute auf mein Bein. Es war ein hoher Preis, aber ich würde es wieder tun. “Du hast doch nur dieses eine Leben, Joe und du solltest dich nicht hinter deine Gefühle stellen. Du musst mutig sein und mit etwas Glück, wirst du reich dafür belohnt.”

“Aber sie ist die Frau meines Bruders.”

“Ja, und …? Und deshalb darfst du dich nicht in sie verlieben? Es gibt am Ende nur Gefühle, die zählen.” Joe räumt weiter alles weg, während ich mit den Krücken zum Stehen komme.

“Ich weiß es nicht”, murmelt Joe nachdenklich.

„Außerdem hat Jim eben gedroht und ahnt was, aber eigentlich ist er nur verletzt, weil Kaori ihn verlassen hat. Euer brüderliches Band ist durchtrennt, seit du dich gegen Haruiko gestellt hast. Also wem gegenüber willst du loyal sein?” Darüber muss wohl auch Joe nachdenken. Oh man, es ist gerade fast wie früher zwischen uns. Wer hätte gedacht, dass wir zwei nochmal so ein Gespräch führen würden. “Und hey, wir haben einen ziemlich ähnlichen Frauengeschmack. Respekt.” Ich grinse, während Joe mich mahnend ansieht. Okay, ganz so weit sind wir wohl noch nicht. “Jetzt aber wieder ernst, danke für das Zeugnis.” Joe lächelt und nickt. “Keine Ursache. Ich hoffe, es hilft.” Hoffe ich auch. Ich weiß noch nicht genau, was ich beruflich machen möchte, aber mein altes Studium für Ingenieurtechnik kommt nicht mehr in Frage. Es war damals schon so trocken, dass ich mich bewusst dagegen entschieden habe. “Und der Rest wird auch wieder. Tai, als du wach wurdest, konntest du fast gar nichts mehr. Jetzt sind nicht mal zwei Monate um und du läufst schon auf Krücken. Vergiss das nicht. “Manche brauchen dafür Jahre.” Joe hat Recht. Ich sehe immer nur den Berg, der noch vor mir ist und vergesse, wie viel Strecke ich eigentlich schon hinter mir gelassen habe. “Das stimmt. Danke. Ich muss wohl auch lernen, auf das stolz zu sein, was ich bisher erreicht habe. Auch wenn ich gerne schon viel weiter wäre.” Joe öffnet mir die Tür und wir sehen uns nochmal an.

“Zu oft, ist man viel zu streng zu sich.”  

“Oh ja. Mach's gut, Joe.”

“Du auch Tai.” Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem guten Gefühl verlasse ich das Behandlungszimmer. Ich glaube, zwischen Joe und mir ist doch noch nicht alles verloren.

 
 

Mimi

 

Ich bin mitten im Bewerbungsgespräch und bin unfassbar nervös. Ich habe eben schon das gesamte Institut kennengelernt und einige Kolleginnen bei ihrer Arbeit zusehen dürfen und tatsächlich wird hier hauptsächlich Englisch gesprochen, was mir total in die Karten spielt, denn im Gegensatz zu meinen Kolleginnen spreche ich Akzentfrei. “Laut Ihrem Lebenslauf waren Sie, bevor Sie nach Tokyo kamen, in Los Angeles. Was haben Sie dort gemacht und warum sind Sie hierher gekommen?”

Erkennt sie mich wirklich nicht oder will sie herausfinden, ob ich ehrlich genug bin?

“Ich war in L.A., weil ich ganz gerne als Stylistin in Hollywood unterkommen wollte, aber ich war bei weitem nicht die Einzige, die das wollte und die Konkurrenz ist nicht gerade ohne. Am Ende blieb kaum Geld zum Leben und ich war bereit für was Neues.”

“Und dann sind Sie nach Tokyo gekommen?”

“Ja, wegen meiner Verlobung mit Dr. Joe Kido.” Tomoko macht ein interessiertes Gesicht und es scheint, als würde ihr gerade ein Licht aufgehen.

“Ich habe mir eben doch gedacht, dass ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe, aber wusste beim besten Willen nicht wo, aber klar, aus den Medien.”

Ich lächle unsicher, weil ich darüber jetzt wirklich nicht reden will. “Aber Sie haben sich getrennt?” Oh nein, sie hakt nach.

“Ja, wir haben uns in Freundschaft getrennt und ich habe beschlossen, hier zu bleiben, weil es mir hier sehr gefällt und ich mich einfach auf die Herausforderung freue. Mein Beruf gibt mir die Freiheit überall auf dieser Welt arbeiten zu können und warum nicht in Tokyo?“ Tomoko lächelt zufrieden. Scheinbar gefällt ihr die Antwort. Sie fragt zum Glück nicht weiter nach und hoffentlich bleibt das auch so.

“Ich denke, ich habe einen guten Eindruck über Sie gewonnen und wenn Sie wollen, können Sie morgen anfangen.”

“Ja klar, danke.” Ich freue mich. Endlich wieder mein eigenes Geld verdienen und das bei so einer tollen Arbeitsstelle. Zwar nicht mehr selbstständig wie vorher, aber aktuell ist das auch überhaupt nicht schlimm.

“Sehr gut, wir haben nämlich wirklich alle Hände voll zu tun und freuen uns über eine fähige Kollegin.”

“Das höre ich gerne.” Wow, ich habe einen Job und ich hatte schon befürchtet, ich müsste wirklich bei Davis kellnern. Nichts gegen sein Restaurant, aber ich habe da doch meine eigenen Qualitäten.

“Ich gebe Ihnen den Vertrag mit. Sie lesen sich alles in Ruhe durch, füllen den Personalbogen aus und bringen morgen alles unterschrieben mit.”

Ich nicke begeistert und sehe wahrscheinlich aus wie ein Wackeldackel, aber ich freue mich einfach so. Bald wohne ich richtig mit Tai zusammen und ich kann wieder als Stylistin arbeiten. Ich brauche niemanden nach Geld zu fragen und kann auch Sally endlich wieder ihres wiedergeben. Es geht doch wirklich bergauf. Wir stehen auf und ich verbeuge mich vor Frau Ogawa. “Bis morgen und vielen Dank nochmal.”

Als ich vor dem Schönheitssalon stehe, rufe ich sofort Tai an.

“Hi Prinzessin, und?”

“Ich habe die Stelle.”

“Herzlichen Glückwunsch. Das freut mich für dich.” Ich grinse übers ganze Gesicht, als mir klar wird, dass Tai heute auch einen wichtigen Termin hatte. “Und wie ist es wieder auf zwei Beinen?”

“Leider bin ich die Krücken noch nicht ganz los, aber auch das hat bald ein Ende. Kommst du nachher noch vorbei?”

“Auf jeden Fall. Du musst mir nämlich mit dem Vertrag helfen.” Ich höre, wie Tai lacht. Wahrscheinlich hat er schon damit gerechnet, aber ich verstehe nicht mal die Hälfte.

Ich gehe gerade die Treppen zur U-Bahn runter, als die passende Bahn auch schon direkt einfährt. “Ich mache mich auf den Weg. Bis später.”

 

Ich kann es kaum erwarten, Tai ohne Gips zu sehen. Er wartet bereits im angrenzenden Park auf mich und ich bin froh, dass der goldene Oktober sich noch von seiner schönsten Seite zeigt. Das Sonnenlicht schimmert durch die rot-gelben Blätter und lässt mich daran erinnern, dass ich bereits die dritte Jahreszeit in Japan verbringe. Tai sitzt auf einer Bank und steht natürlich gleich auf, als er mich sieht. Er stützt sich zwar recht schnell mit seinen Krücken, aber es ist so ein toller Erfolg, wie weit er einfach schon gekommen ist. Ich bin einfach so stolz auf ihn. Er hat eine Tasche dabei und ich werde glatt ein wenig neugierig.

“Hi Liebster, was ist da drin?” Tai grinst, begrüßt mich mit einem Kuss und holt eine Sektflasche und zwei Plastik-Sektgläser aus der Tasche heraus. “Na ja, wir müssen ja schließlich noch auf deinen neuen Job anstoßen.” Er ist so süß. Ich setze mich neben ihn und beobachte, wie er die Flasche öffnet und die Gläser voll macht. Eigentlich ist diese Geste viel wertvoller zu feiern als mein neuer Job. Vor zwei Monaten konnte Tai so gut wie nichts. Er konnte nicht mal selbstständig essen oder sich was zu trinken einschütten. Jetzt sitzt er hier mit Krücken und Sektgläsern und das nur, um mit mir anzustoßen. Ich kann kaum verhindern, dass Tränen in meinen Augen aufkommen. “Was ist los? Stimmt was nicht?” Ich schüttle gleich meinen Kopf. “Es ist unglaublich, was du schon alles geschafft hast. Ich weiß gar nicht, ob du überhaupt ein normaler Mensch bist.” Tai legt seinen Arm um mich und hält mich fest. “Glaub mir, wie schwach ich sein kann, hab ich gerade erst erfahren und das war wirklich kein Zustand, den ich irgendwie ertragen konnte und dann war ich auch immer so gemein zu dir. Ich hab mich echt dämlich verhalten.”

“Du warst doch nicht absichtlich gemein. Du warst komplett überfordert, hattest eine Amnesie und wusstest gar nicht, wer ich war. Klar, war ich traurig, aber ich habe deswegen nicht ans Aufgeben gedacht und du auch nicht und genau deswegen sind wir wir.”  

“Darauf stoßen wir an.” Tai hält mir sein Sektglas hin und ich stoße mit ihm an.

Ja, wir haben bewiesen, dass unsere Liebe stärker ist und allen Widrigkeiten trotzen konnte. “Ich mache mir Gedanken, wie es mit mir beruflich weitergeht.”

“Willst du in deinen alten Job zurück?” Ich habe ein wenig Angst, diese Frage zu stellen.

“Würdest du das wollen?” Oh nein, ich kann diese Entscheidung nicht für ihn übernehmen. Das muss von ihm kommen, sonst würde das irgendwann zwischen uns stehen. “Ich würde immer hinter dir stehen, egal wie du dich entscheidest, aber ja, die Angst wäre wohl mein stetiger Begleiter.”

Tai ist für ein paar Minuten still. Er sieht sich, wie ich, das Farbenspiel des Herbstlichts an. “Ich weiß zumindest, dass es eben kein Unfall oder ein Versagen meinerseits gewesen ist. Es war ein Mordanschlag und sicher wird dies nicht mehr vorkommen, aber …” Tai wird wieder ruhig und ich stelle das Sektglas zur Seite. “Aber dennoch habe ich gelernt, wie schnell alles vorbei sein kann, dazu muss nicht mal jemand versuchen, einen anderen umzubringen. Unachtsamkeit oder Fahrlässigkeit reicht aus und ich will nie wieder an so einen Punkt kommen, wie nach meinem Unfall. Natürlich kann immer was passieren, aber bei so einem Job ist die Chance nun mal wesentlich höher.” Da kann ich Tai nur zustimmen. Man muss das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Tai stellt sein Sektglas ebenfalls zur Seite und nimmt mein Gesicht in seine Hände. “Bisher war ich Single. Ich war für niemanden außer mich selbst verantwortlich, aber jetzt habe ich dich. Wir sind zusammen und ich sehe eine Zukunft. Es geht nicht mehr nur um mich. Es geht um uns und ich will diese Zukunft mit dir.” Ich schließe meine Augen, hebe aber meinen Kopf und treffe seine Lippen. Der Kuss intensiviert sich und ich wünschte, wir könnten jetzt an einem geschützten Ort sein. Wir lösen unsere Lippen voneinander und ich öffne meine Augen wieder. “Ich werde mich beruflich umorientieren. Ich bin noch jung und in mir stecken sicher noch viele Talente.”

“Das tun sie. Ich liebe dich.”

“Und ich liebe dich.” Das ist alles, was wichtig ist und alles was zählt und egal, wie oft Tai sich neu erfindet. Er wird mit allem Erfolg haben.

Kapitel 60

Tai
 

Angespannt starre ich auf mein Getränk, während der ganze, beschissene Tag noch mal an mir vorüberzieht. Wir sitzen gerade in einem Restaurant, aber gedanklich bin ich ganz woanders – nämlich im Gerichtssaal. Heute war der erste Prozesstag im Fall von Professor Dr. Haruiko Kido und was soll ich sagen …? Es lief anders als wir erwartet hatten. Ganz anders. Mimi wurde als eine der Ersten in den Zeugenstand gerufen, aber da Haruiko zuerst vernommen wurde und Gelegenheit hatte, seine Version der Geschichte darzustellen, klang danach alles, was Mimi erzählte, wie ausgedachte Spinnerei. Zum Falle Nanami konnte er nicht viel sagen, die Beweise waren niederschmetternd und Kaito Minamoto hat ihm absolut keinen Spielraum gelassen, nein. Er hat ihn auseinandergenommen wie eine Weihnachtsgans. Vor der gesamten Staatsanwaltschaft und dem Richter. Und ich glaube, er hat es sehr genossen. Aber als der Richter auf den versuchten Mord an Mimi zu sprechen kam und beide Versionen dazu hören wollte, log Haruiko, dass sich die Balken bogen.

Er erzählte, Mimi sei in sein Haus gekommen und habe versucht, ihn um Geld zu erpressen. Sie hätte gesagt, sie würde nicht vor Gericht gegen ihn aussagen, wenn er ihr Geld geben würde, um die Schulden ihres Vaters zu begleichen. Ich höre noch die Stimme des alten Sacks:
 

Natürlich ging es ihr von Anfang an nur um unser Geld. Sie ist so durchtrieben. Mimi Tachikawa wusste genau, worauf sie sich einlässt, als sie in unser Haus kam, um meinen Sohn zu heiraten. Sie hat uns alle belogen und wollte sich das Geld für ihren Vater erschleichen! Als sie gemerkt hat, dass sie das nicht von uns bekommt, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen. Warum sonst kam sie wohl ausgerechnet am Tag meiner Entlassung in die Villa zurück? Sie wollte das Geld erpressen, was sonst? Erbärmliches Mädchen.“
 

Ich balle die Hand zur Faust. Am liebsten wäre ich über die Anklagebank gesprungen und hätte ihm den Hals umgedreht. Aber seine Lügengeschichte ging noch weiter …

Als Haruiko nicht eingewilligt hat, hätte sie ihn mit einem Messer bedroht und letztendlich wäre es Notwehr gewesen, ihr das Messer zu entwenden und ihr an die Kehle zu halten. Dieser widerliche, verlogene Scheißer!

Mimi war danach völlig aufgewühlt, denn sie erzählte dem Richter natürlich eine ganz andere Geschichte. Frau Kido hielt sich bedeckt, sie hätte nichts gesehen, außer, dass ihr Mann Mimi bedroht habe und daraufhin hätte sie gehandelt. Was vorher gesprochen wurde, wüsste sie nicht. Also hat auch sie gelogen. Sie hält nach wie vor zu ihrem Mann.

„Tai?“

Erschrocken blicke ich von meinem Glas mit dem kalten Eistee auf. „Ja?“

Mimi, die mir gegenübersitzt, sieht mich besorgt an. „Könntest du das jetzt bitte lassen?“

„Was denn?“

„Diese Grübelei. Immerhin ist es mein Geburtstag.“

„Ja.“ Ich räuspere mich und rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her. „Tut mir leid. Es ist nur so unfair. Ich schwöre dir, wenn er damit durchkommt, werde ich …“ Ich würde am liebsten auf den Tisch schlagen, doch Mimi legt beruhigend ihre Hand auf meine und sieht mich eindringlich an.

„Ich weiß, was du meinst“, sagt sie ruhig. Wie kann sie nur so gelassen bleiben? „Aber wir wissen noch gar nicht, wie der Prozess ausgeht. Das war erst der erste Tag. Ich denke nicht, dass irgendjemand diese Geschichte von Haruiko geglaubt hat.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Hmm, sie hat gut reden. Ich glaube, sie will mich nur aufmuntern, weil ich, seit wir den Gerichtssaal verlassen haben, an nichts anderes mehr denken kann.

„Also, bitte Tai, es ist mein Geburtstag. Können wir wenigstens versuchen, diesen Abend zu genießen?“

Ich schüttle den Kopf und ringe mich zu einem Lächeln durch. „Du hast absolut recht. Es tut mir leid, dass ich mit den Gedanken die ganze Zeit woanders war. Ab jetzt hast du meine volle Aufmerksamkeit.“

Mimi grinst zufrieden. „Das wollte ich hören.“

Ja, sie hat es definitiv verdient, dass wir ihren Geburtstag gebührend feiern. Und nicht nur das. Vor zwei Tagen wurde ich aus der stationären Reha entlassen und darf von nun an meine Behandlungen ambulant fortsetzen. Was wiederum bedeutet, dass ich seit zwei Tagen mit Mimi zusammen wohne – also so richtig! Wir teilen uns die Wohnung, das Bett, den Einkauf, eben alles, was dazu gehört und es fühlt sich ganz fantastisch an. Noch nie in meinem Leben hat sich etwas so richtig angefühlt. Es ist wundervoll Mimi nun jeden Tag an meiner Seite zu haben, jeden Morgen neben ihr aufzuwachen. Ich habe mich jetzt schon an sie gewöhnt und kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Wir hatten einen schweren Start und haben bereits jetzt mehr durchgemacht als andere Paare in ihrem ganzen Leben. Von daher hat meine Prinzessin diesen Abend heute mehr als verdient. Und außerdem habe ich noch eine Überraschung für sie vorbereitet.

„Ah, da sind sie ja“, meint Mimi plötzlich und erhebt sich leicht von ihrem Stuhl, um jemandem zuzuwinken. Ihr Gesicht erhellt sich augenblicklich, als Kari, Takeru und Yolei das Restaurant betreten und zu uns rüber kommen.

„Mimi, happy Birthday!“ Meine Schwester ist die Erste, die Mimi in eine innige Umarmung schließt, gefolgt von Takeru. Auch Yolei gratuliert ihr und überreicht ihr sogar ein Geschenk. „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich offiziell kennenlernen. Und danke für die Einladung.“

„Stimmt“, kichert Mimi und nimmt das hübsch verpackte Päckchen mit der rosa Schleife dankend an. „Unsere erste Begegnung war ja leider etwas ungewöhnlich.“

„Ja, und super merkwürdig“, fügt Kari noch hinzu, während ihr Takeru einen Stuhl zurückzieht, damit sie Platz nehmen kann.

„Das tut mir leid“, entschuldigt sich Mimi und macht ein zerknittertes Gesicht. „Ich konnte dich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einweihen.“

„Ach, Schwamm drüber“, winkt Kari schnell ab. „Hier, das ist für dich.“ Auch sie überreicht Mimi ein kleines Geschenk, woraufhin Mimi etwas rot um die Nase wird. „Danke, das wäre doch nicht nötig gewesen.“

„Sei nicht so bescheiden“, entgegnet Takeru. „Das ist dein erster Geburtstag in Japan. Das muss gefeiert werden.“

„Du vergisst, dass ihr hier geboren bin. Ich habe bereits ein paar Geburtstage in Japan gefeiert.“

„Ja, aber da kanntest du uns noch nicht. Denk an meine Worte: diese Nacht wirst du nie vergessen“, sagt Takeru verheißungsvoll und wackelt mit den Augenbrauen, woraufhin er sich einen Klaps von Kari einfängt. „Lass den Blödsinn, du verschreckst sie ja. Mimi hat heute sicher noch was anderes vor. Stimmt doch, Mimi?“

„Ähm, ich …“ Mimi schielt zu mir rüber, doch ich grinse nur.

„Ich, äh also, ja“, stammelt sie schließlich, vermeidet es jedoch mich anzusehen. Ihr Gesicht glüht förmlich. Ich finde es süß.

„Aah, verstehe“, meint Takeru und beginnt nun so breit zu grinsen, dass selbst der Kellner, der nun an unseren Tisch tritt, um die Getränke der anderen aufzunehmen, komisch guckt.

„Jetzt benimm dich doch“, flüstert Kari ihm kichernd zu, während ich nur die Augen verdrehe. Die beiden sind so was von kindisch. Als der Kellner die Bestellung aufgenommen hat, schaue ich Yolei fragend an.

„Wo ist Ken? Wollte er nicht auch kommen?“

Yolei nickt. „Ja, er müsste jeden Moment … ah, da ist er ja schon.“

Ich drehe mich um und schaue zum Eingang. Ken kommt wortwörtlich herein gestolpert, unter dem Arm einige Akten geklemmt, als käme er jetzt erst aus dem Büro. Er sucht uns kurz, aber als er uns entdeckt, kommt er geradewegs auf uns zu und knallt uns die Akten auf den Tisch. „Happy Birthday, Mimi“, sagt er schwer atmend und klingt so, als müsste er erst ein Mal verschnaufen.

„Das ist ein komisches Geschenk“, gibt Takeru zu bedenken und auch wir anderen runzeln verwirrt die Stirn, als Ken sich neben Yolei setzt und ihr einen Kuss auf die Wange drückt. „Hallo, Schatz. Ich hab da mal was mitgebracht.“

„Das sehe ich“, entgegnet Yolei und sieht ihren Mann zweifelnd an. „Aber was ist das?“

„Tut mir leid, aber ich konnte einfach nicht fassen, was da heute im Gerichtssaal abging.“ Er beginnt, sich die Akten vorzuknöpfen und ein paar davon aufzuschlagen, als wäre das hier sein Schreibtisch. Ich bekomme mit, wie die anderen Gäste irritiert zu uns rüber schauen und auch Mimi rutscht unruhig auf ihrem Stuhl rum, aber das stört Ken gar nicht. Er macht einfach weiter. „Ich klemme mich seit Tagen schon an Tais Fall und will endlich herausfinden, wer für seinen Unfall verantwortlich ist. Leider sind wir bisher noch nicht sehr weit gekommen. Das sind so ziemlich alle relevanten Unterlagen, die ich aus Haruikos privatem Büro beschlagnahmen konnte. Natürlich nur Kopien. Aber es ist zum verrückt werden. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, etwas zu übersehen, als würde mir ein Detail entgehen. Ich dachte, vielleicht kannst du ja mal einen Blick drauf werfen. Du hast doch ein gutes Auge für so was.“ Er schiebt mir die erste Akte rüber und ich schaue erst ihn und dann Mimi zweifelnd an. „Ich weiß nicht, ob das der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt dafür ist.“

Und so wie Yolei ihren Mann anguckt, sieht sie das ähnlich.

Ken schüttelt bedauernd den Kopf. „Ihr habt wohl noch nicht begriffen, in was für einer Lage ihr steckt. Ich dachte, ihr wollt Haruiko so lang wie möglich hinter Gittern sehen.“

„Ja, wollen wir, aber …“

„Momentan sieht es aber eher danach aus, als würde er viel zu gut aus der Nummer raus kommen.“

Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das?“

„Ich habe nach der Verhandlung mit Kaito Minamoto gesprochen und ja, er hat eindeutig das Zeug dazu, Haruiko zu vernichten. Aber für wie lange? Wird er auch wirklich für alles, was er getan hat, die Höchststrafe erhalten? Er ist trotz der Beweise gut darin, den Unschuldigen zu spielen, wenn es um den Scheintod von Nanami geht. Er hat ja bereits versucht, es Misaki in die Schuhe zu schieben. Ayakas Aussage hilft da, aber trotzdem … Und was Mimis Fall betrifft … da steht es Aussage gegen Aussage. Wir wissen alle, dass er gelogen hat, aber der Richter weiß es nicht. Meine Erfahrung ist, dass eine Gegenaussage die Richter meist verunsichert und sie sich am Ende auf keine der beiden Seiten schlagen und somit auch nicht die Höchststrafe vollhängen.“

Ich zische verächtlich. „Aber das ist lächerlich, Ken. Sieh dir ihre Narben an.“ Ich deute auf Mimis Arme, die sie zwar mit einer langärmeligen Bluse verdeckt hat, aber wir alle wissen nur all zu gut, was sich unter dem Stoff befindet. „Er wollte sie umbringen!“

„Das ändert nichts daran, dass Mimi diejenige war, die in die Villa zurückgekehrt ist“, sagt Ken.

„Um meine Sachen zu holen“, wirft Mimi ein, aber ich schüttle nur den Kopf. Sie muss sich für gar nichts rechtfertigen. Dieses Schwein hat sie angegriffen, nicht umgekehrt. Das wäre ja auch lachhaft. Als ob Mimi jemanden ernsthaft bedrohen könnte, was für eine absurde Geschichte.

„Gab es eigentlich keine Kameraaufzeichnungen?“, fragt Kari. „Ich weiß von Tai, dass das ganze Anwesen überwacht wird.“

„Nein, die Kameras wurden alle abgestellt. Ansgar, der Dienstbote, hat bestätigt, dass Mimi freiwillig und aus eigenen Stücken die Villa betreten habe. Danach habe er nicht mehr mitbekommen, was vorgefallen sei“, sagt Ken und sieht nun Mimi direkt an. „Ich sage auch nicht, dass ich dir nicht glaube, Mimi. Wir wissen, dass du das Opfer in der ganzen Sache bist. Aber, dass du die Villa genau an dem Tag betreten hast, als Haruiko entlassen wurde und dich offensichtlich auch niemand dazu gezwungen hat, in das Anwesen zurückzukehren, könnte man dir negativ auslegen. Als hättest du es darauf angelegt.“ Ich sehe, wie Mimi schwer schluckt, aber Ken winkt ab. „Egal, ich will damit auch nur eins sagen: wir brauchen mehr. Wenn wir herausfinden würden, wen Haruiko beauftragt hat, Tai zu ermorden und es wie einen Unfall aussehen zu lassen, und wir denjenigen auch noch zu einer Aussage kriegen würden … dann wäre das der Nagel zu Haruikos Sarg. Das Problem ist nur, dass übermorgen der nächste Prozesstag ist und wenn bis dahin nicht noch mehr Beweise auftauchen, vermutlich dann schon ein Urteil gefällt wird. Natürlich könntest du Haruiko zu einem späteren Zeitpunkt immer noch anklagen, aber wie effektiv wäre das wohl? Bis dahin hat er genug Zeit, um weiter Beweise fälschen zu lassen oder wer weiß wen zu bestechen. Er verliert seinen Einfluss nicht, nur, weil er im Gefängnis sitzt. Aber im Moment rechnet er nicht mit einem Angriff von deiner Seite aus. Ich denke, er wiegt sich ziemlich in Sicherheit, zumindest, was deinen vermeintlichen Unfall angeht, Tai.“

So langsam kann ich Kens Ausführungen folgen. Es macht Sinn … zwei Tage, dann steht das Urteil vielleicht schon fest. Und es läuft bisher nicht so astrein, wie wir es uns erhofft hatten. Haruiko ist nach wie vor kein einfacher Gegner und seine Anwälte mit allen Wassern gewaschen. Diesmal müssen wir ihm einen Schritt voraus sein!

„Okay“, sage ich und schaue zu Mimi, die mir bestätigend zunickt. „Was hast du?“

Ken atmet erleichtert auf, wahrscheinlich hatte er schon Sorge, dass ich ihn gleich für bescheuert erklären würde. Aber jetzt sieht er zuversichtlich zu mir rüber.

„Wie gesagt, ich bin alles schon hundert mal durchgegangen und vermutlich übersehe ich einfach was. Ich dachte, vier Augen sehen mehr als zwei.“

„Du meinst sechs Augen“, sagt Yolei tonlos und schnappt sich eine Akte. „Oder willst du mich außen vor lassen? Ich will dieses Schwein auch endlich hinter Gittern sehen.“

Ich lächle Yolei dankend an, als auch Kari sich eine Akte schnappt und sie vor sich und Takeru aufschlägt. „Wir wissen zwar nicht, wonach wir genau schauen müssen, aber wir wollen auch helfen.“

Mimi, die einfach völlig still da sitzt, schaut gerührt in die Runde. „Danke“, sagt sie leise und ich kann sehen, wie in ihren Augen Tränen funkeln.

„Tut mir leid, ich wollte deinen Geburtstag echt nicht sprengen“, erwidert Ken mitfühlend, aber Mimi schüttelt nur entschieden den Kopf und greift dann ebenfalls nach einer Akte. „Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen, als Haruiko endlich für Tais Unfall dran zu kriegen.“

Ich lächle zufrieden. Das ist mein Mädchen. „Na dann los. Je eher wir was finden, desto eher können wir essen.“
 

Tatsächlich sitzen wir alle eine halbe Stunde schweigend über den Akten und blättern darin rum, ehe der Kellner sich ein Herz fasst und uns fragt, ob wir nun endlich Essen bestellen wollen. Wir lassen uns ein ganzes Menü bringen, hören aber nicht auf zu lesen, wieder und wieder die Zeilen zu überfliegen und darauf zu hoffen, endlich den entscheidenden Hinweis zu finden.

Als wir gerade fast alle eine Pause einlegen, um vom Hauptgang zu kosten, höre ich plötzlich jemanden nach Luft japsen.

Es ist Yolei, die sich entweder gerade an einer Nudel verschluckt hat oder über etwas gestoßen ist, denn sie hat den Kopf dicht über ein Blatt Papier geneigt und rückt mit dem Finger noch mal ihre Brille zurecht, wie immer, wenn sie gerade was Interessantes entdeckt hat.

„Was ist?“, frage ich sofort.

„Hast du was?“, will Ken wissen und lehnt sich zu ihr rüber.

„Weiß nicht, aber das sieht verdächtig aus. Ich sehe mir gerade die Bankverbindungen der letzten Monate an und einen Tag vor Tais Unfall ging eine größere Summe an einen gewissen Shun Nagano.“

Ich horche auf, denn das klingt geradezu nach der Nadel im Heuhaufen, die wir gesucht haben. Doch da verdreht Ken bereits die Augen.

„Nagano habe ich bereits überprüft und auch die Summe, die überwiesen wurde. Es sticht einem förmlich ins Auge, da gebe ich dir recht. Allerdings ist der Kerl nur ein Versicherungsvertreter. Alter und Aussehen passen auch nicht zu der Beschreibung von Tais Täter.“

Ich runzle die Stirn. Ein Versicherungsvertreter? Ergibt das Sinn? Nein, es könnte auch …

Yolei und ich heben fast gleichzeitig den Kopf, sehen uns an und sagen dann wie aus einem Munde: „Ein Zwischenmann.“

Kurz wird es still am Tisch.

„Ein Zwischenmann?“, fragt Mimi. „Was soll das sein?“

„Jemand, der die Geldsumme zwar bekommt, aber sie weiter überweist, an den eigentlichen Empfänger. Quasi als eine Art Absicherung. Damit keine direkte Verbindung zum Täter besteht“, erklärt Ken ihr. Er hat verstanden, worauf wir hinauswollen. Was, wenn Haruiko seine Männer nie direkt bezahlt? Wenn das jemand anderes für ihn erledigt, damit die Spur nicht zurückzuverfolgen ist?

„Wäre das möglich?“, fragt Kari entgeistert. Ken zuckt mit den Schultern. „Möglich wäre es.“

„Du solltest diesen Kerl noch mal überprüfen. Vor allem seine Geldtransaktionen“, sagt Yolei und ich nicke ebenfalls. „Sie hat recht. Wenn er nur ein Zwischenmann ist, hat er die Summe sicher nicht behalten, sondern weiter überwiesen.“

Ken verschränkt die Arme vor der Brust und denkt angestrengt nach. „Ihr habt recht, das ist unsere einzige Spur. Warum bin ich da nicht schon selbst drauf gekommen?“

„Na, dafür hast du ja mich.“ Yolei klopft ihm fast schon kumpelhaft auf die Schulter und ich muss ein bisschen darüber lachen. Keine Ahnung, ob diese Spur irgendwohin führt, aber ich kann schon jetzt nicht mehr gut machen, was die beiden alles für uns getan haben …
 

Wir schauen noch eine ganze Weile weiter, aber als schließlich der Nachtisch serviert wird, geben wir es auf. Entweder Haruiko hat seine Spuren mehr als gut verwischt oder es gibt tatsächlich nur diesen einen Hinweis. Ich hoffe so sehr, dass es der Volltreffer ist, den wir so dringend brauchen.

Nach dem Essen, was definitiv nicht so gelaufen ist, wie ich es geplant hatte, verabschieden Mimi und ich uns von den anderen. Yolei und Ken müssen ohnehin nach Hause zu ihrem Sohn und Takeru und Kari schlagen zwar vor, noch in eine Karaokebar zu gehen, aber Mimi und ich lehnen dankend ab. Wir haben andere Pläne …
 

Mimi
 

„Erzählst du mir endlich, wo wir noch hingehen?“

Tai hält meine Hand, während wir in einem Taxi sitzen. Ich schaue zu ihm rüber. Ein Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.

„Das wirst du gleich sehen.“

Verwirrt runzle ich die Stirn und schaue noch mal prüfend aus dem Fenster. Wir fahren durch eine schöne Wohnsiedlung, die sich am Rande von Tokyo befindet. Nur hübsche, kleine Häuschen hier. Wirklich eine nette Gegend, aber ich habe keine Ahnung, was Tai hier will. Er meinte, er hätte noch eine Überraschung für mich vorbereitet, aber ich habe ehrlich gesagt keinen Schimmer, was das sein soll. Hier ist weit und breit nichts.

„Besuchen wir noch jemanden?“, frage ich ihn weiter aus. Vielleicht will er mich ja noch einem Freund vorstellen oder so.

Tai dreht den Kopf zu mir und lächelt. „Nein, Prinzessin. Aber wenn du noch zwei Minuten abwarten kannst, erfährst du es.“

Ich bin eigentlich nicht der Typ für Überraschungen und schon gar nicht für solche, die mich verwirren. Denn so geht es mir gerade, als wir endlich anhalten. Wir steigen aus und das Taxi fährt weiter, nachdem Tai den Fahrer bezahlt hat. Zweifelnd sehe ich mich um, während Tai ein zufriedenes Gesicht macht.

„Was wollen wir denn hier?“ Wir stehen vor einem der vielen kleinen Häuser, die sich hier aufreihen. Tai geht geradewegs darauf zu, aber ich habe ihn schnell eingeholt, weil er zwar den Gips nicht mehr trägt, aber immer noch an Krücken geht, um sein Bein nicht zu sehr zu belasten. Vor der Tür des Hauses bleibt er stehen und dreht sich zu mir um. „Bereit?“

Ich zucke mit den Schultern. „Wenn du mir sagst, für was?“

Tai grinst, greift in seine Hosentasche und holt einen Schlüssel hervor. Noch bevor ich nach Luft schnappen kann, hat er die Tür aufgeschlossen und hält sie mir nun auf. „Willkommen in unserem neuen Zuhause.“

Mir fällt beinahe die Kinnlade runter und als ich einfach vor lauter Schock stocksteif dastehe, außer Stande mich zu bewegen, packt Tai mich an der Hand und zieht mich ein Stück näher. „Du kannst ruhig reinkommen.“

Ich trete über die Türschwelle und Tai knipst das Licht an. Der Flur ist klein und ich sehe, wie links von uns eine weitere Tür offen steht, die wohl zu einem Gäste WC führt. Geradeaus steht die Tür zum Wohnzimmer offen und vom Flur aus geht eine Treppe nach oben in die nächste Etage.

„Drei Zimmer, Küche, Bad, Garten, Garage, leider keinen Keller, aber dafür einen kleinen Dachboden. Was sagst du?“

Ungläubig mache ich einige Schritte nach vorne. Ich betrete das Wohnzimmer und schalte auch hier das Licht ein. Es riecht nach Holz und Putzmitteln. Offenbar wurde hier kürzlich sauber gemacht. Der Raum ist komplett leer, keine Möbel, aber links von mir befindet sich eine offene Küche und wenn man geradeaus weitergeht, kommt man durch eine Schiebetür in einen kleinen Garten.

Ich drehe mich zu Tai um. „Tai, hast du etwas …?“

„Das Haus hier gekauft? Nein.“ Er lacht auf. „Aber ich habe es gemietet und meine alte Wohnung gekündigt. Wenn du möchtest, können wir nächste Woche hier einziehen.“

Ich schaue ihn an und bin ein wenig überwältigt. Er hat ein Haus gemietet? Für uns beide? Tai kommt auf mich zu, als er mein sprachloses Gesicht bemerkt, bleibt dicht vor mir stehen und greift nach meinen Händen.

„Ich weiß, es ist nicht ganz das, was du gewohnt bist.“

Schnell schüttle ich den Kopf. So was soll er nicht mal denken. Dass er mir nicht reichen könnte oder so einen Schwachsinn. Den Luxus habe ich längst hinter mir gelassen, der hat mir nichts als Ärger gebracht. Auch in einer großen Villa kann man nicht glücklich werden, wenn man nicht den richtigen Menschen an seiner Seite hat. Mich beschäftigt eine ganz andere Frage.

„Aber …“, stammle ich und mir ist ein wenig unbehaglich. „Können wir uns das leisten? Ich meine, du bist quasi arbeitslos.“

Nun lacht Tai wieder auf, als hätte ich gerade einen Scherz gemacht. Dabei meine ich das ganz ernst.

„Ich war arbeitslos. Das ist die zweite Überraschung. Ich habe mir eine vorübergehende Stelle bei der Zeitung gesucht, sie brauchten jemanden für ihren Social Media Content. Und da ich lange Zeit für die Kidos als Pressesprecher gearbeitet habe, habe ich gute Referenzen. Es ist nur ein kleiner Job und ich kann von Zuhause aus arbeiten, aber für den Anfang reicht es. Bis ich weiß, was ich mit meinem restlichen Leben anfangen will. Außerdem …“ Er sieht sich im Haus um. „Habe ich schon lange für meine Weltreise gespart, das habe ich dir bereits erzählt. Nur deswegen hatte ich zwei Jobs. Dieses Haus ist quasi nur für den Übergang, denn ich hoffe, dass ich bald wieder richtig fit bin und du mit mir zusammen diese Reise antrittst, Mimi. Ich könnte mir jedenfalls nichts Schöneres vorstellen.“

Ich schaue zu Tai auf und seine Augen funkeln. Sie leuchten förmlich bei dem Gedanken daran, was die Zukunft für uns bereit hält.

Tai ist einfach unglaublich. Ich finde es wundervoll, wie er mich jetzt schon in all seine Pläne mit einbezieht. Weil wir zusammen gehören und weil für ihn und für mich feststeht, dass wir uns nicht mehr voneinander trennen werden – nie wieder.

„Aber wenn wir bald auf Reisen gehen, hätte es doch auch genügt, so lange noch in deiner alten Wohnung zu bleiben, oder?“, lächle ich, doch Tai schüttelt den Kopf.

„Nein, ich halte es da nicht mehr aus“, offenbart er mir. „Dort erinnert mich alles daran, was passiert ist. Dort hat alles angefangen. Dort war ich mit Kaori heimlich zusammen. Dort haben wir unser Schicksal besiegelt, in der Nacht, als du zu mir kamst und geblieben bist. Dort habe ich all die Nachforschungen über Haruiko angestellt und zum Schluss wurde dort auch noch eingebrochen. Ich bin heute noch dankbar dafür, dass du zu der Zeit gerade nicht da warst.“

Ich nicke schwach. Zu viele Erinnerungen sind dort zu Hause. Vermutlich erdrücken sie Tai geradezu. Ich wusste nicht, dass er so empfindet, aber ich kann es verstehen.

Seine Hand berührt meine Wange. Er sieht mich liebevoll an. „Ich wollte einfach einen Neuanfang. Gemeinsam mit dir. Ist das für dich in Ordnung?“

Ich lächle ihn an. „Mehr als das.“ Ich gehe auf die Zehenspitzen und lege meine Lippen auf seine. Ich möchte diesen Neuanfang auch. Endlich alles hinter mir lassen und endlich nach vorne blicken – mit Tai an meiner Seite.

„Ich liebe dich, Mimi“, flüstert er atemlos, als wir uns wieder voneinander lösen. Seine Stirn ruht an meiner und seine Hand liegt immer noch in meinem Nacken.

„Du bist wirklich alles für mich. Ich kann mir ein Leben ohne dich einfach nicht mehr vorstellen.“

Ich seufze, wobei es schon fast wie ein Wimmern klingt. Dieser Mann bringt mein Herz zum Flattern und es fällt mir schwer, überhaupt noch klar zu denken, wenn er mir so nah ist.

„Wow, und ich dachte, ich könnte mich nicht noch mehr in dich verlieben.“

Aus Tais Kehle dringt ein leises Lachen. „Dann warte mal ab, bis du die obere Etage gesehen hast.“ Er lässt mich los und geht voran. Ich bin beeindruckt wie gut er mit seinen Krücken Treppen steigen kann. Im Obergeschoss befinden sich zwei Schlafräume und ein Badezimmer. „Ich dachte, wir nutzen ein Zimmer als Büro, ich werde ja erst mal von zu Hause aus arbeiten. Und wer weiß, vielleicht studiere ich später noch mal. Oh, habe ich erwähnt, dass Yolei und Ken hier ganz in der Nähe wohnen? Es sind nur fünf Minuten zu Fuß. Mach mal die Augen zu.“

Ich sehe ihn fragend an. „Wieso das?“

„Mach einfach.“

Ich rolle zwar mit den Augen, kurz bevor ich sie schließe, mache nun aber doch, was Tai sagt. Dann höre ich, wie ein Lichtschalter betätigt wird. Tai nimmt mich an die Hand und führt mich ein Stück weiter. „Nicht schummeln.“

„Mache ich nicht“, lache ich. Es ist wirklich süß, wie er sich aufführt.

„Okay, du kannst“, sagt er schließlich und ich öffne langsam meine Augen.

„Tai …“, hauche ich und muss es kurz auf mich wirken lassen. Wir stehen in einem der Schlafräume. Der Raum ist leer, bis auf ein Bett, dass direkt vor uns steht. Rote Bettwäsche, darauf weiße Rosenblätter verteilt. In der Ecke eine kleine Lampe, die warmes Licht spendet. Neben dem Bett ein kleiner Tisch mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern. Mehr braucht es nicht, um mein Herz vor Aufregung höher schlagen zu lassen. Ich drehe mich zu Tai um.

„Du möchtest das Haus wohl gerne heute schon einweihen“, grinse ich.

„Na ja.“ Tai kratzt sich am Hinterkopf. „Es ist ein besonderer Tag, du hast Geburtstag.“

Ich trete an ihn ran und fummle an seinem Hemdkragen. „Das ist doch mal was anderes zur Abwechslung. Das letzte Mal war in einem Wald. Und das ist schon viel zu lange her.“

Tai lacht, legt eine Hand an meine Taille und zieht mich enger zu sich. „Ich erinnere mich.“

Ich spüre, wie sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen schleicht. „Ich finde es wunderschön, dich das sagen zu hören. Ich bin so froh, dass du dich wieder an alles erinnerst.“

„Ich habe dich nie vergessen, Prinzessin. Nicht wirklich. Du warst die ganze Zeit über hier.“ Tai legt eine Hand auf seine Brust, an die Stelle, wo sein Herz ist. Mein eigenes Herz weitet sich vor lauter Liebe für diesen Mann, der mein Leben so viel schöner, so viel bunter gemacht hat. „Lass uns heute Nacht hierbleiben“, sage ich und Tai grinst. „Ich hatte gehofft, dass du das sagst.“
 

2 Tage später
 

Ken hatte Glück. Tai und Yolei haben mit ihrer Vermutung direkt ins Schwarze getroffen – Shun Nagano, der Versicherungsvertreter (er arbeitet übrigens wirklich für eine Versicherung), hat sich jahrelang um die Belange der Familie gekümmert. Und um Haruikos persönliche Angelegenheiten. Er agiert bereits seit mehreren Jahren als Zwischenmann für Haruikos Geschäfte, so auch in Tais Fall. Kurz vor Tais Unfall überwies er eine größere Summe an Herrn Nagano. Dieser behielt genau 25% davon ein und überwies den Rest an einen gewissen Isao Akira – alias Hayato.

Herr Nagano ist ziemlich schnell eingeknickt, als Ken ihm einen Besuch abgestattet und ihn gebeten hat, mit aufs Revier zu kommen. Schon nach den ersten Fragen hat er alles zugegeben. Ein schwacher Charakter, mit wenig Rückgrat. Es war wohl unvorsichtig, ausgerechnet ihn für solche Transaktionen auszuwählen. Allerdings lassen sich solche Leute auch am besten bestechen.

Aus Angst vor einer Verurteilung hat er jedenfalls alles gestanden und so konnte auch Isao Akira ausfindig gemacht und verhaftet werden. Tai hat ihn schnell identifiziert und sich dann mit Kaito Minamoto in Verbindung gesetzt. Heute, am zweiten Prozesstag, waren beide Männer vorgeladen und mussten eine Aussage machen. Da Shun bereits alles gestanden hat, blieb Isao auch keine andere Möglichkeit mehr und er erzählte vor Gericht allen, dass Haruiko Kido ihn beauftragt hatte, Tai erst zu beschatten und dann den Anschlag am Filmset für ihn auszuführen – quasi ein Auftragsmord. Wäre er erfolgreich gewesen, wäre der alte Kido heute definitiv zum Tode verurteilt worden. Daher kann er sich mehr als glücklich schätzen, dass er nur 20 Jahre, ohne Bewährung, gekriegt hat. In Anbetracht der vielen Gräueltaten und Verbrechen, die er begangen hat, ein gerechtfertigtes Urteil.

Professor Dr. Kido wird ein alter Mann sein, wenn er das Gefängnis wieder verlässt. Ob er dann noch etwas Gutes aus seinem Leben macht, bleibt abzuwarten. Ich gönne ihm jeden einzelnen Tag hinter Gittern.

Frau Kido hat das Ganze sehr mitgenommen. Sie hat beide Male geweint, als ich sie im Gerichtssaal gesehen habe und auch jetzt, als wir alle den Saal verlassen und Haruiko in Handschellen abgeführt wird, kann sie nicht aufhören zu schluchzen. Sie hält sich ein Taschentuch an die Nase, während Joe einen Arm um sie gelegt hat. Haruiko wirft uns allen verächtliche Blicke zu, anstatt noch eine paar nette Worte an seine Frau zu richten, die die ganze Zeit über zu ihm gehalten hat. Ich würde ihr gerne noch mal persönlich danken, dass sie mich gerettet hat, aber sie verabschiedet sich viel zu schnell und ist dann auch schon verschwunden.

Tai, der meine Hand hält, sieht zu Joe rüber, der nun etwas verloren dasteht.

„Ich gehe kurz zu ihm“, sagt er und ich höre, dass er trotz allem mit seinem Freund mitleidet. Ich nicke. „Ist gut.“ Tai lässt meine Hand los, geht zu Joe und kurz danach sehe ich auch schon Misaki aus dem Gerichtssaal kommen, gefolgt von Ayaka und Nanami.

Als Nanami mich sieht, lächelt sie mich an. „Mimi, wie gut, dass du noch da bist.“ Sie fällt mir um den Hals. „Ich wollte dir noch danken. Für alles.“

„Ich, ähm …“ Meine Güte, sie erdrückt mich ja fast. „Ich bin so froh, dass alles gut ausgegangen ist“, sagt Nanami, als sie mich loslässt.

„Wie man’s nimmt“, zucke ich mit den Schultern und sehe dann zu Ayaka. „Tut mir leid, dass Sie nun nicht mehr mit Nanami nach Frankreich fliegen können.“

Ayaka ist mit einem relativ milden Urteil davon gekommen. Sie hat 3 Jahre und 6 Monate auf Bewährung bekommen, weil sie nicht vorbestraft ist, sich reumütig gezeigt und alles sofort gestanden hat und auch, weil Nanami für sie ausgesagt hat. Ihr Haus wird allerdings gepfändet und ihr gesamtes Vermögen, ihr Schweigegeld, dem Staat übergeben.

Ayaka schüttelt trotzdem den Kopf und lächelt mich an. „Das ist nicht weiter schlimm. Ich darf zwar Japan nicht verlassen, aber ich bin trotzdem froh, dass Nanami endlich das Leben führen kann, das sie verdient.“

Ich erwidere ihr Lächeln. Diese Frau hat ein großes Herz und sie liebt Nanami. Auch Misaki scheint keinen Groll gegen sie zu hegen, denn sie legt Ayaka beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Das wird schon. Wir halten ab jetzt alle zusammen und helfen Ihnen, wieder auf die Beine zu kommen.“

„Wo wirst du denn nun wohnen?“, frage ich Nanami. Ayaka und sie haben ihr Haus verloren und auch Misaki steht quasi immer noch vor dem Nichts.

„Mama sucht gerade eine Wohnung für uns zwei und wird bald wieder arbeiten gehen. Dann ziehe ich wieder zu ihr, bis ich mit dem Studium anfange“, sagt Nanami und wirft ihrer Ziehmutter einen Blick zu.

„Richtig, Kaori hat mich als Haushälterin angestellt und später dann auch als Kindermädchen, weil der liebe Joe so von mir geschwärmt hat. Nun komme ich wieder selbst für meinen Lebensunterhalt auf.“ Ayaka wirkt fast schon ein wenig stolz. Ich finde es schön, dass Kaori den beiden hilft.

„Und auch ich werde mir eine Arbeit suchen. Ich kann nicht ewig vor dem Leben davonlaufen. Aber ich möchte dich trotzdem gerne noch näher kennenlernen, Nanami. Wenn du das auch willst“, verkündet Misaki und schenkt ihrer Tochter ein aufrichtiges Lächeln. Nanami sieht ihre leibliche Mutter an und ich muss einfach immer wieder daran denken, wie viel die beiden nachzuholen haben. Haruiko hat ihnen so viele Jahre gestohlen, die beiden haben es mehr als verdient, sich endlich kennenzulernen. Auch wenn Nanami schon fast erwachsen ist.

„Ja, das möchte ich sehr gerne“, sagt sie dann und ich grinse zufrieden. Die drei werden das schon machen, da bin ich mir ganz sicher. „Ich gehe mal wieder zu Tai. Aber du kannst mich jederzeit anrufen, wenn irgendetwas ist, Nanami“, zwinkere ich dem Mädchen, welches ich selbst so ins Herz geschlossen habe, zu.

„Das mache ich. Danke, Mimi.“

Ich verabschiede mich und gehe rüber zu Tai, der immer noch bei Joe steht, der wiederum sehr geknickt aussieht.

„Hey“, sage ich. „Wie geht es dir?“

Er zuckt mit den Schultern. „So wie es einem eben geht, wenn man herausfindet, wer sein Vater wirklich ist und was er alles getan hat. Aber was soll’s. Ich werde früher oder später darüber hinweg kommen. Bei meiner Mutter bin ich mir da nicht so sicher.“ Joe macht einen gequälten Gesichtsausdruck und steckt die Hände in die Hosentaschen. „Die Villa muss sie nun verkaufen und alle Bediensteten entlassen. Ohne das Geld von meinem Vater kann sie sie nicht mehr bezahlen. Sie wird sich überlegen müssen, was sie mit ihrem restlichen Leben anfängt. Aber ich werde ihr, so gut es geht, unter die Arme greifen.“

Natürlich tut er das. Weil Joe eben nun mal so ist – ein guter Mensch, mit einem guten Herzen.

„Sie wird es schon schaffen“, erwidert Tai freundschaftlich. „Und du auch.“

„Ja“, meint Joe und dennoch formen seine Lippen sich zu einem traurigen Lächeln. „Es tut mir leid, was mein Vater dir antun wollte, Tai. Und dir auch, Mimi. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass er so weit gehen würde.“

Schnell schüttle ich den Kopf. Er hat sich oft genug für seinen Vater entschuldigt. „Es ist erledigt, Joe, vergiss es einfach. Außerdem muss dein Vater uns beiden ziemlich viel Schmerzensgeld zahlen und jeder Yen, der an uns geht, wird ihm wehtun“, sage ich.

„Wo Sie gerade von Schmerzensgeld sprechen, Miss Tachikawa“, höre ich eine Stimme hinter mir, die eindeutig Kaito Minamoto gehört. Ich drehe mich um und sehe, wie er und seine Tochter gemeinsam aus dem Gerichtssaal kommen. „Sie sollten die Produktionsfirma verklagen. Das meine ich ernst.“ Er bleibt vor uns stehen und sieht Tai an.

„Ich?“

„Natürlich, wer denn sonst?“ Kaito zieht beide Augenbrauen in die Höhe. Wenn er so guckt, traut man sich gar nicht, ihm zu widersprechen. Ihn im Gerichtssaal als Staatsanwalt zu beobachten, wie er Haruiko fertiggemacht hat, war grandios. Aber auch beängstigend.

„Die Produktionsfirma hat total geschlampt. Sie haben einen Mann eingestellt, der ein Seil manipuliert hat und niemand am Set hat es bemerkt. Und ob Sie die verklagen können.“

Tai macht große Augen und ich sehe ihm an, dass ihm dieser Gedanke bisher noch nicht gekommen ist. „Danke, irgendwie haben Sie recht.“

„Ich habe immer Recht. Und würden Sie noch einen Rat von mir annehmen?“

Tai wäre lebensmüde, jetzt nein zu sagen.

„Selbstverständlich.“

„Denken Sie darüber nach Kriminologie oder Jura zu studieren. Wie Sie auf den Zwischenmann gekommen sind und all die Beweise gegen Haruiko zusammengetragen haben, war sehr professionell. So einen Kollegen könnten wir künftig gut gebrauchen.“ Kaito, der bisher keine Miene verzogen hat, deutet nun tatsächlich ein Lächeln an, während Kaori neben ihm stolz grinst. Ein Kompliment aus dem Munde ihres Vaters ist vermutlich eine Seltenheit und sollte geschätzt werden.

Tai nickt. „Danke, ich lasse es mir durch den Kopf gehen.“

Im selben Moment kommt Jim mit dem Anwalt seines Vaters aus dem Gerichtssaal. Sein Blick geht automatisch zu Kaori und auch sie sieht ihn an.

„Jim?“, sagt sie tonlos. „Können wir kurz reden?“

Jim wechselt noch einige Worte mit dem Anwalt und verabschiedet sich dann, bevor er zu uns rüber kommt. Eiskalt sieht er uns alle an. Ich schiele zu Joe rüber und bemerke, wie er leicht verkrampft. Die letzte Begegnung mit seinem Bruder war ein Desaster. Keine Ahnung, ob die beiden das je wieder hinkriegen. Jim ist einfach so anders als Joe und wird es wahrscheinlich auch immer sein.

„Was gibt’s? Ich habe es eilig“, meint Jim nur und zeigt nicht den Hauch einer Emotion. Typisch. Bloß keine Gefühle zulassen, das könnte ja wehtun.

Kaori setzt an, etwas zu sagen, doch Kaito fällt ihr ins Wort und verdreht nur die Augen. „Mach es kurz, Kaori. Ein Pflaster sollte man immer schnell abziehen.“

Ein triumphierendes Grinsen legt sich auf seine Lippen und er funkelt Jim wissend an. Ich sehe, wie Jim kurz schluckt und sich dann wieder Kaori zuwendet. „Also?“

„Vater, das Schreiben bitte“, sagt Kaori und hält die Hand auf. Kaito holt einen Umschlag aus seiner Aktentasche und überreicht ihn Kaori, die ihn wiederum Jim in die Hand drückt.

„Was soll das sein?“

„Nur eine Klage wegen Nötigung und die Forderung, unseren Ehevertrag mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Eine Kopie davon wurde bereits an deinen Anwalt übermittelt.“

WUMMS! Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich weiß gar nicht, ob ich laut Lachen oder applaudieren soll, am liebsten würde ich Kaori mit Pauken und Trompeten anfeuern.

Jim sieht sie nur komplett verdattert an. Als hätte man ihm gerade einen toten Fisch mitten zwischen die Augen geklatscht. „Ist das ein Scherz?“

„Keineswegs“, entgegnet Kaito, klemmt sich die Aktentasche unter den Arm und sieht so aus, als würde er gleich wieder in den Ring steigen, um die Ehre seiner Tochter zu verteidigen. Gespannt halte ich die Luft an. Kaito wird Jim zerquetschen wie eine Fliege. „Du hast lang genug über den Kopf meiner Tochter hinweg entschieden. Du und dein kranker Vater, ihr seid beide gleich. Versteh mich nicht falsch, auch ich achte gewisse Werte. Aber wenn du denkst, dass du meiner Tochter drohen kannst, ihr ihr Kind wegzunehmen, dann denke gleichzeitig auch daran, wer hinter ihr steht. Und wer hinter dir steht.“ Kaito neigt den Kopf zur Seite und wirft einen Blick hinter Jim. „Oh. Ich sehe da ja gar keinen.“

Jims Blick gleitet von Kaito zu Kaori, dann zu mir, zu Tai, zu seinem Bruder Joe und schließlich wieder zu Kaito. Seine Nasenflügel beben vor Zorn, aber er sagt keinen Ton.

„Du hättest keine Chance. Du bist nur ein kleiner Fisch, der in einem völlig leeren Teich schwimmt“, fügt Kaito noch mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht hinzu. Ich glaube, er genießt das gerade ein wenig zu sehr.

„Unterschreib einfach die Vereinbarung, Jim. Dann müssen wir das nicht vor Gericht regeln“, sagt Kaori und wirkt überaus gefasst. „Danach können wir uns gerne auf Augenhöhe unterhalten, wie es mit unserem Kind weitergeht.“

Innerlich nicke ich anerkennend – ein überaus faires Angebot.

Das sieht Jim offenbar anders, denn er zerdrückt das Schreiben in seiner Hand und funkelt Kaori an. „Wir werden sehen“, ist alles, was er zwischen zusammengepressten Zähnen hervorbringt, bevor er sich umdreht und abhaut. Ich lege Kaori von hinten eine Hand auf die Schulter. „Wow, das war mutig von dir, Kaori.“

Kaori atmet erleichtert aus. Sie wirkte eben sehr stark, aber ich glaube, dass es sie doch einiges an Überwindung gekostet hat. Immerhin ist Jim noch ihr Ehemann.

„Du bist eine Minamoto, Kaori“, sagt ihr Vater hart, was wohl so was wie ein Lob sein soll. „Du bist mehr wert als das.“

Und da hat er vollkommen recht. Kaori nickt. „Manchmal können Menschen ein Geschenk sein und manchmal eine Lektion. Ich glaube, er war genau das, was ich brauchte, um zu begreifen, was ich wirklich verdiene.“

Ich schenke Kaori ein aufmunterndes Lächeln, welches sie erwidert. Bessere Worte hätte sie nicht finden können. Und irgendwie trifft es auf uns alle zu. Auch ich musste erst tief fallen, um zu verstehen, dass mein Leben mehr wert ist als das, was ich damit anfangen wollte. Wir alle verdienen mehr als das, was wir bisher bekommen haben.
 

Kaito verabschiedet sich von uns und nun stehen wir vier da, sehen uns an und sind unschlüssig, was wir noch sagen oder tun sollen. Irgendwie ist nun alles erledigt. Wir sind fertig hier. Unsere Geschichte ist fertig. Aber sind wir auch fertig miteinander?

„Also dann …“, sagt Tai.

„Also dann …“, sagt Joe.

Ich schaue Kaori an. „Rufst du mich an, wenn es etwas Neues gibt?“ Ehrlich gesagt freue ich mich, in Kaori so etwas wie eine Freundin gefunden zu haben und ich denke, ihr geht es ähnlich. Unsere Wege werden sich sicher nicht trennen.

„Klar, wir können uns auch gerne jederzeit wieder auf einen Kaffee treffen.“

„Oder auf einen großen Schokoladeneisbecher, wenn es dich mal wieder überkommt.“ Wir lachen beide herzhaft auf, aber die Jungs stehen immer noch total verkrampft da und tun so, als wäre der Dreck an ihren Schuhsohlen spannender.

Kaori stößt Joe mit dem Ellenbogen in die Seite. Und ich stoße Tai an, wenn auch etwas unsanft.

„Autsch! Was ist?“

Ich rolle mit den Augen in Joes Richtung. Mein Gott, Männer sind so was von schwer von Begriff. Kann er nicht noch irgendetwas Versöhnliches zum Abschied sagen? Irgendwas Nettes?

„Joe, ähm …“, beginnt Tai recht unbeholfen. „Mach’s gut.“

Ich blinzle irritiert. Mach’s gut? Echt jetzt?

„Ja, mach’s gut, Tai.“

Innerlich stöhne ich auf. Ist das alles? Mehr haben sie sich nicht zu sagen?

Tai tritt etwas unbehaglich von einem Bein aufs andere. „Hör zu, wenn du mal …“, stammelt er, doch Joe nickt nur.

„Ja … du auch.“

Tai lächelt. „Alles klar.“

Joe lächelt. „Alles klar.“

Was?

Verwirrt sehe ich Kaori an, die nur die Stirn runzelt und mit den Schultern zuckt.

Als wir das Gebäude verlassen und hinaus ins Freie treten, schaue ich zu Tai auf. „Sollte das eben so was wie eine Unterhaltung gewesen sein?“

„Wir sind Männer“, grinst Tai jedoch nur. „Das war eine äußerst tiefgründige Unterhaltung. Es ist alles gesagt.“

Ich ziehe eine Grimasse. „Na, wenn du das sagst.“ Vielleicht muss man das auch nicht verstehen, Hauptsache, die verstehen sich.

„Mimi, Tai.“ Ich höre Kari rufen und schaue nach vorne zum Parkplatz, wo sie bereits auf uns wartet, um uns abzuholen. Sie winkt uns zu, während T.K. neben ihr steht und lächelnd ihre Hand hält.

„Ich habe es schon gehört“, sagt sie, als wir bei ihnen angekommen sind. „Herzlichen Glückwunsch, dass ihr es endlich überstanden habt. Ich bin so froh.“ Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und sogleich zieht T.K. sie an sich, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken. „Hör auf zu weinen, es ist vorbei. Und alles ist gut.“

„Ja, das ist es“, sage ich und verschränke Tais Finger mit meinen. Wir lächeln uns an, selig, glücklich, erleichtert. Heute ist ein riesen Stein von unseren Herzen gefallen und endlich … endlich haben wir die Freiheit, die wir die ganze Zeit wollten.

„Du hast ja recht, ich höre schon auf. Also dann, seid ihr soweit?“, fragt Kari schließlich und reißt uns aus unseren Gedanken. „Mama wartet nicht gerne mit dem Essen.“
 

Nach dem Prozess sind wir noch alle bei Tais Eltern Zuhause eingeladen, Kari und T.K. und sogar Yolei und Ken sind gekommen, um mit uns zu feiern. Endlich lerne ich Tais Familie richtig kennen und auch, wenn es total unnötig ist, so stellt Tai mich seinen Eltern beim Hereinkommen noch mal offiziell als seine neue Freundin vor. Ich verbeuge mich höflich und bedanke mich für die Einladung. „Ach, lasst doch die Förmlichkeiten, wir sind doch nicht bei den Kidos“, lacht Yuuko und zieht mich in eine Umarmung. Tais Vater ebenso und dabei klopft er mir noch feste auf den Rücken.

„Mama, Papa! Lasst das, ihr erdrückt sie ja“, meint Tai und zieht mich von den beiden weg. Er findet es wohl etwas unangenehm, aber ich finde es herrlich. So liebevoll wurde ich schon lange nicht begrüßt. Wenigstens nörgelt hier keiner an meiner Kleidung.

Wir setzen uns alle zum Essen und als ich so in die Runde schaue, Ken und Yolei sehe, Kari und T.K., Tai und seine Eltern, hab ich das Gefühl, so etwas wie ein Zuhause gefunden zu haben. Ein Ort, an dem ich angekommen bin und wo ich sein kann, wie ich bin. Und das liegt nicht an der Stadt, an dem Land oder an dem Haus, was Tai für uns gemietet hat – nein, es liegt an den Menschen. Dank ihnen fühle ich mich wohl. Ich fühle mich willkommen. Ich fühle mich gewollt. Und vor allem fühle ich mich geliebt.
 

Nach dem Essen zeigt Tais Mutter mir noch alte Fotoalben von früher, was Tai äußerst peinlich ist, aber ich liebe es, in seine Kindheit einzutauchen. Ich könnte das stundenlang tun – mir Geschichten von ihm erzählen lassen und mir dabei alles ganz genau vorstellen. Mit jeder Stunde, die verstreicht, habe ich das Gefühl, Tai ein wenig besser kennenzulernen und einfach mehr über ihn zu erfahren. Ich nehme mir vor, bald wieder meine Familie zu besuchen und Tai mitzunehmen, damit er ebenfalls ein Stück mehr von mir kennenlernt.

Irgendwann gehe ich nach oben ins Badezimmer und als ich wieder rauskomme, fällt mir eine Tür ins Auge, an der in großen Buchstaben Tai steht. Ich zögere kurz, aber überwinde mich dann doch. Ich denke, es wäre okay für Tai, wenn ich einen Blick hineinwerfe. Es überrascht mich, dass ich tatsächlich ein Kinderzimmer vorfinde, als ich die Tür öffne. Tai ist ja schon längst ausgezogen, aber hier oben scheint die Zeit stillzustehen.

„Na, schnüffelst du?“, höre ich seine Stimme von hinten und zucke ertappt zusammen.

„Wollte gerade anfangen.“

Tai tritt lachend neben mich und sieht sich um. „Tu dir keinen Zwang an. Es ist nichts Spannendes hier oben.“

Wenn er wüsste. Für mich ist das wie ein Blick durch ein Fenster in eine andere Welt – in seine Welt.

„Warum haben deine Eltern nie etwas verändert?“

Tai zuckt nur mit den Schultern. „Weiß nicht, vielleicht hatten sie noch keine Zeit dafür oder wollen es so lassen, falls wir mal obdachlos werden und wieder Zuhause einziehen müssen.“

„Hmm, ja, könnte passieren. Du stehst auf Videospiele?“, frage ich interessiert nach und schlendere hinüber zum Schreibtisch, auf dessen Ende keine Bücher, sondern reihenweise Games gestapelt sind.

„Machst du Witze?“, lacht Tai erneut. „Ich habe meine Jugend mit nichts anderem verbracht.“ Nachdenklich legt er den Kopf schief. „Rückblickend betrachtet war das vielleicht auch der Grund, warum ich keine Freundin hatte.“

„Kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Ich kichere, während ich weiter gehe und an einem Regal stehenbleibe. Fußballpokale von früheren Spielen, die längst eingestaubt sind, ein Maskottchen als Plüschtier und alte, gerahmte Fotos stehen darauf.

„Oh, wer ist das?“, frage ich überrascht.

Tai tritt hinter mich und sieht mir über die Schulter. „Das? Das ist Matt. Er ist einer meiner besten Freunde.“

Ja, den Namen habe ich schon mal gehört, aber bisher hatte ich noch kein Gesicht dazu. Das Foto zeigt den jungen Tai, als er ungefähr 15 Jahre alt war, in einer typisch japanischen Schuluniform, neben ihm ein blonder, schlanker Junge, der … „Moment mal. Warum sieht er aus wie …“

„T.K.?“ Tai schmunzelt. „Die beiden sind Brüder. Wenn er wieder in Japan ist, stelle ich euch vor.“

„Wieder?“, frage ich verwundert und drehe mich zu Tai um. „Wo ist er denn?“

„Keine Ahnung“, zuckt Tai mit den Schultern. „Er hält es nie lange irgendwo aus und ist immer unterwegs. Vor zwei Wochen war er noch in London, aber keine Ahnung, ob er immer noch da ist.“

„Ach so“, sage ich nur und schaue mir wieder die Fotos an. Auf einem davon ist Joe zu sehen, wie er gerade an einem Schultisch lernt und Tai, der neben ihm sitzt und eingeschlafen ist. Ich grinse und denke nur: typisch.

„Du hattest eine tolle Kindheit“, sage ich ein wenig gerührt, ein wenig neidisch und gehe zum Bett, was an der gegenüberliegenden Wand steht. Ich lasse mich darauf nieder und fahre mit der Hand über die weiche Decke. Tai kommt zu mir rüber, stellt seine Krücken ab und setzt sich neben mich. Er dreht sich zu mir und greift nach meiner Hand. Ich schaue sie an, unsere Hände, wie sie perfekt zueinander passen und wünsche mir im selben Augenblick, wir könnten für immer einander so festhalten.

„Ich habe ein schlechtes Gewissen“, gestehe ich ihm verlegen und schenke ihm ein kleines Lächeln. „Tut mir leid, dass ich anfangs dachte, du wärst der totale Arsch.“

Tai schüttelt lachend den Kopf.

„Nein, ehrlich, hätte ich gewusst, was für tolle Freunde und was für eine liebe Familie du hast, hätte ich dich von Anfang an mit anderen Augen gesehen. Jemand, der so aufgewachsen ist, kann gar kein schlechter Mensch sein.“

Tai schmunzelt immer noch über meine Worte und ich glaube, ihn das erste mal so richtig in Verlegenheit gebracht zu haben. „Da bin ich aber froh. Und hätte ich gewusst, was für eine starke Frau du bist, hätte ich dich auch nicht so behandelt. Wir sind also quitt.“

„So, findest du?“ Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen und meine Hand landet auf seiner Brust. Ich schubse ihn zurück aufs Bett, noch ehe er reagieren kann. Tai landet mit dem Kopf auf der Matratze und sieht mich überrascht an, als ich mich über ihn beuge.

„Ich finde, du musst da noch ein bisschen was wieder gut machen. Kannst du mir was versprechen?“

Tai hebt die Hand und fährt mir mit den Fingern durchs Haar, bis er an meinem Hinterkopf stoppt. Er lächelt mich an. „Ich verspreche dir alles, was du willst, Prinzessin.“

Meine Augenbrauen heben sich und ich sehe ihn skeptisch an. „Versprich aber nichts, was du nicht halten kannst.“

„Würde ich niemals tun.“

„Kannst du bitte ab jetzt immer bei mir bleiben?“ Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt und so, wie Tai mich betrachtet, mit diesem süßen Grinsen auf den Lippen, werde ich wohl gerade rot.

„Darum musst du mich nicht bitten“, sagt er leise und zieht mich näher zu sich. „Wir haben so viel durchgemacht und gemeinsam überstanden … wir sind endlich zusammen und ich würde dieses Glück für nichts auf der Welt wieder eintauschen. Danke, dass du mir gezeigt hast, dass es sich lohnt für die Liebe zu kämpfen, Mimi.“

Mein Herz macht einen Satz, denn ich könnte mir gerade nichts schöneres vorstellen, als genau diese Worte von ihm zu hören. „Ich liebe dich, Taichi. So, so sehr.“ Ja, das tue ich. Wenn ich ihn ansehe, bin ich genau da, wo ich sein will.

Ich beuge mich zu ihm und wir besiegeln unsere Geschichte mit einem Kuss. Eine Geschichte, die uns gezeigt hat, dass man durch die Hölle gehen kann und am Ende des Tunnels immer noch ein Licht scheint. Dass man einen Menschen finden kann, mit dem man alles teilt – das Gute und auch das Schlechte. Der in deine Seele blicken kann und du in seine. Für den du alles riskieren würdest, immer wieder, weil du weißt, dass es das wert ist.
 

Ja, ich bin endlich angekommen – genau da, wo ich sein will.

Genau hier gehöre ich hin.

Zu ihm.

Epilog

6 Jahre später.

 
 

>Wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind, wird das Schicksal sie zusammenführen, egal, wie lange es dauert, wie weit der Weg ist, wie schwer es scheint. Diese Liebe wird für immer halten.<
 

 

Heute ist ein wundervoller Tag. Ich lache und bewundere die strahlende Braut. Als Trauzeugin habe ich heute besonders viel zu tun und es ist bis jetzt zum Glück alles gut gelaufen. Ich freue mich so für sie. Für Sally. Und für Davis natürlich auch. Noch immer kann ich nicht fassen, dass die beiden jetzt verheiratet sind. Ganz lange war der Ausgang zwischen ihnen ungewiss. Sally und Davis haben all die Jahre immer Kontakt gehalten. Sie haben es sogar geschafft, sich regelmäßig zu besuchen. Die Zeit genossen beide sehr. Sie machten da weiter, wo sie zuvor aufgehört hatten. Dennoch war jeder Abschied wieder mehr als schwer und die Sehnsucht wieder groß. Irgendwann musste dann eine Entscheidung getroffen werden, wie es mit ihnen weitergeht und schließlich ist Davis ausgewandert und zu Sally nach New York gezogen.

“Mimi, komm schnell. Wir müssen noch ein Foto zusammen machen.” Sally winkt mir aufgeregt zu. Ein Foto? Noch eins? Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon auf fünfzig Bildern drauf bin.

“Ja, schneller geht nicht.” Langsam erhebe ich mich von meinem Stuhl. Ich war froh endlich mal zu sitzen, aber als Trauzeugin wohl nichts, was man erwarten darf. Einfach sitzen. In meinem altrosa A-Linien Kleid stelle ich mich neben die Braut. Die Hochzeit findet auf Hawaii statt. Ich muss nicht erwähnen, wie traumhaft es hier ist. Da meine High Heels eine absolut schreckliche Schuhauswahl war, laufe ich seit Stunden nur noch Barfuß herum und ja, Tai hat mir tausend Mal gesagt, dass ich auf meinen Schuhen nicht lange glücklich werden würde, aber wie so oft, musste ich das ja auf Biegen und Brechen durchziehen. Ich lerne immer noch am besten durch eigenes Fehlverhalten. Wir stellen uns unter einen großen Blumenbogen und posieren vor Karies Kamera. Wir lächeln breit, ehe Sally wieder zu mir sieht. “Danke für deine Hilfe und Unterstützung heute.”

“Kein Problem, du weißt doch, ich habe das alles wirklich gerne gemacht.”

“Wer hätte gedacht, dass von uns Beiden ich die Erste bin, die heiratet? Warum, zum Kuckuck, macht Tai dich nicht endlich klar?”

“Sally!” Nach wie vor ist meine beste Freundin nicht auf den Mund gefallen. Es stimmt, von meinem gesamten Freundeskreis sind Tai und ich das einzige Pärchen, das noch nicht verheiratet ist.

“Ich verstehe es auch nicht. Ihr seid seit sechs Jahren keinen einzigen Tag getrennt gewesen und trotzdem seid ihr immer noch nicht verlobt”, stimmt auch Kari Sally zu. “Ich muss ein ernstes Wörtchen mit meinem Bruder reden.”

Tatsächlich war ganz lange ich der Grund, warum wir noch nicht weiter gegangen sind. Die ganze Geschichte mit Joe und den Kidos hat so viele Spuren hinterlassen, dass das Thema Ehe ganz lange ein rotes Tuch für mich war. Ich brauche keinen Trauschein, um mich an jemanden zu binden. Tai ist und bleibt die Liebe meines Lebens. Das wird sich nie ändern. “Dann musst du eher ein ernstes Wörtchen mit mir reden, denn ich bin die, die einfach noch nicht so weit war.” Kari nimmt ihre Kamera herunter und lässt sie einfach baumeln, da sie an einem Sicherheitsband befestigt ist. “Glaubst du denn, dass du meinen Bruder eines Tages heiraten möchtest?”  

“Sag niemals nie.” Ich zwinkere ihr zu. Ich mag jetzt nicht mit den Beiden darüber reden. Die Wahrheit ist, dass ich natürlich eines Tages Tais Ehefrau sein möchte und seinen Namen tragen will. Es würde mich mehr als stolz machen, aber das möchte ich erst, wenn ich meine Narben ansehen kann, ohne Flashbacks zu haben. Wenn ich das Wort Hochzeit oder Ehe höre, ohne das Gefühl zu haben, keine Luft mehr zu bekommen.

Früher hatte ich Angst, dass das vielleicht niemals passiert, aber ich bin schon so weit gekommen und Tai hat mir deswegen nie Druck gemacht.

Er sagt nur, ich soll ihm Bescheid geben, wenn ich soweit bin. Sally wird von ihrem Mann gerufen und verabschiedet sich zunächst von uns. Sie läuft Davis in die Arme, sie küssen sich und kichern wieder. Sie sind echt süß zusammen. Die Zwei machen mit ihrem privaten Fotoshooting weiter und werden hier sicher unglaublich tolle Fotos schießen. “So, ich gehe dann mal mit. Wir haben einen strengen Zeitplan.”

“Ach?” Ich lache, da ich den Zeitplan auswendig kenne. Sie hängen übrigens bereits hinterher. Ich freue mich, dass ich mich jetzt endlich nochmal hinsetzen kann. Es wird langsam anstrengend. Da steht auch schon Tai vor mir und hält mir ein Sektglas mit Orangensaft drin entgegen. “Du solltest mal eine Pause machen.”

“Das versuche ich ja schon die ganze Zeit”, kichere ich. Tai drückt mir einen Kuss auf die Stirn und streichelt sanft, fast unbemerkt meinen Bauch. “Immerhin muss ich ja auf euch beide aufpassen.”

“Uns geht es gut.” Tai und ich erwarten ein Baby. Es war nicht wirklich geplant, aber manchmal passieren Dinge im Leben, die nicht so ganz nach Plan laufen und das ist auch gut so. Tai hat sich den Rat von Kaito Minamoto zu Herzen genommen und Kriminologie studiert. Seit einem Jahr arbeitet er fest in diesem Beruf und ist jetzt schon nicht mehr aus der Branche wegzudenken. Die Weltreise haben wir selbstverständlich auch umgesetzt, als Tai sich endgültig zurück ins Leben gekämpft hatte.

Es hat fast ein ganzes Jahr gedauert, bis Tai wieder körperlich, als auch mental als genesen angesehen wurde. Er hat auch nicht nur ein hohes Schmerzensgeld von Haruiko erhalten, sondern auch von der Profuktionsfirma, unter der er damals noch unter Vertrag stand. Die Summe war so oberirdisch hoch, dass wir beide gar nicht mehr hätten arbeiten müssen, aber das wäre uns dann doch zu langweilig geworden. Jedoch hat es sehr viel Druck rausgenommen und das Haus, welches wir damals zur Miete übernommen haben, haben wir dann schlussendlich gekauft. Noch immer ist Sport sehr wichtig für Tai und genau den Ausgleich, den er in seinem Berufsalltag braucht.

Ich hingegen habe mich dann mit meinem eigenen Store als Stylistin in einem anderen Stadtteil selbstständig gemacht. Es liegt sehr viel näher an unserer Wohngegend und das tägliche Pendeln fiel endlich weg.

“Das ist gut. Ist dir übel?”

“Nein, gar nicht.” Ich habe die ersten Wochen sehr unter Schwangerschaftsübelkeit gelitten und auch erstmal nur abgenommen. Ich habe jetzt die zwölfte Woche erreicht, aber tatsächlich wissen es bisher nur unsere Eltern. Ich wollte Sally vor ihrem großen Tag nicht die Show stehlen und es erst danach sagen. “Ich glaube, ich habe das Schlimmste hinter mir.” Das hoffe ich zumindest.

“Dann setz dich hin und ich schau mal, ob ich noch welche von den leckeren Cupcakes für dich bekomme.” Ich kichere, während ich erneut versuche, mich mal hinzusetzen und Tai auf die Candy-Bar zusteuert.

“Tante Mimi.” Ich drehe mich um und Hina läuft auf mich zu. Ich lache, als ich das kleine Mädchen, welches ihrer Mutter Kaori so unglaublich ähnlich sieht, sehe.

“Hina.” Sie ist schon so groß geworden. Hina ist schon fünf Jahre alt und besucht bereits die Vorschule. Wo ist die Zeit nur geblieben? Ich kann mich noch so genau an den Tag erinnern, als ich Kaoris Hand gehalten hatte und sie vom Geschlecht erfahren hat und jetzt steht dieses großartige Mädchen vor mir und zeigt mir eine Skulptur, die sie gerade aus Knete geformt hat. “Was hast du denn schönes gebaut?”, frage ich sie und gehe in die Hocke, um Hina auf Augenhöhe zu begegnen. “Das ist ein kleines Schweinchen”, kichert Hina und ja, mit genauem Hinsehen und viel Phantasie kann ich es auch erkennen. “Mensch, das hast du aber toll gemacht.” Hina nickt stolz und hält ihre Knetfigur nah an ihrem Gesicht. “Die muss ich Mama zeigen.” Sie läuft bereits wieder los. Ich erhebe mich, folge ihr und gehe zu Kaori. Sie kichert, als sie die Skulptur sieht und streichelt sanft über den Kopf von Hina. “Wahnsinn, das ist mein Mädchen.” Hina setzt sich hin und begutachtet weiter ihre Knetfigur, die teils ein wenig mit Sand begossen wird. Kaori hebt mir ihr Orangensaftglas entgegen und ich stoße mit ihr an. “Es ist bereits dein viertes Glas Orangensaft und vorhin nach der Trauung hast du mit alkoholfreiem Sekt angestoßen, so wie ich … also … gibt es da etwas, was du mir sagen möchtest?”

“Ich ähm … ich will heute einfach nicht so viel trinken und einen klaren Kopf behalten.”

Kaori sieht mich an, als hätte sie mich schon längst durchschaut. Ich rolle mit den Augen und nicke schließlich ergeben.

“Ja okay, ich bin schwanger”, sage ich leise und nah an Kaori gewandt. Sie kreischt jedoch sofort auf, weshalb sich alle Gäste zu uns umdrehen. Ich lächle verlegen. “Auf Sally und Davis”, rufe ich drauf los, obwohl die Beiden gerade mit Kari Fotos schießen. Die umliegenden Gäste erheben mit uns das Glas und suchen mit ihren Augen das Brautpaar. “Ups”, kommt es von Kaori. Ich sehe sie mit einem mahnenden Blick an, denn heute möchte ich wirklich nicht, dass dieses Thema zur Sprache kommt.

“Entschuldige, aber ich freue mich so für euch.”

“Danke.” Ich kann nicht anders, als breit zu grinsen. Ich freue mich ja selber.

“Wie weit bist du denn?”

“Ich bin bereits in der zwölften Schwangerschaftswoche.”

“Schon so weit? Wow. Weißt du schon, was es wird?”

Ich schüttel den Kopf. “Nächste Woche haben Tai und ich das große Screening und vielleicht erfahren wir es dann. Vielleicht aber auch nicht. Irgendwie glaube ich, dass es ein Junge wird. Keine Ahnung, warum.”

“Dann werden unsere Jungs bestimmt beste Freunde”, klatscht Kaori in die Hände, da diese auch wieder schwanger ist. Jedoch ist Kaori schon im letzten Trimester angekommen und alles dreht sich bei ihnen Zuhause um das Thema Baby. Hina erhebt sich in dem Moment und sieht erst ihre Mutter und dann mich an. “Hast du auch ein Baby in deinem Bauch, Tante Mimi?”

“Ähm …”

“Also …”, versucht auch Kaori zu überlegen, wie wir jetzt aus dieser Nummer wieder rauskommen.

“Hina, es ist so, dass das noch niemand weiß und …”

“Papa …“, ruft Hina in dem Moment los und rennt davon. “Oh nein.” Kaori und ich laufen Hina hinterher, doch diese ist so eben bei Onkel, äh Papa Joe angekommen. Ja, das mit Kaori und Joe ist eine Geschichte für sich.

Jim hat zwar noch lange versucht, sich zu wehren, aber gegen Kaito Minamoto hatte er keine Chance. Die Scheidung wurde vollzogen und das Sorgerecht stand zunächst beiden zu. Jedoch hat Jim nie sonderlich viel Interesse an seiner Tochter gezeigt. Am Anfang hat er es ein paar Mal versucht, doch irgendwann hat er eine neue Frau kennengelernt, ist mit ihr nach Kyoto gezogen und hat leider wieder geheiratet. Das Interesse an Hina war verschwunden. Joe hingegen war schon in der Schwangerschaft für Kaori da und dies blieb, als Hina das Licht der Welt erblickt hatte. Joe war sogar bei der Geburt dabei und ich glaube von dem Moment an, hatte er sein Herz an Hina komplett verloren.

Es hat dann trotzdem noch ein ganzes Jahr gedauert, bis aus den beiden ein Paar wurde, aber dann ging alles recht schnell. Zusammenziehen, Heirat. Joe hat Kaoris Namen angenommen und darunter auch seine eigene Hausarztpraxis aufgemacht. Frau Kido arbeitet in seiner Praxis sogar als Arzthelferin und unterstützt ihn bei der Abrechnung. Worüber sie sehr dankbar ist. Kaori hat nach einem Jahr Elternzeit beschlossen wieder als Innenarchitektin zu arbeiten und ist an einer etablierten Firma angestellt. Schließlich wurde Kaori erneut schwanger. Diesmal mit einem Jungen und in sechs Wochen soll der kleine Mann kommen und diese kleine Familie perfekt machen. Nanami hat nach ihrem Schulabschluss ebenfalls Architektur studiert. Ihr liegen besonders Objekte am Herzen, die unter Denkmalschutz stehen. Sie ist die Jahre über richtig aufgeblüht und mittlerweile eine sehr offene und fröhliche junge Frau geworden.

“Was ist los, Hina?” Joe nimmt Hina auf den Arm und auch Joe sieht sich die Knetfigur an. “Ein tolles Schweinchen hast du da gemacht.”

“Du erkennst es, Papa.”

“Na klar.”

“Hey.” Völlig außer Puste kommen Kaori und ich vor Joe zum Stehen.

“Was ist denn mit euch los?”

“Wir äh … wollten herausfinden, wer schneller ist…”

“Na, das war klar, dass Mimi gewinnt. Du bist hochschwanger. So etwas solltest du nicht tun.”

“Ja, entschuldige. Hina war nur plötzlich so schnell weg”, erklärt Kaori schweratmend.

“Ja, weil ich Papa sagen will, dass Tante Mimi …”

“Ahhhhhhhh”, kommt es aus mir lauthals und ich fange an, einen Hampelmann zu machen. Ich muss nicht erwähnen, dass alle Augenpaare auf mich gerichtet sind und mich angucken, als hätte ich sie nicht mehr alle. Oh Gott, wie kann ich dieses Kind nur zum Schweigen bringen? “So und jetzt basteln wir auch alle Knetfiguren und die schönste Figur bekommt einen Preis”, verkünde ich, während die Hochzeitsgäste sich unsicher Richtung Knetstand bewegen. Ich nehme die Skulptur von Hina und zeige auf den Knetstand.

“Oh, ich will auch noch eine Figur machen. Komm Papa, du musst mir helfen. Ich will gewinnen.” Hina strampelt mit ihren Beinen, sodass Joe sie wieder runter lässt, dann greift Hina an Joes Hand und zieht ihn hinter sich her. Erleichtert atme ich aus. Das ist gerade nochmal gut gegangen, aber für wie lange?

“Und was bekommt der Gewinner?”, fragt Kaori.

“Keinen blassen Schimmer.”

“Sorry, Mimi, schon wieder. Nur ist Hina im Moment so aufgeregt wegen ihrem kleinen Bruder, dass sie einfach total viel mitbekommt.” Ich nicke ihr zu. Ich bin nicht böse, nicht wirklich. Ich will nur nicht, dass Hina heute allen die News erzählt. Ich werde Hina wohl heute im Auge behalten müssen. Mal sehen, ob ich sie immer ablenken kann, sodass sie mein Geheimnis nicht verrät. “Ich setze mich nochmal rüber zu Tai. Ich glaube, Hina ist jetzt erstmal abgelenkt.” Hoffe ich.

 

Da mir gerade wirklich etwas schwindelig geworden ist, setze ich mich an den Tisch. Endlich sitzen. Tai wartet bereits grinsend auf mich und hat sich selbst natürlich auch noch Macarones, Cake Pops und Mashmallos mitgebracht. Na ja, man sagt ja nicht umsonst, dass die Männer irgendwie mit schwanger sind. “Ist mein Cupcake noch da?”

“Na klar. Was war das eigentlich gerade mit deiner Sporteinheit?”, fragt Tai grinsend nach.

“Ach, frag nicht. Kaori weiß es und Hina hat es irgendwie aufgeschnappt und jetzt ist sie so etwas wie eine tickende Zeitbombe.” Ich nehme mir meinen Cupcake und beiße herzhaft rein. Himmlisch.

“Okay, dann werden wir wohl untergehen.”

“Sag das nicht.”

Tai steckt sich gerade einen Cake Pop in den Mund und zuckt unbekümmert mit den Achseln. “Es ist doch nicht so schlimm, wenn es jetzt alle erfahren. Die kritische Zeit ist doch eh vorbei.”

“Darum geht es mir doch gar nicht, das weißt du doch.” Es ist mir unendlich schwer gefallen, es bis hierhin geheim zu halten, denn immerhin ist das eine gewaltige Nachricht und sicher würden sich auch alle Freunde für uns mit freuen, aber eben weil es so gewaltig ist und dann sicher alle viele Fragen stellen würden, fände ich heute gänzlich unpassend. Tai nickt und hat sich soeben über die Mashmallos hergemacht. “Also sollten wir jemals heiraten, brauchen wir auch eine Candy-Bar.”

“Ist notiert.” Tai und ich waren jetzt schon auf so vielen Hochzeiten. Es gab immer Dinge, die uns gut und weniger gut gefallen hatten und diese haben wir notiert, was unsere eigene Planung mal deutlich leichter gestalten wird. Takeru setzt sich ebenfalls mit einem Teller voller Macarons neben Tai. Auf seinem anderen Arm hält er seine kleine Tochter Megumi, die gerade auf seinem Arm wegdämmert. Megumi ist achtzehn Monate alt und hatte wohl keine Lust, im Kinderwagen ihren Mittagsschlaf zu halten. “Oh weia, Megumi ist aber ganz schön müde”, stelle ich fest. Megumi gähnt herzhaft und schreckt dann aber wieder hoch. “Ham ham.”

“Echt, du willst schon wieder meine Macarones?”

“Scheinbar nicht das erste Mal?”, fragt Tai nach. “Nein, sie hat eben schon über die Hälfte gegessen. Wenn deine Mutter das erfährt, killt sie mich, also nicht verraten.” Megumi knabbert bereits an einem Macarones, aber die Müdigkeit scheint sie gerade wieder zu überrollen. Sie reibt sich die Augen und wird unruhig. “Komm mal zu Onkel Tai und lass deinen Papa mal in Ruhe essen.” Tai hält seine Hände zu Megumi und Takeru übergibt sie. Er läuft etwas hinter unserem Tisch auf und ab und schaukelt dabei Megumi. Er fängt an, irgendein Kinderlied zu summen und tatsächlich schläft Megumi so ein. Ich kann nicht anders, als Tai die ganze Zeit anzustarren. Man, mit diesem Mann habe ich echt das große Los gezogen. Er sieht eben nicht nur mega gut aus. Er ist fürsorglich, humorvoll, großzügig und liebevoll. Mein Herz weitet sich sowieso jedesmal, wenn ich ihn mit Kindern sehe. Er wird so ein großartiger Vater werden. Als der Schwangerschaftstest positiv ausfiel, war ich ehrlich gesagt total geschockt. Ich hatte Zukunftsängste und wusste nicht, ob ich schon so weit bin, Mutter zu werden und auch wenn ich die Kinder meiner Mama Freundinnen liebe, wie meine eigenen, ist eine eigene Familie gründen doch nochmal was anderes. Tai hingegen hatte nie auch nur eine Sekunde Zweifel, er hat mir sämtliche Wünsche von den Augen abgelesen und als er dann am nächsten Tag mit einem Set New Born Baby Klamotten ankam, war es auch um mich geschehen. Ich werde unsere Zweisamkeit sicher auch mal vermissen, aber weiß nun eben auch, dass dieses Baby das ultimative Zeichen unserer Liebe ist. Oh man, ein Baby von Tai. Ich spüre, wie wieder Hitze in meinem Kopf aufsteigt. Meine Wangen glühen förmlich.

“Alles ok?”, erkundigt sich Takeru, denn ihm entgeht natürlich auch nicht, wie ich Tai anschaue. “Tai macht das mit den Kindern einfach nur toll. Kinder lieben ihn einfach.”

Takeru sieht seine schlafende Tochter und nickt zustimmend. Das kleine Mädchen mit den dunkelblonden Haaren und den braunen Augen, ist jetzt schon eine Erscheinung. “Wenn es eines Tages bei euch soweit ist, wird er dich sicher noch mehr vergöttern, als ohnehin schon.”

Darüber muss ich nachdenken. Tut er das? “Meinst du?”

“Ähm ja, das war schon immer Tais großer Traum, eine eigene Familie zu gründen. Zumindest hat Kari das immer gesagt. Lange sah es ja auch nicht so aus, als würde dieser Traum für ihn je in Erfüllung gehen und dann kamst du in sein Leben, wie ein Hurrican. Hurrican Mimi.”

Ich lache und schüttle meinen Kopf. Oh ja, unser Zusammenkommen war wirklich ein Hurrican. Kari scheint mit dem Paar-Fotoshooting fertig zu sein, denn sie setzt sich gerade neben ihrem Mann und klaut seine letzten Macarones. “Lecker.”

Etwas bedröppelt sieht Takeru auf seinen Teller und sieht zu seiner Frau. “Na ja, immerhin werde ich von den wichtigsten Frauen in meinem Leben bestohlen.”

"Ähm, wie bitte?”

"Ach, vergiss es.” Takeru drückt seiner Frau einen Kuss auf die Lippen und tritt erneut den Gang Richtung Candy Bar an. “Soll ich dir was mitbringen?”

“Nicht nötig, ich bediene mich einfach an deinem Teller”, zwinkert Kari ihm zu. Tai, der gerade Megumi erfolgreich zum Schlaf verholfen hat, legt sie nun behutsam in den Kinderwagen. Er schaukelt ihn noch etwas, damit Megumi nicht direkt wieder wach wird. Mein Herz. “Der beste Onkel der Welt”, sagt auch Kari, die in den Kinderwagen blickt und sieht wie ihre kleine Tochter endlich in den Schlaf gefunden hat. “Tja, ich habe es eben drauf.” Er zwinkert frech und ich kann ihm da nicht mal widersprechen.

Sally und Davis laufen Händchenhaltend zusammen an uns vorbei und können nun auch endlich von der Candy Bar probieren.

Gleich wird es auch schon Zeit für die Hochzeitsrede. Irgendwie bin ich deswegen sogar richtig aufgeregt. Ich habe echt lange an dieser Rede geschrieben. Immerhin geht es hier um meine beste Freundin, die zu jeder schlimmen Stunde meines Lebens an meiner Seite stand, ob es bei meinem ersten Liebeskummer der Fall war oder bei all meinen verrückten Plänen, die ich im Laufe meines Lebens geschmiedet hatte. Wie dankbar ich ihr bin, für alles, was sie zu der Zeit in Tokyo für mich gemacht hat, ist sowieso nicht mit Worten zu beschreiben und selbst als mein Vater nach dem Prozess auf zehn Jahre Haft verurteilt wurde, stand sie meiner Mutter und mir bei. Sie ist einfach ein wundervoller Mensch mit viel Energie. Meiner Mutter geht es soweit gut. Sie hat eine schöne Wohnung in New York gefunden, fährt meinen Vater jedes Wochenende besuchen, arbeitet in einer Drogerie und ist wahnsinnig bescheiden geworden. Auch Tai und ich haben meinen Vater schon ein paar Mal besucht. Ich habe ihm am Telefon gesagt, dass er Opa wird. Es stimmt ihn wahnsinnig traurig, dass er die ersten Jahre seines Enkels oder seiner Enkelin verpassen wird, aber ich bin sicher, dass sie danach auch noch genug Zeit haben, um eine schöne Beziehung aufzubauen.

Er versucht die Zeit so gut es geht abzusitzen und sich weiter nichts zu Schulden kommen zu lassen. Wenn er Glück hat, darf er in zwei Jahren einen vorzeitigen Antrag stellen, um eher aus der Haft entlassen zu werden. Ich wünsche es ihm so.

 

“Die Trauzeugen bitte.” Davis sieht in die Runde und sieht zu mir und zu Ken. Ken und Davis sind schon ewig beste Freunde, daher war es nicht verwunderlich, dass Ken Davis‘ Trauzeuge wurde. Es hat auch wirklich Spaß gemacht, mit Ken so viel zu planen. Ken und Yolei sind mir so sehr ans Herzen gewachsen und dass wir fast Nachbarn sind, ist sowieso das Schönste. Oft sitzen wir abends noch bei ihnen auf der Veranda und lassen die Woche Revue passieren. Yolei und Ken sind bereits zum dritten Mal Eltern geworden. Ryu ist bereits neun Jahre alt, dann kam Yuna, sie ist vier Jahre alt und vor drei Monaten hat Akira das Licht der Welt erblickt. Keine Ahnung, wie sie das alles hinbekommen, aber sie sind der Wahnsinn.

“Darf ich bitten?” Ken hält mir seinen Arm entgegen und ich hake mich bei ihm unter. “Mit dem größten Vergnügen.” Meine Pause scheint wohl wieder vorbei zu sein.

“Eure Reden sind dran.” Davis sieht mit einem strengen Blick zu Ken. “Nur Gutes über mich.”

“Was sollte ich auch sonst über dich sagen?”, lächelt Ken freundlich.

“Na ja, du kennst alle meine Geheimnisse.”

“Und Geheimnisse unter besten Freunden bleiben geheim.” Ich grinse, die beiden sind selbst schon wie ein altes Ehepaar.

“Hab nichts anderes von dir erwartet. Wer fängt an?”, möchte Davis wissen.

“Ken beginnt.” Ich muss gerade echt gegen meine Nervösität ankämpfen. Irgendwie bin ich gerade total verkrampft. Dabei kann ich sowas eigentlich ganz gut, aber irgendwie ist mir dennoch übel. Oh man, ich hätte den Cupcake nicht essen sollen.

Ken lässt ein Champagnerglas mit einem Löffel erklingeln und alle Gäste verstummen und schauen zu uns. Oh Gott, wieso bin ich so nervös? Es ist doch nicht meine Hochzeit. “Liebes Brautpaar, liebe Brauteltern, sehr geehrte Hochzeitsgesellschaft. Ich bin Ken, Davis‘ Trauzeuge. Ich möchte zunächst mit einem Zitat beginnen und ich denke, dies passt sehr zu den Beiden: Die Ehe ist eine Partnerschaft zwischen zweier einzigartiger Menschen, die das Beste aus dem jeweils anderen herausholen und die wissen, dass sie zwar als Einzelne wunderbar sind, aber zusammen noch besser.” Während Ken darüber erzählt, wie er Davis kennen und lieben gelernt hat, wie oft er zwischen den Stühlen stand, weil Davis sich anfänglich mit Yolei nicht so gut verstanden hatte und wie glücklich er über die Jahre der Freundschaft ist, hänge ich noch an seinen Worten. Tai und ich sind genau das füreinander. Wir sind zwei Menschen, die immer versuchen, das Beste aus dem anderen herauszuholen, die zwar wissen, dass wir gut sind, so wie wir sind, aber genauso wissen, dass wir nur gänzlich strahlen können, wenn wir zusammen sind. Wenn das also Ehe ist, warum habe ich dann Angst davor? Denn das sind wir. Tai und ich. Wir beide. Ich lächle, wir beide.

Ken kommt zum Ende und kann es auch zum Schluss nicht sein lassen, ganz philosophisch zu werden. “Glückliche Ehen beginnen, wenn wir die heiraten, die wir lieben und sie blühen auf, wenn wir die lieben, die wir heiraten und ich freue mich, euch heute dabei begleiten zu dürfen. Euch jeden Tag in eurer Liebe wachsen zu sehen, auch wenn es mal nicht so einfach ist, ich weiß, ihr werdet es schaffen.” Alle klatschen, Sally hat Tränen in den Augen und Davis ist berührt. Oh man, das kann ich gar nicht toppen. Das ist unmöglich. Ausgerechnet ich soll über die Ehe reden, die, die es nicht mal hinbekommen hat, den tollsten Mann der Welt zu heiraten, weil ich Angst habe, es würde mich oder uns verändern. Alle blicken zu mir. Kein guter Zeitpunkt, um eine Panikattacke zu bekommen. Nein, wirklich nicht. Also reiß dich zusammen.

“Hi, ich bin Mimi und die Trauzeugin von Sally. Erstmal vielen Dank an Ken für die schöne Rede.” Ich sehe kurz zu Ken, ehe ich wieder zur Braut und den Gästen schaue. “Sally und ich kennen uns bald schon unser ganzes Leben und ich …” Oh man, die Schwangerschaftsübelkeit ist doch eigentlich vorrüber, aber warum ist mir nur so schlecht? Ist doch total bescheuert.

“Als wir in den Hochzeitsvorbereitungen steckten und Sally mir mitteilte, dass ich bei ihrer Hochzeit eine Rede halten sollte, dachte ich ja, warum nicht, was ist schon dabei? Doch dann bekam ich Angst, weil ich dachte, dass ich vielleicht nicht geeignet für diese Position bin, ich dachte nur: no way.” Ich blicke zu Tai, der mich ermutigend anlächelt und mir mit seinem Blick andeutet, dass ich es schon schaffen werde. Oh man, wie sehr ich diesen Mann liebe. “Doch ihr kennt Sally, sie bekommt was sie will. Wahrscheinlich verbindet uns diese Eigenschaft auch so sehr und deswegen stehe ich auch hier. So Sally, das hast du jetzt davon. Ich werde nun ein paar Wahrheiten über dich berichten.

Als ich überlegt habe, welche Erinnerung von Sally ich mit euch teilen möchte, habe ich sofort an unseren gemeinsamen Zeltausflug gedacht. Wir waren damals noch Teenager und hielten das für ein echt spannendes Abenteuer. Nach dem Motto: Wir sind voll die Survivor. Ich sage euch, nach einer gemeinsamen Nacht mit Sally in einem kleinen Zelt mitten im Wald war das Abenteuer auch beendet. Sally hat mich erst total kirre gemacht, was das wieder für ein Geräusch war, ehe sie eingeschlafen ist und den ganzen Wald abgesägt hatte, also im übertragenen Sinne natürlich, denn sie hat so laut geschnarcht. Im Leben hätten sich keine wilden Tiere an die Nähe unseres Zeltes gewagt.” Die Hochzeitsgesellschaft lacht. Sally auch. Es läuft doch ganz gut.

“Lieber Davis, solltest ihr im Spätsommer jemals mit Rucksack und Zelt in der freien Natur übernachten, mach dich auf was gefasst.” Sally schüttelt lachend den Kopf.

“Den Platz im Zelt neben Sally gebe ich gerne auf und an dich weiter - du machst das schon. Den Platz den ich nicht so gerne aufgebe, ist der neben Sally im Autoscooter. Es gibt keine bessere Freundin, die so leidenschaftlich beim Autoscooter verängstigte kleine Jungs anschreit, wenn klein Mimi versucht auch mal die anderen Autos zu rammen. Überhaupt möchte ich die Gelegenheit nutzen, um dir zu sagen, wie viel du mir bedeutest, wie viel ich von dir gelernt habe und wie sehr ich mich darauf freue, deinen Kindern einmal alles über ihre Mutter erzählen zu können. Und ich meine wirklich alles.

Lieber Davis, du wirst mit Sally eine starke und wundervolle Frau an deiner Seite haben und ich kann dir zum Schluss nur den Rat geben, diese drei Worte immer zu Sally zu sagen: Du hast Recht.

Ein Prost auf eure Hochzeit und auf viele glückliche Jahre. Auf euch.”

“Auf euch”, stimmen alle mit zu.

 

Sally weint, es scheint ihr gefallen zu haben und auch ich atme erleichtert auf. Doch dann springt Hina plötzlich vom Schoß ihres Vaters auf und brüllt. “Tante Mimi hat auch ein Baby in ihrem Bauch.” Alle starren mich an. Kaori hält Hina den Mund zu, doch es ist bereits zu spät. Sally sieht zu mir. Okay, jetzt ist mir wieder schlecht. “Stimmt das?”

“Ähm … also.” Tai kommt zu mir, geht auf die Knie und küsst meinen Bauch. Er sieht mich voller Liebe an, erhebt sich, nimmt meine Hand und sieht zum Hochzeitspaar. “Ja, es stimmt. Mimi und ich erwarten unser erstes Kind. Wir wollten es eigentlich erst morgen sagen, aber es zu leugnen kommt nicht in Frage.”

Nein, ich würde es auch niemals leugnen, wenn man mich direkt darauf anspricht. Es ist schließlich unser Baby und wir lieben es jetzt schon. Ich nicke und halte mich an Tai fest. Sally springt von ihrem Stuhl auf, kreischt und läuft auf uns zu. Sie umarmt mich fest, während auch der Rest der Hochzeitsgesellschaft klatscht. Oh man, genau das wollte ich vermeiden. Jetzt stehe ich total im Mittelpunkt und einfach jeder hat es mitbekommen.

Davis sagt dem DJ, dass er wieder Musik spielen soll und die Leute fangen wieder an, sich zu unterhalten. “Wieso sagst du denn nichts?” Will Sally direkt von mir wissen. Auch Kari kommt gleich auf uns zu und drückt ihrem großen Bruder einen Kuss auf die Wange. “Herzlichen Glückwunsch, Bruderherz.”

“Ich wollte es erst nach der Hochzeit sagen, weil na ja, es soll doch heute nur um dich, um euch gehen.”

Sofort winkt Sally ab. “Also wenn meine beste Freundin von ihrem Adonis, so wie du ihn immer nennst, ein Baby erwartet, will ich das sofort wissen!“

“Dein Adonis?”, hakt Tai grinsend nach und ich rolle mit meinen Augen. “Ach halt die Klappe.”

“Was? Du hast vor meinem Mann gesagt, dass ich schnarche.”

“Ich würde jetzt Mal die freche Behauptung aufstellen, dass er das schon weiß.”

“Jap und trotzdem liebe ich dich.” Davis kommt dazu und umarmt Sally von hinten. “So und jetzt erzählt endlich”, sagt Kari aufgeregt. Auch Takeru hat sich zu seiner Frau gestellt und Yolei, mit Baby im Tragetuch, zu Ken. Jetzt sind alle um uns versammelt. “Na ja, wir bekommen eben ein Baby.”

“Wie weit bist du?”

“Ich bin in der zwölften, morgen sogar in der dreizehnten Schwangerschaftswoche.”

“Und ich hatte mich letztens schon gewundert, als du den Sushi Abend abgesagt hast. Du liebst Sushi”, stellt Yolei nüchtern fest.

“Das Verzichten auf bestimmte Lebensmittel ist gerade auch wirklich das Schlimmste.”

“Ja, umso mehr freut man sich dann, wenn man bestimmte Dinge wieder essen darf”, erklärt Yolei. Kari nickt.

“Oh ja und wie erging es dir bisher so?”

Ich sehe zu Tai, der wohl gerne übernehmen möchte. “Mimi litt schon sehr unter Schwangerschaftsübelkeit und sie war extrem müde, aber jetzt geht es langsam wieder.” Tai holt sein Handy hervor und zeigt ganz stolz das letzte Ultraschallbild, welches wir bekommen haben. Man sieht darauf schon einen echten kleinen Mini-Menschen. “Awww”, seufzt Sally. “Ich werde Patentante.”

“Hey, ich bin auch im Rennen", grinst Kari.

“Darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht.”  

“Gut, dann bewerbe ich mich auch”, lacht Yolei. “Du bist doch schon Patin für Megumi”, setzt Kari an.

“Ja und?”

“Vorher komme ich ja wohl in Frage”, kommen nun auch Kaori, Joe und Hina dazu. “Sorry Mimi, dass Hina die Bombe so hat platzen lassen.”

“Ach was, ist schon okay.” Jetzt können wir unsere Freude wenigstens mit unseren Freunden teilen.”

“Vier Kinder, ein Baby, zwei Schwangere und das auf meiner Hochzeit. Gott, wann sind wir eigentlich so erwachsen geworden?”, fragt Sally in die Runde.

“Keine Ahnung.”

“Irgendwann in den letzten sechs Jahren. Es ist doch ziemlich verrückt, wie sich unsere Leben noch so entwickelt haben und das alles wäre wohl nie passiert, wenn Mimi nicht in Tokyo aufgetaucht wäre.” Joe lächelt mich an.

“Ja, Hurrican Mimi eben”, grinst Takeru wieder.

“Hurrican Mimi?”, fragt Tai irritiert nach.

“Ja, so hat Takeru mich neuerdings getauft.”

“Ich würde dich nicht Hurrican nennen, sondern viel mehr die Sonne, die nach einem Hurrican wieder aufgeht”, gesteht Tai. “Du bist keine Verwüstung. Du bist Heilung.” Ich ziehe Tai an seiner Krawatte zu mir runter. Dieser Mann macht mich ganz verrückt. Wie gut er in diesem dunkelblauen Anzug aussieht und wenn er dann noch solche Sachen sagt, ist es komplett um mich geschehen. “Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich sehr für euch”, fährt Joe aufrichtig fort. Tai lächelt. “Danke.”

Uns alle hier so zusammen und glücklich zu sehen, erwärmt mein Herz ins unermessliche. Jeder einzelne hier hat uns und mir so sehr geholfen. Ich liebe sie alle und bin dankbar für diese Freundschaften. Sie verdienen alle nur das Beste, aber niemand mehr wie Tai. Es wird langsam Zeit, seinen größten oder vielleicht zweitgrößten Wunsch zu erfüllen.

 

 

Es ist weit nach Mitternacht, als Tai und ich uns vom Brautpaar verabschiedet haben. Der Tag war lang und ich bin durch. Ich warte bereits im Hotelzimmer auf Tai. Ich habe ihm gesagt, ich hätte plötzlich Heißhunger auf Orangen, also ist er losgegangen, um jetzt um ein Uhr morgens nach Orangen zu suchen. Dieser Mann.

Und was mache ich? Ich bereite alles für einen Heiratsantrag vor. Ich habe das gesamte Schlafzimmer des Hotels mit Rosenblättern geschmückt und vereinzelte Kerzen im Zimmer verteilt. Ich bin schon wieder so nervös. Ich weiß, ich könnte Tai sagen: Du, ich bin soweit. Und er würde es zeitnah in die Tat umsetzen, aber er hat mir schon mal einen Antrag gemacht, den ich zwar nicht abgelehnt hatte, aber auch nicht so reagiert habe, wie er sich gewünscht hatte. Seitdem habe ich so ein schlechtes Gewissen, aber Tai war nie deswegen böse auf mich und hat mir immer wieder zu verstehen gegeben, dass er immer auf mich warten würde. Ich dachte, wir könnten auch ohne Trauschein glücklich sein. Irgendwie verstand ich gar nicht, warum alle unbedingt diesen Schritt gehen wollten, was so besonders daran ist. Aber wenn ich mich an das kleine Mädchen von damals zurück erinnere, war es immer mein Traum meinen Märchenprinzen zu heiraten. So richtig klassisch, mit Kutsche und weißem Kleid und die Erfahrung in der Kido Villa hat diesen Kindheitstraum in einen Alptraum verwandelt.

Tai aber ist mein Ein und Alles und ich möchte seine Ehefrau sein, seinen Namen tragen und dies auch an unser Kind weitergeben. Also selbst ist die Frau, ich kann das, weil ich ihn liebe und weil ich ihn überraschen will.

Ich höre, wie er mit seiner Hotelkarte an der Tür spielt und mein Herz schlägt ganz aufgeregt. Was er wohl sagen wird? Ich bin so aufgeregt. Tai betritt das Schlafzimmer, stellt die Orangen auf einen Tisch und sieht mich verwirrt an.

“Was hast du denn hier gemacht? Hab ich irgendein Jahrestag verpasst. Das kann nicht sein.” Ich schüttel gleich den Kopf.

“Hast du nicht und ich weiß, dass du das nicht würdest.” Tai ist wirklich bekloppt. Er bringt mir immer einen Blumenstrauß mit, wenn der 19. Mai ist und genauso am 08. Oktober. Beide Daten, die viel Bedeutung in unserem Leben haben. “Okay, dass du schwanger bist, weiß ich auch, werden es zwei?”

“Um Gottes Willen, nein. Eines reicht erstmal.” Tai lacht, wird aber schnell wieder ernst und lässt mich reden.

“Es ist einfach Mal an der Zeit, dir danke zu sagen.” Ich nehme seine Hände und führe ihn in die Mitte des Zimmers. “Heute, als ich mit Ken die Hochzeitsrede gehalten habe, ist mir klar geworden, dass wir beide einfach füreinander geschaffen sind. Ich weiß, dass unser Weg sehr unkonventionell war, aber vielleicht musste das so sein, weil ich dich sonst nie kennengelernt hätte und man sagt zwar, man kann nichts vermissen, was man nicht kennt, aber doch, ich hätte dich mein Leben lang vermisst. Auch ohne dich zu kennen, weil dir mein Herz gehört und das war schon immer so. Du bist die Erfüllung all meiner Träume. Du bist wie ein Lied, ein Flüstern und ich weiß nicht, wie ich ohne dich habe leben können, aber ich weiß, dass ich nie wieder ohne dich sein will.” Mir steigen Tränen in die Augen. Tai nimmt seine Hände, legt sie an mein Gesicht und küsst die Tränen weg. “Ach Mimi, ich weiß doch auch so, wie sehr du mich liebst, dazu musst du doch nicht mitten in der Nacht das Zimmer so herrichten.”

“Doch, weil du es verdienst und weil ich noch nicht fertig bin.” Ich blicke wieder in diese warmen Schokoladen-Augen, die mir jeden Tag zeigen, was Liebe ist und wie sie sich anfühlt und jetzt wächst diese Liebe sogar in mir. “Du bist mein Fels in der Brandung und mein Held. Mein wahrgewordener Traum. Du hast mich gerettet und immer an mich geglaubt. Ich bin …” Ich breche ab, weil die Emotionen mich gerade verschlucken. Gott, diese Schwangerschaftshormone tun ihr übriges dazu bei. Ich gehe runter auf die Knie und Tai starrt mich mit großen Augen an. Er scheint jetzt zu verstehen, was genau ich hier tue. “Und deshalb wollte ich dich …” Noch ehe ich weiter sprechen kann, hält Tai mir den Mund zu. “Stopp, nicht weiter sprechen.” Tai dreht sich um und geht zu seinem Koffer. Er holt eine kleine Schmuckschatulle heraus und kniet sich mir gegenüber hin. Hat er ernsthaft immer den Ring dabei, dass wenn ich soweit bin, er ihn mir jederzeit an den Finger stecken kann? “Du kommst mir auf keinen Fall zuvor.” Ich lächle ihn an.

“Du hast mich doch schon mal gefragt, also komme ich dir nicht zuvor.”

“Und du hast gesagt, dass du mich heiraten wirst, dass du nichts lieber willst, als das, aber dass du es jetzt noch nicht kannst.” Ja, so ziemlich genau trifft es das.

“Und ich habe gesagt, gib mir ein Zeichen, wenn du soweit bist und ich frage dich erneut.”

“Ja, aber ich finde, eine Frau darf ihrem Mann genauso einen Antrag machen. Besonders, wenn sie viel zu lange gebraucht hat, um zu verstehen, dass wir beide, wir beide sind und unsere Ehe unser Band nur festigen wird, dass es kein Zwang ist, dass ich nicht dafür meinen freien Willen verliere, dass ich dadurch nicht zu einer anderen Person werde und meine Identität verliere. Ich weiß jetzt, dass unsere Ehe mich jeden Tag noch stärker machen wird, weil unsere Liebe, das Wichtigste für mich ist und weil ich jetzt verstanden habe, dass ich meine Identität durch eine Ehe nicht verliere, sondern mein Herz endlich geheilt ist. Denn erst, wenn ich ganz dein bin, bin ich auch ganz mein, weil du und ich füreinander geschaffen sind und ich jetzt endlich genau weiß, wer ich bin und wer ich sein möchte. Ich bin Mimi noch Tachikawa, bald hoffentlich Yagami und Mutter von jetzt schon dem tollsten Geschöpf auf Erden. Ich bin eine verdammt gute Stylisten und habe den Mut gehabt mein Herz an jemanden zu verlieren, der so sicher darauf aufpasst, als hinge sein Leben davon ab. Der mir nicht nur ein Zuhause, eine Familie und Freunde geschenkt hat, sondern vor allem Zuversicht und Hoffnung. Ich liebe dich und wünsche mir, deine Frau zu werden.” Tai küsst mich mit so viel Hingabe, dass ich darunter fast zerbreche. “Ich habe eine Latte, seitdem du Mimi Yagami gesagt hast.” Und dann sagt er sowas und ich lache mich an seinen Lippen kaputt. “Ach Prinzessin, ich weiß doch, warum du vorher nicht so weit warst, aber wusste auch immer, dass du deine Meinung ändern wirst und selbst wenn nicht, solange du an meiner Seite bist, bin ich der glücklichste Mann der Welt.” Er hält mir die Schmuckschatulle entgegen, öffnet sie und holt den schönsten Ring heraus, den ich jemals gesehen habe. Weißgold mit einem Diamanten besetzt. “Himmel, ein Diamant.”

Der Ring, den Joe mir damals geschenkt hatte, war schon schön, aber dieser ist traumhaft. Es fühlt sich so anders an, so richtig. “Du bist mein größter Traum, Prinzessin. Ja, ich habe mir immer eine eigene Familie gewünscht, eigene Kinder, aber nichts habe ich je mehr gewollt als dich. Ich könnte mir sogar ein Leben ohne Kinder vorstellen, aber ein Leben ohne dich, das würde nicht gehen. Du vervollständigst mich.”

“Willst du mich heiraten?”, schießt es aus mir heraus und ich bin so aufgeregt, weil ich es endlich besiegeln will. Tai grinst breit, während er mir den Ring auf meinen Finger schiebt.

“Werde endlich meine Frau, Prinzessin.” Ich nicke. Ich weine. Ich lache. Ich liebe.

Für diesen Moment, für diesen Mann und für dieses Leben. Wir besiegeln unsere Verlobung mit einem Kuss und wenn ich je den perfekten Moment beschreiben muss, wäre es wohl dieser.

So oft steht man im Leben an Kreuzungen, weiß gar nicht genau, wohin man gehen soll, welcher Weg der Richtige für einen ist, doch dann erreicht dich ein Zeichen, eine Geste und du weißt endlich, dass alles genau richtig war, auch wenn es erst nicht den Anschein gemacht hat. Denn es ist nicht wichtig, welchen Weg du gehst, sondern mit wem du ihn gehst.

 

 

Home is not where your are from. It is where you belong. Some of us travel the whole World to find it, other find it in a Person. I find both in you.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir hoffen euch hat das Prolog gefallen. Das erste richtige Kapitel dürft ihr auch heute schon lesen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir hoffen, euch hat die Geschichte bis hier hin gefallen :-) Wir werden wöchentlich ein Kapitel hochladen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ab nächste Woche dürft ihr dann 2 Kapitel lesen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Im nächsten Kapitel dürft ihr euch auf den ersten Showdown freuen ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, bald reisen alle nach New York und dort wird es sehr spannend werden, aber ein zwei Kapitel müsst ihr euch noch gedulden.

Und dort wird wirklich viel passieren.

Wir wünschen euch schon mal einen schönen ersten Advent :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, der erste Kuss von Mimi und Tai und Mimi hat sich endlich entschieden. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ende.

Oder doch nicht? :D wie fies wären wir denn? Natürlich geht es noch weiter - Überraschung! Und sorry, not sorry, für den Plottwist :P Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch als kleine Anmerkung: In Japan jemanden den Mond zu zeigen, heißt soviel wie: ich liebe dich ;)

Checkt Mimi natürlich nicht :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, heute gab es eine kleine aber wichtige Nebenrolle. Auch ein anderer Charakter aus 02 wird hier bald häufig zu lesen sein :)

Bleibt gespannt :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es wird immer spannender. Ob jemand schon erraten kann, auf was Yolei da noch gestoßen ist?! ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ok… wir hoffen, ihr seid nicht zu geschockt :<
Da war Tai wohl etwas leichtsinnig. Ob er es überlebt? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Beim nächsten Kapitel gibt es eine Premiere. Die Geschichte wird das erste Mal von dem dritten Hauptcharakter erzählt.

Ihr dürft also gespannt bleiben... :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ob das die richtige Entscheidung war, zu Kaori zu gehen? :/ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, hier ist ne Menge passiert. Und zum Schluss ist sogar Tai endlich wieder erwacht 🙏 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, es hätte alles so schön werden können, aber wie ihr seht, hat der Unfall doch etwas mehr Schaden hinterlassen und Tai wird sehr kämpfen müssen... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ob Mimi da recht behält? ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Awww... Tai erinnert sich wieder *-* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Würdet ihr euch auch wünschen, dass Joe & Tai sich wieder versöhnen? Oder haltet ihr das für ausgeschlossen? :< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wow. Es folgen nur noch 4 Kapitel 🥺 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch zwei Kapitel :( Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Klingt alles nach einem Vorgeschmack auf ein Happy End oder? :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir hoffen, ihr liebt das Ende.

Es wird natürlich noch ein Epilog geben.

Wir freuen uns auf eure Meinungen und Anregungen.

Was meint ihr, sollen wir mal wieder zusammen schreiben? ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war‘s. Hier ist unsere Geschichte zu Ende und wir hoffen sehr, dass es euch genauso mitgerissen und gefallen hat wie uns :)
Wir müssen gestehen, dass sich vieles einfach so entwickelt hat und wir gar nicht alles geplant haben. Die Figuren haben oft selbst die Handlung übernommen und eins kam zum anderen :) wir haben alles geliebt, die Charaktere, die Handlung, das Setting… wir werden definitiv wieder was zusammen schreiben, aber diese Geschichte wird für immer was ganz Besonderes für uns bleiben. <3
Alles Liebe für euch und danke an die, die mitgelesen und kommentiert haben :* Komplett anzeigen

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Von:  xGemini
2024-04-30T19:00:18+00:00 30.04.2024 21:00
Vielen Dank für diese tolle Geschichte!

schreibt bitte irgendwann wieder was zusammen!!☺️💕
Antwort von:  Ukiyo1
02.05.2024 22:34
Sehr, sehr gerne :)

Und vielen Dank für's lesen und mitfiebern :)

Es wird wieder was geben, aber ein wenig Zeit brauchen wir noch. Den es soll ja auch wieder was tollen werden ;)
Von:  Tasha88
2024-04-28T20:03:58+00:00 28.04.2024 22:03
Okay, der Epilog wäre bei mir fast untergegangen, entschuldigt.

Ich liebe die Geschichte. Aber dieser epilog toppt alles. Er ist so wunderschön.

Danke für alles, ihr beide dürft gern noch mal zusammen schreiben. Mich habt ihr als. Leserin an der Backe 🤗
Antwort von:  Ukiyo1
02.05.2024 22:33
Danke *-*

Die Geschichte, der Epilog. Es war unser jetzt dürft ihr echt Mal glücklich werden und hey, es hätte auch anders ausgehen können :D aber nein, das hätten wir dann doch nicht übers Herz gebracht :)

Ja, das wollten wir doch auch hoffen :) aber das ist gerade unsere erste Liebe, die müssen wir noch ein wenig nachtrauern und dann darf es wieder losgehen :)
Von:  kitty007
2024-04-22T20:22:45+00:00 22.04.2024 22:22
Tolle Story! Konnte gar nicht aufhören mit lesen :) super geschrieben und total spannend. Lg
Antwort von:  Ukiyo1
02.05.2024 22:31
Danke, Danke, Danke.

Es ist schön zu hôren, dass sie spannend war :) das wollten wir erreichen.

Es fällt uns schwer hier Abschied zu nehmen, aber freuen uns euch diese Geschichte präsentiert zu haben :)

Es wird wieder eine Geschichte geben :) und würden uns freuen euch auch dort wieder zu lesen ;)
Von:  Tasha88
2024-04-21T13:22:07+00:00 21.04.2024 15:22
Wie, das war es`????
Mädels, es war sooo toll. ich habs euch beiden schon gesagt - ich finde die geschichte toll - und dass es ein thriller wurde, das habe ich sehr gefeiert :D
danke für das tolle ende auch noch :D
kurz dachte ich, oha, das wird nichts, ihr lasst haruiko noch gewinnen (dann hätten wir uns noch mal genauer unterhalten) - aber es wurde *-*

habt ihr richtig gut gemacht ^^
und joa, meinetwegen, schreibt halt mal wieder was zusammen XD
ich meine, wenn dabei so etwas rauskommt?=
ich bin dafür :D

und für euch: dann kommt mal nach hier XD
Antwort von:  Ukiyo1
02.05.2024 22:29
:***

Die letzten Kapitel zu schreiben war auch wirklich ganz besonders. Irgendwie wollten wir es nicht enden lassen, aber es war auch an der Zeit und auch wir müssen loslassen :)

Schön, dass du soviel Freude an unserer Geschichte hattest :) und danke fürs fleißige kommentieren :*
Von:  Hallostern2014
2024-04-20T22:21:32+00:00 21.04.2024 00:21
😭😭😭😭😭😭 Ich bin auch so traurig das es schon das Letzte Kapitel ist, ihr habt das so was mega tolles gezaubert mit so viel Emotionen, danke für die wunderschöne Geschichte 💕

O Gott, ich Kann Tais Wut verstehen. Der Teufel lässt MImi da als Lügnerin vor dem Richter stehen, ich hoffe diese Lüge fliegt auch noch auf, der darf damit nicht durch kommen. Das Mimi darüber aufgelöst war kann ich verstehen, schade das da Frau Kido wieder zu ihrem Mann gehalten hat. Sie kennt die Wahrheit und hätte Mimi bei stehen können. Aber jeder wird die Strafe für seine Taten bekommen da bin ich mir sicher. Und das alles passiert an ihrem geburtstag na super, aber MImi hat recht es ist noch nicht zu Ende, ich hoffe auch das es keiner den Teufel geglaubt hat. Und jetzt sollten beide wirklich abschalten und den Geburtstag von seiner Prinzessin feiern. Mich freut es auch das Tai endlich wieder nach Hause durfte und beide die Zweisamkeit endlich genießen können. Auch so schön das Mimi von allen so gut aufgenommen wurde. Hehe aber wie T.K mimi etwas aufzieht, ich fand es auch lustig. Ken ist auch einfach genial und lässt sich auch nicht so schnell von etwas abbringen. Und vielleicht finden sie ja auch was, auch wenn es nicht unbedingt auf MImis Geburtstag sein hätte müssen. Aber so wie Ken gerade isr, wäre es wohl Ratsam doch zu suchen um etwas zu finden damit der Teufel für alles bestraft werden kann. Es ist so schrecklich das keiner außer Frau Kido noch für MImi aussagen kann. Also, nur 2 Tage haben die Zeit, deswegen ist er so in Eile. Schön das auch alle anderen mit helfen. Ich hoffe die finden was. Wow wenn das stimmt was sie heraus gefunden, dann wäre der Teufel entgültig dran. Ich hoffe es zumindest zu sehr für MImi und für Tai.

Hehe, Mimi ist auch echt ungeduldig, aber ich kann sie verstehen der Tag war auch recht hart und lang dann ist da ein tai der so Geheimnisvoll ist. 🤣 Wow, da hat Tai Mimi echt überrascht er hat für sie beide ein Haus gemietet. Und noch eine Überraschung er hat erstmal wieder einen Job aber ich glaube er wird da nicht so lange bleiben, er findet bestimmt irgendwann was besseres aber zum überleben reicht es. Mimi und Tai auf Weltreise, ach ich wäre sehr gerne dabei. Ich kann Tai verstehen das er nicht mehr in seiner alten Wohnung leben kann. Und wenn schon mit Mimi einen Neuanfang dann auch gleich alles neu. Na, wenn nicht später das Büro noch zum Kinderzimmer wird. Ich glaube das beide nach ihrer Weltreise zurück zum Haus gehen werden. Und wer weiß vielleicht kaufen sie es ja auch. Das Tai evtl wieder Studieren möchte finde ich klasse ich bin gespannt ihn welche Richtung es gehen wird. Und das Yolei und Ken so dicht dran wohnen ist auch gut so haben sie jemand in der nähe die sie Besuchen können. Tai Beweis mal wieder was für ein Romantiker er doch ist. Beide haben auch vieles Nachzuholen. Toll das Tai MImi nochmal sagt das sein Herz sie nie vergessen hat.

wie toll sie haben den Typen, der einzige Hinweis war der richtige. Und der Zwischenmann hat schwache nerven das ist sehr gut. der Auftragsmörder wurde fest genommen und beide sagen gegen den Teufel aus, besser hätte alles nicht werden können. 20 Jahre sind zwar viel aber für mich hätte er für immer weg bleiben können. Ich weiß nicht ob ich Mitleid mit Joes Mutter haben sollte, sie sollte froh sein das ihr Mann weg ist. Vielleicht merkt sie dann was sie im ihrem Leben alles verpasst hat. aber ich finde es toll das Tai auf Joe zu geht. Denn er konnte am weningsten für alles.

ich bin froh das Ayaka bei Nanami bleiben kann. Und mit Kaoris und Misakis Hilfe werden die 4 alles schaffen, alle 4 sind jetzt eine Familie. Das Kaori Ayaka als Kindermädchen angestellt hat zeigt doch auch schon alles.

Joe tut mir so leid, er musste so viel über sein Vater erfahren. Er ist auch ein Opfer von seinem Vater deswegen sollte er sich nicht immer für die Taten seines Vaters entschuldigen. Er soll auch endlich nach vorne Gucken und das sein Vater an Tai und Mimi Schmerzensgeld zahlen muss ist wirklich auch die zusätzliche gerechte Strafe. Kaoris Vater hat recht Tai sollte zusätzlich noch seinen alten Arbeitsgeber anzeigen und verklagen. Na, ob das ein Jobangebot von Kaoris Vater sit wenn Tai wirklich in der Richtung Studieren tut. Aber ich kann mir Tai da gut vorstellen. Er wollte doch eh Polizist werden also warum nicht gleich Kriminologe.

Was Jim angeht, er wird sie nie ändern dafür hatte ihn sein Vater zu sehr im Griff. Um so mehr freue ich mich das Kaori nun zurück schlägt und ich musste mir das Lachen verkeifen, Kaori ist so stark geworden. Tja und mit dem Ex schwiegervater sollte er sich auch nicht besser anlegen er hat gezeigt das sein Vater auch gegen ihn verloren hat. Kaoris Vater hat auch mir gezeigt wie wichtig in seine Tochter und sein Enkelin für ihn ist. Er wird immer zu den beiden stehen egal was passiert.

🤣🤣 Naja Männer halt, beide sind lange Befreundet und wissen daher was der andere meint.

So und nun lernt Mimi endlich Tai Eltern richtig kennen. Ich bin gespannt was Mimi so alles erfahren wird. Ich liebe Tais Eltern die sind so herzlich und haben überhaupt kein Problem jemanden zu Umarmen. So sollte es auch sein man sollte sich gleich willkommen fühlen. Und bei MImi wird es für Tai auch so sein. Er wird da auch von ihnen Herzlich in der Familie aufgenommen. ich an Mimis stelle hätte auch geschnüffelt. Sowas zieht halt jemand magisch an vor allem wenn man wissen möchte wie die Person die man liebt früher gelebt hat. Ich glaube auch nicht das Tai keine Zeit für eine Freundin hatte, wer könnte Tai den wiederstehen den möchte ich sehen 🤣.Und jetzt erfährt sie wer Matt ist, na was für eine Überraschung für ihr. Hehe wenn beide vorher von einander gewusst hätten wie toll beide wären, dann hätten beide sie nie so schön gestritten.

was für ein schönes Versprechen und auch ein schönes Geständnis von Tai. mir kamen zum Schluss hin echt weinen weil es so schön war. Und ja ich liebe Das Ende und die ganze Geschichte von euch. Und ja bitte schreibt wieder was zusammen 😍

Ich bin gespannt was im Epilog kommt. auch wenn es dann das Entgültige Ende für diese Geschichte bedeutet, freue ich mich sehr darauf

💕


Antwort von:  Ukiyo1
21.04.2024 14:41
Gerne!!! 🥹😍 es war uns eine Freude! Wir sind selbst ganz überwältigt, wie schön diese Geschichte geworden ist. Sie ging uns auch wirklich leicht von der Hand und hat uns so viel Spaß gemacht.

Frau Kido kann nicht aus ihrer Haut. Sie hat zwar Mimi gerettet, aber ihr Mann ist ihr Mann. Sie hält weiterhin zu ihm. Sie kennt es nicht anders. Und natürlich versucht der Arsch alles, um sich irgendwie rauszureden. Er würde ja niemals einen Fehler zugeben. Schrecklicher Typ! Aber Ken ist an ihm dran und alle helfen ihm, das ist so schön :) dieser Zusammenhalt von allen.

Jaaaa, toll von Tai oder :) das hat er tatsächlich ganz allein gemacht xD ich hab nur geschrieben, was er wollte :D manchmal machen die Figuren eben, was sie wollen und Tai wollte ein Haus für Mimi haben. Und ich so: ok, du kriegst dein Haus xD
Sehr romantisch auf jeden Fall ^^ jetzt haben sie ihren Neuanfang und wer weiß, vllt kaufen sie dieses Haus später ja auch wirklich.

Endlich haben sie ihn gefunden. Und das brachte Haruiko 20 Jahre ein. Mehr ging irgendwie nicht, obwohl es in Japan noch die Todesstrafe gibt, aber nur, wenn man selbst jemanden umgebracht hat. Egal, die 20 Jahre werden ihn zerstören, danach hat er eh kein Leben mehr.

Stimmt. Die Frauen halten zusammen und unterstützen sich alle gegenseitig :) das ist doch toll!

Richtig, das wäre ein guter Job für Tai :D er lässt es sich sicher durch den Kopf gehen. Es würde zu ihm passen. Und Joe kann einem wirklich leid tun, das stimmt, aber auch er wird es irgendwann verarbeiten. Er kann jetzt einen Schlussstrich ziehen. Und das Schmerzensgeld macht gar nichts wieder gut, aber ist das Mindeste.

Stimmt, Kaori ist sehr stark geworden und mit Kaito an ihrer Seite kann Jim ihr gar nichts. Er wäre ja verrückt sich mit ihm anzulegen.

Richtig xD mehr Worte sind nicht nötig :D

Mimi fühlt sich super wohl in Tais Familie, aber wer würde das nicht :) es ist eben etwas ganz anderes als bei den Kidos.

Und jeder würde wohl gerne mal in der Kindheit des anderen schnüffeln xD Tai ist wirklich toll aufgewachsen und ich finde auch, Mimi muss sich für nichts entschuldigen und Tai auch nicht. Es sollte alles so sein und nun haben sich beide ja doch bekommen :)

Aww, danke! Wenn es euch berührt, ist das für uns das größte Kompliment <3
Wir haben jedes Kapitel geliebt, aber das Ende lieben wir am meisten. Es ist uns auch sehr nahe gegangen, dass es einfach schon vorbei ist. 60 Kapitel und doch ging es so schnell :>

Der Epilog ist das endgültige Ende :) aber es wird ein schönes Ende. Wir hoffen, es gefällt dir, aber da bin ich mir fast sicher.

❤️
Von:  Hallostern2014
2024-04-20T20:25:46+00:00 20.04.2024 22:25
😍 ich kann Mimi verstehen das si es kaum erwarten kann endlich mit Tai zusammen zu leben, beide haben jetzt auch dafür lange genug gewartet. Natürlich wird es auch mal bei den beiden irgendwann zu Streit kommen, aber dafür Vertragen die beide sich auch schnell wieder. Ich kann Mimis Eltern verstehen das sie Mimi am liebsten wieder zurück haben wollten, aber Mimi ist alt genug und weiß wo ihr zu Haue ist. Ich hoffe echt das MImis vater im gegensatz zum Teufel aus seiner Sache gut raus kommt. Evtl wäre es auch für MImis Eltern besser wieder nach Japan zu ziehen. Die Sorge von Mimis Mutter ist verständlich, jede Mutter die ihr Kind liebt würde sich nach all dem Sorgen machen. Und die Narbe wird Mimi immer zeigen was beide erlebt haben, denn ich glaube auch bei Tai werden welche zurück bleiben, aber das macht nichts es zeigt nur für was beide gekämpft haben.
Zum glück hat Ken Mimi ihre Sachen gebracht, ich hätte an ihrer Stelle auch nie wieder einen Schritt in die Hölle Villa gemacht. Das MImi die Oma-Sachen spenden möchte kann ich verstehen, sie passen auch nicht zu ihr also lieber dahin wo sie braucht werden. Das MImi auch die Kimonos behalten darf finde ich toll, ich glaube Frau Kido wollte die sachen auch wirklich einfach nur los werden und auch weil sie MImi gut standen. Ich hoffe das MImi nochmal die Chance bekommt mit Frau Kido zu reden.

Mimis Mutter hat aber auch recht beide sollten sich noch etwas im acht nehmen, denn ganz vorbei ist es ja leider noch nicht. Ich finde es toll von MImis Dad das er zu seine taten stehen wird, das habe ich ja schon gesagt. Auch das er nun ganz anders zu seine Frau ist zeigt das irgendwie ene Last von seiner Schulter gefallen ist. Aber ich bin auf Mimis Seite man will nicht wissen was die Eltern so machen wenn sie unbeobachtet sind.

Unbekannte Nummer ? Hätte wirklich jemand von der Presse sein können, aber zum Glück nicht. Endlich wurde MImi zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen und sie hat die perfekte Vorraussetzungen. Dadurch das sie lange in New York gelebt hat kann sie die Firma richtig gut helfen weil sie auch in der Englischesprache sehr gut ist. Ich finde es schön das auch ihre Bewerbung so gut aufgenommen wurde.
Natürlich holt sie da einen Rat von Tai. Und er hat recht sie sollte sich nicht verkleiden sondern genau so bleiben wie sie ist. Und ich finde durch eure Beschreibung konnte man sich sehr gut vorstellen wie Mimi aussah.

Ich kann Tai sehr gut verstehen das er froh ist wenn der Gips abkommt. Es wird zum Ende hin immer unangenehmer und gerade für einen Sportler, der eh kaum Sitzen bleiben kann ist es nur die pure Freiheit wenn sowas endlich weg ist. Aber müsst ihr es Jim machen lassen ? Er wusste das Tai in diesen Zimmer ist. Ich kann deswegen Tai verstehen das er ihn als Arzt ablehnt. Okay, Jim wusste also es mit Tai und Kaori, Arschloch, er hat also alles so schnell wie möglich zu gelassen um nur zu sehen wie ein anderer unglücklich ist, er sollte echt mal zum Arzt.Das Tai sich es nicht gefallen lässt war mir klar aber musst er gleich so frech sein 😀. Naja aber hat ja schon recht. Jetzt droht Jim schon Joe nur weil er sieht wie Glücklich Kaori in der nähe mit Joe ist. Aber Tai hat recht, wenn es so ist, dass die beiden zusammen kommen dann ist Jim ganz alleine schuld daran. Und er ist wie sein Vater, er musst es endlich einsehen. Und endlich hat er verstanden das er gehen sollte.

Das war wohl ein kleiner Schock für Joe, aber ich finde es gut das Tai ihn auch über die damalige Beziehung mit kaori redet. Würde es später raus kommen und Joe und Kaori wirklich ein Paar werden wir er sauer und enttäuscht sein. Aber gut das Tai gleich Nein gesagt hat, er wollte den Job wirklich nur für sich und seinen Traum haben, hat aber gehofft mit Kaori noch einmal reden zu können. Und jetzt wollte er von Joe selbst hören ob er Kaori mag, klar noch ist sie seine Schwägerin, aber wo die Liebe hinfällt. Und Tai hat auch recht, beide haben viel erlebt so das es verständlich wäre. Lieber Joe aus nur Freunde können wirklich mehr werden, das hat man ja an MImi und Tai gesehen. Joe hört ja gar nicht auf über Kaori zu reden dabei wil Tai Joe die ganze zeit was fragen, er sollte mit Kaori sprechen. Aber Joe scheint Tais Frage doch gehört zu haben, aber Tai wird diese Pause von extremen sport auch noch schaffen, er kann ja dennoch langsam Anfangen. Erstmal klein Anfangen und dann wieder ganz groß.
Ich finde es aber süß wie sie jetzt darüber diskutieren wer mit dem Thema Kaori angefangen hat, da muss ich dann Tai Recht geben. Er hat zwar Angefangen aber nicht weiter gemacht das war nachher Joe, also sollt er endlich mit Kaori reden. Ich finde es gut das Tai Joe über das was Jim gesagt hat Infomiert. Es ist wirklich nicht alles verloren beide haben sich wieder angenähert und das war doch alles ein guter Anfang.

Na, das war doch ein erfolgereicher Tag für MImi endlich hat sie einen Job, das wird ihr auch gut tun zumal ich glaube das sie da sehr gut aufgehoben ist. Ich liebe es wie ihr diese wunderschöne Michi momente schreibt 💗. Ich Liebe die beiden einfach, beide sind so zucker zu einander. Jetzt kommen beide zu dem Thema in den alten Job zurück oder nicht, ich finde es gut das da Tai auch MImis Meinung hören will. Und Mimi ist einfach nur ehrlich, sie hat Angst das es nochmal passiert. Würde es ihn aber nicht verbieten. Und Tai will auch nicht zurück auch wenn er weiß das es nicht seine Schuld war, dass er fast gestorben ist. Ich Liebe den Satz den er zu Mimi sagt, es geht um uns. Und Tai wird das richtige finden da bin ich mir sicher.

so gleich lese ich das vorerst letzte Kapitel von euch, ich bin echt gespannt was da kommt. Bis gleich 😘
Von:  Hallostern2014
2024-04-20T17:23:16+00:00 20.04.2024 19:23
Arme MImi natürlich bekommt sie Albträume, es war auch eine harte schreckliche Tat die sie erleben musste, zum Glück ist aber Tai an ihrer Seite und kann sie auffangen. Natürlich lässt er Mimi nicht alleine, sie hat ihn ja auch nicht alleine gelassen und dafür liebt er sie auch einfach zu sehr, auch seine Angst lässt ihn bei Mimi bleiben. Gerade weil auch Jim noch da ist.ich kann da Tai völlig verstehen. Ich finde es gut das Tai trotz allem Joe noch vertraut, ich hoffe echt das beide irgendwann mal wieder Freunde werden. Auch das Joe geschockt war das sein Vater wieder so etwas schreckliches gemacht hat kann ich verstehen, ich hoffe das dadurch immer mehr sieht das er ins Gefängnis gehört und Joe endlich gegen ihn aussagt. Tai tut mir so leid, auch er muss alles verarbeiten vielleicht sollten beide eine Therapie machen und mit jemanden über das gelebte reden.

Zum glück kommt der Teufel nicht mehr raus. Das wäre ja was gewesen wenn er dennoch trotz des Mordversuches frei gekommen wäre. Nun hat Tai erfahren was MImi mit erleben musste und bin auch so froh das Frau Kido noch geholfen hat. Endlich ist jetzt wirklich alles vorbei, beide können nun auf sich konzentrieren und auch alle anderen können ohne dem Teufel im Frieden leben. Und auch in Tais Familie wurde Mimi gut aufgenommen, aber für alle war es ja auch klar das beide zusammen gehören.

Das Tai eine Pause von der Reha gemacht kann ich verstehen er möchte nicht nur das Mimi sicher zu Hause ankommt sondern er möchte ihr auch während der Aussage bei der Polizei beistehen. Mich wundert es auch warum Joe nochmal ins Zimmer kam, aber er ist auch einfach ein guter, deswegen wollte er auch nach Mimi sehen und ihr die Info geben die er erfahren hat. Ich finde es schön das Joe sich für sein Verhalten entschuldigt hat. Aber auch das er sich für das Verhalten seiner Familie entschuldigt hat finde ich gut, wobei das was sein Vater gemacht hat dafür gibt es keine Entschuldigung. Schön auch das MImi sich auch nochmal entschuldigt hat, sie spricht natürlich auch für Tai mit. Ich finde es auch gut das Joe nochmal von sich bekannt macht das die Verlobung aufgelöst ist, ich kann auch verstehen das allen zeigen will das er zwar auch ein Kido ist aber nichts mehr mit seiner Familie zu tun haben möchte. Und Joe wird sich seinen eigenen Namen machen alleine das er trotz seine wut auf Tai und Mimi, Tai gerettet hat zeigt seine gute Seele. Und klar nimmt auch so ein Gespräch Tai mit.

Ich kann MImi verstehen das sie es schwer gefallen ist eine Aussage zu machen, sie musste es ja so wieder erleben. Das sie nicht möchte das die Presse erfährt das auch MImi ein Grund für die Verhaftung ist kann ich verstehen. MImi hätte sonst nie ihre Ruhe bekommen.

Da kommt die kleine Standpauke von Sally, aber Sally hatte auch Angst gehabt deswegen war sie auch so sauer. Und Tai wird auch noch was zu hören zu bekommen. Ich glaube auch das beide dieses Gespräch gebraucht haben. Sally wegen Davis und Mimi wegen der Sache die sie erleben musste.
Die Idee von Davis ist aber auch wirklich komisch, ich hoffe und glaube ja das beide nach den & Monaten dann entgültig zusammen kommen.

Ich finde es toll, dass zwischen Mimi und Kaori so eine gute Freundschaft entstanden ist. Beide können über die Situation reden ohne sich gedanken machen zu müssen nicht verstanden zu werden. Ich finde es schade das Frau Kido aus Angst sich nicht von dem Teufel trennen will, aber vielleicht wenn ihr jemand Zeigt wie Frei man sein kann wenn man so ein Mann nicht hat und sie weiß wie sie für sich selbst sorgen kann, dann wird sie ja sich doch scheiden lassen. Hmm Joe hat also Briefe geschrieben, einen Für Tai und einen Für Mimi, für MImi sogar ein neues Tagebuch, richtig süß von ihn. Das er gekündigt hat ist klasse und nach der Auszeit will er also evtl eine eigene Praxis eröffnen. Ich finde die Idee gut und es würde auch zu Joe ganz gut passen.
Endlich hat Kaori gemerkt das es sie besser dran wäre wenn Jim nicht da ist, vor allem für ihr Baby ist es besser. Ich glaube auch fest daran das sie jemanden finden wird der sie so nimmt wie sie ist, genau sie wird dieser jemand auch ihre Tochter annehmen und ich habe auch jemanden in Verdacht, Joe und sie haben viel Zeit mit einander verbracht. Beide können zusammen lachen und beide mögen vieles gemeinsam. Ich freue mich auch das es Nanami gut geht, sie hat endlich richtige Freunde gefunden, echt schön, sie hat es verdient.

Ich freue mich auch das Tai den Rollstuhl los geworden ist. Aber Tai hat auch hart und viel daran gearbeitet damit er jetzt so laufen kann. Tai hat also ein sehr gutes Arbeitszeugnis von Joe bekommen, das freut mich das Joe ihn da wenn Tai was in der Richtung was sucht etwas in der Hand hat womit er zeigen kann wie gut er ist.Er sollte es annehmen, denn auch wenn sein letzter Auftrag nicht so gelaufen ist wie geplant war so hat er doch seine Arbeit sehr gut gemacht. Wie schön, Tai hat Mimi das selbe Armband wie er es hat besorgt 😍😍😍😍

und schon war es hier schon, wir sehen uns später beim nächsten und dann kann ich nachher auch gleich das neue Kapitel von euch lesen 😁

Antwort von:  Ukiyo1
21.04.2024 14:16
Hey meine Liebe :*

Erst mal vielen, vielen Dank für deine ausführlichen Kommentare, wir haben sie alle gerne gelesen!

Das war alles sehr schockierend, was passiert ist, klar hat Mimi damit zu kämpfen. Und Tai auch, Joe genauso. Alle sind geschockt und fassungslos. Eine Therapie wäre sicher sinnvoll, da hast du recht.

Ja, ich habe natürlich recherchiert und tatsächlich kommt man in Japan meistens auf Kaution frei, die sehen das da nicht so eng. Aber diesmal ist er einfach zu weit gegangen. Hoffentlich können bald alle ihren Frieden damit machen.

Ja, Joe musste einfach noch mal klare Verhältnisse schaffen. Das ist mehr als anständig, dass er sich auch für seine Familie entschuldigt, auch wenn man manche Taten nicht mehr gut machen kann. Mimi und Tai haben die Entschuldigung angenommen und Joe wird seinen Weg gehen, da kannst du sicher sein ;)

Findest du die Idee komisch? :D wir fanden es eine ganz gute Lösung für die beiden. Sie kennen sich noch nicht lange, da kann man nicht sagen, man ist gleich ein Paar. Und sich direkt in eine Fernbeziehung stürzen, weil man verknallt ist, dafür sind sie schon zu erwachsen. Davis möchte einfach abwarten, wo das Ganze hinführt :) aber keine Sorge, natürlich werden sich die Wege der beiden nicht trennen :)

Das stimmt :) Mimi und Kaori sind gute Freundinnen geworden. Und beide haben eine riesige Entwicklung gemacht. Kaori geht nun auch ihren eigenen Weg, wie es sich für sie richtig anfühlt. Sie hat erkannt, wer Jim wirklich ist und ihr Baby gibt ihr den Mut, diesen Schritt durchzuziehen. Und sie wird diesen Weg sicher nicht alleine gehen müssen ;)

Ja, so ein Zeugnis ist eine nette Geste von Joe. Tai hätte das niemals verlangt, aber somit sind nun alle quitt. Tai hat gute Arbeit gemacht, egal, was vorgefallen ist. Und das Armband… ^^ das haben wir uns tatsächlich auch gekauft und tragen es in Erinnerung an die Geschichte am Handgelenk, wie Mimi und Tai <3

Wir sind sehr gespannt, was du zum Ende sagen wirst. :)

Bis dann
Von:  Hallostern2014
2024-04-20T12:56:02+00:00 20.04.2024 14:56
Huhu ihr Lieben, da bin ich wieder 😍

Oh man mir tun die beiden Leid, für Sally ist es ja auch nicht gerade einfach. Sie dachte bestimmt nicht daran das wenn sie Mimi besucht und sie unterstützen tut, dass sie sich dabei in Davis verliebt. Schade das ihr Urlaub vorbei ist. Das Mimi wieder in die Villa möchte finde ich nicht gut, hoffentlich sagt Frau Kido nein. Aber naja sie braucht ja auch was zum anziehen deswegen kann ich verstehen das sie gerne ihr Sachen wieder haben möchte.
Vielleicht kommt ja Sally doch irgendwann zurück und bleibt dann in Japan. sie könnte ja die Sprache lernen Oder Davis zieht zu Sally, aber das wird die Zeit bestimmt schon zeigen.
Das MImi nicht zurück möchte war mir auch klar, Tai kann noch nicht so wie er möchte und gerade sind beide wieder sicher in Japan. Was die Jobsuche angeht, da glaube ich schon das MImi in Japan was finden wird. Mimi angst das Tai wieder als Stuntman arbeiten wird kann ich verstehen. Ich bin gespannt wie er entscheiden wird. Aber egal für was Mimi ist es egal Hauptsache beide sind zusammen. Hehe, ich glaube wenn Sally länger in Japan leben würde das alles von alleine und unbewusst kommt. Aber ich kann sie auch verstehen das es für ihr schwer ist. Armer Davis und arme Sally, beide werden solchen LIebeskummer haben.

Mimi ist verrückt, warum nimmt sie keinen mit zu der Villa, wer weiß wie Frau KIdo auf sie reagieren wird. Aber zum glück sagt sie Tai bescheid, er wird nicht begeistert davon sein. Wird sie aber verstehen können. Ich finde das Verhalten von Ansgar komisch, als wäre er in Panik, zum glück habt ihr da nicht aufgehört.

ich glaube so wie Tai die letzten Tagen an sich gearbeitet hat das er schnell wieder wie der Alte sein wird, er macht so schnelle Fortschritte.
o Nein der Teufel ist draußen und Mimi ist gerade in der Villa, scheiße deswegen war auch Ansgar so komisch. Hoffe Mimi kann schnell entkommen und läuft ihn in die Arme des Teufel. Tais Angst und MImi sind deutlich zu spüren. zUm glück hat er schnell Ken angerufen. Mimi ist in großer Gefahr. Das Tai auch hin möchte kann ich verstehen.

Wenn MImi gerade jetzt wüsste in Welcher gefahr sie ist, dann würde sie sofort weg laufen. Aber leider ist es nicht so. O nein Frau Kido lässt den Teufel zu MImi, sie hat wohl viel zu viel Angst was mit ohr passieren wird wenn sie sich vor MImi stellt. Und nun weiß Mimi was los ist, warum alle so komisch sind. MImi soll bitte ganz schnell weg laufen, der Teufel ist verrückt, alleine das er schon daran gedacht hatte wie er sich an Tai und Mimi rächen kann zeigt wie Krank er ist. Kann da niemand dazwischen gehen, der Typ macht mir Angst, ich hoffe das bald Ken auftaucht. Jetzt hat er Mimi, aber zum glück hat Frau Kido versucht zu helfen, nur der Teufel lässt sich nichts sagen er ist so in seinen Wahn gefangen das alles und jeden ignoriert vor allem seine Frau. Man, warum lässt ihr Mimi so leiden 😭. Jetzt geht er mit einem Messer auf ihr los. Es ist so schrecklich, Mimi Angst spürt man immer mehr. Aber MImi kämpft zum Glück. Er hat aber dann schnell vorsorgt wenn er alles abschließt und Mimi somit nicht raus kann. Ich hasse ihn so sehr. ein Glück kamen Ken und seine Kollegen rechtzeitig. Auch das er vorher von seiner Frau K.o geschlagen wurde ist gut, sie hätte bestimmt nicht damit leben können wenn sie zugelassen hätte das der Teufel es zu ende bringt, obwohl sie vorher nicht wirklich alles getan hat um Mimi zu schützen so war sie gerade da. Ich hoffe insgeheim das der Teufel tot ist, aber leider wird es nicht so kommen. Zu schade.

Tai merkt nun langsam mehr was Mimi damals durch machen musste. Ich musste mit beiden mit weinen, man merkte von beiden die Erleichterung an. Beide sind jetzt überlebene des Teufels und haben gezeigt was man erreichen kann wenn man nie aufgibt und den Mut an sich den größten Gegener zu stellen.

ich hoffe Mimi kann es mit Hilfe von Tai alles verarbeiten.

ich bin gespannt was mich gleich noch erwartet❤️

Von:  Hallostern2014
2024-04-19T23:54:10+00:00 20.04.2024 01:54
Ich verstehe Mimi so sehr, endlich können beide wieder so weiter machen wie vorher, keine verletzte Blicke sondern Liebevolle wo sie merkt ich bin wieder willkommen und geliebt. Ich glaube auch wenn die Reha außerhalb von Tokyo wäre das Tai nicht ohne Mimi gegangen wäre. Nicht wo er sich wieder an sie erinnern kann. Ich finde es toll das ihre Eltern sich für die beiden freuen und Mimis Vater wird es schon hin bekommen er muss einfach nur ehrlich sein und kämpfen für das was er liebt. ZUm Glück wird Misaki entlassen, ich glaube sie braucht danach auch eine richtige Therapie, es ist einfach alles zu viel passiert was sie erleben musste und wer weiß vielleicht besuchen die 3 Frauen eine Familientherapie wo sie alles aufarbeiten können. Was Ayaka betrifft ich hoffe sie bekommt die so eine harte Strafe. ich hoffe auch das dieser Teufel nie wieder raus kommt für Japan wäre es auf jeden Fall besser.

Toll, das Mimi Kaori begleitet und auch das Nanami auf eine öffentliche Schule geht, dass wird ihr auch gut tun. MImi wird Kaori bestimmt verstehen wenn sie selbst schwanger ist, man ist immer Aufgeregt wenn man das baby sehen kann. Oh man Kaori hat auch einfach ein zu großes Herz, leider wird sie bestimmt von Jim enttäuscht, er ist wie sein Vater und wird bestimmt nicht an andere denken und schon gar nicht zu jemanden stehen der gegen sein Vater ist. Aber das ist sein Pech, er verliert alles und nicht Kaori. Ich hätte die beiden auch nicht alleine gelassen, wer weiß zu was er fähig ist wenn sie alleine sind. Gut das MImi den Vorschlag gemacht hatte,. Wie schön es ist ein Mädchen, aber egal welches Geschlecht es wäre Kaori hätte sich auf beides gefreut. Ich bin echt gespannt wie Jim auf diese Neuigkeit reagieren wird. MImi Gesicht ausdruck als Kaori sagte sie schickt das Bild an Joe 🤣. Ich glaube da ist mehr als nur die Aussage er ist ja der Onkel, ich glaube sie weiß es nur nicht. Ich glaube Kaori merkt durch Tai und Mimi immer mehr das es zwischen ihr und Jim keine wirkliche Liebe ist. Aber sie wird diese Liebe auch bekommen, das hat sie verdient. Es ist schön das das Verhältnis zwischen Kaori und ihr Vater sich nicht verändert hat. Und natürlich möchte er gegen den Teufel kämpfen und selbst dafür sorgen das er nie wieder raus kommt. Und ich glaube da hat er mehr macht als der Teufel. Denn da ist ja noch einiges zu gekommen, pech für ihn wenn er sich mit ihn Anlegt.

Oh man, das sind keine gute Nachrichten. ich glaube auch das der teufel dort seine Finger im Spiel hat, oder seine verrückten Anwälte denn wer so eine Verteidigt der spinnt völlig. Mimi sollte auf gar keinen Fall diese Idee umsetzten zum glück hat Tai das sofort gesagt das es nicht gut ist und auch gefährlich für sie ist.
Wie süß will Tai dann noch sein, Frau Yagami ? Ja, das passt. Aber ich kann Mimi verstehen das sie von Hochzeiten erstmal genug. Hehe, da muss aber Tai vieles Nachholen aber das wird er und dann wird geheiratet wenn alles vorbei ist. Tai wollte Polizist werden ? kann ich mir auch sehr gut vorstellen. Hehe, Mimis Berufswünsche sind auch toll. Ich finde es schön das beide sich gegenseitig Fragen stellen Und natürlich kommen sie zu den Pornos. Wow, Tai kann laufen, wie toll so große Fortschritte. Ich freue mich so sehr für ihn.

Und endlich kann MImi Ich Liebe dich persönlich sagen und Tai konnte es auch sagen auch wenn er es schon damals gesagt hat. Denn jetzt erfährt Mimi was Tai meinte der Mond ist schön. Mimi kleine Enttäuschung kann ich verstehen aber irgendwann wird sie darüber lachen.

Wow, noch eine Überraschung sie haben den Typen ich bin gespannt wie Tai auf den Typen reagieren wird. Und Hoffentlich kann Tai endlich aufatmen.

Kaori sollte den Code aber ändern sobald es mit JIm entgültig vorbei ist. Aber erstmal eine Überraschung für Mimi, alle drei Geschweistern sitzen bei einander und Lachen, sehen sich Fotos an. Ein wunderschönes Bild. Auch das Joe endlich dazu bereit war mit seiner Schwester zu reden. Man Joe sei erwachsen, echt er benimmt sich wie meine Jungs wenn sie sauer sind🤣. Und wer kommt nun JIm na super und natürlich denkt er gleich das sein Bruder sich an seine Frau ran macht und dann ist er auch noch besoffen ganz gefährlich. Jetzt bin ich froh das Joe da ist. Joe ist aber kein Verräter er weiß nur was richtig und was falsch ist und auch wenn er gegen sein Vater aussagen muss so macht er das richtige. Er ist echt krank, Kaori hätte ihn nie betrogen gehabt, dafür ist sie zu lieb. Und dann diese Anschuldigung. Nur weil Joe nicht wie er und sein Vater ist. Und dann schlägt er auch noch zu, wer weiß was er gemacht hätte wenn Joe davor nicht eingegriffen hätte. Und da kann ich auch verstehen das Mimi sich gezeigt und mit der Polizei gedroht hat. Ich finde Joe hier echt stark, er hatte endlich sein Bruder gezeigt das er so ein Verhalten nicht dultet.

Oje Ken und sein Tam haben gleich 3 Typen gefunden ? Ich Hoffe der richtige ist auch dabei. O nein, keiner von denen ist es. So eine scheiße ich habe mich so für Tai gefreut. Ich glaube auch so langsam das der Typ einen Falschen Namen benutz hatte. Ich hoffe Ken finden bald den richtigen, dann wird dieser fällig und kommt auch dahin wo er hingehört.

so, ich mache später weiter 🤣🤣🤣. Hoffe ich schaffe es noch bevor das Ende kommt 😭 was mich ja schon traurig macht, dass es heute ein Ende hat.

bis später ❤️


Von:  Hallostern2014
2024-04-19T22:30:45+00:00 20.04.2024 00:30
Das war keine leichte Nacht für Tai, ich kann verstehen das er nicht schlafen konnte. Jetzt merkt er mehr wie Mimi die letzten Tagen gelitten hat und wird merken wie großartig sie weiter gemacht hatte. Wie süß Tai Mimi zeigt das er sich an alles erinnern kann. Ich konnte mir Mimi erstauntes Gesicht bildlich Vorstellen. Man konnte hören wie ein Dicker Fels von Mimis Herz fällt, endlich ist es vorbei das warten ob Tai sich jemals Erinnert. Nun erfährt auch Tai wie es weiter ging, er kann endlich verstehen was Mimi damit alles meinte. Und nun weiß er wie Joe dahinter gekommen ist, ich bin auf das Gespräch gespannt. Zum Glück fand die Hochzeit nie statt, Tai hätte dieses niemals verkraftet.

Das Yolei und ihre Familie in den Urlaub gefahren sind zeigt immer mehr das es die richtige Entscheidung war. Tai und MImi hatten den gleichen Gedanken. NUr das Mimi diesen Gedanken zu Kaori zu gehen auch gemacht hatte. Tai wollte bestimmt vorher noch mehr Beweise sammeln bevor er den Schritt mit Kaori gemacht hätte. Tai wollte zuerst zu Ayaka gehen. aber ich finde Mimi schritt besser. Denn mit Kaori haben alle eine Zeugin.Man merkt wie stolz Tai auf MImi ist, denn sie hat das zu Ende gebracht was er Angefangen hat. Natürlich bekommt Tai zu der Situation als er Nanamis Namen gesagt hat noch eine kleine Ansage von Mimi. Und jetzt merkt Tai auch wie sehr Mimi sich Körperlich verändert hat, aber verständlich sie stand permanent unter Stress. Und da achtet man leider nicht so sehr auf sich selbst. Endlich können beide es offiziell machen beide sind endlich zusammen und müssen sich nicht verstecken. Ich freue mich so sehr für die beiden. Mimi kann vor Tai auch wirklich nicht verbergen, naja war ja auch nicht schwer MImi war zu beschäftig um sich auch gleichzeitig nach einen Job zu suchen und sie somit gar kein Geld hat. Aber Tai hat recht sie sollte erstmal in Japan ein Konto eröffnen, dann hat sie das schon hinter sich. Tai will sie natürlich unterstützen und damit sie es auch annimmt sagt er es mit dem Camp sonst hätten beide wohl noch Tage darüber Diskutiert.

Wie schrecklich mit den Reportern, alle wollen Infos zur der Verhaftung von dem Teufel haben und das am besten von denen die ihn nah stehen. Mir tun einige davon leid. JIm hätten sie gerne bedrängen können. Arme Mimi, aber ich glaube die Frau hat Mimi nicht erkannt, sonst hätte sie ihr bestimmt den anderen Ausgang gezeigt. 🤣 Ich glaube viele verlaufen sich im Krankenhaus, wenn dieser Groß ist und schnell raus möchte. Na, der neue Pressesprecher der KIdos haben sie wohl auf der Straße gefunden. 🤣🤣🤣 Sehr gut Mimi wenn die Kidos zu feige sind das macht man es selbst, finde ich klasse das sie die Trennung bekannt gegeben hat. Und gibt den noch mehr Infos denn warum sollte die Ex-Verlobte eines Kidos den Teufel sonst als Verbrecher bezeichnen wenn die Anschuldigung haltlos wären. Aber wie krank die alle sind, bedrängen sie einfach. Obwohl sie schon was gesagt hatte, aber zum Glück kam HIlfe durch Ken. Gut das sie zurück sind, die Gefahr ist auch erstmal vorbei Yolei und sein Kind sind in Sicherheit. Zum glück erzählt MImi von dem Einbruch und hat Zeugin sowie Fotos, dass der Teufel dahinter steckt ist ja deutlich das alles fehlt was Tai heraus gefunden hat fehlt und keine andern Wertsachen.

Für Tai geht wirklich alles nicht so schell. Aber er sollte wirklich langsam machen, aber das ist Typisch für Sportler. Schade das Tai von dem Typen nicht den ganzen Namen weiß aber Ken wird es schon herausfinden, da bin ich mir sicher. Auch das Tai das mit dem Auto erzählt hat finde ich gut, dass alles wird beweisen das der Teufel Tai ermorden wollte. Jetzt erfährt Tai auch von dem Einbruch, was für ein Schock. Mimi hat es ihn ja nicht erzählt um ihn nicht noch mehr zu belasten. Ich hoffe für Tai das Joe aussagt, denn er weiß ja die Wahrheit zu wünschen wäre es und es zeigt dann auch das Joe wirklich nicht wie ein Kido ist. Und egal was Tai und MImi gemacht haben es ist kein Grund zu lügen es geht immerhin um versuchten Mord. Da kann man seinen Wut auf die beiden kurz verdrängen, aber ich glaube an Joe. Er ist nicht wie die anderen beiden. Ich bin gespannt ob Tai seine Firma anzeigt. Und alleine das sie es wohl vertuschen wollten zeigt Tai das es besser wäre.

oh man die beiden sind so Zucker 😍.

Aber jetzt ist Joe und da wird jetzt was kommen. Aber wie Joe reagier, Nett ? Also Nett war es alles nicht, aber er reagiert jetzt so weil er verletzt ist. Dennoch ist es Falsch sowas zu sagen. Klar hätten die beiden mit Joe reden können, hätte er es aber auch zu dem Zeitpunkt geglaubt ? Ich glaube nicht, ich glaube es wäre sonst alles nie heraus gekommen. Naja das Tai gefeuert wurde, war Tai schon klar als er sich erinnern konnte und alles weitere erfahren hat. Aber Joe hat leider auch recht als Stuntman wird er zur Zeit kein Geld verdienen.
Hier merkt man auch das er wirklich mehr von tai verletzt ist aber verständlich Tai ist sein Freund und das nimmt dieser seine Frau weg. Aber Joe wird schon darüber weg kommen und dann sieht er ein das alles so richtig war wie es Tai und Mimi gemacht haben. Schade das die Freundschaft so enden musste, aber ich habe die Hoffnung das beide sich wieder Freundschaftlich annähern werden.

ich bin gespann was als nächstes kommt, bis gleich 😄


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