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Fragmente

Wind und Stille
von

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Epilog

„Wann es geendet hat, weiß ich nicht, doch die Erinnerung an den Anfang ist so deutlich, dass es mich schmerzt.

Der Unfall. Lautes Quietschen und eine Wolke aus Abgasen und dem Geruch von verbranntem Gummi. Die Leere.

Und inzwischen? Nach all der Zeit, was ist da aus dem "Warum" geworden? Das Große des Bruders? Das Kleine der Mutter?

Immer noch unbeantwortet. Es hat eine Zeit gegeben, da dachte ich, die Fremden wüssten die Antwort; doch auch dieser Weg ist mir nun versperrt. Sie kommen nicht mehr zu mir, nicht mehr, seit ich hier bin.

Für einen Moment habe ich ihm geglaubt. Habe gedacht, er verstünde mich besser als ich selbst, habe gedacht, die Art, wie er meinen Körper spielen konnte, beweise, dass er mich kenne. Doch lange konnte der Selbstbetrug nicht dauern. Ich liebe ihn, ja, das weiß ich, ich liebe die Finger, die kurzen gepflegten Nägel; ich liebe den Geruch nach Lösungsmitteln; ich liebe sogar und ganz besonders den Kohlestaub auf seinem Körper. Ich liebe ihn, mehr als irgendjemand einen anderen Menschen jemals lieben kann.

Für ihn habe ich es versucht.
 

Als er mir nicht glauben wollte, als er die Fremden ins Reich der Psychose bannte; als er die Wahrheit mit Drogen verschleiern wollte, bin ich ihm gefolgt. Ich habe getan was er wollte, habe es getan wegen der Erinnerung an den Kakao und an den Kuchen, an weinrote Tapete und gemütliche Sessel.
 

Doch ich habe gewusst, dass es eine Lüge war; ich habe gespürt, dass es ein Geheimnis gab, habe das Zerren in der Brust gefühlt, habe gewusst, dass ich nicht war, wer ich sein sollte. Die Seele der einen im Körper der anderen, und das ist kein Wahn.
 

Doch immer, wenn ich es ihm sagte, weinte er und flehte, und immer, wenn er flehte, wollte ich ihm Mut zusprechen und ihm versichern, dass alles gut werden würde. Die Monate zehrten an seinen Kräften und schließlich wusste ich, dass er mich aufgeben musste – dass er mich aufgeben wollte, weil die Hülle ihn mehr angelockt hatte als das Innere.
 

Ich liebe ihn, habe ihn immer geliebt; deswegen habe ich ihm Recht gegeben. Deswegen habe ich die Medikamente genommen und heimlich fortgeworfen, deswegen habe ich nie von den bekannten Fremden erzählt, nicht von den Kämpfen in der Nacht.
 

Ich habe alles aufgegeben was ich war, um dem zu entsprechen, was er wollte; und zumindest er war glücklich. Mit Amaya. Und trotzdem habe ich ihn geliebt, in demselben Maße, in dem ich meine schöne Schwester gehasst habe. Der Spiegel wurde mein Feind. Jahrelang habe ich es vor ihm geheim gehalten, habe ihm nichts gesagt von den Agenten, von den schwarzen Herren.
 

Ich bin zu ihm gezogen, ich bin für ihn Amaya geworden, ich habe mit ihm gelebt.

Und er hat mich verraten.
 

Dass er mit ihnen zusammenarbeitete, wollte ich lange nicht sehen; ich habe es lange nicht gesehen.
 

Erst als er nach Hause kam, als er die Tür öffnete, mich ansah, als sein Blick in den Spiegel fiel und er sagte, ich sei nicht die, für die er mich gehalten habe, ist es mir klar geworden. Dabei war es so offensichtlich; er war es, der mich gefunden hat. Er hat mich abgelenkt. Und als genug Zeit verstrichen war, wollte er mich loswerden. Doch ich habe ihn geliebt.
 

Das verstehen Sie doch, oder? Das werden Sie in ihr Buch schreiben. Das Buch über mich, nicht wahr? Das ich ihn geliebt habe. Denn das habe ich. Wirklich. Oder sind Sie schon fertig? Ich würde gerne selber ein paar Worte schreiben, oder Sie benutzen einfach ein paar unserer Protokolle. Ich glaube nicht, dass man so eine Geschichte erzählen kann, so ganz einfach, indem man die einzelnen Geschichten und Ereignisse schildert; das kann so gar nicht erfasst werden, oder?

Sie irritieren mich, wenn sie so ganz schweigsam sind. So ärztlich. Wissen Sie was, schreiben Sie einfach ein paar Dinge auf, die ich gesagt habe. Natürlich müssen Sie sie noch literarisch formulieren, aber tun Sie einfach so, als habe ich so mit Ihnen gesprochen. Ich will ans Ende ihres Buches, denn wenn Sie schon ein Buch über meine Geschichte schreiben, will ich das letzte Wort. Sie dürfen dann noch einen klugen Spruch dahinter setzen, also haben wir beide das letzte Wort; aber wenn Sie einen Roman daraus machen, dann könnten ihre Leser Sie falsch verstehen. Denn das ist klar und darauf bestehe ich:

Ich bin nicht schizophren. Wer fünf Jahre in einer glücklichen Beziehung lebt, ist nicht krank.“
 

Und die Vehemenz, mit der Amaya den Kopf schüttelt, macht die Absurdität dieses Vorwurfs noch deutlicher, doch mehr noch als die Tatsache, dass sie vollkommen gesund ist, fällt dem geneigten Beobachter ihre Traurigkeit auf. Der Irrtum, Perfektion bedeute Glück und äußere Vollkommenheit sei ein Indiz für die Innere Schönheit, unterläuft vielen Menschen; doch im Gegensatz zu Amaya hatte ihr Geliebter das Glück, nicht lange mit diesem Wissen leben zu müssen.

Sie dagegen muss man vor dem Trugschluss warnen, eine gute Klinge könne ihr zurückgeben, was sie verlor:

Ihren Freund, ihre Familie, gleich noch ihre Freiheit und die Individualität, zusammen mit tausend anderen Dingen.

Mehr als alles andere: Ihre Schwester.
 

Wenn es anders wäre, hätte ich sie nie kennengelernt und das Scheitern am Verfassen meines ersten, nicht fachwissenschaftlich geprägten Textes hätte noch auf sich warten lassen.
 

Doch es ist wie es ist.
 


 


 

“Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solange wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt -

Nur die Liebe erträgt ihn so. (…)

Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind - nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. ‘Du bist nicht’, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: ‘Wofür ich Dich gehalten habe.’

Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.”

Max Frisch



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:16:54+00:00 25.05.2009 19:16
Es ist vorbei. Und mit der Aussage Amayas war sogar etwas verständliches drin :-D Denn ansonsten war es wieder so ... schwebend. Und ich finde das Ende auch nicht gut: du hast zwar den Kreis um das 'Warum?' und dass etwas verloren gegangen ist, geschlossen, aber ganz em Ende steht überraschend die Liebe. Nicht so kitschig, aber doch irgendwie unerwartet. Es war schön zu sehen, dass er in ihr nur eine Hülle sieht - aber 5 Jahre hat es funktioniert, eine lange Zeit - und sie sich auch anpasst. Aber ich finde, die Geschichte hätte noch weitergehen können, vlt., dass selbst die Liebe sie nicht rausholen kann, es sollte mit ihr enden, und nicht mit ihrem Freund.

Alles in allem ist diese Story einzigartig. Der distanzierte Schreibstil war toll, schöne Wortwahl, großer Wortschatz, Stimmung gut übermittelt. Aber an manchen Stellen war es zu abstrakt; die Erkenntnisse, Gedanken, haben sich nicht aufgedrängt, aber sie waren nicht gut genug verpackt, damit man sie auch im Kopf behalten konnte, gerade weil man Amaya durch die autoriale und weniger personale Perspektive zu fern ist, sich nicht immer mit ihr identifizieren kann.

Und ein paar Tippfehlerchen waren drin... :-D

Wirklich bemerkenswert. Aber es lässt einen verwirrt zurück :-D

yu
Von:  Remy
2009-05-14T13:31:45+00:00 14.05.2009 15:31
[Kommentarzirkel]

Wenn ich es jetzt schon ganz gelesen hab, will ich auch einen Kommentar dazu schreiben.

Erst einmal muss ich sagen, dass es eine wirklich mitreißende Geschichte ist, die schön geschrieben ist. Bis zum Ende hin klärt sich dann auch alles auf, auch wenn ich zu Anfang nicht dachte, dass sie shizophren ist. Was die ganze Sache aber noch interessanter gemacht hat.

Deinen Schreistil finde ich auch richtig gut. Was mir besonders gefallen hat - und was ich sehr passend fand - waren die wenigen wörtlichen Reden. Es hat nur noch mehr gezeigt, dass es einfach nicht viel zu reden gibt.

Ein paar vereinzelte Flüchtigkeitsfehler waren noch drin, die ich mir aber jetzt nicht wirklich gemerkt haben. Dafür waren es zu wenig.

Mach auf alle Fälle weiter so!

Mfg KAG0ME
Von: abgemeldet
2009-05-10T16:58:31+00:00 10.05.2009 18:58
Wow, ich finde dieses Ende aufklärender als alle Kapitel zuvor. Als wäre man jetzt aus dem Wald herausgekommen und hätte verstanden. Oder zumindest glaubt man hier, dass man verstanden hat.

Amaya/Kuraiko ist wirklich ein bemitleidenswertes Mädchen. ihre Wortwahl in der Rede finde ich bemerkenswert. Sie klingt aufrichtig und ehrlich, genau so, wie ich sie mich vorgestellt habe.

Ihr Freund ist am Ende ebenfalls so gewesen, wie ich ihn mir zum Ende des letzten Kapitels vorgestellt habe. Es ist einfach toll, wie du beschreibst, dass sie sich selbst nicht für krank hält, dass ihre Umwelt es dennoch tut.

Sie muss Amaya werden für ihren Freund, was ich wirklich todtraurig finde. Du hast mich mit dieser Geschichte wirklich gefesselt, so etwas möchte man gerne mehr lesen.

Eine Frage zum Schluss: wie heißt das Café, in dem Kuraiko/Amaya immer gewartet hat?
Es interessiert mich brennend, vielleicht hat es ja einen symbolischen Namen...? Wer weiß...

Ich hoffe, du machst weiter so und schreibst weitere großartige Geschichten!

Greets~
Maxwell-chan
KFF
Von: abgemeldet
2009-05-09T13:56:36+00:00 09.05.2009 15:56
Hallo,
Schnelle Antwort auf meine Frage bezüglich des Herren mit dem frischen Namen. Respekt! ;)

Dieses Kapitel hat mir sehr, sehr, sehr gut gefallen. Es kam überraschend und war plausibel - man, mein Wortschatz ist echt begrenzt. Egal.

Ah ja, was mir in deiner Geschichte aufgefallen ist, ist, dass nicht überall ein Semikolon stehen müsste, wo eines steht. Hin und wieder wirkt es das Niveau hebend, es bewirkt sogar viel mehr, was sich nur schwer in Worte kleiden lässt. Aber hier hast du teilweise nur welche anstatt Kommata verwendet, und das wirkt einfach viel zu viel.

Ich bin froh, dass ich dir auf deinen Kommentar antworten musste, denn ansonsten hätte es wohl gedauert, bis ich diese Geschichte im Zirkel entdeckt hätte.

Denn, um es rücklickend kurz und bündig zusamenfassend zu sagen, hast du eine ernste Geschichte, die auf Tatsachen beruhen könnte, wunderschön ausformuliert.

Es ist eine Geschichte mit Tiefgang, ein literarisches Werk, das als Facharbeit getarnt ist, die so tut, als wäre sie ein literarisches Werk.

Die Tragik des Zustandes in der Schizophrenie hast du perfekt herausgearbeitet, und es ist schön, dass der Begriff ein einziges Mal in einer Geschichte auf Animexx richtig verwendet wird.

Deine Geschichte ist spannend und dramatisch, schön und traurig, und weckt willkommene wie unliebsame Bilder.

Du hast dir beim Schreiben richtig was gedacht, und das liest man. Schön, derartiges hier auch zu finden.
Schade nur, dass der Epilog keine Überschrift hat, aber vielleicht wäre damit auch zu viel verraten. Vielleicht ist es so besser. Es ist wie die Leere, die Amaya manchmal fühlt, und wie die, die einen ergreift, wenn man eine fesselnde Geschichte zu Ende gelesen hat.

Um sie zu vertreiben habe ich hier die vesprochene Frage und Weitere:
Wie heißt das Café?
Ist Amaya wirklich ein Zwilling, der sich vorstellte, im Körper der Anderen zu stecken, oder ist sie ein Mädchen, dass dachte, es wäre ein Zwilling, der im Körper der Anderen steckte?
Warum ist ihr Freund so lange geblieben, wenn er nur an ihrer Hülle interessiert war, oder habe ich das mit den fünf Jahren nur komplett missverstanden?

Mach weiter so! ;D

Liebe Grüße, Polaris
~KFF~


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