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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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Inzwischen war es Viertel nach sechs. Mamoru kaute betrübt an seinem Toast herum. Er hatte gerade eben die ganze Geschichte haarklein erzählt: Wie er sich mit Chikara und Buki die Schlägerei geliefert hatte; wie er dann wie hypnotisiert in seinem Zimmer gesessen hatte und unfähig war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen; wie er dann mit Motoki in dieses Café gegangen war und schließlich, wie Hikari ihn bloßgestellt hatte. Er ließ nicht ein einziges, kleines Detail aus. Es tat gut, sich alles von der Seele reden zu können. Kioku und Seigi hatten ihm aufmerksam zugehört.

Nun war es also raus. Mamoru hatte zugegeben, dass er in Hikari verliebt war. Und trotz der Befreiung, die er empfand, als er das alles loswurde, war er schwer betrübt. Sie hatte ihm immerhin nicht nur einen Korb gegeben, sie hatte auch noch Spaß daran gefunden, ihn zu demütigen. Das war einfach zuviel.

Also kaute er immer noch kommentarlos an seinem Toast herum, nahm immer mal wieder einen Schluck heißen Kakaos, und starrte unablässig zum Fenster raus. Kalte Februarluft strich um das Hochhaus, es schneite nur ein wenig, und dicke Wolken verschluckten das Sonnenlicht.

<Fast wie in meinem Traum.>

Er dachte an seinen Traum von letzter Nacht zurück. Er erinnerte sich an Fiore, an das Krankenhauszimmer, an die unbekannte Frau. Wieso nannte sie ihn <Herr der Erde>? Und was meinte sie damit, er solle <erwachen>?

Mamoru war so sehr ins Grübeln vertieft, dass er statt in den Toast in seine Hand biss. Der Schmerz holte ihn in die Realität zurück.

"Mamoru? Hörst Du mir überhaupt zu?"

"Hä? Was?", wandte er sich seinem Onkel zu. "Entschuldige, ich war in Gedanken. Was sagst Du?"

Normalerweise hätte Seigi nun geschmunzelt und irgend einen Spruch abgelassen, aber er blickte seinen Neffen nur traurig an. Es tat ihm ganz offensichtlich unheimlich weh, ihn so still und geschunden zu sehen. Er kannte und liebte Mamoru als einen fröhlichen Menschen, der sorglos in den Tag hinein lebte und der einfach schon zu viel mitgemacht hatte, um sich ohne weiteres ins Bockshorn jagen zu lassen. Aber nun war etwas Außergewöhnliches in dessen Leben getreten, das ihn irgendwie verändert hatte. Die Tatsache, zu lieben, und nicht wiedergeliebt zu werden, machte Mamoru so fertig, dass er bloß leichenblass und wie ein Häuflein Elend dasaß und von seiner Umgebung nur noch ein Minimum realisierte.

"Mamoru", seufzte Seigi, stand auf und nahm direkt neben seinem Neffen Platz, um ihn vorsichtig in den Arm zu nehmen und ihm trostspendend durch die Haare zu fahren. Mamoru ließ es sich gerne gefallen und schmiegte den Kopf an Seigis Schulter.

"Enttäuschungen und schwere Zeiten gibt es viele im Leben eines Menschen", erklärte Seigi. "Da kommt niemand dran vorbei. Du musst jetzt einfach stark bleiben und lernen, damit umzugehen. Das schaffst Du schon."

"Genau", stimmte Kioku zu, "und wir stehen immer hinter Dir, egal was kommt."

Mamoru fühlte sich einen Augenblick lang so unendlich geborgen, wie er an der Schulter seines Onkels lehnte und einfach wusste, dass er nicht allein war. Er war zwar immer noch betrübt und enttäuscht, aber immerhin hatte das Gefühl der absoluten Verzweiflung an Intensität verloren.

Doch wie Mamoru so dasaß und behutsam von Seigi festgehalten wurde, überkam ihn eine schwer zu beschreibende Sehnsucht. Er dachte an seine Eltern und fragte sich, ob es sich wohl genauso anfühlen würde, wenn nicht sein Onkel, sondern sein Vater ihn trösten würde. Oder wäre das womöglich sogar eine sehr viel stärkere Emotion?

Mamoru versuchte sich das Gesicht seines Vaters ins Gedächtnis zu rufen. Schon oft hatte man ihm die alten Fotoalben seiner Familie gezeigt. Zwar konnte Mamoru sich nicht an einzelne Geschehnisse und Erlebnisse seiner Vergangenheit erinnern, aber es wäre auch nicht zwingend nötig gewesen. Denn auch ohne die Erklärungen, die Seigi und Kioku damals abgegeben hatten, zeigten die Fotografien eindeutig: Mamoru war das perfekte Ebenbild seines Vaters. Gut, Mamorus Vater Keibi hatte zwar eine kurze Frisur und einen Oberlippenbart getragen, aber die Gesichtsform war genau dieselbe. Er hatte außerdem dieselben extrem dunklen blauen Augen und die blauschwarzen Haare wie sein Sohn Mamoru gehabt.

Und nun war er tot. Einfach so aus dem Leben gerissen.

Genau wie seine Frau und Mamorus Mutter Megami.

Verzweifelt klammerte sich Mamoru an Seigi und verkrallte sich in dessen Hemd. So gut es ging kämpfte er das aufsteigende Gefühl der Übelkeit nieder. Er wollte jetzt keine Schwäche zeigen; er wollte jetzt seine Emotionen nicht preisgeben. Er schluckte heftig und begann, leicht zu zittern; teils vor Anstrengung, die er aufbrachte, um nicht in Tränen auszubrechen, und teils vor Mutlosigkeit und Enttäuschung darüber, dass alles immer so kompliziert war.

Der Schweiß rann an Mamorus Stirn entlang und sein Puls raste. Er hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Kontrollverlustes. Am liebsten hätte er seine Empfindungen einfach abgeschaltet. Er bettelte eine alles auslöschende Bewusstlosigkeit herbei, um in der Dunkelheit und im Vergessen versinken zu können. Doch dieser Wunsch wurde ihm nicht gewährt. Im Gegenteil. Er wurde dazu verdammt, alles zu ertragen. Mit jeder einzelnen Sekunde etwas deutlicher.

In seiner Vorstellung saß Mamoru plötzlich nicht mehr bei seinem Onkel. Sondern derjenige, der nun den Arm tröstend um ihn legte, war sein Vater. Mamoru sah vor seinem geistigen Auge, wie Keibi lächelte; genau wie auf den etlichen Fotos. Und neben Keibi erschien das warmherzige Gesicht seiner Mutter Megami. Beide schienen sich von Mamoru wegzubewegen. Sie winkten und riefen ihren Sohn zu sich. Doch diese Vision hielt sich nur eine Sekunde lang, dann verschwamm sie wieder.

Mamoru atmete schwer und ungleichmäßig. Keuchend hielt er sich immer noch an seinem Onkel fest und ein erschöpftes Stöhnen glitt von seinen Lippen.

Seigi fuhr ganz behutsam über die schweißnasse Stirn seines Neffen und schüttelte besorgt den Kopf.

"Ich glaube, Dein Fieber wird immer schlimmer", stellte er fest.

"Du bleibst heute zu Hause!", bestimmte Kioku.

Kraftlos schüttelte Mamoru den Kopf. Mit einiger Anstrengung versuchte er, sein Zittern zu unterdrücken. Er öffnete seine Fäuste und gab Seigis Hemd wieder frei, dann lehnte er sich zurück. Immer noch keuchend stellte er die Frage, die ihm schon so lange auf der Seele brannte: "Onkel Seigi? Sag mir, wie haben sich meine Eltern eigentlich kennen gelernt?"

Nun war es also endlich raus. Es gab kein Zurück mehr. Eine Sekunde lang regte sich gar nichts; eine schier tödliche Stimmung lag über dem Zimmer. Mamoru machte sich auf viele verschiedene Reaktionen seines Onkels gefasst. Seigi könnte traurig den Blick abwenden und erst mal geschockt herumstammeln. Oder er könnte einfach aufstehen und verkünden, er müsse jetzt zur Arbeit. Vielleicht würde er aber einfach nur stumm dasitzen und in Erinnerungen schwelgen. Mamoru wusste genau, wie sehr Seigi seinen Bruder vermisste. Es war eigentlich unmöglich, voraussagen zu wollen, wie er reagieren würde.

Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Seigi legte behutsam seine Hand auf Mamorus Knie und... lächelte ihn an. Es war ein warmes, sanftes Lächeln. Das Lächeln, das man auf den Lippen hat, wenn man ganz besonders stolz ist, oder wenn man sich an etwas Wunderschönes erinnert. Dennoch glaubte Mamoru, ein leichtes Blitzen in seinen Augen zu sehen; so, als würden sie sich mit Tränen füllen.

"Ich habe lange auf diese Frage gewartet", antwortete Seigi endlich. "Denk nicht, ich wollte Dir diese Information vorenthalten. Beim besten Willen nicht! Aber..."

Er nickte, um seine Worte zu bekräftigen.

"...Aber ich spürte, Du würdest Dich erst darauf vorbereiten müssen. Und jetzt ist anscheinend die Zeit gekommen. Jetzt bist Du alt genug, zu begreifen, wie stark Deine Eltern mit einander verbunden waren. Denn ihre bedingungslose Liebe, die alles überwunden hat, außer den Tod, basierte auf einem ganz besonderem Ereignis, das die beiden untrennbar an einander geknüpft hat."

Mamoru musste schwer schlucken. Sein Herzschlag und seine Atmung hatten sich wieder etwas beruhigt, aber immer noch fühlte er sich elend. Er saß einfach nur da und wartete ungeduldig darauf, dass sein Onkel endlich anfangen möge.

Seigi räusperte sich und begann:

"Es war Winter, und wir verbrachten ein Wochenende an einem Ferienort, der an einem schmalen Fluss gelegen war. Überall lag frischer Schnee, und Keibi machte spontan den Vorschlag, spazieren zu gehen. Ich bin immer gerne mit ihm herumgezogen. Schon damals, als wir Kinder waren, hat er mich oft in die Wälder mitgenommen und mir die Pflanzen gezeigt...

Entschuldigung, ich schweife ab. Jedenfalls gingen wir an diesem Fluss entlang. Es war herrlich! Ich sehe noch heute alles vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Die Bäume waren voller Schnee, und überall glitzerte es in der Vormittagssonne. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, um diesen fantastischen Tag zu genießen. Ich schätze, den meisten war es einfach zu kalt. Ist ja auch egal.

Keibi stupste mich irgendwann an und sagte: <Schau mal da>, und als ich daraufhin einen Blick über den zugefrorenen Fluss warf, wusste ich, was er meinte. Der alte Aufreißer hatte schon wieder ein Mädchen entdeckt, dass ihn interessierte."

Mamoru starrte seinen Onkel mit ungläubigem Blick an.

"Ja, Du hast richtig gehört", meinte Seigi und in seiner Stimme lag ein amüsierter Unterton, "Keibi war in der Hinsicht genauso schrecklich wie ich. Vielleicht sogar noch draufgängerischer."

Mamoru seufzte unweigerlich.

"Hey", machte Seigi tröstend, "lass deswegen den Kopf nicht hängen. Es ist nicht Deine Schuld! Die Frauen sind das Übel dieser Erde!"

"Erzähl Deine Geschichte weiter, Du Märchenonkel!", schnaubte Kioku verächtlich.

"Ist doch wahr!", verteidigte sich Seigi grinsend. Dann fuhr er mit seiner Erzählung fort:

"Keibi konnte jedenfalls den Blick nicht von dieser Frau reißen. Mit ihren Schlittschuhen schwebte sie förmlich über das Eis und machte die grazilen Bewegungen einer Märchenfee..."

<Ja, das kenne ich. Hikari bewegt sich auch auf diese schier unbeschreibliche Art und Weise. Seuftz.>

"...Ja, genauso einen verknallten Blick wie Du jetzt hatte Keibi auch gehabt."

Mamoru wurde rot. Er hoffte, Seigi würde das als eine Reaktion auf das Fieber sehen. Er glaubte allerdings nicht wirklich daran.

Seigi lächelte und erzählte derweil weiter:

"Keibis Begeisterung war schier nicht zu bremsen. Und das konnte ich auch gut verstehen. Dieses Mädchen mit den langen, braunen, leicht gewellten Haaren, das da auf dem Eis tanzte, war einfach eine Wohltat für jedes Auge."

"Hey!", unterbrach Kioku und kniff Seigi leicht in die Wange.

"Was denn?", grinste dieser, "damals war ich sechzehn! Da kannte ich Dich doch noch lange nicht! Du brauchst nicht eifersüchtig zu werden!"

"Erzähl weiter", verlangte Mamoru. Ihm ging alles viel zu langsam, und er wollte, dass sein Onkel endlich auf den Punkt kam. Und genau das tat er jetzt auch.

Seigi wurde mit einem Mal sehr ernst. Er senkte den Blick, seufzte, und fuhr mit etwas leiserer Stimme fort:

"Und da passierte es. Krach, zack, bumm... die Frau ist im Eis eingebrochen. Sie ist so wahnsinnig plötzlich verschwunden, dass ich gar nicht realisierte, wo sie auf einmal abgeblieben war! Sie hatte noch nicht einmal geschrieen. Sie hatte wohl einfach keine Zeit dazu. Ich war zu perplex, um mich zu bewegen; um irgendwas zu begreifen! Es war Keibi, der losstürmte und mich hinter sich herzog. Wir rannten über das Eis. Oder vielmehr: wir schlitterten, rutschten und fielen. Mit bloßen Schuhen ist man da ziemlich aufgeschmissen. Mir ist nur eines durch den Kopf gegangen: <Was passiert, wenn es hier noch mehr brüchige Stellen gibt, und wir womöglich in eine davon hineinfallen?> Doch Keibi ließ mich nicht los, bis wir an diesem Loch waren. Die Frau kämpfte im Wasser mit ihren Klamotten und mit den Schuhen, die sich voll Wasser gesogen hatten und viel zu schwer wurden. Der Fluss war recht breit, dafür weniger tief, und floss sehr ruhig, deswegen wurde sie nicht sonst wohin weggetrieben, aber sie wurde trotzdem vom Wasser verschluckt. Sie versuchte immer wieder, sich hoch zu kämpfen und den Rand der Einbruchstelle zu fassen, aber sie rutschte jedes Mal haltlos ab. Als wir heran waren, war die Frau gerade wieder dabei, abzutauchen. Keibi griff beherzt ins eiskalte Wasser hinein und bekam einen Zipfel der Jacke zu fassen. Das Mädchen hätte ihn mit sich hinunter gezogen, wenn ich nicht geistesgegenwärtig Keibis Beine gepackt und mich mit meinem ganzen Gewicht darauf gelegt hätte. Nur das gab ihm genug Halt. Er schrie vor Schmerz auf, weil das Wasser so wahnsinnig kalt war, aber er ließ dennoch nicht los. Im Gegenteil: Er tauchte auch die andere Hand ins Wasser und brüllte, ich solle ihn rausziehen.

Ich zog und zog wie ein Irrer. Keibi war sehr schwer, und er hatte ja zusätzlich das Gewicht der Frau zu schleppen. Fragt mich jetzt bloß nicht, wie, aber schlussendlich haben wir es gemeinsam geschafft, sie aus dem Wasser zu ziehen. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

Ich muss dazu sagen, Keibi war zu dem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt, und hatte nicht lange vorher sein Medizinstudium begonnen. Er nutzte dieses bisher angesammelte Wissen, und die Kenntnisse, die er sich bei einem Erste-Hilfe-Kurs angeeignet hatte, um der Frau so gut es ihm möglich war zu helfen. Mich schickte er los, um Hilfe zu rufen. Ich rannte wie wohl nie zuvor in meinem Leben, und schnell fand ich eine Telefonzelle und rief den Arzt.

Als der Krankenwagen kam, begleitete Keibi die Frau ins Krankenhaus und gab mir die Anweisung, zurück ins Hotel zu gehen.

Ihr beide könnt euch ja denken, was darauf passiert ist."

Seigi hob seinen Blick wieder und lächelte sanft in die Runde. Kioku nickte wissend, und Mamoru hatte eine ungefähre Ahnung von dem, was als Nächstes kam.

"Diese Frau war Megami, Deine Mutter, Mamoru. Natürlich noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber sie verliebte sich in den Mann, der ihr das Leben rettete, und heiratete ihn ganz genau drei Jahre später. Am 10. Dezember 1973."

"Genau drei Jahre später?", fragte Mamoru nach.

Seigi bestätigte. "Dieses Ereignis spielte sich auch an einem 10. Dezember ab. Die Hochzeit der beiden sollte praktisch ewig daran erinnern, warum diese Heirat überhaupt stattfinden konnte: Weil Megami noch am Leben war."

Nun setzte Seigi eine geheimnisvolle Miene auf, lehnte sich etwas näher zu Mamoru herüber und fragte ganz leise: "Soll ich Dir verraten, was Megami mir an ihrem Hochzeitstag anvertraut hat?"

Mamoru nickte gespannt.

Seigis Antwort war nur noch ein Flüstern, in dem dennoch eine Spur von Stolz mitschwang:

"Sie sagte mir, sie wünsche sich einen Sohn, der genauso gutherzig und hilfsbereit sein solle wie ihr über alles geliebter Keibi. Und glaube mir, Mamoru: Den hat sie auch bekommen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie unendlich stolz Megami und Keibi waren, als Du geboren wurdest."

Seigi lehnte sich wieder zurück und lächelte glückselig. Mamoru sah ihn mit großen Augen an und wusste zunächst nicht, was er sagen solle. Schlussendlich fasste er sich ein Herz und fragte: "Onkel Seigi? Sag, wie fühlst Du Dich jetzt? Ich meine, wo Du Dich doch jetzt so sehr an Papa erinnert hast?"

"Mamoru", seufzte der Gefragte und schenkte seinem Neffen ein gütiges Lächeln. "Ich erinnere mich unheimlich gerne an Deinen Vater. Und auch an Deine Mutter. Sicher, es tut wahnsinnig weh, alle beide nicht mehr um sich zu haben, aber das Leben geht weiter. Stell Dir vor, was wäre, wenn ich mein restliches Leben nur noch damit verbringen würde, zu trauern und Tränen zu vergießen. Ich würde erbarmungslos daran zugrunde gehen. Das würde ich nicht überleben. Es gibt noch mehr Menschen auf diesem Planeten, die es wert sind, geliebt zu werden. Und manchmal muss einfach etwas Schreckliches passieren, damit man bemerkt, was einem im Leben wirklich wichtig ist.

Hättest Du Freude daran, hier mit mir zu leben, wenn ich nur depressiv in der Ecke sitzen und nach dem Sinn des Lebens fragen würde? Wohl kaum. Und außerdem... außerdem glaube ich, dass Keibi so etwas nicht wollen würde. Er und Megami haben Dich in die Welt gesetzt, damit Du lebst. Damit ein Teil von ihnen lebt. Mamoru, die beiden haben Dich wirklich mehr geliebt als alles andere auf der Welt. Und ich bin mir sicher, ihr sehnlichster Wunsch wäre, dass Du Dein Leben genießt und glücklich bist. Deine Eltern hatten zwar nur eine kurze Zeit miteinander, um glücklich zu sein, aber diese Zeit haben sie genutzt.

Ich liebe meinen Bruder nach wie vor, und ich vermisse ihn immer noch sehr. Aber ich habe die Trauer und die Einsamkeit besiegt. Ich lasse sie nicht mehr mein Leben bestimmen. Ich bestimme mein Leben.

Und Du? Wie fühlst Du Dich jetzt?"

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Es ist schwer, so was zu beschreiben. Irgendwie fühle ich mich einsam. Ich wünsche mir so sehr, mich wieder an meine Eltern erinnern zu können. Es ist wie das dumpfe Gefühl, das man hat, wenn man für eine lange Reise die Koffer packt und sagt <Ich hab was vergessen; ich weiß bloß nicht, was>. Ein Gefühl der Leere. Ein Gefühl der ewigen Suche.

Aber irgendwie ist da jetzt noch was. Stolz. Ich finde es mutig, dass Papa so gehandelt hat. Aber... wieso war er so unendlich mutig und stark? Und ich bin so..." Er seufzte schwer und ließ die Schultern hängen.

"Du darfst eben nicht nur darauf vertrauen, dass Dir im Leben alles einfach zugeflogen kommt", erklärte Seigi. "Du musst auch mal selber was tun. Eigene Entscheidungen treffen. Eigene Erfahrungen sammeln. Du musst an Dir arbeiten. Und vor allem: Du musst an Dich glauben!"

Mamoru lächelte leicht. "Danke, Onkel Seigi. Jetzt fühle ich mich etwas besser."

"Und wollt ihr wissen, wie ich mich fühle?", platzte Kioku mitten rein.

"Und? Wie?", fragte Mamoru.

Darauf antwortete Kioku augenzwinkernd: "Hungrig!", und nahm sich eine Scheibe Toast.

<Typisch Tante Kioku!>

"Würdest Du mir in Zukunft öfters von meinen Eltern erzählen, Onkel Seigi?", fragte Mamoru.

"Klar, gerne doch!" Seigi sah auf seine Armbanduhr. "Es wird Zeit, ich muss jetzt los. Ich werde zwar etwas spät kommen, aber das ist nur halb so wild. Das hier war wichtiger."

Er verabschiedete sich und verschwand.

Noch eine ganze Weile frühstückten Kioku und Mamoru ohne mit einander ein Wort zu wechseln. Doch irgendwann durchbrach Mamoru die Stille.

"Tante Kioku? Ähm, auf den Fotos... da hat Papa doch diese kurzen Haare. Und ich hab etliche Bilder gesehen, da hatte ich dieselbe Frisur wie er..."

Kioku trank einen Schluck Tee und nickte dann. "Ich habe Deinen Vater nie anders gekannt als mit dieser Frisur. Aber es hat ihm wahnsinnig gut gestanden. Du hast damit übrigens auch super niedlich ausgesehen."

Mamoru schnitt eine Grimasse. "Kann aber nicht nur an der Frisur gelegen haben. Sonst hätte Papa sich die Haare bestimmt anders gemacht. Oder?"

Kioku lachte auf. "Ja, da hast Du wohl recht. In Wahrheit war das Schönste an Dir Deine Augen. Als Kind hattest Du wahnsinnig große Augen, und die hatten diese wunderschöne dunkelblaue Farbe! Du warst wirklich das schönste Kind im ganzen Land. Und Du wolltest immer die Frisur so tragen wie Dein Vater. Du bist richtig böse geworden, wenn man Dich nicht alle paar Monate zum Frisör mitgenommen hat."

"Was? Wirklich?", rief Mamoru erstaunt aus.

Kioku nickte. "Du wolltest unbedingt so sein wie Keibi. Ich glaube, Du wolltest gerne älter und erwachsener sein, als Du eigentlich warst. Aber seit Du bei Seigi und mir lebst, lässt Du Deine Haare immer weiter wachsen."

<Klar. Weil ich alles vergessen habe, was mit meinem Vater zu tun hat.>

Unbewusst krempelte er sich den rechten Ärmel seines Pullovers hoch und fuhr vorsichtig über die beiden langgezogenen Narben am Unterarm.

"Tante Kioku? Was würdest Du davon halten, wenn ich mir wieder so eine Frisur schneiden lassen würde?"



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  RallyVincento
2005-04-27T07:53:19+00:00 27.04.2005 09:53
*schluchz* *heul*
oh mein Gott das ist ja so romantisch und irgentwie total traurig *träne weg wisch*
schreib schnell weiter...
Von: abgemeldet
2005-04-26T16:07:40+00:00 26.04.2005 18:07
Das kennelernen seiner Eltern ist wie im Märchen^^. Irgendwie kann ich mir Mamoru nicht wirklich mit langen Haaren vorstellen, aber kurze Haare stehen ihm bestimmt viel besser! ^^! Ich freu mich schon auf dein nächstes Kapitel. Deinen Arm geht es nun anscheinend beser, supi !!!!!
By
Steffi


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