Regenschirm
Prolog
Regenschirm
Der tobende Wind peitschte den kalten Regen unbarmherzig auf die nasse Straße, ließ die Nacht unfreundlich und düster wirken. Sie blieb stehen, hob ihr Haupt und seufzte geräuschlos. Die Kälte tat gut, genau, wie es die Dunkelheit tat. Es war spät, das war ihr bewusst, ebenso wie ihre durchnässte Kleidung an ihrem Körper lag.
Die junge Frau besah sich das vorbeifahrende Auto einen Moment lang an, bevor sie weiterging. Sie wusste nicht einmal, wo sie entlang lief, hatte die Orientierung bereits vor Stunden verloren, doch das interessierte sie genauso wenig, wie ihre durchfrorenen Glieder.
Ihre Beine trugen sie von alleine über die einsame Kreuzung, die um diese
Urzeit, ohne Leben, gespenstisch wirkte.
Blinzelt stellte sie kurze Zeit später fest, dass sie, ohne es zu bemerken, in den kleinen Park abgebogen war. Die Eisenketten der Schaukel gaben leise Geräusche von sich und schnaufend ließ sie sich nieder.
Es war wie damals, als sie sich einmal mehr mit ihrer Mutter gestritten hatte.
Meistens war es sie gewesen, die sauer aus dem Haus gelaufen war und das hatte
sich bis heute nicht geändert. Es frustrierte, Rumiko wollte sie einfach nicht verstehen, doch damit hatte sie sich vor Jahren abgefunden, es war viel mehr der momentane Umstand, der sie vertrieb. Die kitschigen rosa Kleider oder die kurzen Röcke konnte sie ignorieren, ebenso die darauf folgenden Diskussionen, doch das jetzt konnte sie nicht missachten. Nicht einmal umgehen, dass Einzige, das sie seit Monaten tat, war, flüchten.
Sie war kaum Zuhause, versuchte ihr Bestmögliches, so selten dort zu sein, wie es ging.
Am Anfang hatte Rumiko die ganze Nacht über versucht, sie zu erreichen, hatte ihr Nachrichten geschickt. Zuerst waren es zornige, was sie sich einbildete und sie solle gefälligst nach Hause kommen, danach folgten unzählige, liebe, sorgenvolle Worte und mittlerweile einfach nur noch flehende Ausrufe. Auf keine einzige Kontaktaufnahme hatte sie je geantwortet. Durchgelesen, abgehört, ansonsten nichts.
Dieses Spiel wiederholte sich nun mehr seit drei Monaten und am nächsten Tag, wenn die Sonne schien, war die Welt wieder in Ordnung, für ihre Mutter und stundenweise für sie selbst.
Doch es war nichts in Ordnung und das wussten beide Frauen.
Ihre Augen öffneten sich, als der prasselnde Regen abrupt ein Ende fand.
„Wusste ich doch, dass ich mich nicht geirrt habe“, meinte Ryo und hielt seinen Schirm schützend über sie, ungeachtet dessen, dass er selbst nass wurde.
„Irren liegt im Auge des Betrachters.“ Obwohl sie versuchte, ihre Stimme
spöttisch klingen zu lassen, gelang es ihr nur mäßig. Seit er hier wohnte,
begegneten sie sich nach ihrem Geschmack zu oft.
„Es ist kurz nach Mitternacht, Rika.“
„Ach nein, ich dachte wir hätten frühen Morgen.“ Kurz fragte sie sich, was
er eigentlich um diese Uhrzeit hier trieb, aber verwarf sie diesen Gedanken
ebenso schnell wieder. Es war ihr egal.
Geräuschlos ausatmend stand sie auf, duckte sich unter seiner Hand hinweg und augenblicklich prasselte der noch anhaltende Regen auf sie nieder. Er war keine zwei Minuten hier und schon ging er ihr auf die Nerven, allein deswegen, weil sie ihre Ruhe haben wollte.
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, lief sie auf den Ausgang zu.
Vielleicht hatte sie Glück und bei ihr Zuhause schlief jeder.
„Hör auf, mir hinterherzulaufen“, fauchte sie, doch der barsche Ton blieb
weitestgehend aus. Rika wollte ihm wie immer antworten, hart und voller Ironie, zwar hätte es ihn nicht abgeschreckt, das tat es nie, doch würde es den Schein wahren, das alles bestens war. Wahrscheinlich war sie nur einfach müde zu
streiten, und dass sie es war, konnte sie nicht abstreiten.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich mitten in der Nacht alleine
rumlaufen lasse oder?“
„Doch, das denk ich, jetzt hau ab und lass mich zufrieden.“ Der Schirm, den er
wie zuvor über sie hielt, schützte ihre eh schon nasse Gestalt nur
geringfügig, was nicht unter an der Tatsache lag, dass sie möglichst viel
Abstand zu ihm hielt.
„Dann denkst du falsch, ich begleite dich nach Hause oder wohin du willst. Was machst du überhaupt so spät draußen und noch dazu bei dem Wetter?“
„Geht dich nichts an.“
Sie hörte ihn seufzen und auch spürte sie seinen Blick auf sich. Ryo war
genauso scharfsinnig wie sie selbst und das sie ihm nicht wie immer begegnete, dürfte ihm nicht entgangen sein, leider.
„Was führt dich hier raus?“ Nicht dass es sie wirklich interessieren würde,
aber vielleicht lenkte eine Konversation ab und er würde nicht nachbohren, was los sei. Nur leider war er nicht dumm, wie sie feststellen musste.
„Ich war bis vorhin bei Kazu und ein paar anderen Freunden. Ist alles in
Ordnung mit dir?“
„Alles bestens.“ Und wie alles bestens war.
„Sicher?“
„Ja“, stieß sie knurrend aus, legte ihre Hand auf den Schirm und drückte
ihn zu ihm hinüber.
„Ich brauch keine Begleitung, wir sehen uns.“ Mit diesen Worten rannte sie
los, dass er ihr hinterher rief, ignorierte sie eisern. Sie wollte niemanden um
sich haben und Ryo war der Letzte, den sie gebrauchen konnte.
Er sah ihr hinterher und seufzte leise, wie so oft, wenn sich beide einmal
trafen. Ryo glaubte ihr nicht und das nicht nur, weil sie gegen ihr sonstiges Verhalten, weggelaufen war. Rika fauchte und tobte, das war nichts Neues, vor allem, wenn sie sich mit ihm unterhielt, aber sie lief nicht einfach weg. So war sie nicht und so kannte er sie auch nicht, doch genau das hatte sie getan. Sie war geflüchtet und zwar vor ihm, weil sie genau wusste, dass er ihr nicht glaubte.
Die Sorge war es, die ihn dazu veranlasste, sein Handy herauszuziehen. Zwei
kleine Nachrichten an zwei verschiedene Frauen.