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A new Story

Die Geschichte einer Tänzerin~
von

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~ Silas Vergangenheit - Teil 1 ~

Sila stand in einem dunklen Raum. Es war so dunkel, dass sie nichts erkennen konnte. Erst nach einer Weile des Herumirrens erkannte sie weiter vor ihr etwas rotes, etwas helles. Es dauerte nicht lange bis ein beißender Geruch des Feuers in ihre Nase drang. Sofort wusste sie was es war. Die Hitze, das grelle Licht und der Rauch waren furchterregend. Sie wollte schreien, wollte weglaufen, zurück in die sichere Dunkelheit, aber es schien als hätte der Rauch sie gelähmt. Ihre Beine zitterten und die Lungen brannten wie Feuer. Sie wollte weinen, aber die Tränen waren wie verdampft. Keine einzige Träne füllte ihre brennenden Augen. Plötzlich kamen zwei Gestalten auf sie zu. Ein Mann und eine Frau. Beide waren kaum mehr als Haut und Knochen, die Frau kreidebleich mit langen, blonden, aber struppigen Haaren. Die Augen brannten sich in Silas Seele ein, wie Feuer. Sie bemühte sich die Augen zu schließen, aber eine harte Hand riss sie zur Seite. Sie blickte direkt in das hasserfüllte Gesicht des Mannes.

„Sieh was du uns angetan hast!“, schrie er sie an. „Schau dir genau an was du getan hast!“ Dabei zeigte er auf die bleiche Frau. Jetzt erst erkannte Sila, dass sie keinen dicken Bauch hatte, wie sie es noch in Erinnerung hatte, sondern ein langes, weißes Nachtgewand trug, das mit Blut durchtränkt war. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie wollte den Kopf zur Seite drehen, aber der Mann zwang sie die jammervolle Gestalt vor ihr anzusehen.

„Bist du jetzt zufrieden? Hast du endlich deinen Willen bekommen?“

Mit diesen Worten verstärkte er seinen Griff um ihren Arm und schleuderte sie in das Feuer.
 

*** ** * ** ***
 

Schweißgebadet und mit einem lauten Schrei, schreckte Sila aus einem Alptraum auf. Der Platz auf dem sie im Bett lag war schweißdurchtränkt. Ihr selbst klebte der Schlafanzug am Körper und die Haare an ihrem Gesicht und Hals. Zitternd sprang Sila aus dem Bett, riss die oberste Schublade ihrer Kommode auf, um sich einen neuen Pyjama herauszunehmen. Die Finger zitterten.

'Es wird immer schlimmer', gab sie zu. All die Jahre seit dem Tod ihrer Eltern wurde sie nun schon von Alpträumen geplagt. Dies war auch der Grund, warum sie meist bis zur Erschöpfung und tief in die Nacht hinein getanzt hatte. Wenn sie sich gerade noch bis zum Bett schleppen konnte, fiel sie in einen komaähnlichen Schlaf. Einen wohltuenden und traumlosen Schlaf.
 

Ihre besorgten Zieheltern hatten oft den Arzt mitten in der Nacht angerufen, weil sie Sila, die schreiend und sich windend im Bett lag, nicht wach bekamen. Kiso hatte es nie mitbekommen, denn er schlief schon als kleiner Junge wie ein Stein. Sila bat und bettelte, dass niemand jemals davon erfahren durfte. Mit dem Tanzen wurden die Alpträume durch die Erschöpfung nach dem Training seltener. Aber seit Sila nach der überstandenen Krankheit nicht mehr die Kraft zu so einem extremen Training hatte, wurden die Träume zusehends häufiger und schlimmer. Die Ärzte taten es als psychischen Stress ab oder gaben den Schock an, den der Tod der Eltern bei Sila ausgelöst hatte. Auch die verloren gegangenen Erinnerungen schoben sie auf diesen Zustand. Sila hatte damit leben gelernt, weil sie wusste, dass nur sie selbst die Erinnerung an die Eltern hatte. Es gab keine näheren Freunde, die sie hätte befragen können. Sie wusste von keinen anderen Menschen, die ihre Eltern kannten, außer den Diamons.
 

Sila stand frisch umgekleidet vor dem Spiegel im Badezimmer und suchte ein Anzeichen von einer Träne. Es war nichts zu sehen. Wie oft hatte sie schon in ihrem Leben geweint? Chuckie, Aron, Soujiro, sie alle lösten Tränen in ihr aus. Aber als sie von dem Tod ihrer Eltern erfuhr, gab es keine Tränen. Oft fragte sie sich warum es so war. Warum betrauerte sie den Tod ihrer Eltern nicht? Warum konnte sie mehrere Monate lang keinen Ton in ihrer Kehle formen? Durch die Liebe der Zieheltern, kam sie langsam aus ihrem Schneckenhaus heraus. Dank Kiso lernte sie nicht nur das Tanzen, sondern auch wieder das Lachen, die Freude an den schönen Dingen. Und sogar ihre Krankheit hatte dazu beigetragen, dass sie die Ruhe, einen einfachen Sonnenstrahl oder das Zwitschern eines Vogels genießen lernen konnte. Aber immer wenn sie an die Eltern dachte, schien es, als würde sie von Dunkelheit umhüllt. Waren sie schlechte Eltern gewesen? Nein! Silas Erinnerungen waren zwar verschwommen, aber es kehrten über die Jahre hinweg immer mehr Kleinigkeiten, völlig aus dem Zusammenhang gerissene Erinnerungsfetzen, zurück. Sie war überzeugt, dass sie eine glückliche Kindheit hatte. Im obersten Fach des Nachtschränkchens lag ein gerahmtes Foto der Eltern. Die Zieheltern hatten noch ein paar Fotos von den Eltern, als sie noch jung waren und gerade einige Monate verheiratet waren. Fotos, die entstanden, bevor die Diamons sich entschlossen hatten ins Ausland zu ziehen. Der Mann und die Frau hatten auf dem Bild das gleiche Größenverhältnis wie die Gestalten in ihren Träumen. Aber sie sahen frisch und lebendig aus. Ein fröhliches Lächeln umspielte beide Gesichter. Die Haare der Mutter hatten die gleiche Farbe wie ihre eigenen, waren aber lang und wellig. Sie trug die Haare offen auf dem Bild und sah Sila sehr ähnlich. Der Mann war nicht sehr muskulös, hatte aber ein warmes Lächeln und hielt seine Hand ganz zärtlich auf einem kleinen Bauch, der sich bei der Frau wölbte. Sila wusste, dass sie dort entstand. Der Mann war so ganz anders als in ihrem Traum. Im Traum sah er sie hart an oder hielt ihren Arm fest. Manchmal schleuderte er sie auch in das Feuer hinter ihnen hinein. Oft hatte die weibliche Gestalt in ihrem Traum einen Bauch. Sila schloss es darauf, dass sie nur dieses eine Foto von den Eltern in ihrem Besitz hatte und die Mutter eben so im Kopf eingespeichert wurde. Das Feuer war natürlich jenes Feuer, welches die Eltern umbrachte. Aber warum war der Mann immer so voller Wut gegen sie und warum hatte die weibliche Gestalt keinen Bauch mehr in ihren Träumen?
 

Sie seufzte auf. Wie nach jedem schrecklichen Traum, würde sie nicht wieder einschlafen können und sich auf ihren Balkon setzen. Sie würde den Traum verdrängen und auf den Sonnenaufgang warten. Und einige Zeit später würde ein fröhlicher Skyre auf sie warten und sie zum Internat begleiten.

'Heute habe ich nicht von ihm geträumt', dachte sie. Seit mehreren Wochen kamen in ihren Träumen nicht mehr nur die beiden Gestalten, das Feuer und sie selbst drin vor. Eine weitere Person hatte sich in die Träume geschlichen. Es waren Alpträume, schlimm wie eh und je. Manchmal jedoch tauchte da diese Person auf, tief im Hintergrund verborgen und beobachtete sie. Mit seinem Blick schien er ihr bis ins Herz sehen zu können. Sila wusste natürlich nicht genau wer es war, aber trotz allem spürte sie eine ungeahnte Wärme. Auch wenn die Träume schlimm waren, war diese Person dabei, war es erträglicher. Sie wusste nicht wer es war. Eine Vermutung ließ sie an Skyre denken, der es tatsächlich geschafft hatte sie ins Grübeln zu bekommen. Er wurde immer präsenter in ihren Gedanken und erschreckender weise ebenso in ihren Gefühlen.
 

*** ** * ** ***
 

Sila saß auf einem Stuhl im leeren Trainingsraum. Um sie herum herrschte Stille. Das Training der kleinsten Schüler war bereits eine Zeit lang vorüber. Nun hatte sie auch ihre letzte Unterrichtseinheit in ihrem ersten Quartal gemeistert. Sie konnte nicht leugnen, dass sie zufrieden mit ihren Schülern war. Sowohl die Anfängergruppe, als auch ihre kleinsten Schüler haben viel in diesen paar Monaten gelernt. Nach sechswöchigen Ferien würden neue Schüler auf sie warten und somit würde ein neues Semester voller Musik, Tanz und Training starten. Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen als sie an die enttäuschten Mütter denken musste, die vergeblich nach Skyre Ausschau hielten. Er hatte Sila an diesem Morgen ausnahmsweise nicht abgeholt und begleitet. Da er schon in vierzehn Tagen zurück nach Korea musste, standen viele Absprachen und andere Dinge für ihn an. Sie verstand nichts von dem, was er zu tun hatte. Auch sprach er kaum darüber. Wenn sie daran dachte, dass Skyre immer noch auf eine Antwort wartete, ob sie mit nach Korea kommen wollte oder nicht, wurde ihr nicht ganz wohl. Irgendetwas in ihr wollte sich vehement dagegen wehren mit Skyre in sein Land zu reisen. Was es genau war, wusste sie nicht. Vielleicht war es ihre letzte und einzige Möglichkeit die Mauer, die sie nun schon so lange um ihre Gefühle aufgebaut hatte, erhalten zu können. Vielleicht war es die Angst, dass sie danach nicht mehr die Kraft haben würde sich gegen alles, was ihn mit ihr verband, zu wehren. Vielleicht weigerte sie sich deswegen sein Land, seine Familie, seine Freunde und seine andere Identität zu erleben.
 

Sila gab sich einen Ruck. Schon wieder kreisten die Gedanken um solche Dinge. Dabei wollte sie an diesem Vormittag die Ruhe und das Alleinsein nutzen um sich auf die Wahl ihrer neuen Fächer zu konzentrieren. Es gab einige tolle Angebote und am liebsten würde sie fast alle Kurse auswählen. Natürlich musste sie sich entscheiden. Zwei Leistungsfächer mussten ausgewählt werden. Auch wenn Sila nun zum Kollegium gehörte, war ihr Studium am Internat für Tanz noch nicht zu ende. Gerade als Trainerin standen einige zusätzliche Pflichtkurse für sie an. Auf die Zeit der Ferien freue sie sich sehr. Denn dann hatte sie etwas mehr Zeit an einigen Dingen zu arbeiten, zu denen sie sonst nicht kam. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie den Antrag mit den gewählten Kursen und Leistungsfächern, zusammen mit ein paar Lizenzanträgen in ihrer Sporttasche verstaute. Gut gelaunt riss sie die Tür aus dem Trainingsraum auf und wäre beinahe mit jemandem zusammen gestoßen. Erschrocken wich Skyre ihr gerade noch rechtzeitig aus. Nach einem kurzen Schreckensmoment erklang ein fröhliches Lachen.

„Ein paar Sekunden früher und ich müsste mir meine Nase im Krankenzimmer richten lassen“, grinste Skyre.

„Das kommt nur davon, wenn man immer mit dem Kopf zu erst in einen Raum reingehen möchte“, konterte Sila gekonnt. Sie erkannte gleich, dass Skyre weder Trainingstasche, noch Laptop mit hatte. Er sah ihren verwunderten Blick und beeilte sich mit der Erklärung:

„Ich bin mit allem fertig geworden, was für heute anstand. Weil du eh erst nach dem Mittag eine Pause machst, hab ich meinen Trainingskram erst gar nicht aus dem Spind genommen“. Sila zuckte mit der Schulter, während beide sich in die Richtung der Schränke machten, damit Silas Sporttasche auch verstaut werden konnte.

„Wie war das Training?“, wollte Skyre wissen.

„Es war eigentlich wie immer. Nur etwas unruhiger. Die Kinder wussten einfach, dass es ihre letzte Stunde vor den Ferien war. Nur“, dabei sah sie Skyre verschmitzt an, „die Mütter haben dich sehr vermisst.“

Skyre ging nicht auf ihre Neckerei ein. Er wartete geduldig bis Sila ihre Tasche im Spind verstaute und noch einige Unterlagen herausnahm, bevor das Schloss zugemacht wurde.

„Sind das deine Kurse für das neue Semester?“, wollte er wissen.

Sila fuchtelte mit ihren Formularen herum. „Ja, unter anderem. Die Kurse für das nächste Semester muss ich gleich noch abgeben. Bei dieser Gelegenheit wollte ich noch ein paar Anträge für meine nächsten Lizenzen da lassen.“

„Welche Lizenzen?“

„Na, meine Lizenzen für den Schein der Choreographietrainerin!“

„Ich wusste gar nicht dass du dich auch dafür interessierst.“

„Du weißt vieles nicht von mir, Sky!“, zwinkerte Sila ihm zu. Sie hatte es eher als Scherz gesagt. Dabei bemerkte sie nicht dass Skyre sie nachdenklich ansah. Sie erzählte nur munter weiter: „Mir fehlen noch sechs Lizenzen, dann bekomme ich mein Zertifikat!“

Skyre atmete tief durch, verdrängte die Gedanken, die ihn beschäftigten und fragte verwundert: „Nur sechs? Bei uns in Korea benötigt man mindestens das Doppelte um das Zertifikat dafür zu erhalten.“

„Hier auch. Dreizehn insgesamt. Sieben Lizenzen habe ich schon.“ Ihre Augen funkelten. Skyre war so überrascht, dass er mitten im Stehen inne hielt.

„Sieben? Wann hast du denn das geschafft?“

„Als du in Korea warst.“

„In den zwei Monaten hast du sieben Lizenzen in Choreographie bekommen?“

Sila drehte sich nun zu Skyre, um seine Mimik zu studieren. Er war wirklich sehr erstaunt, stellte sie verwundert fest. „Ist das zu lange?“, wollte sie vorsichtig wissen.

„Zu lange? Ganz im Gegenteil! Wie hast du das in der kurzen Zeit geschafft? Und dann noch mit den Folgen deiner Krankheit!“

„Ich bin nicht mehr krank!“, stellte Sila klar, „Mein Körper kann einfach nicht mehr die Leistung von früher bringen. Dass ist alles. Außerdem sagen meine Dozenten, dass ich Talent habe. Und es macht mir wirklich Spaß. Zur Zeit fordert es mich mehr heraus als einfach nur zu tanzen und zu spüren wie meine Kraft nicht wieder kommt!“

Skyre sah einen Anflug von Röte in ihrem Gesicht, als würde sie mit ihren Tränen kämpfen. Sofort entschuldigte er sich: „Ich wollte dich nicht kränken! Du bist eine tolle Tänzerin, wirklich! Ich habe nur nicht gedacht, dass dich Choreographie interessiert.“

„Ist schon gut. Manchmal nagt Selbstmitleid in mir. Gerade wenn ich versuche mit meinen Freunden Schritt zu halten, aber merken muss, dass ich es einfach nicht mehr packe.“

Skyre hatte das Bedürfnis ihr irgendwie zu helfen, aber er fühlte sich machtlos. Oft fragte er sich im Stillen wie sie getanzt hatte, bevor er sie kennen lernte.

„Früher konnte ich sogar Kiso trotzen. Wenn ich ihn geschlagen habe, obwohl er mehrere Extratrainingseinheiten an seine Kurse gehängt hat, dann hat er getobt wie sonst wer.“

Skyre beobachtete wie Silas Augen vor Stolz funkelten. Er hatte schon von Anfang an gemerkt, dass die beiden Ziehgeschwister viel verband. Leider kannte er Silas Vergangenheit nur durch Andeutungen von anderen. Noch nie hatte er sich getraut sie selbst danach zu fragen.
 

*** ** * ** ***
 

Wie an jedem letzten Schultag, spürte man auch in dem Tanzinternat, dass alles etwas ruhiger wurde. Manche Schüler befanden sich bereits auf der Heimfahrt. Andere Schüler belegten in den Ferien Spezialkurse und blieben in ihren Apartments. Auch das Mittagessen in der Kantine verlief wesentlich ruhiger, weil weniger Mittänzer da waren. Sango und Shadow planten in den kommenden Wochen zu den jeweiligen Eltern zu fahren um den Partner den Familien vorzustellen. Shizumi hatte ihre Zeichenkurse erfolgreich gemeistert und war bereits bei den Eltern. Dort wollte sie dem Gelernten etwas mehr Zeit widmen. Phie überlegte sich, ob sie nicht die Eltern besuchen fahren wollte. Philphlader musste noch zwei Examen schreiben und war dementsprechend mit lernen beschäftigt. An den Vorabenden kam sie trotzdem häufig mit Kiso in die Tanzhallen um ihren Kopf frei zu machen. Massayos FAM bekam stetigen Zuwachs, womit sie voll auf beschäftigt war. Hier und da traf sie sich noch mit ihren Freunden, aber es nahm stärker ab. Der Sommer sorgte wieder dazu, dass das Tempo zurückgeschraubt wurde, stellte Sila fest. Am Nachmittag war sie ausnahmsweise mit Skyre in der Stadt. Sie wollte eigentlich nichts bestimmtes kaufen. Da Skyre unbedingt bei ihr bleiben wollte, entschied Sila sich anstelle des Parks für die Stadt. Im Park liefen zu der Jahreszeit einfach zu viele Paare herum. Es war ihr sehr unangenehm dort mit Skyre ihre Zeit zu verbringen. Auf dem Rückweg gingen sie dann doch durch den Park, weil der Weg eindeutig schöner war als an der Straße zu laufen. Kaum hatten sie den Park betreten, fiel Sila ein Paar auf, das ihr mehr als bekannt vorkam.

„Kiso! Imôto!“, rief sie so plötzlich, dass Skyre zusammenzuckte. Er hing seinen Gedanken nach und wunderte sich sehr, als Sila die beiden sah. Kiso und Philphlader kamen gut gelaunt herbei. Philphlader erzählte, dass sie früher mit dem Lernen fertig wurde und die Zeit gerne zum Tanzen nutzen wollte. Weil im Internat nicht viel los war, verloren sie schnell die Lust zum Tanzen und gingen stattdessen in den Park.

„Das trifft sich ja super, Sis!“, freute sich Kiso, „Ihr seid auch bestimmt unterwegs ins Internat, oder?“ Als Skyre und Sila nickten, fuhr Kiso ehrgeizig fort. Seine Augen bekamen ein gewisses Funkeln. Ein Funkeln, das er immer bekam, wenn er etwas vor hatte. „Wie wär's wenn wir nen Paartanzwettbewerb ausfechten?“

„Unter welchen Bedingungen?“, wollte Skyre zuerst wissen.

„Ihr und wir gegeneinander. Jedes Paar hat einen Song, darf aber den Stil wählen. Mehr Songs würden Sila nur unnütz überlasten.“

Sila und Skyre sahen sich fragend an.

„Gegen einen kleinen Wettbewerb hätte ich nichts einzuwenden. Was ist mit dir, Sky? Imôto?“

Die Angesprochenen waren einverstanden. In dem Sinne machten sich die Vier auf den Weg zurück in das Internat. Sila und Philphlader gingen zusammen hinter den Männern her. Sie hatten es irgendwann aufgegeben ihrem schnellen Schritt mithalten zu wollen. So ließen sie sich zurück fallen, um etwas mehr Zeit zum Plaudern zu haben. Kiso und Skyre merkten nicht wie die Frauen zurückfielen. Sie waren ebenso in einer Unterhaltung verwickelt. Irgendwann bemerkte Kiso, dass Skyre über etwas nachgrübelte.

„Drückt dich irgendwo der Schuh?“

„Ich hab mich nur grad was gefragt.“

„Was hast du dich gefragt? Spuck's aus!“, ermutigte Kiso ihn.

„Naja“, Skyre strich sich verlegen durch das Haar. Er wusste nicht warum es ihm so schwer fiel Kiso etwas über Sila oder über die Vergangenheit der beiden zu fragen. Oft hatte er das Gefühl von Kiso beobachtet zu werden. Als würde er jeden seiner Schritte und Worte mit seinen Blicken aufsaugen. Warum er sich so fühlte, war ihm nicht klar.

„Drucks nicht rum! So schlimm kann's doch nicht sein, was du mich fragen willst.“

Skyre nahm allen Mut zusammen: „Ich habe mich schon oft gefragt … also … Ich meine … Sila und du, ihr seit doch gemeinsam groß geworden, oder?“

„Yeah, right!“

„Gab es nie einen Moment wo du, oder sie … also ...“, Skyre senkte den Blick. Was in aller Welt war nur in ihn gefahren, dass er im Begriff stand Kiso das zu fragen, was ihm schon lange auf dem Herzen lag? Da er bereits angefangen hatte und sah, dass Kiso mit angehobener Augenbraue darauf wartete, dass er endlich einen vernünftigen Satz zustande brachte, fuhr er leise fort: „Wenn man mit jemandem aufwächst, verbringt man sicher viel Zeit zusammen. Ich habe mich schon oft gefragt ob nicht bei euch Gefühle für den anderen in dieser Zeit entstanden sind...“

„Sila hat mich immer als ihren großen Bruder gesehen!“, kam Kisos direkte Antwort. Als daraufhin eine Stille zwischen den beiden Männern entstand, vermutete Skyre dass es nichts weiter dazu zu sagen gab. Umso mehr verwunderte es ihn, als Kiso ihm direkt in die Augen sah und ernst ergänzte: „Ich war es, der sie geliebt hat.“

Skyre verschlug es fast die Sprache. Er starrte Kiso nur an. Als Kiso ein Grinsen zeigte, vermutete Skyre schon, dass er ihn nur auf den Arm nehmen wollte.

„Ziemlicher Schock, was? Seit sie wieder lachen konnte, war ich ihr hoffnungslos verfallen.“ Dies war der Moment, an dem sich Skyre wünschte, Kiso nie gefragt zu haben. Seine direkte Antwort wühlte Skyre mehr auf, als er geahnt hatte.

„Meine Eltern haben mich sofort durchschaut“, sprach Kiso eiskalt weiter, „aber Sila. Sie lebte in dem Wissen, dass sie nun einen Bruder hatte. Wie sollte sie denn auch je etwas anderes denken?“ Kisos Blick ruhte auf Skyre. Seine Gesichtszüge waren verhärtet, als würde er die Zeit noch einmal durchleben. „Ich habe es ihr nie gesagt. Hab sogar nicht einmal Versucht ihr den Hof zu machen oder irgendetwas dergleichen!“

Nach einer langen Stille fragte Skyre: „Weiß sie es denn mittlerweile?“

„Nein! Anata habe ich es erzählt, weil ich nicht wollte, dass sie es von jemand anderem erfährt. Und weil sie meine Traumfrau ist! Aber wenn du es meiner Sis verrätst, breche ich dir alle Knochen, hörst du?!“

Kiso sah ihn so ernst an, dass Skyre tatsächlich glaubte, er wäre dazu in der Lage. Noch tiefer aufgewühlt wagte er es nicht mehr weitere Fragen zu stellen. Kiso hatte Sila also mehr als eine Schwester geliebt? Skyre musste schlucken. Dank einem Seitenhieb schreckte er aus seinen Gedanken hoch. Kiso sah aus, als wäre er nun an der Reihe die Fragen zu stellen:

„Genug von mir, Kumpel. Was vergangen ist, ist vergangen! Was mich vielmehr interessiert ist was DU für sie empfindest!“

Diese Frage verfehlte nicht sein Ziel. Kisos direkter Blick machte ihm klar, dass er nicht ausweichen konnte. Wozu auch? Es hatte keinen Zweck Kiso anzulügen. Skyre musste ehrlich feststellen, dass er Kiso trotz seiner rauen Schale sehr schätzte. Ebenso seine direkte Art. Scheinbar hatte er aus seinen Fehlern gelernt.

„Was ich für sie empfinde?“, Skyre machte eine lange Pause um seine Worte zu wählen. „Es gab noch nie eine Frau, die mich so fasziniert hat wie Sila. Niemand außer ihr hat es jemals geschafft, dass mein Herz einen Sprung macht, wenn ich nur an sie denke. Nie hat mir die Frage, was sie von mir denkt, schlaflose Nächte beschert.“ Es tat gut seine Gedanken einmal auszusprechen. „Ich will nicht angeben. Es gibt jede Menge Frauen, die ich kennengelernt habe, seit unsere Band so viel Erfolg im Musikgeschäft hat. Frauen haben mich aber nie auf diese Weise interessiert. Ich hatte niemals das Verlangen jemals eine Beziehung mit einer von denen einzugehen, egal wie hübsch sie waren oder was sie alles konnten. Bei Sila ist es etwas anderes. Ich fühle mich zu ihr hingezogen, kann kaum klar denken, wenn sie bei mir ist...“

Skyre ertrug es nicht Kiso bei dem Geständnis in die Augen zu sehen. Seinen Blick richtete er auf den Weg im Park. Erst als er einen starken Arm auf seiner Schulter spürte, suchte er den Blickkontakt.

„Dann möchte ich dir einen guten Rat mit auf den Weg geben, Kumpel. Wenn du sie nicht verlieren willst, solltest du mit offenen Karten spielen. Sila wird dich als guten Freund sehen, wenn du nichts veränderst. Ich habe den Fehler ein Mal gemacht. Ich bin jetzt glücklich verheiratet und somit bereue ich es auch nicht mehr. Aber es hat ziemlich viel Schaden angerichtet als ich erkannte, dass sie nie etwas anderes in mir sehen wird als einen Bruder.“ Skyre biss die Zähne zusammen. „Wenn du ihr nicht anfängst den Hof zu machen, wird vielleicht irgendwann ein anderer Kerl ihre Zuneigung bekommen. Und du wirst nur daneben stehen und zuschauen können.“

Kiso blieb stehen. Sie hatten die Lobby erreicht. Weiter hinter den Männern gingen Sila und Philphlader noch plaudernd den Weg entlang. Kiso sah den Blick, mit dem Skyre zu ihnen hinübersah. Skyre spürte einen Hieb mit der Schulter. Kiso grinste ihn an.

„Du packst das schon!“
 

*** ** * ** ***
 

Kiso hatte die Zeit für den kleinen Wettbewerb auf den frühen Abend gesetzt. Sila blickte auf die Uhr.

„Wir haben noch jede Menge Zeit um dafür zu üben“, sagte sie lächelnd zu Skyre.

Dieser nickte. „Wie wäre es wenn wir uns umziehen und du suchst schon mal einen Raum für uns, Sila?“, schlug er vor.

Sila runzelte die Stirn. Normalerweise kümmerte er sich immer um den Raum, wenn sie klassischen Paartanz übten. Skyre bemerkte ihr Zögern.

„Ich habe mir extra für diese Gelegenheit einen passenden Anzug besorgt. Den muss ich aber erst noch aus dem Apartment holen. Macht es dir was aus auf mich zu warten?“

Sila machte es nichts aus. Sie war verwundert, aber auch neugierig was er sich gekauft hatte. Sie entschied sich für das Partneroutfit von Phie. Es stand ihr gut und war elegant genug um damit vor eine Jury zu treten. Bei solchen internen Wettbewerben wurde eh nicht so ganz extrem auf die Kleidung geachtet wie bei normalen Wettbewerben. Nur mit Jeanshose oder der berühmten HipHopper-Kleidung brauchte man erst gar nicht anzutreten. Sie blätterte noch in der Liederliste und hörte in einige Songs rein, als die Tür aufging. Sofort hatte Skyre Silas Aufmerksamkeit als er den Raum in einem eleganten schwarz-weißen Paartanzanzug betrat. Auffällig war jedoch, dass in seinem kurzen schwarzen Oberteil türkisfarbige Elemente eingearbeitet waren. Normalerweise trug ein Mann schwarz-weiß, es sei denn die Dame hatte eine bestimmte Farbe. Diese Farbe musste dann auch beim Mann vertreten sein. Als sie auf ihr Oberteil und den Gürtel sah, musste Sila auflachen.

„Sag jetzt nicht, dass du dein Outfit meiner Farbe angepasst hast!“

Lächelnd stellte Skyre seine Trainingstasche auf einen Stuhl und machte sie auf. Dann erst sah er Sila einige Momente lang in die Augen.

„Da muss ich dich enttäuschen, Prinzessin. Das Outfit habe ich nicht dem Outfit angepasst, dass du an hast. Wie hätte ich denn wissen können für welches deiner Outfits du dich heute entscheiden würdest?“

Diese Frage war berechtigt. Sila zuckte mit den Schultern, lobte ihn für seinen guten Geschmack und begutachtete den perfekten Sitz des Anzugs.

„Hast du ihn dir etwa anfertigen lassen?“, fragte sie verwundert.

„Ja. Wenn ich schon eine so gute Mittänzerin habe und wir sogar schon zu Wettbewerben eingeladen werden, dann muss ich doch vorbereitet sein.“

Sila lächelte und begab sich zum Führerpult. Skyre überhäufte sie mal wieder mit Komplimenten. Ihr wurde warm ums Herz. Dennoch entschied sie sich es, wie sonst auch, einfach zu ignorieren. „Welchen Stil möchtest du gerne tanzen? Wie ich Kiso kenne, wird er wahrscheinlich den Samba wählen. Seit er verheiratet ist, liebt er den Stil und ich muss gestehen, dass wir nicht den Hauch einer Chance haben, wenn sie es wirklich aussuchen.“

„Wer wird denn gleich so schwarz sehen? Denkst du nicht, dass wir beide ebenso gut harmonieren wie die Beiden?“, wollte Skyre wissen. Sila kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern war wieder ganz mit der Liederliste beschäftigt.

„Willst du deinen Bruder um jeden Preis schlagen?“

„Nein! Nicht um jeden Preis. Eigentlich tanze ich weil es Spaß macht und nicht um unbedingt an der Spitze zu sein... Es sei denn mein Bruder fordert mich heraus... Ich fürchte ich habe schon längst seinen Ehrgeiz bei sowas übernommen!“

Natürlich konnten Sila und Skyre ebenfalls Samba wählen, aber Skyre hatte die wunderbare Eigenschaft mit den Tänzerinnen nicht zu nahe zu tanzen. Er hielt stets den gewünschten Abstand ein. Wenn man jedoch beim Samba den Sicherheitsabstand einhält, dann wirkten die Bewegungen etwas plump. Kiso nutzte natürlich jede Gelegenheit um seine Frau eng an sich zu drücken, was bei den beiden einfach unglaublich toll aussah. Man merkte, dass sie ein Liebespaar waren, auch wenn sie tanzten. Ihre Augen leuchteten einander an, dass es Sila ganz warm ums Herz wurde. Sie zuckte etwas zusammen, als Skyre plötzlich hinter ihr stand und seine Hand direkt neben ihre auf dem Pult positionierte. Ganz in Gedanken hatte sie ihn noch nicht einmal bemerkt.

„Dann lass uns doch den ChaChaCha tanzen. Den magst du doch so sehr und wir haben doch die neue Choreographie mit Professor Kent ausgearbeitet.“

„Bist du sicher, dass wir die Choreographie nicht noch besser einstudieren sollten?“

Skyre sah ihr in die Augen. Irgendwie kam er ihr heute viel selbstbewusster vor.

„Ich bin bei dir. Lass dich einfach führen.“ Er hielt kurz inne, dann räusperte er sich etwas feierlich und fragte vornehm: „Vielleicht möchtest du dich erst einmal fertig anziehen, bevor wir den ersten Tanz wagen?“

Verwundert drehte sie zu ihm hin. „Ich bin fertig angezogen...?!“ Doch als sie zur Sicherheit an sich herabschauen wollte, sah sie, dass Skyre ein Kleid vor ihr hielt. Als sie den edlen Stoff und die Farben sah, verschlug es Sila glatt die Sprache. Skyre stand nur vor ihr und lächelte bis über beide Ohren.

„Willst du es dir nicht anschauen?“

Staunend nahm sie ein Paartanzkleid in genau den gleichen Farben wie sie Skyre trug in die Hände. Der Stoff war weich. Es war ein schwarzes, kurzes Kleid, mit einer Fülle an bauschigen Rüschen, die in wunderschönem Türkis schimmerten. Türkis, in der blauen und grünen Richtung, waren Silas Lieblingsfarben. Und insgeheim hatte sie sich schon immer so ein Kleid gewünscht, das beim Tanzen hin und her hüpfte. Bisher hatte sie nie etwas gefunden, das ihr gefallen hatte. Nichts, was so aussah wie dieses Stück in ihrer Hand. Mit leuchtenden Augen fragte sie: „Ist das für mich?“ Als Skyre nickte, erklang ein ausgelassener Jubel im Saal.

„Darf ich es anprobieren?“

„Aber ich bestehe darauf!“

Es dauerte nicht lange, bis Sila wieder im Raum erschien. Das Kleid passte ihr perfekt. Mit roten Wangen drehte sie sich einmal um die eigene Achse, als Skyre sie betrachtete. Das Kleid wirbelte so hoch, dass man ihre kurze, schwarze Hose, die sie immer unter ihren Röcken trug, sehen konnte.

„Wie findest du es? Trifft es deinen Geschmack?“, wollte er wissen.

„Und ob! Einhundert Prozent, Sky! Das ist das schönste Kleid, das ich je an hatte. Woher hast du denn überhaupt meine Größe gewusst?“

„Phie hat mir geholfen. Ihr wart doch erst vor kurzem gemeinsam einkaufen.“

Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Sie strich sanft die Rüschen entlang und schenkte Skyre das schönste Lächeln. Etwas schüchtern stand sie vor ihm und wusste nicht so recht ob sie ihn umarmen sollte oder nicht. Skyre ging es ähnlich, aber er umging die peinliche Stille indem er Sila bat auf den angebotenen Stuhl platz zu nehmen. Sie gehorchte aber wieder zeigte sich Verwunderung in ihrer Mimik.

„Du hast zwar schicke Stiefel an, aber ich denke nicht, dass sie zu dem Kleid passen würden.“ Skyre kniete sich hin, schob eine Schachtel hinter seiner Trainingstasche hervor und öffnete den Deckel. Zu ihrem Erstaunen sah Sila ein paar helle Absatzschuhe, die durch und durch glitzerten und zum Schnüren gedacht waren.

„Sind die auch für mich?“

„Natürlich. Darf ich sie dir anziehen?“

Mit hochrotem Kopf nickte sie und zog ihre Stiefel aus. Dann sah sie stumm zu, wie er ihr ganz vorsichtig die Schuhe anzog und die Schnüre zurechtwickelte.

„Die Verkäuferin hat mir genau gezeigt wie ich es mache muss“, sagte er lächelnd. Doch kaum hatte er die letzten Schnüre befestigt, sah er wie Sila zusammenzuckte.

„Hab ich dir weh getan?“, fragte Skyre überrascht. Als er aufblickte und sah wie blass Sila plötzlich geworden war, erschrak er. „Sila! Was ist mit dir?“

Sila starrte einen Moment lang einfach nur auf einen Punkt. Ihre Schuhe nahm sie gar nicht mehr wahr. Dann atmete sie einmal tief ein, als wäre sie eben aus dem Wasser getaucht.

„Geht es dir nicht gut?“ Skyre machte sich Sorgen, weil sie sich von jetzt auf gleich völlig verändert hatte. Sila zog die Stirn kraus, als wäre ihr in dem Moment etwas eingefallen. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet als sie ruhig fragte: „Weißt du eigentlich, dass es damals in Israel die erniedrigendste Aufgabe der Sklaven war, die Füße von anderen zu waschen?“

Skyre war verblüfft. Was redete sie denn da? Aber Sila ließ sich nicht verunsichern. Langsam stand sie auf und ging einige Schritte zu dem großen Fenster des Saales. Skyre wusste nicht wie lange es im Raum still gewesen war, bis Sila die Stille durchbrach:

„Es ist merkwürdig, dass mir das jetzt erst wieder einfällt.“ Sie legte ihre Handrücken auf die Wangen. „Meine Mutter hatte mir als Kind immer Geschichten aus der Bibel vorgelesen.“ Sie drehte sich zu Skyre um und sah ihn mit einem ihm unbekannten Blick an. Er hatte sich mittlerweile wieder aufgerichtet und neben sie gestellt.

„Als du mir die Schuhe zusammengebunden hast, musste ich daran denken wie Mutter mir erzählte, dass Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hatte...“ Mutter. Dieses Wort war ihr auf einmal so vertraut. Skyre betrachtete Sila eine Zeit lang. Dann wagte er die Frage:

„Erinnerst du dich noch an deine Eltern?“

Sila schüttelte den Kopf. „Nein. Seit ich meine Eltern identifizieren musste, habe ich einen Schock erlitten, der meine Erinnerungen ausgelöscht hatte. Immer wieder fallen mir kleine Erinnerungen ein, wie jetzt. Aber sie sind irgendwie völlig durcheinander...“

Skyre hörte ihr stumm zu. Er war zwar äußerst überrascht, dass sich die Situation so plötzlich geändert hatte. Eben sah er Sila noch in ihrem neuen Kleid, wie sie sich so sehr darüber freute. Dann schien sie weit weg in Gedanken zu sein. Sila erzählte Skyre, dass man sie mit neun Jahren auf ein Internat geschickt hatte. Sie redete ruhig und erzählte, dass sie dort Freunde fand und die Liebe zum Zeichnen und dann auch für die Musik entdecke. Als Skyre sie ganz unschuldig fragte warum Sila denn schon mit neun Jahren in ein Internat kam, sah er wie ihr wieder etwas einzufallen schien. Es dauerte keine drei Sekunden als Sila kreidebleich wurde und zu zittern begann. Skyre konnte gar nicht so schnell reagieren wie sie zitternd zusammenbrach und auf dem Boden zusammenkauerte. Sie begrub ihr Gesicht in den Händen, stöhnte auf und fing bitterlich an zu weinen.

„Sila!“

Skyre wollte sich gerade neben sie setzten, als die Tür aufging. Kiso und Philphlader standen wie erstarrt in der Tür.

„Neechan!“, schrie Philphlader auf und eilte auf ihre Freundin zu. „Was ist denn passiert?“

Kiso verlor keine Zeit. Auch er eilte zu Sila, jedoch an die Seite von Skyre.

„Was ist los?“, fuhr er den verwirrten Skyre an.

„Ich weiß es nicht! Eben hat sie mir erzählt, dass sie als Kind in ein Internat gekommen ist und dann fing sie an zu zittern und setzte sich auf den Boden.“ Kiso hörte kaum das Ende von Skyres schnellem Bericht, als er sich neben sie kniete. Philphlader hatte versucht etwas aus Sila herauszubekommen. Diese schluchzte aber nur noch stärker und drehte sich von ihrer Freundin weg. Hilfesuchend sah Philphlader ihren Mann an, der nun ruhig auf Sila einredete. Erst wollte sie sich wehren, aber er zog sie an sich und umarmte sie fest. Sofort schwand ihr Widerstand und sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.

„Sie hat von ihrer Kindheit gesprochen?“, fragte Kiso, sah aber nicht von Sila auf.

„Ja“, nickte Skyre, „Sie sagte, dass ihr immer wieder ein paar Erinnerungen an die Eltern zurück kommen.“

Kiso streichelte Sila sanft das Haar. Als er sie auf dem Boden gesehen hatte, war sein erster Verdacht, dass Sila wieder Erinnerungen an die Eltern bekommen hatte. Zu hause hatte er es hin und wieder erlebt, wie Sila aufschrie und fürchterlich zu weinen anfing. Dann wurde er immer auf sein Zimmer geschickt und die Eltern schlossen die Tür hinter ihm zu. Manchmal konnte sie stundenlang nur noch weinen und ließ sich von niemandem trösten. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, floh durch das Fenster und stürmte in das Zimmer, wo Sila mit den Eltern war. Dann zwang er sie in seinen Arm und ließ sie ausweinen. Sie erzählte nie was sie so verstörte. Wenn sie sich wieder beruhigte, schlief sie ein und konnte dann tagelang schlafen. Wurde sie dann wieder wach, konnte sie sich kein einziges Mal an den Zusammenbruch erinnern. Die Erinnerung war komplett ausgelöscht. Irgendwann erzählten ihr die Eltern gar nichts mehr von den Anfällen. Sie sagten nur, dass sie Fieber hatte und schlafen musste. Aber diese Anfälle lagen schon weit in der Vergangenheit. Sila schien vollständig kuriert worden zu sein, seit sie mit dem Tanzen begonnen hatte.
 

Bestürzt und hilflos sahen Philphlader und Skyre zu, wie Kiso immer wieder über Silas Haare strich und sanft auf sie einredete. Sie gingen einige Schritte auf Abstand, nachdem Kiso die Beiden eindringlich bat ihr nicht zu nahe zu kommen.

„Vertraut mir“, bat er.

Niemand wusste wie viel Zeit vergangen war, seit Sila zusammenbrach. Irgendwann wurde das Zucken unregelmäßiger und das Zittern ließ nach. Kiso bereitete sich darauf vor, dass sie bewusstlos zusammensinken würde. Aber sie tat es nicht. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah sie ihn an. Skyre und Philphlader hatte sie gar nicht mehr wahrgenommen.

„Ich weiß … warum ...“

Kiso beugte sich tiefer zu ihr hinunter. Es war das erste Mal, dass sie bei so einem Anfall sprach. „Was weißt du?“, fragte er sie ruhig.

„Ich weiß … warum ...“, die Tränen liefen ihr die Wangen runter und die Lippen zitterten. „Warum ich nicht trauern konnte...“

Das Schluchzen wurde wieder stärker und erstickte ihre Stimme. Skyre sah blass aus. Auch Philphlader war völlig überfordert in dieser Situation. Insgeheim war sie dankbar, dass Kiso scheinbar genau wusste was er tun musste. Stumm stellte Skyre ihr einen Stuhl hin.

„Oder möchtest du lieber raus gehen“, fragte er sie leise. Philphlader schüttelte energisch den Kopf.

„Ich kann doch Neechan nicht alleine lassen... Was hat sie nur?“

Nie hatte Sila ihrer Freundin etwas von den Alpträumen erzählt. Nur ihre Familie wusste davon.
 

Sila beruhigte sich wieder etwas. Kiso war schon seit der Kindheit immer ihr Halt gewesen. Nur er konnte sie wirklich trösten. Keinem anderen hatte sie je so sehr vertraut wie ihm, niemandem so viele Geheimnisse anvertraut. Bis auf die Alpträume, hatte Kiso immer ihre innigsten Gefühle gekannt. Nachdem was ihr plötzlich, wie aus der tiefsten Dunkelheit heraus, wieder in Erinnerung gekommen war, musste sie es jemandem anvertrauen. Sie fühlte, dass sie sonst völlig zerbrechen würde. Von einem Moment auf den anderen waren die Erinnerungen wieder da. Als wären sie nie weg gewesen. Es war schrecklicher als alles, was sie jemals erlebt hatte. Viel schrecklicher als sie sich entschied mit Chuckie zu brechen. Viel schlimmer als die toten Eltern identifizieren zu müssen. Ein Hauch des Verstehens füllte ihr Herz und drohte es ihr in der Brust zu zerreißen. Deswegen diese Alpträume! Deswegen keine Tränen! Deswegen der Bauch der Mutter und das Blut!
 

„Ich … Ich habe meine Eltern auf dem Gewissen! Ich bin an allem Schuld!“

Silas herzzerreißendes Schluchzen erfüllte den ganzen Raum.
 

Ende Kapitel 26:

~ Silas Vergangenheit - Teil 1 ~



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