Ein Gespräch am Abend
Als Lohn für ihre Arbeit lud Kenneth die gesamte Gruppe für die Nacht in sein Anwesen ein, das zu Selines Überraschung eine ansehnliche Größe besaß. Viel mehr verwunderte sie aber, dass man das Anwesen in ihrer Welt dem japanischen 16. Jahrhundert zugeordnet hätte und deswegen gar nicht zum Rest der kleinen Stadt passen wollte. Das im Quadrat angelegte Anwesen verfügte über eine rund herum verlaufende Holzterrasse und Schiebetüren, der Boden war ausgelegt mit gemütlichen Tatamimatten – und noch dazu gab es einen Innenhof, in dem es eine heißes Bad gab.
Auf ihr Nachhaken erklärte Kenneth, dass sein Anwesen von einem reisenden Fremden entworfen worden war, woraus sie schloss, dass dieser Reisende einst aus ihrer Welt gekommen sein musste. Allerdings hätte sie nie gedacht, einmal selbst in einem derartigen Gebäude zu wohnen – wenn auch nur für eine Nacht – und ein Bad im Freien derart auszukosten. Die letzten Wochen und Monate hatte sie stets in Flüssen oder Seen gebadet, die aber auch alle entsprechend kalt gewesen waren. Demzufolge war das heiße Bad eine angenehme Abwechslung gewesen.
Sehr zufrieden mit sich selbst und der Welt, ging sie im Anschluss durch die Gänge des Hauses in Richtung des Zimmers, das sie mit Asterea und Aurora teilte. Kenneth hatte ihr angeboten, einen Raum ganz für sie allein herzurichten, aber um so normal wie möglich zu sein, hatte sie sofort abgelehnt – außerdem war Aurora von dem Gedanken begeistert, eine Übernachtungsfeier abzuhalten. Sie war schon enttäuscht genug gewesen, dass Seline nicht mit ihr und Asterea hatte baden wollen, das war der Prinzessin dann aber doch zu viel des Guten gewesen.
Während sie durch den Gang lief, zupfte sie an der doch recht engen Kleidung, die Kenneth ihr zur Verfügung gestellt hatte. Grün war normalerweise nicht ihre Farbe, aber seit einiger Zeit mochte sie diese mehr als früher – und den Grund dafür fand sie im ersten Stock auf einem Balkon sitzend.
Neben zwei Stühlen stand dort auch ein Tisch, auf dem eine Flasche Rotwein und zwei langstielige Gläser standen. Russels Blick galt dem Innenhof, auch wenn er von seiner Position aus lediglich den gerade leeren Bereich des Bads sehen konnte. Die andere Hälfte der Quelle war durch eine Bambuswand von jeglichen Blicken abgeschirmt, aber das amüsierte Gelächter und Getratsche von Asterea und Aurora war gut zu hören und Seline konnte sich gut vorstellen, dass Russels Fantasie davon angeregt wurde. Eine Vorstellung, die ihr ganz und gar unbehaglich war, weswegen sie hastig seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. „He, Russel.“
Er reagierte sofort und wandte ihr lächelnd den Blick zu. „Ah, bist du auf dem Weg ins Bett?“
„So ziemlich.“
Sie erwartete eine gewisse Reaktion, die auch sofort kam, als er auf den anderen Stuhl deutete. „Setz dich doch, lass uns zusammen ein Glas Wein trinken.“
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, sie setzte sich sofort und widersprach auch nicht, als er ihr einschenkte. „Wie kommt es, dass du hier draußen sitzt und Wein trinkst?“
Sie erwartete keine Antwort, weswegen es sie überraschte, dass sie doch eine bekam: „Hier oben ist der Wind besser. Seine Geschichten klingen interessanter, wenn man wirklich alles mitbekommt.“
„Du verstehst, was der Wind dir sagt?“, hakte sie nach.
„Aber natürlich, ich bin immerhin der Gott des Windes, da muss ich doch verstehen können, was er mir zu sagen hat. Du würdest Drachen doch auch verstehen, oder?“
„Da ich noch nie einem begegnet bin, ist das wohl lediglich eine wohlwollende Annahme von dir.“
Statt etwas darauf zu erwidern, nahm er einen Schluck aus seinem Glas, was sie ihm nachtat, nur um direkt danach zu erschauern. Bislang hatte sie im Palast keinen puren Alkohol bekommen, wenn überhaupt war er immer mit Wasser oder Limonade verdünnt gewesen. Sie zweifelte nicht daran, dass dieser Wein gut war, aber für ihre noch nicht sonderlich reifen Geschmacksnerven war es doch ein wenig bitter.
„Weißt du eigentlich, dass wir uns jetzt seit 24 Stunden kennen?“, fragte er plötzlich.
Bislang hatte sie gar nicht darüber nachgedacht, aber diese Zeiteinheit kam ihr doch viel zu wenig vor. „Bist du sicher?“
„Dadurch, dass wir auch noch in eine andere Welt geraten sind, ist der Zeitstrom ein wenig durcheinander, aber es ist jetzt etwas mehr als 24 Stunden her“, bestätigte er noch einmal, sagte ihr aber nicht, wie er darauf gekommen war. „Kommt einem viel länger vor, was?“
Ihr lag die Frage auf der Zunge, ob er das im positiven oder negativen Sinn meinte, aber sie wusste nicht so recht, wie sie das anstellen sollte, ohne dass es seltsam und aufmerksamkeitsheischend klingen würde.
Ein spitzer Schrei aus Richtung des Bads lenkte sie aber auch direkt von dieser Sache ab.
„W-was soll das denn, Aurora?!“, fragte Asterea in einer unnatürlich hohen Stimme.
„Na stell dich mal nicht so an“, kam die amüsierte Antwort. „Ich wollte doch nur wissen, ob du dich überall so weich anfühlst.“
„Kannst du da nicht vorher fragen?“
„Das wäre wider des Klischees.“
Seline neigte den Kopf, während sie an so manche Geschichte dachte, die sie früher gehört hatte und in denen es zu ähnlichen Situationen gekommen war. „Ich wusste nicht, dass man hier so etwas auch kennt.“
Russel schmunzelte. „Das hat sie von mir. Während du gebadet hast, habe ich ihr davon erzählt.“
„Wolltest du diese Sache inszenieren?“
„Oh, ich hab zumindest darauf gehofft, ja. Wie oft hat man schon die Gelegenheit, so etwas mitzuerleben?“
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, beschloss aber, nichts dagegen zu sagen, immerhin wirkte er nun endlich ein wenig fröhlicher als noch zuvor und das wollte sie nicht direkt wieder kaputtmachen. Außerdem folgte erneut ein spitzer Schrei, der wieder alle Aufmerksamkeit auf das Bad lenkte.
„W-was tust du denn hier?“, fragte Asterea schockiert.
Dem folgte eine wesentlich leisere Stimme, deren genaue Worte Seline nicht verstehen konnte, aber es war eindeutig Asric, der da sprach. Sie richtete sich ein wenig mehr auf und verrenkte den Hals, um hinter die Bambuswand sehen zu können – und tatsächlich schaffte sie es, einen Blick auf einen verlegenen Asric zu erhaschen, der sich den Hinterkopf kratzte.
„Ich bin nur durch Zufall hier vorbeigekommen, echt. Ich wusste nicht, dass ihr gerade badet und...“
Er verstummte, da er anscheinend einen wesentlich interessanteren Anblick gefunden hatte, den er aber sofort wieder bereute, als eine der Frauen einen Waschzuber in seine Richtung warf. Er kauerte sich zusammen, so dass die Wanne nur die Wand traf, aber der Schreck stand ihm danach deutlich ins Gesicht geschrieben und brachte auch ein wenig von seinem Wortschatz wieder: „He! Warum seid ihr so unhöflich?! Ich habe doch gerade gesagt, dass-!“
Er konnte den Satz nicht beenden, da Ambrose in diesem Moment ebenfalls dazukam und seinen Freund am Ohr packte. „Ich habe dir doch gesagt, dass du die Frauen in Ruhe lassen sollst! Also komm jetzt und sei brav.“
Mit erstaunlich viel Kraft zog er Asric mit sich aus dem Sichtbereich des Bads.
„Was für ein seltsamer Zeitgenosse“, kommentierte Aurora.
„Eher süß“, erwiderte Asterea ein wenig kleinlaut.
Statt weiter über dieses Thema zu sprechen, spritzte eine der beiden mit Wasser, was sie wieder zu ihrem vorigen amüsierten Verhalten führte, weswegen Seline wieder auf ihrem Stuhl zurücksank.
„Hach, die Jugend“, gab Russel begeistert von sich. „Immer wieder für eine Überraschung gut.“
„Dann hast du das nicht arrangiert?“, hakte Seline nach.
„Nein, das war eine ungeplante, interessante Wende.“ Er lächelte zufrieden. „Aber mal wieder zu einem anderen Thema zurück: Kommt es dir auch länger vor?“
Dieses Mal konnte sie eher sagen, dass er es positiv meinte, denn seine Stimme klang gelöst und überaus zufrieden.
„Irgendwie schon“, gab sie zu.
Seit sie ihm begegnet war, hatte sie immerhin kaum noch einen ruhigen Moment gehabt und auf diese Weise schien einem das Leben viel schneller vorüberzugehen. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, müde zu werden. Aber während sie nun auf diesem Balkon saß und dabei an ihrem Weinglas nippte, merkte sie durchaus, wie schwer ihre Lider wurden.
Und Russel fiel das ebenfalls auf. „Du solltest ins Bett gehen.“
„Ja, gleich“, erwiderte sie. „Ich falle hier schon nicht direkt um.“
„Wie hast du das eigentlich gemacht, als du unterwegs gewesen bist?“, fragte er interessiert. „Du wirst wohl kaum jede Nacht ein gemütliches Bett gefunden haben, oder?“
„Nur weil ich eine Prinzessin bin, bedeutet das nicht, dass ich verwöhnt bin“, konterte sie. „Genau genommen schlafe ich recht gern unter freiem Himmel. Aber hin und wieder ist es auch nett, in einem Bett zu übernachten.“
„Konntest du nicht einfach zu irgendeinem Haus gehen und den Einwohnern befehlen, dich bei ihnen schlafen zu lassen? Viele hätten sich sicher gefreut, der Prinzessin helfen zu dürfen.“
„Oder sie hätten die Gelegenheit ergriffen, Geld für meine Freilassung zu fordern“, antwortete sie trocken. „Nicht jeder Einwohner von Drakani ist der kaiserlichen Familie gut gesinnt.“
Auch wenn sich das erst mit dem Tod ihres Vaters so entwickelt hatte. Er war sehr beliebt gewesen beim Volk, aber ihr Bruder... eher nicht. Das lag vermutlich an seiner Unerfahrenheit und seiner offensichtlichen Unlust, das Volk zu regieren. Noch ein Grund, weswegen sie so verstimmt war, dass sie nicht den Thron hatte übernehmen dürfen. Unter ihrer Herrschaft wäre die Familie noch immer beliebt, davon war sie überzeugt.
„Immerhin weißt du so etwas“, sagte Russel lächelnd. „Du könntest auch richtig naiv sein.“
„Nein, davon kann ich mich definitiv lossagen. Deswegen sind mir auch deine Stimmungsschwankungen nicht entgangen, seit wir hier sind.“
„Ich würde es eher als nachdenkliche Anfälle bezeichnen, aber nun gut.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm völlig gleichgültig. „Das hat aber mehr damit zu tun, dass ich mir Gedanken darum mache, dass mir das alles irgendwie bekannt vorkommt.“
„Als ob du schon einmal hier gewesen wärst?“, riet sie.
Er nickte zur Antwort. „Aber es ist nur ein Gefühl. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, denn ich erinnere mich hier an nichts – und anscheinend erinnert sich auch sonst niemand an mich.“
„Vielleicht hast du es auch nur vergessen?“ Auch wenn ihr nicht einfiel, weswegen man so etwas einfach vergessen würde.
„Vielleicht habe ich das“, meinte er gedankenverloren, während er noch einen Schluck nahm. „Aber dann bleibt die Frage, warum ich es vergessen habe...“
Für den Moment spannte sich die Atmosphäre unangenehm an und ließ Seline bereuen, es überhaupt angesprochen zu haben. Aber plötzlich lachte Russel amüsiert. „Ach, wie auch immer. Ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett. Falls du mich begleiten willst...“
Er ließ den Satz offen, aber sein Schmunzeln implizierte ihr auch so, was er sagen wollte. Statt allerdings empört Luft in ihre Backen zu pumpen, erwiderte sie das Schmunzeln amüsiert. „Oh, ich würde dich sofort vor das Gericht bringen, sobald wir wieder zu Hause sind. Also erspar dir das lieber.“
Er lachte noch einmal und stand auf. „Dann schlaft gut, Prinzessin.“
Sie glaubte bereits, dass er sich wieder beruhigt hätte, aber in dem Moment, in dem er sich abwandte, konnte sie sehen, wie sein Gesicht sich wieder verfinsterte. Allerdings tat sie nichts mehr, um ihn aufzuhalten, stattdessen hoffte sie einfach, dass es ihm nach dem Schlafen wieder besser gehen würde.
Mit einem leisen Seufzen leerte sie ihr Glas und stellte es dann wieder auf dem Tisch ab. Gewohnt, dass sich einer der Bediensteten darum kümmern würde, stand sie auf und ging dann weiter, um ihr Zimmer aufzusuchen und selbst ins Bett zu gehen. Vielleicht würde sie noch ein wenig Schlaf bekommen, ehe Aurora und Asterea ebenfalls dazukämen – immerhin schien keine der beiden daran interessiert zu sein, wirklich zu schlafen.
Aber schon nach wenigen Schritten wanderten ihre Gedanken wieder zu Russel und der Möglichkeit, dass er möglicherweise einmal in dieser Welt gewesen war. Wenn das wirklich stimmte, müsste sie sich die Frage stellen, wie es möglich sein könnte, dass er das vergessen hatte und ob sie das ebenfalls einmal betreffen könnte. Sie wollte nicht vergessen, was sie in dieser Welt erlebte, am besten niemals.
Ich denke schon wieder viel zu weit voraus! Das sollte ich nicht tun.
Stattdessen sollte sie erst einmal abwarten und herausfinden, woher sein Gedächtnisverlust wirklich rührte – und davor sollte sie unbedingt schlafen, wie sie erneut feststellte, als sie in das Zimmer kam, das ihr zugewiesen worden war.
Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich in das Bett fallen und war innerhalb weniger Minuten tief und fest eingeschlafen, so dass nicht einmal Aurora und Asterea sie wecken konnten, als sie kurz danach hereinkamen. In ihrem tiefen, von verwirrenden Träumen durchzogenen Schlaf, ahnte sie nicht im Mindesten, dass Ladon und seine beiden Vasallen sich ihnen unaufhörlich näherten und die friedliche Zeit bereits am nächsten Morgen wieder enden würde.