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Zerbrochener Spiegel

für Tsche
von

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Stimme in der Stille

An jenem Abend kniete ich Broken gegenüber am niedrigen Tisch, der in der Mitte meines Zimmers stand. Es kam nicht oft vor, dass sie länger als eine Nacht bei mir blieb, doch damals war es schon der dritte Tag, an dem sie den Raum nicht verlassen hatte. Zumindest nicht, dass ich es gemerkt hätte. Wenn sie bei mir blieb, dann waren die Rollladen stets herunter gelassen und die Tür verschlossen, denn Broken konnte Tageslicht nicht ausstehen. Tagsüber schlief sie in meinem Bett wie eine Tote und war kaum aufzuwecken. Der Wahnsinn, der wie eine Nebelbank im Raum schwebte, war zum Schneiden dick. Ich konnte mich kaum länger als fünf Minuten auf etwas konzentrieren, weil ich ständig glaubte die klebrigen Teerarme einer wabernden Finsternis in einer Zimmerecke zu sehen oder einen nasskalten Hauch im Nacken spürte. Allerdings war ich ebenso außerstande das Zimmer länger als zehn Minuten zu verlassen, weil mich ein zwanghaftes Bedürfnis immer wieder hineinzog, dem ich mich nicht widersetzen konnte.

Ich war mir nicht mehr sicher, wann ich wach war und wann ich schlief, ob ich wach war oder schlief. Wenn sie schlief, konnte ich nur dasitzen und sie ansehen und bekam kein Auge zu. Sobald sie wach war, hätte ich gerne geschlafen, aber Broken hielt mich wach.

Schlaflosigkeit ist ein beängstigender Zustand. Es ist wie die Schwelle zu einer anderen Welt, die man ab einer gewissen Dauer der Prozedur sehen und vor allem spüren kann. Die Realität gibt irgendwann den Geist auf und vor den eigenen Augen entsteht langsam eine Art Zwischenraum. Man sieht verschwommen den Ariadnefaden alles Wirklichen und Richtigen, aber in einer sanften Schwingung macht die eigene Orientierung eine Kurve und driftet langsam zur Seite, ab vom Weg und ins Abstrakte. Auf dem Höhepunkt des Rituals, nach sechzig oder siebzig Stunden ohne Schlaf, ist die Distanz zwischen beiden Wegen so groß, dass es zu einem Gefühl wird, als würde man zerreißen; als könne man sich selbst zerreißen. Dieser Zustand erlaubt einem einige interessante Spielereien, die ein ausgeruhter, wacher Mensch nicht vollbringen kann. Man kann die Augen schließen und spüren, wie die Seele sich aus den Verästelungen des Körpers herausschält, die sie an Ort und Stelle halten. Man kann sich ein Stück nach Vorne lehnen und den tiefen, leeren Abgrund zwischen den Wegen sehen, und zwar überall, in der Maserung eines Tisches und den Farben eines Fernsehbildes. Man kann Totengeister atmen.

An diesem Punkt nimmt man die Realität nicht mehr in der Struktur wahr, in der man sie beigebracht bekam. Alles bekommt eine neue und eigensinnige Form von Sinn. Zuletzt trennt einen nur noch ein undefinierbar kleines Moment von einer Veränderung, der großen Wende, und das ist ironischerweise genau der Augenblick, an dem ich jedes Mal einschlafe.

Irgendwann am frühen Abend des dritten Tages war ich immer noch eigenartig wach, als ob die Energie, die um Broken in der Luft lag, mich durchströmen und nähren würde. Ich saß ihr, wie gesagt, gegenüber an meinem Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und hörte mir selbst dabei zu, wie Worte meinen Mund verließen, über deren Sinn oder Inhalt ich mir nicht ganz im Klaren war. Seit einigen Minuten sah ich ein schwarzes Gleißen, das Brokens Körper umgab, aber es hinderte nicht einmal meinen Redefluss. Wie eine dämonische Schwarzlichtstatue saß sie da. Ich kann nicht sagen, ob diese ‚Aura’ schon immer um Broken gewesen war und man sich nur erst daran gewöhnen musste es zu sehen oder ob sie sich nur an diesem Abend damit umgab, aber ich bin mir unerklärlich sicher, dass ich es mir nicht nur eingebildet habe.

Sie lächelte und wirkte seltsam vergnügend, wie immer wenn sie mir zuhörte. Mittlerweile hatte sie während sie wach war, fast gar nichts mehr an, doch auch darüber half mir die Schlaflosigkeit recht gut hinweg.

„. . . es gibt Nichts, was das Wesen eines Menschen ändern könnte.“

Hatte ich das gesagt? Hatte sie das gesagt? Hatte ich es nur gedacht?

Sie überlegte kurz und beugte sich dann nach Vorne, legte einen Arm auf den Tisch. Das wabernde Dunkel flackerte und folgte ihrer Bewegung. Wie ein Schwarzlicht deckte es Buchstabengewirr und Satzgebilde auf, das sich über meinen Tisch zog. Ich lehnte mich zurück und sah, dass die Wände, der Fußboden, die Fensterscheiben und jeder ach so winzige Gegenstand im Raum voll mit Worten und Zeichen war. Es waren nicht Brokens Blutschriften, die sich über meine Wände zogen. Ich fand auf dem Schirm der Nachttischlampe Sätze, die ich im Laufe der letzten Stunden gesagt hatte und Weisheiten aus einem meiner Bücher klebten an meinem Bett. Meine Bilder, die überall im Zimmer herumstanden waren zu reiner Lautmalerei und Reim-Vers-Gebilden geworden.

Während Broken sprach durchschnitten ihre Worte ein Satzgefüge, das gerade noch meine vorherige Ausführung gewesen war. Aus der klaffenden Wunde traten neue Worte, die sich über den ehemaligen Sinn legten, die alten Worte verschoben, überdeckten, veränderten oder gänzlich zerrissen. Ich konnte die verlorenen Worte schreien und trauern und lachen hören, genau so, wie man sich die Gefühle von Buchstabenkonstrukten vorstellt.

Was ich sah, könnte man wohl sichtbar gewordene Gedankenflüsse nennen, einen direkten Einblick in die Welt der Information, für den Neurologen und Sprachforscher ihr Leben geben würden. Alles Rätselhafte des menschlichen Geistes, die unerklärliche Verbindung zwischen Synapsen, Neuronen und Sinn in einem einzigen klaren Blick. Ich sah zu und diese Landschaft aus Gedanken, Schrift und Sprache war eine Welt, die wie ein dünner Film über meine Welt lag, eigentlich eher in das Gefüge eingebettet war. Mir ging das Gefühl für die dritte Dimension und die Stofflichkeit von Materie verloren und für einen Moment blickte ich auf den Tisch vor mir und fand dort, direkt vor mir, eine Formel, die mir die Einheit von Geist und Materie erklärte.

Es war so wie meine Welt, aber doch nicht meine Welt. Die Menschenwelt, wie ich sie kannte, aber wie mit einer weiteren Ausdehnung, einer vierten Dimension, versehen, die den Raum jedoch nicht komplexer gestaltete, sondern in sich schloss. So als wäre die erste Dimension ein loses Fadenende, an das man anknüpft, um einen Kreis zu schließen. Alle Wertigkeiten und Kategorien, in denen ich denken konnte, wurden darin aufgehoben und erlangten eine neue, verständlichere Bedeutung, ohne sich wirklich zu verändern.

Ich verspürte eine Art intuitives Allwissen.

Ich starrte eine undenkbare Zeit auf meinen Tisch, bis Brokens Hand nach der Oberfläche griff und ihre Fingernägel hineinkrallte. Es knisterte als die Tischplatte in ihrer Hand zusammenknüllen wie Papier, aber gleichzeitig ohne den Tisch auch nur im Geringsten zu beschädigen. Sie riss es herunter wie das Blatt eines Ringblocks und warf es hinter sich. Darunter lag eine neue, leere Fläche, die sich sogleich wieder mit Zeichen und Formen füllte. Ich nahm in diesem Zustand nicht mehr wahr, dass es Brokens und meine Worte gewesen sein mussten, die die Leere füllten, denn meine Auffassung von Sinneswahrnehmung war auf eine Weise verschoben, die eine simple Beschreibung durch fünf Sinne überstieg. Auch die Annahme von mir und ihr als separate Existenzen verschwamm, jedoch ohne, dass sich mein Selbstverständnis als Individuum veränderte. Womit wir den Raum füllten, waren für mich keine Worte oder Sätze mehr, sondern reine Gedanken ohne Zügel und Grenzen.

Mir wurde plötzlich wirklich klar, was Broken mir versucht hatte zu beschreiben, als sie von Dem erzählte, was hinter einem zerbrochenen Spiegel liegt. Was sie vergessen hatte zu erwähnen war, dass sie keineswegs eine Gefangene der Windungen und Verzerrungen dieser andersartigen Dimension war, sondern Herr über sie. In meinem Kopf begannen, scheinbar unendlich langsam, Verbindungen aneinander zu knüpfen und längst überfällige Schlussfolgerungen zu entstehen. Ich verstand auf einmal, warum sie trotz aller Grausamkeit und Absurdität den Schein des Natürlichen und Selbstverständlichen um sich trug, und auch woher ein zierliches Mädchen die Kraft einer Bestie nahm.

Broken sah die Welt von einer Ebene, in der die Fäden zusammenliefen, um alles Oberflächliche wie Puppen tanzen zu lassen, und musste sich nur darum sorgen an den richtigen zu ziehen. So etwas wie Naturgesetze oder die Grenzen der Wirklichkeit scherten sie wenig. Sie stand sozusagen hinter dem Vorhang.

Aber wie weit stand sie über den Dingen?

Was sah ihr Blick am Horizont?

War es gelogen, dass sie das Wahre und die Scherbenwelt oft nicht auseinander halten konnte?

Ich sah mich selbst als verschlissenen Läufer auf einem verzerrten Schachbrett aus Blend-Weiß und allverschlingendem Schwarz. Die Vorstellung die ganze Zeit nur umher geschoben worden zu sein von einem übernatürlichen Dämon, der mir gegenüber saß und gespannt auf meinen nächsten Zug wartete, machte mich zornig.

Aber war ich nicht gleichzeitig Figur und Gegenspieler des Dämons, der Raubtieraugen in seinen leeren Augenhöhlen trug? Wieder kam in mir das Gefühl hoch mich selbst von außerhalb meines Körpers zu betrachten und aus dem Winkel der eigenartigen vierten Dimension aus, die meine Sinne durcheinander brachte, bekam es eine einzigartige Bedeutung.

Ich erinnerte mich an die Nacht, als ich das Gefühl gehabt hatte, Broken würde mit ihren stummen Fragen in meinem Geist eindringen und ihn erobern wollen. So betrachtet wahrscheinlich um Weiten mehr als nur ein einfaches Gefühl. Ich hatte wieder ihr überraschtes Gesicht vor Augen und ihr danach aufkeimendes Interesse an mir, das mich erst in diese Lage gebracht hatte. Es war natürlich lächerlich zu glauben einer unberechenbaren Seltsamkeit ebenbürtig zu sein, aber ich war auch kein willenloses Objekt. Möglicherweise war ich wichtig für sie.

Erst da wurde mir klar, dass alles, was ich gerade gedacht hatte, sich in einem eleganten Bogen von meiner Tür aus über die Decke schwang und Broken den Kopf in den Nacken gelegt dort saß und las. Sie blickte mich lächelnd an und ich fragte mich, ob sie jedes einzelne Wort meiner Gedanken kannte, seit dem Tag, als ich ihr Kinderzimmer in der Leichenhalle aufgeräumt hatte.

„Mehr als du dir vorstellen kannst“ nahm ich wahr, ohne dass sich ihre Lippen bewegten.

„Aber trotzdem bin ich noch nicht tot.“ Ich saß nur da und sah sie an, die Worte kamen nicht mehr aus meinem Mund, sondern aus meinen Gedanken.

„Was meinst du?“

„Wenn du den Grund dafür gefunden hättest, dass ich damals nicht wahnsinnig wurde . . .“

„. . .“

„ Wäre ich dir unterlegen, wäre ich nur noch wertloses Fleisch und Knochen, die du auf durch die Gassen und Wege verstreust.“

„Wer weiß . . .“

„Wer bist du?“

„Ich bin zerbrochen. Das weist du.“ Ich hatte schon tausende solches sich um sich selbst drehenden Gespräche mit Broken geführt, doch noch keines, während ich es aus mehr als meinen Augen sah. Etwas Großes erhob sich wie ein Schatten um Sie.

„Was bist du?“

„Mehr als du dir vorstellen kann.“

Ich sah in Broken hinein. In etwas Uraltes. Etwas Zeitloses. Ein Flickenteppich zog an mir vorbei, für dessen Elemente mir fast vollständig die Worte fehlten. Viel zu wenige waren behaftet mit Bedeutung und Begrifflichkeit, sodass ich etwas daran wahrnehmen konnte. Wie funkelnde Zahnräder in einer großen dunklen Maschine. Selbst jene Einzelteile bereiteten mir Kopfschmerzen.

Broken ist alt wie die Welt und so jung und ahnungslos wie der Morgentau.

Sie ist rein, kennt das Böse nicht und steht doch im Zeichen der ältesten Übel der Welt.

Sie spielt mit Mächten, den Göttern gleich, und bleibt auf ewig eine Gefangene der kleinen Menschenwelt.

Sie weiß alles, doch sie kennt sich selbst nicht.

. . .

Broken kann sehen, was ich gerade sehe.

Und sie ist wütend.
 

Die Realität greift wie eine Vollbremsung bei 120 km/h und holt mich zurück. Raus aus dem tiefsten Einblick in Brokens Bewusstsein, diesen intimsten Moment. Weg von der Tiefe der anderen Welt. Das Wunder der alles klärenden Formel, die hauchdünne Schicht Tränenglas zerbricht in tausend Scherben. Für immer verloren. Ich sitze einfach nur da. Hellwach. Und Broken einfach nur mir gegenüber. Tiefer Groll in ihren goldgelben Augen. Die Luft vibriert. Der ganze Raum scheint vor ihr zu fliehen, nur ich kann mich kein Stück bewegen. Das Kitzeln in meinem Armen wird verzehrend, als wollten sich Pflanzensamen ihren Weg ans Mondlicht graben. Die Spannung von Innen, der Druck von Außen, das Ungleichgewicht droht mich zu zerreißen.

Dann ist die Slow – Motion Sequenz, der lange Gedankenmonolog, das retardierende Moment vorbei und der Film läuft gnadenlos mit normaler Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit weiter.

Broken erhebt sich, kerzengerade, und ich höre jeden ihrer Knochen knacken. Mit einem Handstreich reißt sie den Tisch zur Seite und ich höre das Splittern von Holz an meiner Wand. Diesmal ist es der echte Tisch und nicht nur ein Blatt Gedankenpapier. Die gerade Linie zwischen mir und ihr ist frei, nur zwei Schritte Entfernung und doch sind ihre zwei Schritte wie ein Ansturm, um mich niederzureißen und am Boden zu zerfleischen. Ich hatte mich schon einmal nicht niederreißen lassen, damals im nassen Zwielicht der Leichenhallenduschen, vielleicht würde es auch dieses Mal klappen. Ihr Geist erreicht mich noch bevor sie vor mir steht und ich spüre, wie er sofort beginnt sich in meine Pupillen zu fräsen und weiter in den Sehnerv zu hämmern, um meine Hirnlappen abzuschälen. Ich hatte schon einmal nicht den Verstand verloren, damals in genau demselben Raum, vielleicht konnte ich es auch dieses Mal ertragen. Ich versuche Pandas zu denken oder das zwei Gesetz der Thermodynamik. Broken steht vor mir und steigt auf meinen Schoß, lässt sich auf mir nieder. Federleicht und mit dem Gewicht von Welten. Ich kann mich nicht rühren und der ganze Fluss ihrer Gedanken dringt in meinen Kopf ein, das alleinige Bedürfnis alles darin Befindliche zu zerstören, nichtig zu machen. Eine Sandburg mit der Flut wegzuspülen. Meine Gedanken winden sich und wollen sich auf ihre Fragen, die Tatsachen, die von ihrem unendlichen Wissen her abflammen, einzustellen, doch es ist zuviel. Zuviel, um es zu kontrollieren; zuviel, um es einfach laufen zu lassen. Broken sitzt nur da und sieht mich an, doch in meinem Kopf packt sie meinen Geist mit tausend Teerarmen, vergewaltigt mich, bis alles ganz taub und widerstandslos wird in mir. Ihre Lippen nähern sich, um mir einen Todeskuss zu geben, doch gleichzeitig sitzt sie nur da und betrachtet meinen regungslosen Körper, sieht in meine verschreckten Augen.

Für den Bruchteil eines Moments spüre ich Broken verharren. Vielleicht lebt sie wie gerade eben unsere Zeit noch einmal durch, bevor sie mich beenden will. Negieren, aus der Menge der Möglichkeiten tilgen, aus der Welt streichen. In dieser mikrokosmischen Ewigkeit ist sie hilflos, schutzlos, kraftlos und ohne denken zu können, greift eine Hand, meine Hand, nach dem Cutter auf meinem Nachttisch. Ich ziehe eine lange rote Schärpe über meinen Brustkorb und die zerbrochene Glaswelt aus Gedanken ist eine Sekunde lang wieder da.

Ich sehe die Verwirrungen, Gedanken und Rätsel, durch die Broken meinen Geist zermahlen und ersetzen wollte, wie weißen Wasserdampf, der dicke schwarze und graue Tropfen abwirft, aus meiner Brust quellen und sich in den Tiefen des Raumes verlieren. Mein Kopf beginnt sich leichter anzufühlen und langsam bewegt sich wieder alles normal. Ich sehe Broken und sehe das ungläubige Erstaunen in ihren Raubtieraugen und sehe wie ihre überwältigend schwere Aura blass wird. In diesem einzig schwachen Moment, in dem ich Broken je anrühren könnte, gebe ich ihr auch eine rote Schärpe in ihr makellos grausames Gesicht und stoße sie, während sie wie ein verwundetes Tier aufschreit, von mir. Ehe ich verstehe, dass ich die Zimmertür aufreiße, renne ich schon draußen durch die Straßen. Durch den Regen. Irgendwohin. Weiter weg von Broken.
 

Wie nach Drehbuch schlägt ein Sturm los und der Regen fällt in Strömen auf die Stadt nieder. Die mäandernden Gassen werden zu reißenden Bächen. Nur ohne großen Fluss, in den es mich spült. Kein Ozean in Sicht. Ich stolpere durch die Straßen wie ein Kater, dem ein Neunjähriger aus Spaß die linken Schnurhaare abgeschnitten hat.

Schneid’ mir jemand die Restlichen ab, damit ich in Frieden und blind vor die Scheinwerfer laufen kann! Bitte jag’ mir irgendjemand kaltes Metall durch mein Stammhirn! Lasst mich nur nicht in einer Welt allein, die schief hängt!

Die Buchstabenwelt ist wie ein Bruchstück über der Realität übrig geblieben und ich blicke durch sie in die Häuserschluchten, wie auf ein zerfressenes Pergament alter Weisheiten voller Lücken. Im Himmel über der Stadt hängen Buchstaben und Zeichen, jedes Wesen und jede Maschine schleifen Wortketten hinter sich her, tragen Markierungen im Nacken. Selbst der Sternenhimmel ist verdeckt von Informationen. Alles ist bruchstückhaft bezeichnet, trägt Geheimnisse seiner selbst auf die Stirn geschrieben, als wäre es nie anders gewesen. Ich frage mich, warum es mir nie vorher aufgefallen ist, und doch kriege ich Kopfschmerzen beim Anblick all dieses Wissens, das mein Gehirn unmöglich verarbeiten kann.

Meine Sachen kleben an mir, aber immerhin wäscht der Regen auch das Blut ab und ich bin nur noch ein herumirrender Junge mit zerrissenem Hemd. Ich wandle durch die Gassen und über leere Stadtautobahnen, ohne Orientierung, aber nicht ziellos.

Etwas zieht mich an. Wie ein Ruf aus weiter Ferne, dem ich folgen will, doch ohne Geräusche. Es ist ein Element der neuen Welt, das mich darauf aufmerksam macht. Es ist ein Sog aus Gedanken und Mustern, ein Spinnennetz, das um ein Zentrum kreist. Doch mein Weg ist nicht gradlinig, ich bin nicht gefangen. Eine Fährte aus Momentaufnahmen und Wissensfetzen, manchmal sogar verständlichen Gedanken, treibt mich durch das Labyrinth der Hinterhöfe und schmalen Wege zu verschiedenen Schauplätzen einer nächtlichen Wanderschaft, an denen noch verblassende Hirngespinste und Formeln kleben. Ich folge dem abendlichen Weg und den Gedankengängen eines Lebewesens. Langsam wird mir klar, dass ich einem Menschen hinterher jage.

Ich kann nicht seinen Schweiß riechen oder seinen Herzschlag hören, aber ich fühle seine Gedanken.

Die ganze Stadt wird zu einem Kunstwerk. Der Regen spielt Drums und Sorgen der Menschenkinder spannen sich wie eine Leinwand auf, die Lichter der Häuser und jedes Schaufenster riechen nach Lug und Trug und irgendwo sagt ein lächelndes Mädchen, klatschnass vom Regen, Ich liebe dich und die Worte streifen mir sanft über den Arm. Aber immer ist darunter der Bassrhythmus Ihrer Gedankengänge, auf denen ich wandle. Es lässt mich schwerelos gleiten durch Lichtermeere, alles wird grau und erst in der Tiefe ohne Töne kann ich Farben sehen. Ich kann verstehen, warum mich Nebel aus Stahl einhüllt und dann wieder gehen lässt; warum auch nicht? Ich brauche nicht auf den Weg zu achten, nicht darauf, wo ich die Straße überquere oder was die kürzeste Strecke ist, denn der Weg ist selbstverständlich geworden. Er könnte genauso gut auf mir gehen, wie ich auf ihm, das ist kein Unterschied. Doch manchmal habe ich Einbrüche, ein Gefühl aufzuwachen, wohl wenn ich die Buchstabendimension, diese Anderswelt, verlasse und der Realität ins Gesicht sehe. Ich bin unverständig wie ein Kind und denke Was ist passiert? Warum bin ich hier?, bis mich ein Riss im Gefüge wieder in die neue Ebene bringt, die mir mehr und mehr vertraut wird. Ich frage mich, wie ich überhaupt etwas verstehen konnte. Zuvor. Mit meinen einfachen Augen und klarem Verstand. Nun erkenne ich, wie im Vorbeigehen. Formeln. Theorien. Gleichungen. Komplexitäten, die mich früher meine ganze Aufmerksamkeit gekostet haben, um auch nur Scherenschnitte daraus in meine Gedanken zu übernehmen. Es ist um mich. Das Allwissen, die Weltformel, die letzte Zahl. Nur kein Verlangen mehr danach zu greifen.

Kindliche Fragen überfüllen meine Gedankenwelt und lassen keinen Raum für gezieltes Denken: Warum das Wissen über alle Dinge und Wesenheiten dieser Welt erfahren, wenn es doch da ist? Wieso es besitzen wollen? Welcher Sinn hat es eigentlich?

Ich fühle mich gefangen, festgesetzt und an der Nase herumgeführt von mir selbst. Ich möchte über mich selbst lachen und die ganze Ironie des Schicksals, die mir bis in diese entrückte Form von Dasein gefolgt ist. Aber noch fehlt mir die Pointe, der universale Witz an der Sache. Ich komme Ihr näher. Einen Moment denke ich darüber nach, ob es Broken ist, die mich anzieht, und ich gerade einfach in mein Verderben laufe. Doch mir wird selbstverständlich klar, ehe ich zu Ende denke, dass sie mich nicht zu sich leiten würde.

Broken würde mich finden.

Was ich verfolge, ist anders.
 

Ich streife aus einer Seitengasse heraus um eine Ecke und da sehe ich Sie vor mir. Wie die Schönheit auf der Lichtung eines Waldes, mit Abendsonne im Gesicht und Vögeln in ihrem goldenen Haar. Nur in den Tiefen der grausten Stadt. Sie sitzt seelenruhig in einer Häuserschlucht, mitten auf einer alten Parkbank, so als hätte sie seit Jahr und Tag dort gesessen. Es ist, als sei sie dort, um von mir gefunden zu werden. Um sie verschwimmt die Stadt in Sturm und Nebel und den Bedenken und Zweifeln und großen Gedanken der Menschenkinder, doch Sie ist einfach da. Alles wird weich und haltlos und droht weg zu fließen, nur sie bleibt unbewegt. Der Regen legt sich um alles Warme, alles Feste und wäscht die Farben weg. Er spült die Stadt weg.

Wie die Straßen mäandern, wie die Städte zerfallen . . .

Sie wartet dort, hat die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet. Eine Regentropfenfängerin. Ihre glutrote Mähne und die Kleider kleben klatschnass an ihrem Körper und ein Feuer geht von ihr aus. Ein flammendes Leuchten im Chaos. Ein Zentrum.

Immer, wenn ich einsam bin, zieht es mich zum Feuer hin.

Regentropfenfeuerfängermädchen.

Da ist etwas Warmes um sie, etwas Vertrautes, ein altes Gefühl. Keine Ahnung, ob es aus mir stammt oder aus der Welt der Buchstaben. In ihren Zeilen und Winkeln trägt sie auch die Erinnerungen der Welt, des Himmels und der Erde, des Lichts und der Nacht und der mannigfachen Augen und Ohren des Lebens in sich. Die große Kristallbibliothek. Die Erinnerung durchfließt mich immer wieder in den letzten Stunden, teilt sich meinem Bewusstsein mit und alles erscheint mir mehr und mehr verbunden, unwidersprüchlich, durch die Weite jener Sicht. In der Wärme, die sie umgibt, steckt eine Verzweiflung, ein Schmerz, der sie jedoch nicht verzehrt, sondern ihr Feuer schürt, eine eigenartige Hoffnung, die durch Leid nur zu wachsen scheint, statt sich ersticken zu lassen. Wie der Phoenix, der aus dem Tod die Kraft zum Leben schöpft. Es zieht mich zu ihr hin.

Meine Schritte auf Sie zu, kommen mir wie Erdbeben vor. Jeder einzelne eine tektonische Plattenverschiebung in den Pflastersteinen. Die Straßen brechen auf und der Weg zu ihr wird ein Hindernis. Viel einfacher umzukehren und wegzulaufen. Der Pfad zu ihr wird schmaler und länger, zieht Kreise und Kurven durch ungeahnte Unsinnigkeiten, ein Gedankenrätsel auf der Straße zur Sonne.

Das Neue in mir kennt die Antworten auf alle Fragen und macht sich einen Spaß daraus sie um mich in der nassen, nebligen Luft herumschwirren zu lassen. Wie ein kichernder Dämon meiner eigenen Gestalt auf der Schulter. Ich klaube die Fetzen aus ihrem Flug und setze daraus Sinnworte und Weisheiten zusammen, die ich nicht verstehe, aber dem Rätselspiel des Weges zu fressen gebe. Es schlingt sie hinunter und lässt mich wenige Schritte näher ans Ziel heran. Eine Unzeit vergeht, bis ich endlich vor Ihr stehe.

Es geschieht nichts.

Dann öffnet sie langsam die tiefblauen Ozeanaugen.

Auf einmal sieht der Regen auf ihrem Gesicht wie Tränen aus.

Sie spricht nicht, wird mir plötzlich unerklärlich klar, sie kann nicht sprechen. Aber ich höre eine Stimme aus ihren Gedanken, die mir von Ihr erzählt.

Nimm’ mich mit. Zieh’ eine Kette fest um meinen Hals und nimm’ mich mit. Höre ich die Stimme sagen.

Ohne Worte, die überflüssig sind, reiche ich Ihr die Hand entgegen. Sie nickt mir zustimmend zu und zieht sich daran hoch. Sie folgt mir auf Schritt und Tritt durch die zerfließenden Gassen. Während des ganzen Weges zurück in mein Zuhause sagt sie kein Wort und ich lausche ihren Gedanken.

Als ich durchnässt meine Zimmertür öffne, ist es, als wäre Broken nie dort gewesen. Die Figuren stehen noch auf einem lang verlassenen Schachbrett. Der Teufel ist ausgeflogen. Ein Märchen aus uralten Zeiten.

Es überrascht mich nicht. Der Weg zurück hierher hatte keine Sorge in mir wachgerufen. Es ist fast so, als hätte ich von Anfang an gewusst, dass es so sein würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  RedSky
2008-11-15T11:15:47+00:00 15.11.2008 12:15
Sehr komplex, sehr verschlungen - sehr faszinierend. Am meißten haben mich die Worte fasziniert, die überall zu finden waren. Die "Welt aus Buchstaben", die sichtbaren Gedanken die überall "nachzulesen" waren, die allgegenwärtigen Informationen. Ich glaube, man kann sich sehr schnell in dieser Informationswelt verlieren, wenn man weit genug in sie eindringt.
Das Regentropfenfängerfeuermädchen war wirklich wie so ein richtiger, bunter Farbklecks in der trüben, grauen Regenstadtwelt. Eine Art "Wendung", die wie erfrischend wirkte.


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