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Abschnitt 5

Autor:  lufie
Das Wochenende schien zu verfliegen. Zur Abwechslung ein angenehmes Gefühl, die Zeit verfliegen zu spüren. Andere Menschen klagten darüber, dass sie ihnen zu schnell zwischen den Fingern zerfließe, aber er selbst genoss es fast ein wenig. Zumindest zur Abwechslung. Er verbrachte Stunden in verschiedenen Supermärkten, kaufte alles, von dem er vermutete, dass Kaninchen es mögen könnten. Bei einigen Dingen lag er richtig, bei anderen nicht - die aß er dann selbst und kam auf diese Weise seit langer Zeit mal wieder zu einigen Vitaminen. Er zeigte Mr. Knibbles das Haus, das Wohnzimmer, das Badezimmer, das Arbeitszimmer seines Vaters, sein eigenes Zimmer. Er ließ ihn auf dem teuren Teppich im Esszimmer herumhoppeln und konnte nicht sagen, dass er sich wirklich ärgerte, als das Tier mitten auf die teuren Fasern pinkelte. Er versuchte, eine Treppe zu bauen, mit der Mr. Knibbles allein aus seinem Käfig klettern konnte, aber er musste die Baustelle abbrechen, aufgrund mangelnder Kenntnisse über Statik. Er versuchte auch, Mr. Knibbles dazu zu überreden, sich als Springkaninchen ausbilden zu lassen. Er baute extra einige Hürden aus Pappkartons und den alten Lexikonbänden, aber Mr. Knibbles verspürte offenbar kein Bedürfnis nach sportlicher Betätigung, er bevorzugte es, um die Hürden herumzulaufen, um an die ausgelegten Möhrenstücke zu gelangen. Wirklich ein pragmatisch denkendes Kaninchen. Am liebsten hätte Mads ihn in seinem Zimmer übernachten lassen. Er stellte es sich schöner vor, vom Rumoren und Rappeln eines Kaninchens geweckt zu werden, als von dem scharfen und gnadenlosen Piepsen seines Weckers. Er musste aber feststellen, dass Mr. Knibbles die ständigen Umzüge nicht mochte und so blieb er in der Küche, auf dem Tisch, beim Kühlschrank. Die Mahlzeiten zu dritt konnten weiterhin stattfinden.
Den Großteil dieser dahinfliegenden Zeit aber verbrachte er mit Grübeln. Bis spätabends saß er am Küchentisch, kraulte Mr. Knibbles hinter den Ohren und zermarterte sich den Kopf, wie er ihn sich lange nicht mehr zermartert hatte. Er überlegte, wie er an Lois' Adresse kommen könnte. Möglichst noch vor Dienstag. Es gab in dieser kleinen Stadt drei Gymnasien. Eines davon fiel weg, das besuchte er selbst und er hatte sie nie dort gesehen. Wenn er also morgen die erste Stunde schwänzte, konnte er sich morgens vor eines dieser Gymnasien stellen und wenn er Glück hatte, würde er richtig liegen. Und wenn er die letzte Stunde auch noch schwänzte, könnte er sich zu Unterrichtsschluss noch vor das andere Gymnasium stellen. Das erhöhte seine Chancen. Andererseits aber wusste er auch nicht so recht, was er sagen sollte, wenn er sie tatsächlich finden würde. Er kam sich lächerlich vor, sie nur zu fragen, weshalb sie ihr Kaninchen weggeben hatte. Aber er hatte so ein merkwürdiges Gefühl, dass diese Frage überhaupt keine „Nur-so-nebenher-Frage“ war und je weiter das Wochenende voranschritt, desto stärker und deutlicher sammelte es sich in seiner Magengrube, dieses Gefühl. Wie ein großer Klumpen. Sie hatte Mr. Knibbles nicht weggeben, weil sie ihn plötzlich nicht mehr mochte oder weil sie sich lieber auf Klausuren und Prüfungen konzentrieren wollte. Sonntagabend schließlich glaubte er nicht einmal, dass es überhaupt eine Chance gab, dass sie am Montag in eine der beiden Schulen gehen würde. Schließlich hatte sie gesagt, dass sie nicht früher als Dienstag Zeit hätte. Vielleicht steckten dahinter tiefere Gründe als Hausaufgaben oder Flötenunterricht? Er dachte solche Gedankengänge nicht weiter, sie führten nur dazu, dass der Klumpen in seinem Magen noch größer und dicker und schwerer wurde. Er hatte zu viele Filme gesehen. Zu viele dramatische Filme. Eindeutig.

Montagmorgen hatte er alle Pläne endgültig verworfen. Er würde nicht die Schule schwänzen, weder die erste noch die letzte Stunde. Er würde sich vor keines der beiden Gymnasien stellen. Er würde nicht einmal in einem der beiden Sekratariate anrufen, um nach ihrem Namen zu fragen. Er würde nicht nach ihr suchen, denn er würde sie nicht finden, so viel stand fest. Er würde gar nichts tun. Er würde auf Dienstag warten. Mal wieder.
Der Wecker weckte ihn auf seine stechende und gnadenlose Art, kein Knistern und Rascheln der Kaninchenpfoten auf der weichen Sägespänestreu, wie er es sich gewünscht hätte. Frühstück zu dritt, danach zur Schule, mehr schlafend als wach, mehr abwesend als anwesend. Er wusste nicht mehr genau, wie er den Nachmittag und den Abend dieses Montags verbrachte. Irgendwelche Beschäftigungen musste er gefunden haben. Vielleicht hatte er ein Handtuch an den Haken im Badezimmer gehängt. Vielleicht hatte er etwas von dem schmutzigen Geschirr abgewaschen, das sich seit Tagen neben dem Spülbecken stapelte. Vielleicht hatte er auch die Pizzaschachteln aus dem Wohnzimmer geräumt. Es war sogar möglich, dass er die DVD zurück in die Bibliothek gegeben hatte. Die DVD, die er nun doch nicht geschaut hatte. Vielleicht. Sehr wahrscheinlich aber hatte er ferngesehen und sich dabei Mr. Knibbles auf den Bauch gesetzt. Er wusste es nicht mehr, denn es war nur einer dieser Tage von vielen, sie verschwammen in seinem Gedächtnis, mischten sich ineinander wie Spiegelungen in einer Pfütze, er konnte die Details nicht mehr unterscheiden. Aber das war auch nicht wichtig. Nicht wichtig.


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