Abschnitt 5
Autor: lufie
Den Großteil dieser dahinfliegenden Zeit aber verbrachte er mit Grübeln. Bis spätabends saß er am Küchentisch, kraulte Mr. Knibbles hinter den Ohren und zermarterte sich den Kopf, wie er ihn sich lange nicht mehr zermartert hatte. Er überlegte, wie er an Lois' Adresse kommen könnte. Möglichst noch vor Dienstag. Es gab in dieser kleinen Stadt drei Gymnasien. Eines davon fiel weg, das besuchte er selbst und er hatte sie nie dort gesehen. Wenn er also morgen die erste Stunde schwänzte, konnte er sich morgens vor eines dieser Gymnasien stellen und wenn er Glück hatte, würde er richtig liegen. Und wenn er die letzte Stunde auch noch schwänzte, könnte er sich zu Unterrichtsschluss noch vor das andere Gymnasium stellen. Das erhöhte seine Chancen. Andererseits aber wusste er auch nicht so recht, was er sagen sollte, wenn er sie tatsächlich finden würde. Er kam sich lächerlich vor, sie nur zu fragen, weshalb sie ihr Kaninchen weggeben hatte. Aber er hatte so ein merkwürdiges Gefühl, dass diese Frage überhaupt keine „Nur-so-nebenher-Frage“ war und je weiter das Wochenende voranschritt, desto stärker und deutlicher sammelte es sich in seiner Magengrube, dieses Gefühl. Wie ein großer Klumpen. Sie hatte Mr. Knibbles nicht weggeben, weil sie ihn plötzlich nicht mehr mochte oder weil sie sich lieber auf Klausuren und Prüfungen konzentrieren wollte. Sonntagabend schließlich glaubte er nicht einmal, dass es überhaupt eine Chance gab, dass sie am Montag in eine der beiden Schulen gehen würde. Schließlich hatte sie gesagt, dass sie nicht früher als Dienstag Zeit hätte. Vielleicht steckten dahinter tiefere Gründe als Hausaufgaben oder Flötenunterricht? Er dachte solche Gedankengänge nicht weiter, sie führten nur dazu, dass der Klumpen in seinem Magen noch größer und dicker und schwerer wurde. Er hatte zu viele Filme gesehen. Zu viele dramatische Filme. Eindeutig.
Montagmorgen hatte er alle Pläne endgültig verworfen. Er würde nicht die Schule schwänzen, weder die erste noch die letzte Stunde. Er würde sich vor keines der beiden Gymnasien stellen. Er würde nicht einmal in einem der beiden Sekratariate anrufen, um nach ihrem Namen zu fragen. Er würde nicht nach ihr suchen, denn er würde sie nicht finden, so viel stand fest. Er würde gar nichts tun. Er würde auf Dienstag warten. Mal wieder.
Der Wecker weckte ihn auf seine stechende und gnadenlose Art, kein Knistern und Rascheln der Kaninchenpfoten auf der weichen Sägespänestreu, wie er es sich gewünscht hätte. Frühstück zu dritt, danach zur Schule, mehr schlafend als wach, mehr abwesend als anwesend. Er wusste nicht mehr genau, wie er den Nachmittag und den Abend dieses Montags verbrachte. Irgendwelche Beschäftigungen musste er gefunden haben. Vielleicht hatte er ein Handtuch an den Haken im Badezimmer gehängt. Vielleicht hatte er etwas von dem schmutzigen Geschirr abgewaschen, das sich seit Tagen neben dem Spülbecken stapelte. Vielleicht hatte er auch die Pizzaschachteln aus dem Wohnzimmer geräumt. Es war sogar möglich, dass er die DVD zurück in die Bibliothek gegeben hatte. Die DVD, die er nun doch nicht geschaut hatte. Vielleicht. Sehr wahrscheinlich aber hatte er ferngesehen und sich dabei Mr. Knibbles auf den Bauch gesetzt. Er wusste es nicht mehr, denn es war nur einer dieser Tage von vielen, sie verschwammen in seinem Gedächtnis, mischten sich ineinander wie Spiegelungen in einer Pfütze, er konnte die Details nicht mehr unterscheiden. Aber das war auch nicht wichtig. Nicht wichtig.