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Abschnitt 6

Autor:  lufie
Er sah Lois wieder, obwohl er Dienstagmorgen auch damit nicht mehr rechnete. Sie kam. Natürlich kam sie, weshalb hatte er je daran gezweifelt. Sie kam zum richtigen Zeitpunkt, zum richtigen Ort, zu jenem kleinen Café an jenem großen runden Platz. Es war kalt an diesem Tag, als hätte der Mai Urlaub genommen. Oder vergessen, die Heizungen aufzudrehen. Ihren Hut trug sie trotzdem. Sie lächelte, als sie sich setzte und dieses Lächeln wirkte wie mit einem blassen Bleistift gezogen, als könnte ein einfacher Wisch mit der Hand es hinwegwischen. Als bräuchte man nicht einmal einen Radiergummi. Die Schleierschichten über ihren Augen hatten sich verfielfältigt, dunkler, undurchdringlicher, plötzlich waren da Schatten unter ihren Wangenknochen, die ihm nie zuvor aufgefallen waren. Sie stieß gegen den Tisch, nur ein wenig, er kippelte leicht, sie verschränkte die Hände auf dem Tisch, Hände, als wären sie aus Transparentpapier gemacht. Ein ganzes Gesicht, als wäre es aus Transparentpapier gemacht. „Na“, sagte sie. Lächelte wieder dieses durchscheinende Bleistiftlächeln, fuhr sich mit den Fingern durch ihren Pony. Mads brachte nur ein Nicken zustande. Der Pony hatte eine Lücke. Nicht nur so eine Lücke, die entstehen konnte, wenn die eine oder andere Haarsträhne ein wenig verquer lag. Die Lücke verschwand nicht, auch nicht, als die streichenden Finger wieder nach unten auf die Tischplatte gesunken waren. Sie blieb und offenbarte einen schmalen Streifen heller Haut. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie dicht ihr Pony zuvor gewesen sein musste. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen Streifen ihrer Stirn gesehen zu haben. Überhaupt, auch ihr restliches Haar, es lag nicht mehr so schwer und dicht und seidig auf ihren Schultern wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Geglaubt zu haben. Eine Einbildung?
Mads schluckte. Der Kellner kam, einer, den sie inzwischen kannten. „Dasselbe wie immer, bitte“, sagte Mads. Der Kellner nickte, verschwand. Wieder fuhr sich Lois durch ihren Pony. Hatte sie das schon immer so häufig gemacht?
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie. Er nickte schnell, hoffte, dass es nicht hastig wirkte. „Das ist schön“ Sie lächelte ihr Bleistiftlächeln, breiter zwar, aber nicht kräftiger.
„Und dir?“ Mads versuchte, sie keinen Moment aus den Augen zu lassen. „Wie geht es dir?“ Ihr Lächeln verwischte. „Mir?“ Sie hielt inne, überlegte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Blickte betreten auf ihre weißen Hände. Als hätte ihr das „Gut, danke“ schon auf der Zunge gelegen und sie es dann doch wieder hinuntergeschluckt. Als würde sie nicht lügen wollen. Als fiele ihr keine angenehme Wahrheit ein. „Warum hast du Mr. Knibbles weggegeben?“, fragte er weiter. Sie hob den Kopf. Er blickte in ihre Augen, verschleiert, überhangen. Sie glänzten kaum. „Ich...“ Sie schluckte. „Ich möchte ihn nicht mehr haben.“ Ihre Stimme zögerlich, kratzig. Wie eine knisternde Schallplatte. „Warum?“ Am unteren Lidrand ihres rechten Auges hing etwas Rundes, Glitzerndes. Sie wischte es weg, mit dem Zeigefinger und tarnte dieses Wegwischen geschickt, als hätte sie nur einen Krümel im Auge. „Ist nicht so wichtig. Bitte kümmere dich um ihn. Machst du das bitte?“ Wieder lächelte sie. „Wenn du nicht willst, dann kannst du ihn natürlich auch weggeben. Ins Tierheim oder so. Ist mir egal. Nur irgendwohin, wo man sich gut um ihn kümmert.“
Mads musterte sie. Lange. „Nicht so wichtig“, wiederholte er. „Was ist denn so unwichtig, dass du dein geliebtes Kaninchen einfach so weggibst?“ Vielleicht hatte er es etwas zu scharf ausgesprochen, etwas zu sehr wie der Polizeibeamte im Verhör. Aber er hatte es satt, ihr ständiges Ablenken und Beschwichtigen. Ihre vorgespielte Heiterkeit. Eine Falte grub sich zwischen ihre Augenbrauen, senkrecht, mitten hinein in die Lücke zwischen den Haarsträhnen auf ihrer Stirn, eine schmerzvolle Falte, keine verständnislose. „Mads, bitte“ In diesem Moment tat es ihm Leid. Der Kellner brachte die Milchshakes, er senkte den Blick in das schaumige Rosa, nagte an seiner Unterlippe. „Entschuldige“, sagte er. Er meinte es ernst.
Lois schaute nur. Auf einen unbestimmten Punkt, er wusste nicht genau, wohin, irgendwo zwischen seine angewinkelten Unterarme, den Rand der Untertasse und den langen silbernen Löffelstiel. Sie schaute sehr lange, immer auf diesen Punkt, ihre Hände rührten abwesend in ihrem Milchshake, langsam, immer im Kreis, das Erdbeereis löste sich auf, schmolz zusammen zu einer dickflüssigen Soße, zuweilen schabte der Löffel über den Grund des Glases, ein leises monotones Schrammen. Sie grübelte. Ihre Vorderzähne nagten an ihrer Unterlippe.
Mads sprach nicht. Wagte kein Wort herauszubringen. Schluckte. Schaute zu Lois, zu ihrem starren, grübelnden Blick, zu ihren grübelnden rührenden Händen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie schließlich den Blick hob, sich löste von jenem rätselhaften Punkt, sich ihre Hände senkten. Sie sah ihn an.
„Die Wahrheit“, sagte sie. „Die Wahrheit ist, dass ich bald weg muss.“ Er spürte einen Kloß in seinem Hals wachsen, dick und klemmend. „Wohin?“ Er flüsterte fast. „In eine Klinik. Bald schon.“ „Was für eine Klinik?“ Er schluckte wieder, aber er fand keine Spucke mehr, die er hinunterschlucken konnte. Sein Bauch zog sich zusammen. „Eine Spezialklinik, irgendwo, ziemlich weit weg. Für Krebskranke.“, sagte sie dann. Mads fand seine Sprache nicht mehr. Als hätte seine Zunge sich verkrochen, ganz weit hinten in seinem Hals, dort saß sie nun und brachte vor Schreck keinen Ton mehr heraus. „Aber“ Lois strich mit den Fingern über den Marmor. „Vielleicht muss ich da gar nicht hin. Vielleicht kann ich vorher...“ Sie hielt inne, ihr Blick wanderte nach oben, zum Himmel. Ein graublauer Himmel voller Wolken, schwer und dick und träge. Mads schüttelte den Kopf. Einige Haarsträhnen schlugen gegen seine Schläfen. „So ein Quatsch“, sagte er. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Zu etwas anderem war sein Kopf nicht fähig. Unfähig zu denken. Zu begreifen. Als würde er immer wieder gegen eine Wand rennen, immer und immer wieder, wie eine gefangene Fliege. „So ein Quatsch“, wiederholte er, als würde es dadurch Wirklichkeit. Oder wenigstens ein bisschen mehr. Seine Augen begannen zu brennen, obwohl er das gar nicht wollte. Er drückte die Arme auf den Bauch. „Mads“ Lois saß da, zusammengesunken, die Augen verschleierter, überschatteter denn je, die Haut durchscheinender noch als das dünnste Transparentpapier, als könnte sie sich in jedem Moment auflösen, sich verflüchtigen wie ein Fetzen Nebel, eine Brise, nach oben zum Himmel, dorthin, wo sie hinwollte. Ein Häufchen, ein Schemen, dort auf dem Stuhl, hinter der Tischplatte. Gern hätte er etwas mehr gesagt als nur dieses dahingeworfene „So ein Quatsch“, gern hätte er ihr Mut gemacht, sie ein wenig aufgebaut, motiviert, vielleicht wäre ihm sogar etwas Witziges eingefallen, etwas Erheiterndes, irgendetwas, das wenigstens einige dieser Schleierschichten hinwegnahm, dieses Bleistiftlächeln wenigstens ein bisschen kräftigte. Er konnte nicht. Er saß da wie festgenagelt. Wie in Wachs gegossen. Er spürte etwas Fadenhaftes, Nasses seine Wange hinunterrieseln, er wischte es hastig weg und ärgerte sich über sich selbst, über alles. „Wo sitzt dieses verfluchte Ding überhaupt?“ Seine Stimme drohte zu ertrinken. Er biss sich auf die Lippen. Lois legte den Finger an ihre linke Schläfe.
„Hier“, sagte sie.

Er spürte seine Schultern in sich zusammensinken, jegliche Muskelkraft entweichen.
Er sagte nichts mehr. Ohnehin war es egal, wie er reagierte, es war egal, was er sagte, wie er es sagte, es änderte nichts. Krankheiten gehörten nicht zu den Dingen, die man durch Worte beeinflussen konnte. Zumindest nicht diese Art. Schon gar nicht diese Art.
„Ich hätte es dir nicht erzählen sollen.“ Eine ihrer Feststellungen. Es klang keine Enttäuschung aus ihrer Stimme, kein Tadel, so nüchtern und sachlich, als spräche sie über physikalische Formeln. Ihre Hände lagen offen auf dem Tisch, nebeneinander ausgebreitet. Er schaute auf ihre Finger. „Nein“, sagte er. „Ich meine, doch, ich...“ Er verhaspelte sich, holte Luft, überlegte. Nagte an den Lippen. „Ich denke“ Langsam, tastend. „Ich denke, es ist besser so. Besser als vorher.“ Lois lächelte. Kräftiger. Dunkler. Schöner.
Es dauerte länger, bis es verblasste.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Die Stille senkte sich nach unten wie eine Glasglocke, eine dicke Staubschicht, dämpfend, tauchte alles in Schwarzweiß wie alte Fotografien und für viele Momente schien die Zeit nicht zu vergehen. Als hätte jemand sie angehalten. Dabei florierte rings um sie herum das kleine Leben dieser kleinen Stadt. Menschen gingen ihren Besorgungen nach, von links nach rechts, manche gehetzt, manche gelassen, manche allein, manche zu zweit, in kleinen Gruppen. Jung und alt. Mit Kindern an der Hand, mit Hunden an der Leine. Lois schaute ihnen nach, als würde sie jetzt auch gern so unbeschwert und nichtsahnend über diesen großen runden Platz flanieren, die Gedanken voller nebensächlicher und doch so wichtig erscheinender Dinge.
Ein Sonnenstrahl umrahmte ihren Umriss mit einem breiten hellen Streifen. Tauchte ihr Gesicht in weiche Schatten. Ließ ihren Hut wirken wie einen Heiligenschein.
„Und jetzt?“ Mads pustete sachte in die Stille. Lois drehte den Kopf. „Was willst du jetzt machen?“ Sie lehnte sich zurück. „Jetzt?“, fragte sie. Mads nickte. „Jetzt...“ Sie schloss die Augen. „Jetzt möchte ich einfach nur hier sitzen. Und danach würde ich gern spazieren gehen.“ Sie öffnete sie wieder. „Ich wohne nun schon so lange hier, aber irgendwie habe ich nicht das Gefühl, mich wirklich auszukennen. Es gibt noch viel zu viele Ecken, an denen ich noch nie war.“ Das war nicht das, was er gemeint hatte. Lois wusste das. Natürlich wusste sie das. Aber eigentlich. Eigentlich hatte er für heute genug Verhörer gespielt, genug Dinge aus ihr herausgekitzelt, über die sie am allerwenigsten sprechen wollte. Mehr Schwermut brauchte dieser Tag nicht.
Er versuchte sich an einem Lächeln. „Hört sich gut an“, sagte er.


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