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Abschnitt 7

Autor:  lufie
Sie ließen die Milchshakes zurück, ungetrunken, die schaumige Oberfläche unangerührt, sie schütteten nur die Kleingeldfächer ihrer Portemonnaies auf den runden Tisch, stapelten die Münzen zu einem Haufen in seiner Mitte, die großen Münzen nach unten, die kleinen nach oben. Und verschwanden, bevor der Kellner ihr Konstrukt bemerken konnte. „Ob das jetzt Kunst ist?“, überlegte Lois laut. Sie blickte zurück, während sie den großen runden Platz überquerten, ein kleines Stück lief sie rückwärts, der Wind bauschte ihren Pullover auf, wischte einige Haarsträhnen über ihre Schultern hinweg. „Wahrscheinlich eine Installation.“, sagte Mads. „Oder ein Happening.“ Er sprach Happening aus, wie Andy Warhol es ausgesprochen hätte. Lois lächelte. Der Wind riss an ihrem Hut, sie hielt ihn fest, mit der rechten Hand an den Hinterkopf gedrückt. Sie bogen ein in die Straße, in die sie sonst immer allein abgebogen, die sie immer allein entlanggelaufen war, während Mads ihrem roten Kringel nachgesehen hatte. Ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hallten von den Häuserwänden wider. „Glaub mir. Auf dem Kunstmarkt wird das Millionen machen. Wir werden reich.“ Zum ersten Mal an diesem Tag lachte Lois. Sie legte den Kopf in den Nacken, er sah ihre weißen Zähne aufleuchten. „Millionen“, sagte sie. „Und was machen wir dann damit?“ Mads zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Darin baden vielleicht. So wie Dagobert Duck.“ Wieder lachte sie. Hell, beinahe unbeschwert.
Am Ende der Straße kam der Park in Sicht. Mads kannte ihn. Nicht sehr gut zwar, nur ein wenig, so wie er alles in dieser Stadt nur ein wenig kannte. Für einige Momente blinzelte die Nachmittagssonne zwischen Wolkenfetzen hindurch, schickte gelbe weiche Lichtstrahlen über die kurzgeschnittenen Wiesen, über die zusammengedrängten Baumgruppen, ließ das Plätschern des Flusses in einer Vielzahl von Glanzpunkten aufleuchten, glitzern und schimmern. Noch ein gutes Stück stand sie über den blaugrauen Hügeln der Stadt, ganz weit hinten, dort, wo die weißen Fassaden der Villen hervorstachen wie ausgestanzt. Noch würde sie nicht untergehen. Sie würde bleiben, für eine Weile, vielleicht.
Lange durchstreiften sie den Park, achteten nicht darauf, ob sie auf den akkurat gepflegten Wegen blieben, stiefelten querfeldein, über Grasbüschel und Maulwurfshügel, an dicken knorrigen Eichen vorbei, an Kastanien, die stolz ihre Blüten trugen wie Kerzen auf einem Weihnachtsbaum. Stolz solange, bis die Miniermotte über ihre Blätter herfallen und sie braun und welk werden lassen würde. So wie jedes Jahr. Schon bald. Aber noch nicht jetzt. Ihre Schatten zogen sich länger und länger, je länger sie liefen, bald sah es aus, als würden sie auf Stelzen über die Wiesen staken. An vielen Stellen tüpfelten Löwenzahnblüten die Hügel, vereinzelt streckten sich bereits plüschige Pusteblumen dem schwindenden Licht entgegen. Lois pflückte eine von ihnen, aber sie war noch nicht ganz reif, so sehr sie auch pustete, die kleinen Schirmchen wollten nicht fliegen. Schließlich griff sie sie büschelweise mit den Fingern, setzte sie vorsichtig in die Luft. Von dort sanken sie zu Boden, aneinandergeklebt, in taumelnden Bewegungen, als versuchten sie doch noch, sich vom Wind davontragen zu lassen, bis sie schließlich an der Spitze eines Grashalms haften blieben.
Viel sprachen sie nicht. Zumindest über nichts Wichtiges. Mads war es ganz recht so. Er hatte das Gefühl, als würde sein Gehirn auf Sparflamme arbeiten, als würde es alle Bilder und Informationen, die auf ihn einströmten lediglich aufbewahren, um sie irgendwann, irgendwann mal zu verarbeiten. Er realisierte nicht. Immer wieder hörte er, was Lois im Café zu ihm gesagt hatte, er hörte den Klang der Worte, er verstand sogar den Sinn dahinter, aber er begriff nicht die Dimensionen. Die Dimensionen in ihrem vollen Ausmaß. Er war in der Lage, zu antworten, wenn Lois mit ihm sprach, aber es geschah eher automatisch, als antwortete sein Mund von selbst. Irgendetwas, ohne nachzudenken. Er hätte im Nachhinein auch nicht mehr sagen können, worüber sie eigentlich gesprochen hatten. Alles wirkte gedämpft und unwirklich, wie durch eine Scheibe aus Milchglas. Vielleicht erlebte man die Welt ja so, wenn das Gehirn sich gerade zurückgezogen hatte, weil es zu viel nachzuholen hatte. So wie das verschwommene Bild einer Überwachungskamera, die angeschaltet worden war, weil gerade niemand da war, der hautnah dabei sein konnte.
Nur allmählich spürte er, wie sein Gehirn nacharbeitete, versuchte, hinterher zu hechten und als sie den Park verließen und wieder in das Meer schmaler Straßen und Gassen eintauchten, da begriff er ein Stück. Lois zeigte auf ein Bild, ausgeschnitten aus Tonpapier in einem Fensterkreuz, irgendetwas sagte sie wohl auch dazu, wohl, dass sie es schön fand, er betrachtete sie und in dem Moment fiel ihm ein, dass sie ja sterben würde.
Als hätte sein Kopf soeben diese Information von ganz hinten nach vorn durchgereicht, durch die feinen Nervennetze geschickt, direkt bis zu seinen Augen. Er betrachtete sie und plötzlich stand da der Tod, direkt über ihr, in großen dicken schwarzen Buchstaben. Als wäre er ein Teil von ihr. Untrennbar verbunden. Er blinzelte. Würde sie sterben? Würde sie nicht? Oder anders gesagt: Wollte sie? Wollte sie nicht?
Wer sagte das überhaupt? Die Ärzte? Sie selbst? Wer entschied so etwas?
Am Ende das Röntgenbild? Der Geldbeutel?
„Millionen“, hörte er ihre Stimme in seinem Kopf widerhallen. „Und was machen wir dann damit?“ „Keine Ahnung. Darin baden vielleicht. So wie Dagobert Duck.“ Immer noch betrachtete er sie. Oder. Oder so lange die teuersten Medikamente kaufen und die besten Ärzte in den besten Krankenhäusern, bis irgendetwas, irgendjemand half. Bis irgendjemand es entfernen konnte, vertreiben, verjagen, dieses Ding, dieses diffuse Etwas, das sich dort in ihrem Kopf eingenistet hatte und das sich Tumor nannte. Herausoperieren, schneiden, ätzen, ausradieren. Und wenn nichts half, wenn nichts half, ein Mausoleum bauen. Ein Mausoleum mitten auf dem kleinen Friedhof dieser kleinen Stadt für dieses leuchtende Mädchen. Aus weißem Marmor. Weißem italienischen Marmor. Und die Touristen würden kommen und niemand würde sie jemals vergessen.
Er bemerkte, dass sie seinen gesenkten Blick suchte, hastig brach er seine Gedankengänge ab. Alles in Ordnung, fragten ihre Augen, die Worte schienen ihr auf der Zunge zu liegen, sie öffnete den Mund, besann sich dann aber eines Besseren und schloss ihn wieder.
Einzelne ausgefallene Haare zeichneten sich auf ihrem Pullover ab. Er pflückte eines aus dem Wollstoff. Er zeigte es ihr auf seinem ausgestreckten Zeigefinger. Es schimmerte in der Sonne. „Du kannst dir etwas wünschen.“, sagte er. „Das funktioniert nicht.“, sagte sie. „Es funktioniert nur bei Wimpern.“ Er schüttelte den Kopf. „Es funktioniert sogar tausendmal besser. Schließlich ist so ein Haar auch tausendmal länger.“ Er kam sich lächerlich vor, als er das sagte, aber Lois lächelte. Dann pustete sie doch, mit geschlossenen Augen. Das Haar segelte davon, langsam und taumelnd, wie die Pusteblumenschirme im Park. Sie hielt die Lider fest geschlossen. Mads schaute auf die Buchstaben über ihrem Kopf, dick und schwarz. Tod.
Als sie sie wieder öffnete, lächelte sie etwas breiter. „So“, sagte sie und griff nach seiner Hand, die eben noch das Haar gehalten hatte. „Wenn das jetzt nicht hilft, dann weiß ich auch nicht.“ Ihre Haut fühlte sich kalt an, rau und trocken und kalt, aber er umschloss sie mit seinen Fingern so weit er konnte. Fast konnte er spüren, wie seine eigene Wärme über seine Handfläche zu ihr strömte. Physik hautnah, dachte er. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei hatte er Physik abgewählt. Und überhaupt. Wieso dachte er jetzt an Physik. Er schaute zu den drei Buchstaben. Sie wirkten dünner, weniger schwarz und groß. In der Typografie nannte man solche Buchstaben auch Light. Leicht. Schwach. Kurz vor dem Verblassen. Vielleicht taten sie das ja auch eines Tages. Verschwinden. Verdunsten. Langsam gingen sie weiter, durch Gassen, Straßen, Winkel und Ecken. Die Fenster der Häuser beugten sich über sie, kleine gelbe Vierecke in der bläulichen Dämmerung. Nur noch wenige Menschen schälten sich aus den Schatten, schmale schwarze Silhouetten unter den ausgeschalteten Straßenlaternen. Irgendwo läutete eine Glocke, hell und einsam, aber es ließ sich nicht sagen, an was sie erinnern wollte.
Lois zeigte zwischen zwei Häusern hindurch. „Sieh mal“, sagte sie. Aus dem Hinterhof heraus lugte ein flaches Garagendach. Jemand hatte Gras darauf wachsen lassen. Erst, als Lois ihn näher heranzog und er herabgebeugt über ihre Schulter hinwegschielte, um ihren Blickwinkel besser nachvollziehen zu können, bemerkte er den Tisch und die Bank darauf und die kurze Holzleiter, die aus einem der Fenster des Nachbarhauses führte, angeschienen von gelbem Glühbirnenlicht. „Hübsch, nicht“, sagte sie und Mads nickte. Eine ihrer Haarsträhnen kitzelte seine Wange. „Siehst du, das meinte ich. Ich bin schon so oft hier entlang gegangen, aber das hier habe ich vorher nie bemerkt. Oder das dort.“ Wieder zeigte sie, diesmal auf ein kleines Fenster weit oben. Jemand hatte schmale Regalbretter hinter die Scheiben gezogen und kleine Töpfchen mit Kakteen darin daraufgestellt. Einige blühten, winzige faserige Blüten in gelb und rosa. Wieder nickte Mads. Wahrscheinlich war das so. Wenn man alles im Kopf hatte, wirklich alles, nur nicht das nahende Unglück, dann wurden die Sinne blind für alles scheinbar Unwichtige. Er drückte ihre Hand fester. Und andersherum eben doch. Oder so ähnlich. Wie auch immer. Die nächsten Abende würden lang werden, das wusste er jetzt schon. Lange Grübelabende voller wirrer Gedankenfäden, die auseinandergeknotet und sortiert werden wollten. Aber er hatte ja Mr. Knibbles, dem er nebenbei die Ohren kraulen konnte.
Irgendwann landeten sie wieder auf dem großen runden Platz. Irgendwann. Er erschien Mads fremd, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er schob es auf die nahende Dunkelheit, die Farben und Schatten bis zur Unkenntlichkeit verschieben konnte, aber sicher war er sich nicht. Etwas hatte sich geändert. Vieles.
Lois blieb stehen. Sie schaute zu den leuchtenden Zeigern der Rathausuhr. Mads folgte ihrem Blick nicht. Er wollte gar nicht wissen, wie spät es war, denn das hätte ihn doch nur zurückkatapultiert in dieses feste Gefüge aus Tag und Nacht, Stunden und Minuten, Terminen und Verpflichtungen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und eigentlich wollte er es nicht zurück. Zumindest nicht sobald. Lois' linke Gesichtshälfte wurde angestrahlt von irgendeiner Lichtquelle, von woher auch immer. Eine Straßenlaterne konnte es nicht sein, die waren immer noch ausgeschaltet. Oder schon wieder? Die Lichter in den Fenstern, die noch brannten, kamen sie von Nachtmenschen oder von Frühaufstehern? Das schwache Licht, das am Himmel schimmerte, war es noch Abenddämmerung oder schon Morgenröte?
Lois löste vorsichtig ihre Hand aus seiner. Sie war inzwischen warm geworden. Sie steckte sie zu der anderen Hand in die große Bauchtasche ihres Pullovers. „Ich muss dann“, sagte sie. Mads nickte mechanisch. „Nächste Woche Dienstag?“, fragte sie. Fröstelnd zog sie den Kopf zwischen die Schultern. „Warum erst so spät?“ Mads gab sich Mühe, die Frage so nebensächlich wie möglich klingen zu lassen. Seine Enttäuschung nicht herausklingen zu lassen.
An Lois' verlegenem Lächeln merkte er, dass es ihm nicht gelungen war. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich kann eben nicht früher.“ „Hm“ Wieso, was machst du denn so. Die Frage lag ihm schon auf der Zunge, gleich neben dem sezierenden Blick und dem Verhörertonfall. Hektisch schluckte er alles hinunter, er spürte es seinen Hals hinunterwandern. Er schwieg, mit zusammengekniffenen Lippen. Lois kratzte mit der Schuhspitze matschiggrünes Moos zwischen zwei Pflastersteinen hervor. „Ich hab morgen Chemo.“, sagte sie, als habe sie die Vorgänge hinter seiner Stirn längst beobachtet wie Zahnräder in einem geöffneten Uhrwerk. Sie sagte es sehr leise, vielmehr murmelte sie es in den Wind hinein. Vielleicht hatte sie gehofft, dass er ihre Worte nicht verstehen und nachfragen würde. Dann hätte sie „Ach, nichts“ sagen und geschickt auf irgendein anderes Thema ablenken können. So, wie sie es so gern tat.
„Ich kann mitkommen“, sagte er schnell. Er erwartete nicht, dass sie wirklich Ja sagen würde, dafür kannte er sie inzwischen zu gut. Lois schüttelte den Kopf. Er hatte richtig geschätzt, aber nicht darauf spekuliert. Er wäre wirklich mitgekommen, er sagte nie irgendetwas nur so dahin. Zumindest nicht absichtlich. „Das willst du nicht.“, sagte sie. Ein seltsamer Glanz mischte sich in ihre Augen. Erschöpfung, Müdigkeit, Abneigung, Ekel, sie senkte den Blick auf die Pflastersteine, auf ihre kratzende Schuhspitze. Das Licht ließ die Schatten in ihrem Gesicht noch dunkler erscheinen. „Warum nicht?“ Sie hob den Kopf wieder. Lange Zeit sagte sie nichts. Schließlich eine zögerliche Antwort „Weil ich nicht möchte.“, die einzige, die ihr eingefallen war, bei der sie sicher sein konnte, dass er nicht widersprechen würde. Sie lag richtig.
Mads nickte. Mal wieder. Er überlegte. „Und übermorgen?“ Er entschied, noch nicht locker zu lassen. Lois schüttelte den Kopf. „Nach der Chemo bin ich immer so müde. Nur am Dienstag, da geht es dann schon wieder.“ Sie lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid.“
Sie wandte sich schon ab, öffnete schon den Mund, um sich zu verabschieden, als Mads doch noch etwas einfiel. „Ähm...kann ich dann deine Adresse haben?“
Lois seufzte. Dann nickte sie langsam und holte das Buch heraus, dass er bereits kannte. Sie schlug es willkürlich auf, irgendwo in der Mitte, kramte nach einem Stift, schrieb. Klemmte den Stift zwischen die Lippen, hockte sich hin, legte das Buch auf die angewinkelten Knie und riss vorsichtig mit beiden Händen das Geschriebene aus der Seite heraus. Sie streckte den Arm aus und reichte ihm das Stück Papier. „Bitte“
Mads konnte nicht erkennen, was sie geschrieben hatte, die Dunkelheit färbte das Papier blauviolett. Er konnte lediglich fühlen, dass sie mit Kugelschreiber geschrieben hatte, schmale Rillen drückten sich auf der Rückseite durch.
Lois hatte Buch und Stift wieder eingepackt, sie schloss die Tasche und schob sie zurück auf die Hüfte. „Dann“, sagte sie. „Mach's gut. Bis Dienstag.“ Sie lächelte, aber es war nicht mehr dasselbe Lächeln wie noch vor einer halben Stunde. Es war auch nicht mehr die Lois, die fröhlich Pusteblumensamen verpustet und in der schmalen Gasse nach seiner Hand gegriffen hatte. Vieles von dem Transparentpapier schien zurückgekehrt, vieles von den Schleiern und Schatten und ihr Lächeln glich wieder dem blassen Bleistiftstrich vom Anfang vor wenigen Stunden. Oder waren es Tage gewesen? Mads erschien es wie Jahre, Jahrhunderte, Lichtjahre. Ewigkeiten.
„Wiedersehen“ Er hob die Hand zu einem missglückten, lachhaften Winken. Lois lächelte noch einmal, dann drehte sie sich um und ging. Er blieb stehen, sah zu, wie ihr roter Kringel die Straße hinunterwanderte. Sie drehte sich nicht um, nur einmal wandte sie den Kopf ein Stück nach rechts, als überlegte sie, sich noch einmal umzusehen, aber dann blickte sie doch wieder nach vorn und verschwand hinter der Hausecke, hinter der sie immer verschwand.
Mads ging nicht sofort. Er blieb noch ein bisschen stehen, mitten auf dem menschenleeren Platz. Er starrte auf das Pflaster, fühlte den Zettel in seiner Hand. Ein bleicher Mond stieg den Himmel hinauf, sein Licht spiegelte sich auf den Dachziegeln. Die Straßenlaternen schalteten sich an. Sie kamen zu spät.


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