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Abschnitt 8

Autor:  lufie
Irgendwann fand er die Motivation, nach Hause zu gehen. Er steckte seine Hände mitsamt dem Zettel in seine Anoraktaschen, er musste sich zwingen, nicht doch noch auf die große Uhr zu blicken, stattdessen starrte er auf das spiegelnde Laternenlicht auf dem Kopfsteinpflaster, während seine Füße ganz automatisch den Weg fanden, den sie gehen sollten, hinunter von dem großen runden Platz, hinein in das Straßenmeer, in Richtung der Hügel, auf denen die schicken Villen und Einfamilienhäuser thronten, als hätte man sie nur dort oben hingebaut, damit auch jeder in der Stadt sie sehen konnte.
Er bemühte sich redlich, langsam und schleichend zu gehen, hin und wieder blieb er stehen, um in die leuchtenden Fenster oder den leuchtenden Himmel zu schauen, baute sogar einige Umwege ein, aber irgendwann kam er dann doch an. Die Stadt war einfach zu klein, um sich ordentlich in ihr verlaufen zu können.
Aber ein Mr. Knibbles wartete auf ihn und das war nicht das Schlechteste, was ihm hätte passieren können. Er saß direkt hinter den Gitterstäben, zusammengeduckt zu einer dicken weißen Kugel, fast so, als hätte er wirklich auf ihn gewartet. In seinen schwarzen Knopfaugen leuchteten die Glühbirnen auf, als Mads das Licht anschaltete. „Na“, sagte er. Dann holte er Lois' Zettel aus seiner Tasche und las. Eine akkurate Schrift. Kleine, gedrängte Buchstaben, aufrecht stehend, die kleinen 'a's bauchig und gewölbt, das große L schnörkellos, einfach ein rechter Winkel. Man merkte, dass sie im Dunkeln geschrieben hatte, die Zeilen rutschten ein Stück ineinander und überlappten sich. Er kannte die Straße nicht, zumindest glaubte er es. Er hatte sich noch nie Straßennamen merken können. Weder in dieser Stadt noch in der davor noch in der davor. Aber er würde sie schon finden. Wozu gab es schließlich Karten und Internet.
Er legte den Zettel auf den Tisch. Strich mit den Fingern darüber, obwohl die Knicke dadurch kein wenig glatter wurden. Warf Jacke und Schuhe in den Schirmständer.
Dann holte er eine Möhre aus dem Kühlschrank, dem Dritten im Bunde, und begann, sie in Scheiben zu schneiden. Er setzte sich auf seinen Platz und reichte sie Mr. Knibbles, eine nach der anderen. Er wartete, bis er sie vollständig aufgeknabbert hatte, erst dann schob er die nächste zwischen den Gitterstäben hindurch. Den Blick auf die Küchenuhr direkt gegenüber an der Wand konnte er nicht mehr verhindern. Dummerweise ging sie auch noch richtig, zumindest schätzte er, dass sie richtig ging. Schließlich gehörte sie seinem Vater. Er stand auf, nahm sie von der Wand und pulte die Batterie aus dem Gehäuse. Dann drehte er einmal mit Schwung an den Zeigern und hängte sie wieder an ihren Platz. Die Batterie stellte er ordentlich auf den Kühlschrank. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
12 Minuten nach 16 Uhr. Oder nach Vier Uhr. Wen interessierte das schon.
Mr. Knibbles biss in seinen Finger. Mads reichte ihm die letzte Möhrenscheibe. Er sah zu, wie die kleinen Zähne sich durch das orangefarbene Fruchtfleisch arbeiteten, knabberten und raspelten, Stück für Stück. Hieß es überhaupt Fruchtfleisch? Vielleicht Gemüsefleisch? Wurzelfleisch?
Er stützte das Kinn auf die verschränkten Arme. Er konnte sein eigenes Spiegelbild in den Kaninchenaugen sehen, blass und müde.
Er streckte die Hand aus, griff nach dem Zettel, lange betrachtete er ihn, ohne die Worte zu erfassen. Was würde wohl passieren, wenn er einfach dort klingeln würde? Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Lois öffnen würde und nicht eine ihrer Schwestern, ihre Mutter, ihr Vater? Rein rechnerisch eins zu fünf. Wenn es ihr nicht gut ging, sie müde im Bett lag, näherte sie sich bedrohlich null zu vier. Er stierte auf das rechtwinklige L. Guten Tag, ich bin Mads. Ist Lois da? Verwundertes Augenbrauenhochziehen vorprogrammiert. Er war sich sicher, dass sie nicht von ihm erzählt hatte. Er wusste nur nicht, weshalb. Ob es an ihm lag oder an ihren Eltern. Ob ihre Eltern einfach zu viel um die Ohren hatten. Oder ob er einfach nicht wichtig genug war.
Er strich über die Kaninchenohren. Nicht wichtig genug. Die Vorstellung versetzte ihm einen Stich.
Er konnte Argumente dagegen sammeln so viele er wollte, sie verschwand nicht. Das Stechen auch nicht. Nicht wichtig genug.
Er dachte an den Moment, in dem sie sich verabschiedet hatte. Dass ihr Gesicht wieder so anders ausgesehen hatte, wie zugeschlossen. Was sie wohl in dem Moment gedacht hatte? Was sie wohl über ihn gedacht hatte? Er drehte den Zettel zwischen den Fingern.
Nicht wichtig genug.
Er dachte an seine Mutter aber das machte das Stechen nur schlimmer. Für sie war er auch nicht wichtig genug gewesen, auch wenn tausende Argumente das genaue Gegenteil besagten. An manchen Tagen glaubte er, was sein Kopf ihm sagte, aber das Stechen verschwand nicht, es war immer da, ganz versteckt, manchmal weniger, manchmal mehr. Und es flüsterte leise. Wenn deine Mutter sich nur ein wenig mehr Mühe gegeben hätte, dann hättest du nicht zu deinem Vater ziehen müssen. Und wenn dein Vater sich nur ein wenig mehr Mühe geben würde, dann wäre er jetzt vielleicht zu Hause und nicht irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Nicht wichtig genug.
Ärgerlich schob er die Gedanken beiseite. Er hatte sich zu lange den Kopf darüber zerbrochen, ohne Ergebnis. Das brachte nichts. Nur immer wieder die gleichen Bauchschmerzen.
Er betrachtete eines der bauchigen kleinen 'a's.
Sollte er nun klingeln oder nicht? Er stellte sich vor, wie wohl ihre Klingel aussah, die Haustür. Bestimmt gab es ein selbstgebasteltes Türschild aus Salzteig mit dem Familiennamen darauf. Mit Wasserfarben angemalt. Bestimmt trug Lois' kleine Schwester bunte Haarklammern und geringelte Strumpfhosen. Und bestimmt legte sie beim Sprechen den Kopf schief.
Oder aber er versuchte Lois im Krankenhaus zu finden. Wenn sie morgen Chemo hatte, konnte das so schwer ja nicht sein. Aber. Er ließ den Zettel sinken.
Er stellte sich vor, wie er die Tür öffnete und ihre Eltern saßen an ihrem Bett. Sie hielten ihre Hände, während das Zeug in ihrem Arm versickerte. Wer konnte sich da dazusetzen? Niemand.
Selbst, wenn ihre Eltern nicht da wären. Wer konnte sich da dazu setzen?
Er zupfte Mr. Knibbles ein loses Haarbüschel aus dem Fell.


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