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Abschnitt 10

Autor:  lufie
Er kam pünktlich. Er hatte es nicht anders erwartet. In der Schule hatte sich nichts verändert, die Klassenräume nicht, die Schüler nicht und die Lehrer. Erst recht nicht. Weshalb auch. Nur, weil er nun eine krebskranke Freundin hatte? Er zählte die Minuten, die Sekunden. Sein Kopf fühlte sich schwer an, randvoll mit einem zähen Brei aus Gedanken, Bildern, Worten. Alles vemengte sich ineinander und übereinander und es gab so viel zu beachten und so vieles wollte nicht vergessen werden. Da blieb kein Platz für Zellatmung oder Ethansäuren und schon gar nicht für die Koalitionskriege. Auch, wenn seine Lehrer dafür kein rechtes Verständnis aufbringen wollten. Er kassierte eine schlechte Note und eine handvoll Ermahnungen, die sich in ihrem Wortlaut kaum voneinander unterschieden. Er konnte sich kaum an sie erinnern, sie flossen durch seinen Kopf und versickerten in irgendwelchen Untiefen, irgendwelchen Gehirnwindungen. Er war nur froh, wenn sich unter ihnen nicht Sätze befanden wie „Komm nach der Stunde mal bitte zu mir“ oder „Ich werde wohl mit deinen Eltern sprechen müssen“. Das wäre der Höhepunkt gewesen. Ein Kaninchen und ein Lehrerbrief für seinen Vater. Obwohl es sicher interessant gewesen wäre, auszutesten, wie weit sich der Geduldsfaden seines Vaters spannen ließ. Aber eigentlich auch wieder nicht. Sollte jemand anders es testen.
Er überlebte den Unterricht. Er überlebte ihn tatsächlich. Als Erster schlich er sich aus der Tür, gerade in dem Moment, in dem die Klingel dazu ansetzte, die Pause zu verkünden. Er hatte noch nie das Gefühl gehabt, seine Zeit mehr verschwendet zu haben. Er hatte noch nie das Gefühl gehabt, weiter vom Leben entfernt zu sein als in dem Moment, in dem er die Schemazeichnung einer Zelle in seinem Lehrbuch betrachtet hatte. Mitsamt Mitochondrien, mitsamt Endoplasmatischem Ritikulum.
Er lief zügig nach Hause. Zumindest zügiger als normalerweise. Manchmal hatte er das Gefühl, dass zügig für einen Beobachter trotzdem noch langsam aussah. Als würden seine Sinnesorgane nach einem grundsätzlich anderen Prinzip arbeiten als die anderer Menschen.
Er dachte an die wackeligen Aufnahmen von Astronauten, die über den Mond liefen, oder zumindest versuchten, über den Mond zu laufen. Wie in Zeitlupe wirkten ihre Schritte, unbeholfen, als würden die Befehle, die ihre Köpfe an ihre Körper sendeten, erst nach Minuten auch dort ankommen. Der kleine Schritt für einen Menschen war ein ziemlich ungelenker gewesen.
Aber bei ihm dauerte es ja sogar Stunden, bis Informationen erst einmal in seinem Kopf anlangten. Kein Wunder also.

Sein Vater erwartete ihn. Er saß in der Küche. Er trug noch seinen Anzug, nur die Krawatte hatte er abgenommen. Sie lag auf dem Schuhschrank in der Diele. Er hatte sie nicht ordentlich zusammengelegt. Auch seine glänzenden Schuhe standen nicht, schon gar nicht nebeneinander, sie lagen verquer vor dem Schrank, wie hingeworfen. Er hatte den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet. Es war eines dieser Hemden, die so steif waren, dass die Falten, die sie warfen, ganz eckig aussahen. Wenn sie überhaupt Falten warfen. Er saß weit zurückgelehnt auf dem Stuhl, hatte den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel gelegt, sodass sein linkes Bein einen rechten Winkel bildete. In der Hand hielt er einen Stoß Blätter und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn durch seine Lesebrille. Zuweilen blätterte er in ihnen, mit fahrigen Bewegungen. Manchmal leckte er an Daumen und Zeigefinger, um eine Seite besser greifen zu können. Auf dem Tisch, in Reichweite lag das Smartphone und war ausnahmsweise still. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Vater aufblickte. Die Haustür war längst zugeklappt. Er ließ die Blätter sinken und lächelte.
„Na“, sagte er. „Hallo“, sagte Mads, während er sich im Stehen die Schuhe abstreifte, mit einer Hand an der Türklinke. Er warf sie nicht in den Schirmständer. Den Anorak hängte er in den Garderobenschrank, an einen Kleiderbügel. An einen der vielen freien Kleiderbügel.
„Ich habe Mittag gemacht.“ Sein Vater schob sich die Brille ins Haar. Es ergraute bereits. Im Gegenlicht des Küchenfensters konnte man es deutlich erkennen. Mads nickte und öffnete die Spülmaschine, um Teller, Messer und Gabel herauszunehmen. Das Essen in den Töpfen auf dem Herd war noch warm, sein Vater hatte gut geplant. Es kam nicht häufig vor, dass ihm das gelang, aber es kam vor. Kartoffeln mit Gemüse aus dem Gefrierfach und Fleischklößchen, auch aus dem Gefrierfach. Keine dieser Zutaten hatte er selbst gekauft. Mads hatte sie gekauft, schon vor vielen Tagen, in einem Anflug von Enthusiasmus und schierer Selbstüberschätzung. Hatte sich eingebildet, er könnte mal wieder eine selbstgekochte Mahlzeit vertragen, als Abwechslung von Nutellabroten und latschigen Pommes aus der Kantine. Überschätzt hatte er nicht einmal seine Kochkünste - für Tiefkühlkost reichten sie allemal aus - sondern seine Fähigkeit, sich zu so etwas Komplexem und Aufwändigem wie Kochen überhaupt aufzuraffen. An manchen Abenden hatte er noch an sein Vorhaben gedacht, ein- oder zweimal sogar einen Blick ins Gefrierfach geworfen, aber dann hatte das Nutellaglas durch die Schranktüren hindurch zu ihm geflüstert, wie viel einfacher und schneller doch Nutellabrote zu schmieren waren.
Auch so eine Sache, die am Anfang anders gewesen war. Als er früher allein gewesen war, hatte er immer selbst gekocht. Bis eines Tages der Appetit gegangen war. Und mit ihm der Antrieb, zu kochen.
Mads nahm einen großen flachen Löffel aus einem Schubfach und füllte sich den Teller. Die Hälfte der Kartoffeln blieb an dem Löffel kleben, er half mit dem Finger nach.
Er setzte sich.
Er ließ sich viel Zeit damit, die Kartoffeln erst zu zerteilen, dann zu zerdrücken und mit dem Gemüse zu vermischen.
Ab und zu warf er seinem Vater einem kurzen Blick zu. Aber der saß nur da und sah ihm zu, wie er zerdrückte und vermengte und schließlich die Fleischklößchen in immer kleinere Stücke zerteilte.
Manchmal hatte Mads seinen Vater noch gefragt, wie es gewesen war, dort, wo er gewesen war. Manchmal hatte er sogar gefragt, was genau er dort eigentlich getan hatte, dort, wo er gewesen war. Irgendwann hatte er es aufgegeben. Er verstand es meistens ohnehin nicht und sein Vater machte sich nicht die Mühe, es ihm eingehender und verständlicher zu erklären.
Sein Vater nahm den linken Fuß vom rechten Oberschenkel und tastete mit der Hand nach dem Smartphone, als hoffte er, es würde sich dadurch rühren, aber es blieb still. Der Bildschirm glänzte schwarz und dunkel. Er schob es mit der Kante genau auf die Kante des Tisches. Dann verschränkte er die Finger auf der glänzenden Holzplatte. „War alles in Ordnung?“, fragte er. „Hat alles geklappt?“ Mads nickte und schob sich eine Gabel Zermantschtes in den Mund. Er wollte keine zu ausführlichen Antworten geben müssen.
„In der Schule alles ok?“ Wieder ein Nicken. „Irgendetwas, was ich unterschreiben müsste?“ Mads ließ sich Zeit, aufzukauen und zu schlucken. „Liegt im Wohnzimmer auf dem Tisch“, sagte er. „Die Post auch.“ Sein Vater nickte. Kurzes Schweigen. Die Fragerunde war vorläufig beendet. Sie lief immer gleich ab, immer, wenn sein Vater länger fort gewesen war, immer die gleichen Fragen, die nur an der Oberfläche kratzten. Meistens die gleichen Antworten.
„Sonst noch irgendetwas, was ich wissen müsste?“ Mads schob sich eine extra große Portion in den Mund. Er kaute ausgiebig. Ohne, dass er es verhindern konnte, begann sein Herz zu klopfen, seine Zunge sich zu sträuben, aber die Gelegenheit war vielleicht die einzige, die bleiben würde. Er schluckte hart und spürte den Kartoffel-Gemüse-Brei seine Speiseröhre hinunterwandern. Es gluckerte ganz leise, als er im Magen anlangte, so leise, dass wahrscheinlich niemand sonst es hören konnte. Er spürte die Augen seines Vaters auf sich ruhen. Er selbst hatte dieselben. Zumindest dieselbe Farbe. Wieder schluckte er, obwohl es nichts zu schlucken gab.
„Ich...Ich habe jetzt ein Kaninchen.“
Die Pause danach erschien endlos. Die Luft, die den Raum füllte, schien plötzlich zähflüssig und schwer, erdrückend wie flüssiger Kaugummi. Falls es so etwas überhaupt gab. Die Augenbrauen seines Vaters rutschten ungläubig in die Höhe. „Ein Kaninchen?“ Er hielt es für einen Scherz. Mads hatte nichts anderes erwartet. Er nickte und versuchte, seinem Vater fest ins Gesicht zu sehen. Ohne, dass er es bemerkte, umklammerte er seine Gabel, als wäre sie eine Waffe. „Eine Freundin hat es mir geschenkt. Sie konnte es nicht länger behalten.“ „Eine Freundin?“ Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf die Lippen seines Vaters. Beinahe belustigt. Mads umklammerte die Gabel fester. Er wusste genau, was sein Vater in diesem Moment dachte und er schwor, sämtliche Fassungen zu verlieren, sollte sein Vater seine Gedanken tatsächlich auch aussprechen. Er malte sich schon aus, wie er ihm sein Mittagessen um die Ohren werfen würde. Mitsamt Teller. Und das Smartphone gleich hinterher. Er würde nicht zögern. Aber sein Vater blieb still. Vielleicht hatte er Mads seine Wut von der Stirn abgelesen, vielleicht hatte er die Anspannung gespürt, die in der Kaugummiluft gelegen hatte, jedenfalls verschwand das Lächeln so schnell, wie es gekommen war.
„Hm“ Er runzelte die Stirn. „Und ich nehme mal an, dass du das Tier jetzt behalten möchtest?“ Zwischen „jetzt“ und „behalten“ legte er eine besonders lange Pause.
Mads nickte.
„Hm“ Sein Vater schaute nachdenklich. Sein Blick kam dem Smartphone auf dem Tisch verdächtig nahe und Mads konnte nicht sagen, ob er wirklich über Mr. Knibbles nachdachte oder ob seine Gedanken schon wieder ganz woandershin abdrifteten. „Hm“, sagte er zum dritten Mal, ein missbilligender Unterton schwang in seiner Stimme. „Und wie stellst du dir das vor, wenn ich fragen darf?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn an mit einer Mischung aus Herausforderung und Skepsis, nur eine Augenbraue nach oben gezogen. Die linke. Die andere konnte er nicht unanbhängig von der anderen hochziehen. Mads kannte diesen Blick gut. Es war dieser Egal-was-du-jetzt-sagst-ich-bleibe-bei-meiner-Meinung-Blick und Mads hätte ihn am liebsten hinweggewischt, wegradiert, ausgetauscht. Irgendetwas. „Es könnte in meinem Zimmer wohnen.“, sagte er. Er überlegte, ob er noch ein Wo liegt das Problem hinzufügen sollte, entschied aber, sich zurückzuhalten. Wenn es ihm auch schwerfiel.
Ein kurzer Blick zum Smartphone. „Du weißt schon, wie viel Dreck so ein Kaninchen macht?“ „Und?“ „Und du willst dich dann um das Vieh kümmern?“ „Ja“ Sein Vater beugte sich vor, verschränkte wieder die Finger auf der Tischplatte und fixierte ihn. Sekunden verstrichen, langgezogene Sekunden, ehe er schließlich den Mund öffnete. Seine Pupillen weiteten sich, als draußen die Sonne hinter einer Wolke versank und die kleine Küche in Schatten tauchte. „Mads“, sagte er. „Du bist 17 Jahre alt. Was bitte willst du mit einem Kaninchen?“ Die Betonung lag scharf und einschneidend auf du. „Was bitte haben Kaninchen mit dem Alter zu tun?“, gab Mads zurück. Eine tiefe senkrechte Falte grub sich in die Stirn seines Vaters. Er lehnte sich zurück, so abrupt, dass die Stuhllehne knackte, die Hände blieben auf dem Tisch liegen. Dicke Adern zeichneten sich auf den Handrücken ab. „Nichts“, beantwortete Mads seine Frage selbst. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber er zwang sich, weiterzusprechen. „Ich werde mich immer gut um ihn kümmern. Du wirst keinen Ärger mit ihm haben.“ Er hängte sogar noch ein „Versprochen“ an.
Die steile Falte auf der Stirn blieb. Mads hatte eher das Gefühl, als würde sie sich noch weiter vertiefen. „Du hast meine Frage nicht beantwortet, Mads. Ich hatte dich gefragt, was du mit einem Kaninchen willst.“ Mads antwortete nicht. Er schaute auf die Gabel in seiner Hand und legte sie auf den Tisch neben den Teller. Es klackte kaum hörbar und er ärgerte sich. Er ärgerte sich so sehr, aber eine Antwort fiel ihm trotzdem nicht ein. Zumindest keine, die sein Vater akzeptieren würde.
„Willst du ihm dabei zuschauen, wie es von links nach rechts hoppelt, doof guckt und Möhrchen knabbert?“ Sein Vater nahm das Smartphone und wischte mit dem Finger darüber. Der Bildschirm leuchtete auf. „Hm?“
Mads hob den Kopf. „Wenn mich eine Freundin darum bittet, sich um ihr Kaninchen zu kümmern, dann mache ich das auch. Sie wird schon ihre Gründe haben, dass sie es nicht ins Tierheim geben möchte. Und außerdem“ Er atmete ein. „Außerdem fühle ich mich nicht mehr so allein.“
Den letzten Teil des Satzes verschluckte er fast, ganz leise und murmelnd kam er ihm über die Lippen.
Sein Vater lachte auf. „Nicht mehr so allein! Mads, ich bitte dich. Seit wann sind Kaninchen ein Ersatz für Menschen? Jetzt musst du mir nur noch erzählen, dass du verstehst, was das Vieh dir erzählt.“ Wieder lachte er leise und spöttisch. Stichelnd.
Mads drückte die Fingernägel in die Handflächen, bis es wehtat. „Es ist aber so.“, sagte er. „Ob du es glaubst oder nicht. Aber dir kann es doch eigentlich egal sein, ob hier nun ein Kaninchen oder zwei Pferde oder fünf Elefanten wohnen, du bist doch sowieso nie da!“
Das hatte er nicht sagen wollen, obwohl es die Wahrheit war. Es tat ihm Leid, aber eigentlich auch wieder nicht. Er stand auf.
Sein Vater musterte ihn so eisig, dass ihm beinah wirklich kalt wurde. „Es tut mir ja Leid, dass ich irgendwie Geld für uns verdienen muss.“ Er sagte es so leise, dass man es kaum verstehen konnte, er flüsterte vielmehr.
„Und mir tut es Leid, dass ich es ziemlich schwierig finde, in einer völlig fremden Stadt wochenlang auf mich allein gestellt zu sein.“ Wieder ein Flüstern.
Mads nahm den Teller und die Gabel und verließ die Küche. Einen Moment hatte er überlegt, das übrige Essen vor den Augen seines Vaters in den Mülleimer zu kippen, aber dann hätte sich wohl Monate niemand beim anderen entschuldigen können. Und eigentlich fehlte ihm für eine solche Aktion die nötige Wut. Er wäre gern wütend gewesen. Er hätte gern laut mit der Tür geknallt, aber eigentlich fühlte er nur eine große Leere. Eine große bedrückende Leere. Und Traurigkeit.
Er setzte sich in sein Zimmer zu Mr. Knibbles auf den Teppich, stellte den Teller auf eines seiner verschränkten Knie und aß stumm und viel zu schnell. Er hatte keinen Hunger, trotzdem schlang er, als hätte er drei Tage keinen Bissen in den Magen bekommen. Die Leere ging davon trotzdem nicht weg. Natürlich.
Nach wenigen Minuten war er fertig. Er stellte den Teller neben sich. Mr. Knibbles musterte ihn neugierig. Den Teller und Mads.
Vielleicht hätte er seinem Vater gar nicht von Mr. Knibbles erzählen müssen. Vielleicht hätte er ihn wirklich für einige Zeit verstecken können, so lange, bis sein Vater auf die nächste Reise gegangen wäre. Aber sinnlos. Nun war es ohnehin so, wie es war. Nicht zu ändern. Und er hatte wenigstens nicht lügen müssen.


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