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Abschnitt 11

Autor:  lufie
Als kleines Kind war er oft weggerannt, mitten im Streit, manchmal wütend, manchmal beleidigt, manchmal in Tränen aufgelöst. Er hatte sich in immer dieselbe Ecke seines Zimmers gekauert und gewartet, dass jemand ihm hinterherkommen würde. Sollten doch die anderen das Problem irgendwie lösen und sich einen Kompromiss überlegen. Er selbst würde keinen Finger mehr rühren und sich ganz sicher nicht entschuldigen. Manchmal hatte es funktioniert, manchmal auch nicht. Aber wenn ihm jemand hinterhergekommen war, dann war es nie sein Vater gewesen. Soweit er sich erinnern konnte. Immer nur seine Mutter.
Er legte sich auf den Teppich, auf die Seite, und drückte mit dem Finger auf den Griff der Gabel. Er hing über den Rand des Tellers, sodass sich das andere Ende der Gabel hob und wieder nach unten schnellte, sobald er den Druck lockerte. Es klackte leise. Er wiederholte die Prozedur, wieder und wieder, bis es ihm irgendwann langweilig wurde. Er zog die Hand zurück.
Er würde nicht zurückgehen und sich entschuldigen. Er durfte nicht. Auch wenn es bedeutete, dass er den ganzen restlichen Nachmittag und die ganze Nacht hier liegen musste. Sollte sein Vater sich mal etwas überlegen. Geschäftsführer zu sein bestand schließlich hauptsächlich darin, irgendwelche Kompromisse zu finden. Glaubte er zumindest. Mal gehört zu haben.
Er drehte sich auf den Rücken. An die Decke seines ersten Kinderzimmers hatte sein Vater Sterne geklebt, die im Dunkeln hellgelb geleuchtet hatten. Er hatte sie in Form bekannter Sternbilder angeordnet. Viele Jahre hatte Mads die wirklichen Sternbilder sogar am Himmel finden können, inzwischen hatte er auch das wieder verlernt. Er fragte sich, warum er so lange nicht mehr daran gedacht hatte. Und warum die Decke hier so ekelhaft leer und weiß aussah.
Er dachte an Lois. Er könnte sie fragen, ob sie Lust hätte, ihm dabei zu helfen, neue Sternbilder an seine Decke zu kleben. Aber noch im selben Moment, in dem er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, erschien er ihm schon wieder unendlich albern. Lois wollte bestimmt nicht die wenigen Tage, an denen es ihr einigermaßen gut ging, mit dem Kleben von leuchtenden Plastiksternen an fremde Tapete verbringen. Oder vielleicht doch? Ob sie schon wieder zu Hause war? Oder lief die Suppe in diesem Moment in sie hinein? Mads hatte keine Ahnung, wie lange so eine Chemo dauerte. Bisher hatte er auch nie darüber nachdenken müssen. Zum Glück, hätte man sagen können. Aber nie darüber nachdenken zu müssen wäre vielleicht noch besser gewesen. Auch, wenn ihm das wiederum utopisch erschien.
Mr. Knibbles hoppelte von rechts nach links, von einer Ecke seines Käfigs in die andere. Und wieder zurück. Zuweilen knabberte er an einigen Möhrenstücken. Und er guckte. Guckte er doof? Vielleicht. Aber was machte das schon? Mads fielen auf Anhieb fünf Mitglieder des Bundestages ein, die die Disziplin des Doofguckens auch ziemlich gut beherrschten. Aber stellte deshalb jemand ihre Daseinsberechtigung in Frage?
Vergleich doch nicht Äpfel mit Birnen, hörte er seinen Vater schon antworten. Kaninchen sind kein Ersatz für Menschen. Mads zog den Kopf zwischen die Schultern und biss in den Halssaum seines Pullovers. Na und. Kühlschränke auch nicht. Und Fernseher erst recht nicht.
Irgendwann nahm er Mr. Knibbles aus dem Käfig, setzte ihn sich auf den Bauch und streichelte ihn, mit beiden Händen, über die angelegten Ohren, den Rücken, bis nach hinten zu dem puscheligen Schwänzchen. Und wieder von vorn.
Lange lag er so da, streichelte sich die Hände taub, dachte an Lois oder führte das Gespräch mit seinem Vater auf ein Neues, wieder und wieder spulte es durch seinen Kopf, wieder und wieder ließ er seine Argumente gegen die seines Vaters antreten. Das Ergebnis war selten positiv.
Die Zeit verstrich langsam, quälend langsam, draußen war es immer noch hell, das konnte man selbst durch die Jalousie hindurch erkennen. Durst kroch leise seine Kehle hinauf. Anfangs gelang es ihm gut, ihn zu ignorieren, aber er wurde schlimmer und irgendwann konnte ihn nicht einmal der Argumente-Austausch-Generator in seinem Kopf noch davon ablenken. Wieso hatte er sich nie einen Vorrat an Wasserflaschen in seinem Kleiderschrank zugelegt?
Seufzend kappte er seine ineinander verschlugenen Gedankenfäden, setzte Mr. Knibbles zurück in den Käfig. Für einen Moment erwog er ernsthaft, sich in den Keller zu schleichen, um gleich einen ganzen Kasten zu holen – wer wusste schon, wie oft und lange er noch in seinem Zimmer würde ausharren müssen – aber da hätte er auch gleich an seinem Vater vorbei in die Küche spazieren können. Die Kellertür schnarrte und quietschte verräterisch laut. Aber wieso stellte er sich überhaupt so an? Er war hier zu Hause, er musste sich vor nichts verstecken, nicht schleichen, gar nichts. In einem Anflug von Entschlossenheit öffnete er die Tür und marschierte los.
Im Flur blieb er abrupt stehen. Sein Vater saß noch in der Küche.
Er hatte ihm den Rücken zugewendet und schien beschäftigt. Wie immer also. Mads wollte davonschleichen, um seinen Durst am Wasserhahn im Badezimmer zu stillen, als er sich plötzlich umdrehte. „Mads?“ Mads stand wie erstarrt, wie erwischt, ertappt. Bei was eigentlich? „Bitte setz dich.“ Sein Vater wies mit der Hand auf den Stuhl neben sich. Mads setzte sich. Er fühlte sich lächerlich. Als hätte er doch noch auf Knien rutschend um Verzeihung gebeten, gefleht. So wie der König vor gut tausend Jahren in Cabanossi. Nein, falsch, Canossa.
Sein Vater hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die beiden obersten Knöpfe geöffnet. Die Lesebrille hatte er wieder in die Haare geschoben. Das Smartphone hielt er noch in der Hand. Er legte es auf den Tisch. Eigentlich ließ er es vielmehr aus seiner Handfläche auf die Tischplatte gleiten.
Er fixierte ihn nicht, er schaute ihn an. „Mads“, sagte er. Mads nickte kurz, obwohl es überflüssig war. Sein Vater atmete ein. „Ich kann nichts daran ändern, dass ich so oft weg muss.“, sagte er. „Damit musst du leider zurechtkommen. Aber...“ Er runzelte die Stirn „Du hast immer gesagt, es würde dir nichts ausmachen. Darauf habe ich mich verlassen. Und jetzt kommst du und machst mir Vorwürfe.“ Mads sagte nichts. Sein Vater zupfte an seinem Hemdskragen. Seufzte. „Ich hatte ehrlich gesagt auch gehofft, dass du schneller Freunde finden würdest.“
Falsch gedacht. Mads zuckte mit den Schultern, lächelte verlegen, hilflos. Mit einer Spur Bitterkeit. Ehrlich gesagt hatte er das auch gehofft. In einem dieser Anflüge von Enthusiasmus und schierer Selbstüberschätzung, dir ihn manchmal befielen. Er kam wohl nicht heraus aus seiner Haut, zumindest nicht so einfach.
Immerhin hatte er jetzt Lois. Wobei haben vielleicht nicht das richtige Wort war. Vielleicht hatte sie ihn mehr als er sie. Er wusste es nicht.
Sein Vater lehnte sich zurück und fuhr mit dem Finger die Tischkante entlang. „Deine Freundin, woher kennt ihr euch? Aus der Schule?“ Mads schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Aus der Stadt.“ „Aus der Stadt?“ „Ja“ „Wie? Einfach so?“ Sein Vater lächelte, aber es war viel von der Belustigung und dem Spott verschwunden. Nicht alles, ein wenig noch hing in den Mundwinkeln, aber das war meistens so. Mads nickte. „Und was macht ihr so zusammen?“ „Wir trinken Milchshake und gehen spazieren.“ Und schenkten sich dicke Kaninchen. Und brauchten Wochen, um Adressen auszutauschen. Und brauchten Ewigkeiten, um sich das wirklich Wichtige zu erzählen. Sein Vater lachte nicht, obwohl Mads sich sicher war, dass er diese Art von gemeinsamen Unternehmungen sicher lustig fand. Er überlegte, was er mit seinen Freundinnen wohl gewöhnlich getan hatte. Auf Konzerte gehen, auf Partys gehen, sie zu seinen Fußballspielen einladen. Verreisen. Und spazieren gehen vielleicht auch.
Sein Vater schwieg eine Weile. Das Lächeln war verschwunden, dafür war die Falte zwischen den Augenbrauen zurückgekehrt, ganz blass nur. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Und ist sie nun eine Freundin oder...“ Bedeutungsvolle Pause „...deine richtige Freundin?“ Er fixierte wieder. Die linke Augenbraue rutschte in die Höhe. „Sie ist eine Freundin“ Mads legte die Betonung auf eine und versuchte, so zu klingen, als wäre er sich hundertprozentig sicher. Ich weiß nicht, wäre die richtige Antwort gewesen. Irgendetwas dazwischen. So ähnlich. Aber das hätte seinen Vater nur beunruhigt und das Gespräch endlos in die Länge gezogen.
Und tatsächlich. Sein Vater lehnte sich zurück, die Falte zwischen den Augenbrauen verschwand. Er wirkte erleichtert, beinah entspannt. Insofern jemand wie er überhaupt dazu in der Lage war, sich zu entspannen. „Fein, fein“, sagte er. Wahrscheinlich hatte er sich schon darauf gefasst gemacht, seinem Sohn Vorträge über Verhütung und Ähnliches halten zu müssen.
Mads nickte kurz, stand auf, füllte sich ein Glas aus dem Wasserhahn, bis zum Rand, trank in einem Zug. Füllte das Glas erneut. Trank. Sein Vater saß eine Weile still, als lausche er dem Gluckern, mit dem das Wasser seine Kehle hinabfloss. Fast schon reflexartig tasteten seine Finger wieder nach dem Smartphone, aber er starrte weiter geradeaus, an die gegenüberliegende Wand, dort, wo der Heizkörper ebefalls vor sich hin gluckerte, leise und regelmäßig. Mads füllte das Glas ein drittes Mal. Er wollte sich unauffällig aus dem Zimmer schieben, aber sein Vater war wohl doch nicht so geistesabwesend gewesen wie er gewirkt hatte. „Mads?“ Er wandte sich um. Mads hielt inne. Sein Vater stand auf. „Ähm...und wegen dem Kaninchen. Behalt das Vieh von mir aus. Ich weiß zwar immer noch nicht, was du damit willst, aber...“ Er gab sich redlich Mühe, nebensächlich und gelassen zu klingen. Das Smartphone steckte er in die Hosentasche. „Ich will keinen Ärger damit haben. Kein Dreck, kein Gestank und es bleibt in deinem Zimmer. Verstanden?“ Mads nickte, lächelte, still in sich hinein und hoffte, dass sein Vater den dunklen Fleck auf dem Esszimmerteppich nie entdecken würde. Oder für etwas anderes halten würde. Für verschütteten Saft vielleicht. „Danke“, sagte er. Sein Vater lächelte kurz, dann schob er sich an ihm vorbei. „Ich muss nochmal kurz weg.“, sagte er und steuerte auf den Garderobenschrank zu. „Soll ich was mitbringen?“ Mads schüttelte den Kopf. Er umfasste das Wasserglas mit beiden Händen und sah seinem Vater dabei zu, wie er in Schuhe und Jacke schlüpfte. „Nichts?“ Er blieb noch einmal kurz stehen, Mads schüttelte wieder mit dem Kopf. „Gut, dann bis gleich.“ Und er wehte aus der Tür, die Jacke noch nicht einmal zugeknöpft.
Mads seufzte.
Manche Dinge änderten sich nie.


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