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Abschnitt 14

Autor:  lufie
Weiches Licht empfing ihn. Weiches Licht in Blau und Violett. Vorsichtig drückte er die Tür weiter auf. Sie quietschte nicht. Ein blau-violettes Rollo vor dem Fenster, es deckte nicht das gesamte Fenster ab, ringsherum um die Ränder schimmerte weißes Tageslicht. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen Umrisse ausmachen konnten. Ein Bett, ein großer Haufen Kissen, eine zerknautschte und aufgetürmte Decke. Mitten darin, verkrochen, ein dunkler Umriss. Schwer zu sagen, ob es ein Kopf mit dunklen Haaren war oder ein Kuscheltier. Mads schloss die Tür hinter sich. Ein leises Klacken, als das Schloss einrastete. Er wartete. Nichts rührte sich. Vielleicht atmete da etwas unter der Decke. Aber es konnte auch nur Einbildung sein oder ein sachter Luftzug. Das Fenster war angekippt. An der Wand gegenüber hing das Plakat irgendeiner Band. Er kannte sie nicht. Er kannte die meisten Bands nicht. Vielleicht hatte der Name auf der Rückseite des Pullovers gestanden, den sie getragen hatte, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. Damals, in dem Hutladen. Damals, das Wort klang so abgedroschen, aber er fand kein anderes Wort, das besser zutraf. Er hatte das Gefühl, als wäre dieser Tag im Hutladen schon lange her, Ewigkeiten entfernt. Vorsichtig trat er näher. Ganz vorsichtig. Auf einer Kommode stand schon ein Strauß Blumen, gelbe Rosen und Gerbera, mit dunkelgrünen Blättern zu einem kunstvollen Gebilde drapiert. Ein Meisterwerk eines Floristen. Daneben stapelten sich Tablettenschachteln. Schachteln über Schachteln. Er streckte die Hand aus, schob einige bei Seite, ganz langsam, mit den Fingerspitzen, wie in Zeitlupe, peinlich darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Immer abwechselnd schaute er auf seine Hand, die an den Schachteln rückte und auf die Decke, aber alles blieb still. Er schob seine Blumen neben die anderen. Es scharrte, ein wenig, so leise, dass er schon glaubte, nur er habe es gehört. Aber unter der Decke begann sich etwas zu rühren, es raschelte. Erst sacht, dann lauter.
Dann starrten ihn grüne Augen an. Runde grüne ernsthafte Augen. Er hielt inne wie angewurzelt, die Hände noch an der Vase und hätte viel darum gegeben, jetzt an einem anderen Ort zu sein. An irgendeinem, völlig egal.
„Ähm“, begann er, in einem jämmerlichen Versuch, sich zu erklären.
„Mads“, drang es gedämpft unter der Bettdecke hervor. Es war keine Frage, auch kein Ausruf, es war eine dieser trockenen Feststellungen, die er schon kannte. Er war nicht einmal sicher, ob er Verwunderung in ihrer Stimme hörte. Oder Freude. Die Bettdecke raschelte wieder, als Lois sich aufsetzte. Das Gegenlicht tauchte ihr Gesicht in bläuliche Schatten. Wirre Haarsträhnen hangelten sich durch ihr Gesicht. Sie wichte sie mit den Händen nach hinten. Auf einer ihrer Hände klebte ein großes weißes Pflaster. „Mads“, sagte sie wieder. Ja, doch. Verwunderung. Und Freude.
„Hallo“, sagte er, nahm verlegen die Hände von der Vase, verschränkte sie hinter dem Rücken. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden. Die Sommersprossen auf ihrer Nase wirkten wie dunkle Krümel auf der durchscheinenden Haut. Sie lächelte. Es war ein Bleistiftlächeln, aber ein kräftiges. „Ich hoffe, ich hab' dich nicht geweckt.“, sagte er höflich. Sie schüttelte den Kopf. Einzelne ausgefallene Haare kringelten sich auf ihren Schultern, sammelten sich in den Falten des T-Shirts. Viele ausgefallene Haare. „Sind die Blumen von dir?“, fragte sie und betrachtete sie neugierig. Mads nickte, zupfte noch ein wenig an den hängenden Blüten herum, als würden sie dadurch weniger jämmerlich. „Danke“, sagte sie. Sie sagte es so, als würde sie sich wirklich freuen. Zumindest ein bisschen vielleicht. „Setz' dich doch!“ Sie klopfte auf die Matratze neben sich, knautschte die Decke in eine andere Ecke, zog die Beine in einen Schneidersitz. Mads setzte sich. Auf die äußerste Kante. Die Beine im rechten Winkel, die Füße nebeneinander auf dem kühlen Fußboden, die schwitzenden Hände nebeneinander auf den Knien. Er traute sich kaum, sie anzusehen. Vor ihrem Bett stapelten sich Bücher, Zeitschriften, ein alter Gameboy. Ein großer Plastikeimer, rot, leer. Noch oder schon wieder?
„Geht es dir gut?“, fragte sie und lehnte sich zurück, an die weiß tapezierte Wand. Oder hellblau? Im Licht des Rollos konnte er es nicht genau sagen. Er nickte und meinte es auch so. Im Vergleich zur Mehrheit in diesem Land vielleicht nicht ganz so gut, aber im Vergleich zu... Er würgte den Gedanken ab. So schnell wie möglich. Er räusperte einen dicken Kloß aus dem Hals. „Mr. Knibbles auch.“, sagte er. „Mein Vater hat mir erlaubt, ihn zu behalten.“ In dem Moment, in dem er die Neuigkeit aussprach, kam sie ihm nichtig vor, klein und unbedeutend. Er schaute auf die Tablettenschachteln. Auf den Eimer. Ob es Lois überhaupt interessierte, was er da sagte?
„Schön“, sagte sie. Sie klang nicht desinteressiert. „Kann ich ihn mal besuchen kommen?“, fragte sie. „Wen? Mr. Knibbles?“ Sie nickte. „Ich meine, irgendwann mal.“ Sie sagte es leise, schaute auf das Pflaster auf ihrer Hand. Mads nickte. „Klar. Komm, wann du willst.“ Sie lächelte. Fast hätte er ihr doch noch die Geschichte mit den Leuchtsternen an seiner Zimmerdecke vorgeschlagen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass er die eigentlich als albern abgetan hatte. Ihre Zimmerdecke war ebenso leer wie seine. Keine Sterne. Nichts. Nur eine schmucklose Lampe.
„Und wie läuft es mit deinem Vater?“, fragte sie weiter. Sie schien nicht zu bemerken, wie abgrundtief unwichtig es war, wie er mit seinem Vater zurechtkam. Oder fragte sie, um sich abzulenken? Er wusste es nicht. Er verspürte kaum Lust, zu antworten. Er zuckte mit den Schultern. „Es geht so“, sagte er. „Man kommt halt miteinander aus. Irgendwie.“ Er lächelte schief. „Fühlst du dich noch einsam?“, fragte sie weiter, aufmerksam. „Im Moment nicht.“ Er grinste. Sie schlug die Augen nieder. Das hatte sie nicht gemeint und das wusste er. Aber das machte nichts.
„Und du?“, fragte er geschickt in die entstandene Pause hinein. „Geht es schon wieder ein bisschen?“ Auch er lehnte sich ein Stück zurück, stützte sich mit den Händen auf der Matratze auf. Sie sanken ein in den weichen Schaumstoff.
Sie schaute wieder auf das Pflaster. Zuckte mit den Schultern. „Hm.“ Zupfte an den Rändern des weißen Zellstoffs. „Das wird schon wieder.“, sagte sie, blickte auf, lächelte matt. Wieder diese gespielte Heiterkeit. Aber vielleicht die einzige Möglichkeit, nicht in Trübsal zu versinken. Auch, wenn sie diesmal nicht übermäßig überzeugend wirkte. „Wie lange geht das noch so?“, fragte er.
Wieder ein Schulterzucken. „Weiß nicht genau. Hab's mir nicht gemerkt. Hab' ja auch gerade erst angefangen.“ Sie zupfte ein loses Haar aus einer Strähne. „Und wenn es vorbei ist?“ „Dann“ Sie zog das Dann ein wenig in die Länge. Griff nach einem Kissen, einem großen verknautschten, legte es sich auf den Bauch. Verschränkte die Arme darauf. „Dann geht’s in diese Klinik. Diese Spezialklinik, von der ich dir erzählt hatte, weißt du?“ Sie schaute auf den knitterigen Bezug. Dunkelgelb. Mit roten Streifen. „Und dann?“ „Dann weiß ich, ob es geholfen hat.“ „Die Chemo?“ Sie nickte, dabei blinzelte sie, häufiger als sonst. Kniff die Augen ein wenig zusammen. Sie hatte keine Lust, zu antworten. Aber er musste diese Fragen loswerden, ganz dringend, sonst würde sein Kopf in den nächsten Tagen überlaufen. Auch, wenn auf jede beantwortete Frage tausend neue folgten.
„Und wird sie helfen?“
Er hätte sich ein lautes, motiviertes Ja, natürlich gewünscht, aber eigentlich rechnete er nicht damit, dass eines kommen würde. Woher auch.
Zunächst folgte Stille. Lois antwortete nicht, schaute auf den Kissenbezug, fuhr mit den Fingern darüber, gleichmäßig, gedankenverloren, weltverloren. „Weiß nicht.“, sagte sie schließlich. Mehr ein Flüstern. „Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht kommt ja noch ein Wunder daher.“ Sie lachte leise und zutiefst ironisch. Wenn nicht gar zynisch. Mads versetzte es einen Stich.
Er setzte sich wieder aufrecht hin. „Aber“, setzte er an. Sie blickte auf. Das Weiße in ihren Augen schimmerte rötlich. Sie glänzten seltsam, ihre Augen. Sie hatte sie weit geöffnet, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sich unten kleine glitzernde Tropfen sammelten, unten am Liedrand, direkt über den dunklen Ringen, es wurden mehr und mehr, kurz bevor sie überschwappten, senkte sie das Gesicht, wischte mit dem Handrücken. Erst das linke, dann das rechte. Danach war alles noch röter und es wurde nicht besser. Neues Glitzern, neues Tropfen, neues Überquellen, sie schniefte. Atmete durch den Mund. Wollte wieder wischen. „Entschuldige“, presste sie hervor. Tastete nach einem Taschentuch. Mads überlegte nicht lang. Streckte beide Arme aus und griff nach ihren Händen. Er drückte sie auf das Kissen, das noch immer auf ihrem Bauch lag, auf den dunkelgelben Bezug mit roten Streifen, drückte und ließ nicht los. Lois hob langsam den Kopf, er blickte in ihre geröteten und verquollenen Augen. Tränen liefen aus der Mitte heraus über die Augenringe hinweg, über ihre Wangen. Kullerten, tropften, über das Kinn, stempelten dunkle Abdrücke in den weißen T-Shirt-Stoff. „Psst“, machte er und wurde sich im selben Moment erschrocken dessen bewusst, was er da gerade tat. Hastig ließ er los, legte seine eigenen Hände unbeholfen auf die Knie. Wusste nicht, wohin damit. Lois ließ ihre Hände liegen, auf dem Bezug. Sie betrachtete sie, die hellen Knöchel, die so deutlich hervortraten. Die Fingernägel, die leicht bläulich schimmerten. Ganz leicht nur.
Sie sagte nichts.
Irgendwann hörte es auf zu laufen, zu tropfen, zu kullern. Schmale Spuren hatten sich in ihr Gesicht gegraben, sie glänzten ganz matt.
Er hörte sie tief einatmen. Wieder ausatmen.
„Was wolltest du sagen?“, fragte sie. Ihre Stimme klang rau. Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ist schon gut.“ Eine Pause entstand. Zuweilen zog sie noch die Nase hoch, ein leises Schniefen. Aber die Abstände wurden kleiner, irgendwann war es verschwunden.
„Nun sag schon“, setzte sie wieder an. Müde. Erschöpft. „Aber...?“ Mads nestelte an seinen Händen herum, zupfte an der Haut links und rechts der Fingernägel. „Ich wollte eigentlich nur fragen, warum du dann damals die Münzen in den Brunnen geworfen hast.“ Er zupfte zu viel, ein Finger begann zu bluten, schnell steckte er ihn in den Mund. Noch so eine lächerliche, nichtige Frage. Aber so betrachtet war alles nichtig und unwichtig, regelrecht lächerlich. Sternenstaub, alles Sternenstaub.
„Ach das.“ Sie lächelte blass. „Das war vor der Chemo. Da war ich noch fest überzeugt, dass ich das irgendwie schaffen würde. Ich dachte, wenn ich nur will, schaffe ich alles.“ Sie lehnte den Kopf wieder nach hinten gegen die Wand, sie schaute auf einen bestimmten Punkt, während sie das sagte. Mads folgte ihrem Blick. Da hing der Hut am Kleiderschrank. Unversehrt, das Hutband leuchtend rot.
„Vielleicht ist es ja auch so.“, sagte er. Das Hutband erinnerte ihn an eine andere Lois, eine buntere, fröhlichere. Sie schien so wenig gemeinsam mit dieser blassen geisterhaften Gestalt hier auf der Matratze direkt vor ihm, mit der Transparenthaut, den Augenringen, den Tablettenschachteln, den ausfallenden Haaren. Auch, wenn die Heiterkeit von damals vielleicht nur gespielt gewesen war.
Lois lächelte matt, fast amüsiert. Das sagt sich leichter als es ist, sagten ihre Mundwinkel. Besonders vorher. Sie sprach es nicht aus. Stattdessen sagte sie etwas anderes:
„Ich würde viel lieber wieder in die Schule gehen.“ Sie legte den Kopf auf einen der Kissenhaufen in einer Ecke des Bettes, auf die Seite, die Beine anzogen, um Mads nicht ins Gehege zu kommen. Ihre Haare ergossen sich über die Matratze. „Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich ausgerechnet die Schule vermissen würde.“, sagte sie. Sie lachte wieder leise, aber diesmal weniger ironisch. „Manchmal denke ich mir, dass es besser wäre, einfach so weiterzumachen wie bisher. Am besten niemanden davon erzählen. Einfach alles wie immer. Und irgendwann war's das dann. Fertig.“ Sie lächelte. „Bäm“, sagte Mads leise, weil ihm gerade nichts Geistreiches einfiel. Lois lachte. „Genau“ Sie richtete sich wieder auf, begleitet von Rascheln und Knistern.
So blieben sie sitzen, nebeneinander auf die Matratze gestützt, vertieft, gedankenkreisend, verschiedene Punkte fixierend, vielleicht auch ein und denselben, so genau wussten sie das nicht und überprüften es auch nicht.
Durch den Fensterspalt sickerten zwitschernde Vogelstimmen, sich immer abwechselnd wie auf einer kleinen Bühne, ein auf und ab hüpfender Singsang. Das Brausen des Verkehrs. Das Knattern eines Rasenmähers. Oder einer Kettensäge. Oder eines Laubbläsers, wenn Herbst gewesen wäre. Aber es war nicht Herbst. Es war ein steckengebliebener Frühling. Einer, der sich nicht so recht aus seiner Ecke traute.
„Das wäre aber auch zu einfach.“, sagte Mads, mitten in die seichte Stille hinein. Fast schien es, als wirbelte der Schall die stehende Luft auf. Wie ein leichter Luftzug die Staubpartikel im Gegenlicht.
„Hm“, sagte Lois und er war nicht sicher, ob sie zugehört hatte. Eingängig musterte sie ihre Zimmerdecke. Das wiederkehrende, krisselige Muster der Raufasertapete. Sie legte den Kopf schief, erst nach links, dann nach rechts. „Hm“, sagte sie wieder, nachdenklich und zog den Mund auf die rechte Seite, wie viele Menschen es taten, wenn sie überlegten. Dann auf die linke Seite. „Findest du nicht auch, dass meine Decke furchtbar leer aussieht?“, fragte sie dann. Mads betrachtete sie überrascht von der Seite. Fast hätte er gefragt, ob sie vielleicht doch telepathische Fähigkeiten besaß, aber dann besann er sich. Er wollte es selbst herausfinden. Eines Tages würde er dahinterkommen, ganz sicher. Er folgte ihrem Blick zur Decke. „Hm. Schlimm. Wirklich schlimm. Da helfen nur Leuchtsterne, fürchte ich. Viele Leuchtsterne.“ „Oh nein“, seufzte Lois. „Was mache ich denn da jetzt nur?“ Sie bemühte sich wirklich, trübselig zu schauen, aber in ihren Mundwinkeln sammelte sich bereits ein Lachen und bald konnte sie es nicht mehr zurückhalten.
„Ich würde sagen, Sie suchen sich tatkräftige Unterstützung, die Ihnen in dieser schwierigen Aufgabe tatkräftig zur Seite steht.“ Er versuchte sich in einem stahlend weißen Zahnpastawerbungs-Grinsen und streckte beide Daumen in die Höhe. Lois lachte. Sie lachte tatsächlich. „Wann können Sie anfangen?“
„Wann immer Sie wünschen.“
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Datum: 13.05.2013 20:50
Das Ende gefällt mir sehr gut.
Hätte ich nicht erwartet, da ich dachte, dass es noch trauriger werden würde, aber doch, es gefällt mir sehr. :)
Gute Arbeit.
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by Zwergvampir


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