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Traces of the Love we left

von

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Hillcroft Avenue

Am liebsten wäre ich am nächsten Morgen nicht aufgestanden, vor allem nicht, da ich gerade mal zwei Stunden zuvor eingeschlafen war, und doch hatte ich nicht wirklich eine andere Wahl. Sehr wenig Zeit zur Verfügung, flitzte ich auf dem kürzesten Wege nach Hause, um mein Schulzeug zu holen. Und auf diesem Weg konnte ich kaum glauben, was bis hierher geschehen war. Solange ich bei Ralph gewesen war, hatte es alles der Wirklichkeit entsprochen, unsere Berührungen waren selbstverständlich und vertraut gewesen. Nun auf dem Heimweg kam ich mir vor, als sei all das einer anderen Welt entsprungen. Ich konnte das Lächeln nicht mehr von meinen Lippen vertreiben, während ich an unsere zärtlichen Berührungen unter dem warmen Wasser der morgendlichen Dusche dachte, welche die Schwere der letzten Nacht vollends vertrieben hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich ihm in der Schule begegnen sollte, ohne ihn nicht genau so anzusehen. Würde man es nicht an dem Leuchten in meinen Augen erkennen?

Meine Eltern taten dies ganz sicher, als ich ihnen eine ziemlich fadenscheinige Erklärung auftischte und mich sofort wieder auf den Weg machte. Bei ihnen störte es mich nicht, bei Nick jedoch hatte ich ein wenig mehr Sorge. Nun mit diesem Glücksgefühl im Magen wollte ich mein Lächeln nicht verbergen, nicht vor ihm, meinem besten Freund. Ich wollte es teilen mit ihm, wenn schon mit keinem anderen. Irgendjemandem musste ich es einfach erzählen und vielleicht kam es mir nur zurecht, dass er mich direkt durchdringend anblickte, als mir das überfröhliche „Einen wunderschönen guten Morgen“ über die Lippen gedrungen war. In dem Augenblick nämlich wusste ich, dass ich ihm die Wahrheit nicht eine Sekunde länger verschweigen konnte.

Also schickte ich die erste Schulstunde zum Teufel und erklärte Nick stattdessen, dass ich ihm unbedingt etwas erzählen müsse. Meine Füße trugen mich dabei Richtung Park, während ich nach den richtigen Worten suchte und er mich nur vollkommen verwirrt von der Seite musterte. Natürlich war ich nervös, aber Angst hatte ich eigentlich keine. Ich kannte meinen besten Freund, glaubte zu wissen, wie er es aufnehmen würde.
 

Doch Nick reagiert anders als erwartet.

Hätte ich in den letzten Jahren wirklich einen Grund dafür nennen sollen, weshalb ich ihm meine Homosexualität verschwiegen hatte, so hätte ich wahrscheinlich keinen plausiblen gefunden. Denn eigentlich war ich mir immer sicher gewesen, dass er mich deshalb niemals hassen würde. Er würde es akzeptieren, würde weiterhin mein Freund bleiben… und dennoch hatte ich es ihm nie gesagt. Vielleicht hatte ich am Ende auch schlicht und einfach gehofft, dass er es irgendwann von selbst merken und mich seinerseits darauf ansprechen würde.

Er hatte es nie von selbst gemerkt, und an jenem Morgen im Park, nachdem ich ihm endlich gesagt hatte, dass ich mit einem Jungen zusammen war, machte er zunächst auch nicht den Anschein, als hätte er vor, es zu akzeptieren. Er sah mich an, als sei ich von einem anderen Planeten. Seine Augen waren ungläubig, zeigten einen Ausdruck, den ich nicht verstand, verzogen sich immer weiter, während er kein Wort über die Lippen brachte. Er ballte die Fäuste und ich glaubte für einen Moment, er würde auf mich losgehen, doch das tat er nicht. Er schrie nicht, er schlug nicht, er tat gar nichts, minutenlang nicht. Ich wagte in ihnen kaum, zu atmen, und jedes Knacken unter meinen Fußsolen ließ mich zusammenzucken.

Hatte ich mich tatsächlich dermaßen in ihm geirrt? Das wollte ich einfach nicht glauben.

Die ersten Worte, welche über seine Lippen kamen, waren jedoch nicht von Abscheu geprägt, sie waren weder geschrien noch überhaupt irgendwie wütend. Ich glaube, mir kamen sie sehr emotionslos vor, was ich am schlimmsten fand.

„Ist es Ralph?“, war seine Frage, auf die ich nicht mehr als nicken konnte.

Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen, ich räusperte mich, schluckte den Kloß hinunter. Noch immer ahnte ich nicht, wie er reagieren könnte.

Von ihm folgte ein Nicken, er kickte eine zerknüllte Bierdose aus dem Weg. Ich sah sie fliegen gegen den nächsten Baum, dann lag sie reglos am Boden. Als ich wieder zurück zu Nick sah, hatte sich dessen Gesichtsausdruck vollkommen verändert. Plötzlich war da Wut, merkwürdiger Hass, und als ich den Namen meines besten Freundes sprach, schrie er mich an.

„Warum dieser Aufschneider?“, richtete er die Augen direkt in meine. „Warum ausgerechnet der Typ? Der will doch nur mit dir ins Bett, seinen Spaß haben! Der hat doch gar keine Ahn-“

Ich hatte Nick nie geschlagen, zumindest nicht, seit wir dem Sandkasten entwachsen waren. An jenem Morgen tat ich es und ihn ließ es augenblicklich verstummen.

„Sag mal, spinnst du?“, schrie stattdessen ich. „DU hast doch überhaupt keine Ahnung! Weißt du eigentlich, wovon du sprichst? Du kennst ihn nicht! Du weißt überhaupt nichts über ihn!“

„Aber du?“

„Ja!“

„Woher denn?“

„Er hat es mir erzählt?“

„Ach ja? Das sind doch alles nur Lügen, um dich-“

„Hör sofort auf!“ Hatte ich soeben noch geschrien, war meine Stimme nun ruhig, aber kalt wie Eis. „Noch einen Ton und ich werde…“

Ich brachte die Drohung nicht zu Ende und kurz wollte er darauf spöttisch reagieren, doch beide entschieden wir vielleicht im selben Moment, dass das nicht die Basis war, auf der wir uns unterhalten sollten. Wir standen mittlerweile irgendwo mitten im Park, die Fäuste gespannt und kurz davor, uns zu verprügeln. Das entsprach nicht der Freundschaft, die wir führten.

Ich löste meine angespannten Hände nun langsam, schloss die Augen eine Sekunde und suchte nach vernünftigen Worten.

„Ich habe gedacht, dass du dich für mich freuen würdest“, fand ich sie und schlug die Augen wieder auf. „Ich dachte, als mein bester Freund würdest du mich unterstützen.“

Sein Blick änderte sich augenblicklich als habe ich ihm ins Gesicht geschlagen. Er wand sich ab, kämpfte sichtlich mit sich. Ich verstand nicht weshalb. Wieso hatte er so ein riesiges Problem damit?

„Du hast recht“, kam es jedoch in der nächsten Sekunde. Er drehte sich wieder zu mir um. „Es stimmt, ich sollte dich unterstützen... es ist nur...“ Seine Stirn lag noch immer in Falten.

„Was ist es?“, fragte ich vorsichtig.

„Du weißt es doch nicht erst seit heute... Dass du schwul bist...“

„Nein.“

„Warum hast du es mir nie gesagt?“ Seine Augen blickten direkt in meine. Plötzlich erkannte ich die Enttäuschung in ihnen. „Ich dachte, als mein bester Freund würdest du mir alles erzählen.“

Es blieb still. Ich wusste nichts zu sagen. Er hatte recht. Sein Vorwurf saß tiefer als meiner, plötzlich verstand ich die Wut, welche ihn trieb. Ich senkte den Kopf.

„Es tut mir-“

„Mir auch“, unterbrach er mich schnell.

Sofort sah ich ihn wieder an. Seine Mundwinkel hoben sich langsam ein Stück. Das war alles, was es brauchte. Ich fiel ihm um den Hals. Ich weiß nicht, weshalb so plötzlich, aber mir war danach. Ich brauchte vielleicht diese Absicherung, dass er es noch immer zulassen würde, und als es so war, war ich erleichtert. Ich spürte den Stein fallen, welcher immer auf meinem Herzen gelastet hatte. Endlich wusste er es. Endlich hatte ich es ihm gesagt. Diese Tatsache war mir gerade unheimlich viel wert.
 

Letztendlich gingen Nick und ich erst zur dritten Schulstunde jenes Tages. Wir verbrachten noch eine ganze Zeit im Park und traten die Bierdose vor uns her. Unter dieser Beschäftigung fragte er nun ganz neutral nach Ralph und wie es gekommen war. Wann hatte es begonnen. Wie stark waren meine Gefühle. Wie lange wusste ich schon, dass ich schwul war. Ich beantwortete ihm alles und es tat gut, dies zu tun, vor allem, da ich keine Abscheu spürte. Selbst die Frage, ob wir bereits miteinander geschlafen hätten, brachte er über die Lippen, als rede er über ein Mädchen. Insgeheim hatte ich es mir immer so vorgestellt, doch als ich damals mit ihm genau so sprach, wurde mir bewusst, dass ich auch immer irgendwo Angst gehabt hatte, dass es doch anders sein könnte. Aber das war es nicht. Er akzeptierte mich. Im Endeffekt hatte er genau so reagiert, wie ich es erwartet hatte.
 

Wir betraten das Klassenzimmer kurz vor Beginn der Stunde. Ich bemerkte, dass dieses Mal nicht nur mein Blick in die Ecke ging. Wir beide entdeckten Ralph dort, mir schenkte er einen winzigen, äußerlich sehr neutralen Blick, ehe er zurück auf sein Buch starrte. Lächelnd setzte ich mich nieder, auch wenn das Lächeln mit schnell wieder schwand. Eigentlich hatte ich das Bedürfnis, zu ihm zu gehen. Ich wollte ihm sagen, dass mein bester Freund mich akzeptiert hatte, doch noch mehr als das, verlangte es mich danach, ihn zu berühren, nur ganz kurz, es musste nicht mal ein Kuss sein.

Die Schulstunde begann, ohne dass ich mich noch einmal umgesehen hatte. Hätte ich es getan, wäre es schwer an Selbstbeherrschung gewesen, also zwang ich mich, es nicht zu tun. Doch auch so konnte ich mich nicht auf das konzentrieren, was der Lehrer sagte. Ich spürte Ralphs Blick direkt auf meinem Rücken liegen; wenn ich die Augen für Sekunden schloss, spürte ich auch wieder seine Finger auf meiner Haut. Mir wurde heiß; wenn ich die Augen öffnete, wurde mir direkt wieder kalt. Ich atmete tief durch, versuchte, mich zu beruhigen. Es würde ab nun immer so sein, sagte ich mir, jeden Tag, bis zu unserem Abschluss in ein paar Monaten. Ich sollte schnell versuchen, mich daran zu gewöhnen.

Doch es ging nicht schnell, ganz und gar nicht. Als die Pause zu Ende war, war ich kurz davor, doch zu ihm hinüber zu gehen. Stattdessen zwang ich mich, mit Nick zu reden, der mir jedoch direkt ansah, dass mir ganz andere Dinge durch den Kopf gingen.

„Das ist nicht gut“, sagte er mit sorgenvollen Augen. „Du bist nicht der Typ, dich dermaßen zu verstecken.“

„Ich weiß!“, klagte ich und vergrub meinen Kopf zwischen meinen Armen auf dem Tisch.

Die nächste Stunde brach an und ich begann mich zu fragen, was Ralph vor hatte. Was tat er heute Abend? Wollte er mich sehen? Gab es eine Möglichkeit für mich, ihn zu sehen? Und wie würde ich es erfahren?

Ob er wusste, wie viel er mir abverlangte, schon jetzt? Konnte er ahnen, wie sehr ich mich nach ihm sehnte?
 

Vielleicht konnte er das, denn als ich nach der letzten Stunde zu meinem Spind ging, fand ich einen Zettel darin vor. Ich strahlte Nick an wie ein Honigkuchenpferd, während ich mich noch fragte, was an dem Ort war, weshalb er mich dort treffen wollte. Doch es war mir egal, Hauptsache er würde da sein.
 

Unser Treffpunkt, die kurze Hillcroft Avenue, liegt am Rande eines kleineren Wäldchens; kein besonders großes, aber so gut wie unbesucht. Ich selbst war nur ein oder zweimal während meiner Kindertage dort gewesen. Diese fehlende Spektakularität des Ortes war wohl der Grund, weshalb Ralph gerade ihn wählte. In jenem März war der Frühling in Arlington gerade angebrochen und die Bäume und Sträucher trugen dichtes Blattwerk. Wenn man nur ein paar Meter in den Wald hineinging, konnte einen niemand mehr entdecken. Gespannt also ließ ich mich in der Abenddämmerung von Ralph weiter hinein führen. Er hielt meine Hand bereits seit ein paar Metern und an ihr zog er mich schließlich auf eine winzige Lichtung, Mitten im Wald.

„Gefällt es dir?“, fragte Ralph sanft und seine Stimme verriet, dass er unsicher war.

Ich hingegen war sprachlos. Vor mir war eine Decke ausgebreitet, daneben ein Picknickkorb, dahinter ein kleines Igluzelt. Hätte ich diese Szenerie in irgendeinem Film gesehen, hätte ich sie wohl für übertrieben kitschig gehalten; nun aber in meinem eigenen Film brachte ich kein Wort über die Lippen, sondern konnte nur seine Hand drücken und ihm in den ersten Sekunden damit signalisieren, wie sehr ich mich freute. Erst als ich mich wieder gefangen hatte, küsste ich ihn wild, überschwänglich, landete mit ihm auf der Decke und sagte ihm, dass ich dieses Ort lieben würde. Er war wunderschön.
 

Ab diesem Tag wurde unser geheimer Treffpunkt diese winzige Lichtung in der Mitte des Waldes. Hierher brachten wir mit der Zeit noch ein paar weitere Decken, ein großes Kissen, einen batteriebetriebenen CD-Player und allerlei Unfug. Wir aßen, schliefen, lachten hier, badeten im winzigen See in der Nähe und lernten uns immer besser kennen, lernten uns verstehen, und vor allem lernten wir uns lieben, auch wenn dies keiner von uns in Worte fasste. Wir mussten es nicht, dachten wir, sahen wir doch in den Augen des anderen wie wir für einander empfanden. Jedes Blatt, jeder Zweig oder Vogel konnte es sehen; und so trug das kleine Wäldchen an der Hillcroft Avenue unser Geheimnis in sich. Insgesamt fast volle vier Monate lang trafen wir uns nahezu täglich dort, wenn auch manchmal erst sehr spät, nachdem alle anderen Verabredungen hinter uns lagen; wir verbrachten Nacht um Nacht gemeinsam und waren glücklich, genau jetzt hier zu sein.

Ich habe keine Ahnung, was Ralph seinen Eltern sagte, wahrscheinlich übernachtete er für sie bei seiner Freundin; meinen Eltern sagte ich jedoch irgendwann die Wahrheit, da ich das leicht besorgte Gesicht meiner Mutter nicht länger ertragen wollte. Sie sagte mir anschließend nur, was ich bereits wusste: Ich hätte Ralph zu jedem Zeitpunkt problemlos mit zu mir nach Hause nehmen können. Meine Eltern hätten kein Problem damit gehabt. Ralph allerdings sträubte sich am Anfang gegen den Gedanken und schließlich wollte auch ich es selbst nicht mehr. Hier auf der Lichtung war es schöner. Hier waren wir alleine, hatten jede Sekunde für uns, konnten machen was wir wollten, so oft und so viel wir es wollten, und sei es der Streit, der gegen Ende immer häufiger wurde.

Zu Anfang jedoch war davon nicht die Rede, zu Anfang war es einfach wunderschön. Ich genoss jede Minute mit Ralph, jede seiner Berührungen, jeden Kuss, sei er auch noch so kindlich. Ich genoss es, mit ihm stundenlang über die Bäume um uns herum philosophieren zu können, und dann wieder darüber zu reden, was zuvor in den Nachrichten passiert war. Wir lernten hier zusammen, denn die Abschlussprüfungen rückten näher, und ich stellte fest, dass Ralph eigentlich ein sehr guter Schüler war. Etwas faul, wenig herausstechend, doch manches verstand er besser als ich, und ich glaube, es tat ihm gut, dass auch er mir das ein oder andere zeigen konnte.

Ralph und ich hatten beide große Pläne für unsere Zukunft nach der High School. Ich wollte Bauwesen studieren gehen, er würde bei seinem Vater in der Börsenfirma einsteigen. Nicht selten malten wir uns aus, wie er dabei reich werden würde und wir uns irgendwann ein Haus in Kalifornien oder auf Hawaii leisten könnten, weg von den Blicken der Leute, vier Wände ganz für uns alleine. Es waren Träume, die wir hatten, die wir ausschmückten und liebten. Ich glaube nicht, dass einer von uns wirklich je daran glaubte, dass wir diese Zukunft zusammen haben könnten, doch wir sprachen auch nicht über die Realisierbarkeit unserer Wünsche. In unserem kleinen Waldstück war dies egal. Hier hatten wir uns, unsere Wirklichkeit. Hier spielte das wirkliche Leben, welches uns und vor allem Ralph fesselte, keine Rolle. Zumindest in den ersten beiden Monaten nicht. Lange konnten wir einfach nur in unseren Träumen verweilen.

„Es ist wirklich ein Wunder, nicht wahr?“

Ich glaube, es war unterm Sternenhimmel Anfang Mai und wir lagen auf der Decke im Freien, als Ralph leise diese Worte sprach, welche ich nie vergessen sollte. Ich kuschelte mich enger an ihn, da die vorbeiziehende Nachtluft mich frösteln ließ.

„Was?“, fragte ich sanft.

Sein Finger fanden mein Haar, glitten hindurch.

„Wenn zwei Menschen sich finden... Es gibt so viele auf der Welt, überleg dir mal, wie vielen wir schon begegnet sind… und doch gibt es unzählige Menschen, die zusammengehören, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Dabei hätten sie sich, wenn ein paar Dinge anders gelaufen wären, vielleicht niemals getroffen...“ Er drehte sich ein Stück, küsste mein Haar, vergrub sein Gesicht darin. „Ich sollte erst auf eine andere Schule gehen, dann hätte ich dich wahrscheinlich nie kennengelernt... doch so wir haben uns gefunden... Meinst du nicht, dass es an ein Wunder grenzt?“

Ich spürte deutlich die Schwere seiner Worte, ich versuchte sie hinunterzuschlucken, während ich mich etwas von ihm entfernte, um ihn anzusehen. Hier nun versuchte ich ein Lächeln, während ich in seine ruhigen Augen blickte.

„Ja“, flüsterte ich dann und beugte mich an seine Lippen. „Es ist ein Wunder.“

Ich unterdrückte meine Tränen mit Mühe.
 

Vielleicht ist man mit siebzehn so naiv, dass man tatsächlich an Wunder glaubt; dass man glaubt, alles würde sich schon irgendwann zum Guten wenden. Ich weiß nicht, ob auch ich wirklich daran geglaubt habe, oder ob ich es mir nur selbst vormachte. Auch Ralph schätzte ich eigentlich als sehr realistisch ein… und dennoch träumten wir diese gemeinsamen Träume, verbrachten solche Nächte unter dem Sternenhimmel und wachten letztendlich nur langsam aus unserer Wirklichkeit auf.

Zunächst stritten wir uns nicht wirklich, wir diskutierten nur ab und an über unsere Situation. Mich störte es, dass alle mir wichtigen Menschen die Wahrheit kannten, er jedoch noch nicht mal daran dachte, seinen Eltern zu sagen, was mit ihm los war. Ich merkte, dass es mir zunehmend schwer fiel, ihm in der Schule aus dem Weg zu gehen. Es tat weh, ihn lachen zu sehen, wenn ich keine Ahnung hatte, worüber er lachte. Und ich wollte ihn berühren, wann immer er mir zufällig nahe war. Ich wollte ihn anfassen und vor allem anlächeln können, ihm immer wieder zeigen, wie viel er mir bedeutete, auch wenn er dies nur zu gut wusste.

Nick ertappte mich oft dabei, wie ich Ralph verstohlen beobachtete, wies mich dann auf meinen traurigen Blick hin und konnte sich zunehmend nicht verkneifen, mir zu sagen, dass es nicht gut für mich wäre. Ich wäre kein Mensch von Versteckspielen, wiederholte er ein paar Mal. Ich hätte immer so gelebt, wie ich es für richtig gehalten hatte. Und Nick hatte recht. Ich verstellte mich und mir ging es nicht gut dabei. Dass ich so gut wie jedem Menschen zeigen musste, dass ich keine Ahnung hatte, was Ralph für ein Mensch war, tat mir weh. Dabei kannte ich ihn wie niemand sonst. Kaum einer wusste, dass er alte Schwarzweißfilme liebte, dass das Buch, Fading Snow, nur eines von vielen in seinem Regal war, in denen es um tragische Liebe ging. Auch wenn er damals gesagt hatte, dass er so etwas eigentlich nicht so gerne lese, strafte ich ihn lügen, denn zusammen verschlangen wir das ein oder andere seiner Lieblingsbücher, und ich spürte deutlich, dass sie ihm ebenso nahe gingen wie mir. Manchmal diskutierten wir anschließend, was der oder die Protagonistin hätte anders, besser machen können. Meist waren wir derselben Meinung, glaubten, dass sie einfach nur den Mund hätten aufkriegen müssen. Umso unverständlicher war es mir, dass er diesen Fehler selbst beging. Sah er denn nicht, dass man auch über ihn eine tragische Geschichte hätte schreiben können?

So allerdings war ich der einzige, der diese Geschichte kannte. Niemand außer mir wusste um diese weiche, verletzliche Seite an Ralph, niemand ahnte, mit was für Gefühlen er kämpfte, dass er vieles, worüber er mit den anderen sprach, gar nicht so toll fand, wie er vorgab; dass er es nicht mochte, Mädchen anzugraben, über sie zu reden, als seien sie Freiwild. Er mochte es nicht, dafür mochte er andere Dinge, und ich kannte alle von ihnen,

Sosehr mich dieses Exklusivrecht einerseits freute, da es mich noch auf eine ganz andere Weise zu einem wichtigen Menschen in seinem Leben machte; zu seinem Vertrauten, zu dem, dem er alles sagen konnte; so sehr machte es mich auch traurig. Traurig für ihn, der er schauspielerte, wann immer er nicht alleine mit mir zusammen war. In der Schule erkannte ich oftmals, dass er nur lachte, weil es von ihm erwartet wurde; ich erkannte die sehnsüchtigen Blicke aus dem Fenster hinaus und ich sah die Erleichterung, die in eben diesen Blicken lag, wenn wir uns wieder trafen, wenn er das Lächeln tragen konnte, das er fühlte. Doch was konnte ich tun, außer dann für ihn da zu sein, außer ihm zu sagen, dass es ihm nicht gut tat? Er war der einzige, der sein Leben leben konnte. Merkte er denn nicht, dass ihm dies alles letztendlich viel mehr schaden als helfen würde?
 

Ich konnte nicht immer Verständnis für Ralph aufbringen, selbst wenn ich es gerne getan hätte. Irgendwann begann es auch mir zu schaden, da ich mich veränderte, noch nachdenklicher wurde als ich es schon immer gewesen war, weil ich öfter spürte, dass ich aus unsinnigen Gründen traurig wurde. Das gefiel mir nicht, also begannen irgendwann die Diskussionen darüber. Und dann begannen wir zu streiten, immer häufiger. Ralph sagte mir wieder und wieder, dass es seine Entscheidung sei, dass er Gründe dafür hatte, niemandem die Wahrheit zu sagen, dass er es nicht gut vertrug, wenn ich ihn so ansah. Doch wie sah ich ihn an? Traurig? Vorwurfsvoll? Enttäuscht, weil er nicht mit mir ins Kino gehen wollte, nichts wirklich öffentlich mit mir teilen wollte? Sah er wirklich nur meine Seite und ihre Einschränkungen? Merkte er nie, wie sehr es auch ihn befreien würde, wenn er doch nur ein Mal in der Öffentlichkeit meine Hand ergreifen würde?

Ich verstand es irgendwann wirklich nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, mich nur zu wiederholen, ihm jedes Mal die selben Dinge zu sagen, die zwar offensichtlich waren, von ihm aber nicht gesehen wurden. Deshalb weinte ich manchmal, weinte auch in seinen Armen, wenn er mir wieder nur sagen konnte, wie leid es ihm tat, wenn er mir sagte, dass ich ihm mehr bedeuten würde als alles andere. Das wusste ich, auch wenn er nie die richtigen Worte dafür fand, auch wenn er mir nie sagte, dass er mich liebte.

Doch auch ich sprach dies nicht aus. Manchmal, wenn ich kurz davor war, musste ich an die Zeilen des Buches denken. Seit ihren ersten Moment war sie sich sicher, dass es so enden würde. Ich wusste es auch, irgendwo, ganz tief in meinem Herzen wusste ich es, denn vielleicht ist man selbst mit siebzehn nicht so naiv, an das Wunder zu glauben, dass sich schon alles irgendwann zum Guten wenden wird. Das konnte es nicht, wenn man nichts dafür tat. Also würde es enden, irgendwann, still und leise, da war ich mir sicher, und dies ließ mich meine Liebe nicht in Worte fassen. Ebenso wie Alicée konnte ich sie nie sprechen und auch mein Dorian schwieg stumm.
 

Es endete alles an einem Abend im Juli. Es gab keine Anzeichen dafür, nicht mehr oder weniger als sonst. Es war ein Tag wie jeder andere, wieder wollten wir einander auf der Lichtung treffen, wieder einmal freute ich mich darauf und schwor mir, nicht mit ihm zu streiten. Noch am Tag zuvor waren wir so unglücklich in den Armen des anderen eingeschlafen. Das wollte ich nicht erneut, an diesem Abend wollte ich einfach nur glücklich mit ihm sein, ohne böses Wort, ohne traurige Gedanken. Es war vielleicht der Zufall, vielleicht das Schicksal, das es anders kommen ließ.

Zunächst, als ich Ralph in dem kleinen 24-Stunden-Laden traf, welcher ganz in der Nähe der Hillcroft Avenue lag, freute ich mich darüber. Ich hatte nur etwas zu Knabbern kaufen wollen, er hatte scheinbar denselben Gedanken gehabt. Er lächelte zärtlich und in seinen Augen sah ich, dass er ebenso wie ich einfach nur einen schönen Abend haben wollte. Keinen Streit, einfach nur ein paar sanfte Küsse, Berührungen, Worte. Er wollte ebenso wie ich die Vertrautheit zwischen uns genießen und den gestrigen Streit vergessen. Nun, in diesem kleinen Laden, kam er zu mir hinüber, berührte sogar kurz zärtlich meinen Arm. Er fragte mich irgendeine Lappalie und wir lachten, während die Kassiererin die Beträge abzog. Wir verfielen in eines unser üblichen, neckischen Gespräche, natürlich bedacht darauf, uns nicht zu berühren, und dennoch zu unvorsichtig.

Ich sah die anderen zuerst. Es waren drei unserer Mitschüler, ein Mädchen, zwei Jungen, außerdem ein Mädchen aus unserer Parallelklasse. Natürlich hatten sie uns schon gesehen, bevor wir ihrer gewahr geworden waren. Sie hatten uns vertraut miteinander lachen sehen, freundschaftlich, nicht nur so, als würde man irgendeinem Klassenkameraden begegnen. Dass wir einander mochten, wenn auch nicht wie sehr, war wahrscheinlich offensichtlich.

Als Ralph die vier bemerkte, gefror er neben mir. Ich sah zu ihm hinauf, sah seine erschrockenen Augen, sah, dass er kurz davor war, die Dinge in seinen Händen fallen zu lassen. Ich nahm sie ihm ab, er bekam es kaum mit. Die vier kamen auf uns zu. Die Jungen ließen blöde Sprüche fallen, mir gegenüber, schätzten mich mit Blicken ab und fragten Ralph, was er denn mit „so einem“ zu tun haben würde. Erst ein paar Tage später sollte ich verstehen, was sie damit meinten. Bereits seit langem ratschlagte man hinter hervor gehaltener Hand darüber, ob ich vielleicht schwul sei. Ich hatte nie etwas davon mitbekommen, Ralph allerdings wusste es scheinbar ganz genau.

Ich glaube, ich kann mich heute nicht mehr an seine Antwort erinnern, weil ich sie damals sofort wieder vergessen wollte. Sie war gemein, verletzend und überhaupt nicht ansatzweise so liebevoll, wie all das, was er sonst zu mir sagte. Er lachte, ich weiß nicht mal mehr worüber, nur, dass es mit mir zu tun hatte. Dann tätschelte er übertrieben meine Schulter, wünschte mir noch einen schönen Abend und verschwand mit den anderen aus dem Laden hinaus.

Zunächst verstand ich nicht, was vor sich ging, erst, als ich ihn in das Auto steigen sah, erst als dieses ihn weg brachte, weg von mir; erst da ließ ich alles, was ich getragen hatte, zu Boden fallen, hörte zersplitterndes Glas und mein eigenes, erbärmliches Schluchzen, als ich mir die Hände vors Gesicht presste, und versuchte, dem Schmerz in mir zu entkommen.
 

Es war das erste Mal, dass ich eine Nacht alleine auf unserer Lichtung verbrachte. Ich schlang die Decken um mich und fror dennoch tierisch, auch wenn mein Körper wahrscheinlich Unmengen an Schweiß produzierte. Es waren mit Sicherheit weit über zwanzig Grad, doch ich hatte das Gefühl, eine Eiszeit wäre angebrochen.

Ich weinte lange und heftig, bis ich keine Tränen mehr hatte, und ich starrte in den Sternenhimmel, musste an all sie Worte denken, welche er bei diesem Anblick zu mir gesagt hatte. Ich zwang mich, an das Wunder zu denken und die Sterne zu zählen, denn wenn ich die Augen schloss, sah ich seinen Blick aus dem Laden vor mir, seine kühlen Augen. Noch nie hatte er mich so angesehen, egal wie heftig wir gestritten hatten, niemals war sein Blick derart abweisend gewesen. Es zerriss mein Herz mit jeder Sekunde ein Stückchen mehr, denn ich verstand, was der Blick hieß. Ich verstand es zu gut, um es mir einzugestehen. Stattdessen klammerte ich mich an die winzige, sinnlose Hoffnung, dass er kommen würde in dieser Nacht, zu mir, auf unsere Lichtung. Ich klammerte mich an den Gedanken, dass er mich küssen und sich entschuldigen würde. Ich würde ihm verzeihen, verstand ich doch, was mit ihm los war. Ich würde ihm alles verzeihen, wenn er mich doch nur diese Nacht in den Armen halten würde.

Doch das tat er nicht. Er kam nicht, auch nicht am folgenden Tag, den ich auf der Lichtung verweilte. Ich wollte die Hoffnung nicht schon aufgeben. Wir hatten einander doch gefunden, unser Wunder war geschehen, er konnte mich doch nicht einfach so hier alleine lassen.

Doch ich wusste, dass er es tat. Eigentlich hatte ich es schon lange gewusst, schon vor diesem Tag. Ich hatte gewusst, dass es irgendwann so kommen würde, ja, irgendwo hatte ich es gefühlt. Nun wollte ich es mir aber nicht eingestehen.

Gegen Nachmittag jenes schmerzlichen Tages riss mich mein Handy aus meinen Alpträumen. Die Sekunde der schieren Hoffnung war nicht lang, denn ich erkannte andere Buchstaben vor meinen schwimmenden Augen. Es war nicht Ralph, sondern Nick. Er fragte, wo ich sei. Ralph hätte in der Schule so blass ausgesehen, ob wir uns gestritten hätten.

Ich konnte nicht antworten darauf, stattdessen sagte ich ihm, wo er mich finden konnte und legte auf. Keine zwanzig Minuten später sank er zu mir auf den Boden und ließ mich in seinen Armen die Tränen weinen, von denen ich dachte, dass sie nicht mehr in meinem Körper vorhanden wären.

„Es ist aus“, ließ ich hier nun zum ersten Mal bewusst den Gedanken an mich heran, und ich wiederholte ihn immer wieder, egal wie oft Nick versuchte, mir zu sagen, dass es das sicher nicht sei. Ich wusste es besser. Ich hatte es in Ralphs Augen gesehen, als er die anderen entdeckt hatte. Ich kannte ihn gut, und auch, wenn ich diesen Blick noch nie gesehen hatte, so verstand ich ihn zweifelsfrei. Er würde nie wieder mit mir auf dieser Lichtung sein.
 

Jenem Tag folgte das Wochenende, worüber ich sehr froh war. Ich konnte mich nicht vorstellen, in die Schule zu gehen, wollte noch nicht mal den Weg nach Hause antreten. Also verbrachte ich die Tage zum größten Teil auf der Lichtung. Manchmal war Nick bei mir, doch ich bat ihn dann und wann, mich alleine zu lassen, weshalb er erst Stunden später wieder kam. In der Zeit, in der ich allein war, gingen mir all die Tage durch den Kopf, welche wir hier verbracht hatten, unsere Küsse und auch unser erstes Erlebnis im Raum K-551. An unser erstes Mal dachte ich am häufigsten zurück, wie zärtlich er damals gewesen war, wie leid es ihm getan hatte, dass er mir weh tat. Seit jenem Tag hatte ich das Haus in der Edinburgh Street nicht ein einziges Mal mehr besucht. Hätte ich mir sein Zimmer doch etwas genauer angesehen.

Ich bereute vieles an diesen Stunden alleine. Ich bereute, dass es immer noch Fragen gab, die ich nicht gestellt hatte; bereute, dass ich ihn nicht noch viel öfter geküsst hatte; bereute die viele an Streit verschwendete Zeit. Und dazwischen fragte ich mich, ob ich noch mehr bereuen sollte. Hätte ich vielleicht damals, in der Nacht, als er mir sagte, dass wir keine Freunde sein dürften… hätte ich schon damals alles beenden sollen, was noch nicht mal begonnen hatte? Wäre es mir dann besser gegangen?
 

Diese Frage stellte ich mir immer wieder, doch beantworten wollte ich sie mir nicht, auch nicht, als ich am Montag wieder in die Schule ging. Ralph wich meinen Blicken aus, ich erkannte die dunklen Ringe unter seinen Augen. Ich machte mir Sorgen, wäre gerne zu ihm gegangen, und wusste doch, dass es nichts bringen würde, wenn ich es täte. Es würde ihn nur noch weiter von mir treiben, wenn dies überhaupt möglich war. Also ertrug ich die quälenden Minuten, konzentrierte mich auf nichts und fühlte mich schrecklich. Am schlimmsten jedoch war die Ungewissheit, wie es ihm im tiefsten Inneren ging, denn er ließ mich nicht ein Mal in seine Augen blicken. Ich fragte mich, ob er auch Dinge bereute… und ob er für die Frage, welche ich nicht beantworten konnte, eine Antwort hätte. Der Gedanke quälte mich, dass es so sein könnte.
 

Nach einer Woche startete ich den ersten und einzigen Versuch, mit ihm zu sprechen, da ich es nicht aushielt, auf ein Zeichen seinerseits zu hoffen, welches ich eigentlich nicht mal wirklich erwartete. Ich legte ihm morgens einen Zettel in den Spind. Darauf stand nur K-551, mehr nicht. Er würde mit Sicherheit wissen, dass er von mir war, und wenn es noch einen Funken Hoffnung für uns gab, würde er kommen. Ich verbrachte letztendlich den gesamten Tag zwischen den staubigen Möbeln, deren Schreie der Erinnerungen ich kaum ertrug, und merkte, wie sich meine unmögliche Hoffnung nicht erfüllt. Ich sah zu, wie sie sich in Luft auflöste, denn er kam nicht und bestätigte die Tatsache nur erneut; Wir waren nicht für die Ewigkeit gewesen.
 

Es dauerte zwei weitere Wochen, bis Ralph mich das erste Mal wieder direkt ansah. Es war der Tag, an dem ich auch das erste Mal Lexa seine Hand halten sah. Sie lachte neben ihm in der Raucherecke, welche er nach unserer ersten Nacht nie mehr besucht hatte. Wenigstens hatte er nicht wieder angefangen, stellte ich fest, während ich mich dazu zwang, nicht auf ihre Hände zu starren. Stattdessen beobachtete ich sein Gesicht, welches so unglücklich wirkte, als habe er alles verloren, was ihm je wichtig gewesen war. Ich wollte genau daran glauben, dass er vielleicht irgendwann aufwachen würde, begreifen, dass er einen riesigen Fehler beging, doch dann traf sich unser Blick und in seinem erkannte ich alles, was bei ihm noch übrig war.

Er hatte aufgegeben. Sein Blick zeigte Abschied.
 

Und das war er, der erste wirkliche Abschied meines Lebens, und es fühlte sich an, als habe man mir ein Stück von mir abgeschnitten. Er hatte dieses Stück aufgegeben, mich, unsere Liebe, die wir zweifelsohne geteilt hatten; er hatte den wirklichen Teil seiner selbst aufgegeben. Ich konnte nicht mehr tun, als ihm dabei zuzusehen, wie er immer weiter davon wegdriftete.

Genau das tat ich, drei Wochen lang. In den Pausen beobachtete ich ihn heimlich und still; wann immer es ging, versuchte ich, einen Blick in seine Augen zu erhaschen, die leer waren, ohne Leben. Es tat weh, sie so zu sehen, denn eigentlich hatte er wunderbare, lebendige Augen. Ich hatte mich stundenlang darin verlieren können, nun wirkten sie, als würde man durch sie hindurch fallen. Zudem war sein Gesicht blass, seine Wangen wirkten farblos, egal wie sehr sie die Bräune der Sonne trugen. Wann immer ich ihn sah, schien er wie ein leeres, zerknülltes Blatt Papier, von dem alles entfernt worden war. Merkte das denn niemand sonst? Waren sie wirklich alle so blind?

Ich ertrug diese Tage kaum, denn sein Schmerz fraß sich in mein Herz, doch als der letzte Schultag anbrach, der Tag, auf den wir uns beide gefreut hatten, hätte ich alles dafür gegeben, wenn sich die Situation noch Monate hingezogen hätte. Es bedeutete, ich würde Ralph nie wieder in der Schule sehen. Ich würde bald aufs College gehen und nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, ihn aus der Ferne zu beobachten, zu bewachen, aufzupassen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging. Kaum etwas anderes hatte ich getan, während die anderen von ihm und Lexa als dem Traumpaar sprachen, während ich immer wieder zu unserer Lichtung zurückging und mir erhoffte, ihn doch eines Tages dort anzutreffen.

Am letzten Schultag trat ich ebenfalls jenen Weg an und als ich an diesem wunderschönen Augustabend auf die Lichtung trat, wusste ich, dass auch er hier gewesen war. Ich sank vor dem Zettel hinab, der dort lag, zusammen mit unserem Buch, der Geschichte von Alicée und Dorian.

Nur drei Worte hatte er mir hinterlassen, und als ich sie sah, zerriss es mich innerlich in Stücke, viel mehr noch als alles zuvor. Sie waren so einfach, und nun, da ich sie vor mir sah, in seiner zittrigen Handschrift, verstand ich nicht, weshalb sie für mich immer zu schwer gewesen waren. In dem Augenblick, als nicht seine Stimme es war, die mir die zärtliche Botschaft überbrachte, wusste ich, dass es noch etwas ganz anderes gab, das ich mein Leben lang bereuen würde, und zwar, sie niemals gesprochen zu haben. Nie hatte er sie von mir gehört.

Ob es vielleicht einen Unterschied gemacht hätte?

Ich liebe dich, las ich immer wieder, nahm auch den zusammengezogene Fleck trockenen Papiers direkt daneben wahr, der sicher eine Träne gewesen war.

Ich konnte Ralph vor mir sehen und ich wusste, wie zärtlich seine Augen gewesen wären, hätte er mir diese Worte zu irgendeinem anderen Zeitpunkt selbst entgegen geflüstert. In diesem Augenblick wollte ich dieses Trugbild nicht sehen. Er liebte mich. Das wusste ich schon lange. Und dennoch hatte er es nicht geschafft, sich zu mir in die Tiefe zu stürzen. Er hatte es nicht gekonnt und ich konnte nichts anderes tun, als zu akzeptieren, dass diese Worte seine letzte Botschaft an mich sein würden.

An jenem Abend hoffte ich, Ralph nie wiederzusehen.
 

Part 4 ~ Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (27)
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Von:  trinithy
2012-03-31T15:07:18+00:00 31.03.2012 17:07
>> Ich hatte Nick nie geschlagen, zumindest nicht, seit wir dem Sandkasten
entwachsen waren. An jenem Morgen tat ich es und ihn ließ es augenblicklich
verstummen. <<
Das ist eine heftige Reaktion. Was ich aber hier sehr schön fand war, dass du selbst in dieser Szene Zeit gefunden hast so einen kleinen Hinweis wie „seit dem Sandkasten“ einzubauen. So etwas macht die Charaktere immer schön lebendig da man parallel zu allem was gerade passiert immer noch ein zusätzliches Bild im Kopf hat. Die beiden, wie sie sich gegenseitig die Schüppe auf den Kopf kloppen im Streit um das schönste Förmchen :D

>> Es waren Träume, die wir hatten, die wir ausschmückten und liebten.<<
Irgendwie ist es süß, dass die beiden Pläne schmieden und sie so ausschmücken, obwohl es eben doch mehr Träume als Pläne waren.

>>… denn vielleicht ist man selbst mit siebzehn nicht
so naiv, an das Wunder zu glauben, dass sich schon alles irgendwann zum Guten wenden wird.<<
Ich kann dir nicht wirklich sagen wieso, aber ich glaube das ist meine Lieblingsstelle der ganzen Geschichte. Tragisch, realistisch und noch einmal schön das aufgegriffen, was schon einige Passagen vorher noch gegenteilig behauptet wurde.

>> Und das war er, der erste wirkliche Abschied meines Lebens<<
Ich verstehe es nur zu gut, der erste Liebeskummer ist immer der schlimmste!


Von:  Hamsta-chan
2011-01-15T22:36:24+00:00 15.01.2011 23:36
oh gott das ist so traurig...

aber auch sehr schön

LG Hamsta-chan
Von:  Hamsta-chan
2011-01-15T22:25:06+00:00 15.01.2011 23:25
oh gott das ist so traurig...

aber auch sehr schön

LG Hamsta-chan
Von:  risuma
2009-07-30T09:20:42+00:00 30.07.2009 11:20
Hi^^
endlich habe ich die Ruhe gefunden, bei dir weiterlesen zu können *freu*

Armer Ralph und armer Aaron...
Es ist schon eine verzwickte Situation, in der die Beiden sich befinden.
Doch während Aaron endlich den Schritt geht und seinem besten Freund alles erzählt, einschließlich von Ralph, bleibt Ralph bei seiner Entscheidung, dass niemand etwas von ihnen wissen, oder auch nur im geringsten erahnen können sollte.

Trotzdem schafft Ralph für Beide ein kleines Paradies, vielleicht der einzigste Ort, und die einzigste Zeit in seinem Leben, an dem und in der er ganz sich selbst sein konnte und sich für niemanden verstellen brauchte.
Hier konnte Ralph seinen eigenen Träumen nachhängen, die Realität ganz ausblenden, die ihn sofort wieder umfing, wenn er das Wäldchen verlassen hatte.
Ich mutmaße einfach einmal, dass Ralph seine Eltern sehr genau kannte, und vielleicht auch schon die eine oder andere bittere Erfahrung gemacht hat, als er, als kleiner Junge, von seinen Träumen und Wünschen gesprochen hatte. Denn, diese Schauspielerei, genau der Mensch zu sein, der von ihm erwartet wurde, beherrscht er zu perfekt.
Und von dieser Warte aus betrachtet ist es sogar eine Meisterleistung von ihm gewesen, dieses Stück Paradies zu erschaffen, wenn es auch nicht für ewig war. Bewies es ihm aber doch, dass er lebte, seine eigenen Wünsche und Träume hatte, bevor er wieder zur perfekten Marionette wurde.

Trotzdem teile ich mit Aaron die Meinung, dass es nicht gut für ihn ist, sein wirkliches Ich vor aller Welt zu verstecken, ganz besonders vor seinen Eltern, man sieht es ja, wie leer sein Blick geworden ist, nachdem Klassenkameraden die Beiden entdeckt hatten.

Für Aaron freue ich mich, dass er seinen nächsten Menschen die ganze Wahrheit erzählt hat, auch wenn Ralph damit gewiss nicht einverstanden wäre, doch es ist einfach besser so.
Nick ist einfach ein toller Freund - er wusste sofort, WEN Aaron liebte, noch bevor dieser es ihm gesagt hatte. Und nachdem dieser seinen Frust losgeworden war, weil Aaron ihm sein Schwulsein so lange verschwiegen hatte, war er für Aaron eine echte Stütze, ein echter Freund.
Gerade dann, als die Blase um das kleine Paradies, das Ralph und Aaron sich geschaffen hatte, geplatzt war.
Ich frage mich, wie Ralph damit zurecht gekommen ist, wer ihn aufgefangen hat, als er sein bisschen wirkliches Leben mit einem Schlag verloren hatte. Seine Eltern und Freunde ganz bestimmt nicht...

So hat Ralph seine eigene tragische Liebesgeschichte erlebt - und obwohl er bei den Büchern genau wusste, was die Protagonisten besser anders getan hätten - wenn man selbst in solch eine tragische Geschichte verstrickt ist, scheint es dann eben doch nicht so einfach zu sein, wie man es als Außenstehender meint.
Uns so beendet er seine eigene Liebesgeschichte, die er gewiss immer im Herzen tragen wird, bittersüß mit den schlichten, auf einen Zettel geschriebenen Worten an Aaron:

"Ich liebe dich."

An dieser Stelle musste ich echt heulen *schief grins*
Ich möchte wie Aaron und Ralph bei ihren Diskussionen ihm ins Gesicht schreien:
"Warum sagst du es deiner Umwelt nicht? Was hast du mehr zu verlieren als dein wahres Ich? Willst du wirklich ein Leben lang nur so sein, wie andere es von dir erwarten, ohne eigenes Ich?"
Doch ich kenne die Antwort ganz genau - Ralph hat sich ganz genau dafür entschieden, und so kann ich für ihn nur hoffen, dass er wenigstens ein wenig Zufriedenheit, wenn auch nicht wirkliches Glück, in seinem Leben finden wird...

Da jetzt nur noch der Epilog folgt, diese Geschichte also fast zu Ende ist, mutmaße ich einmal, dass Nick und Aaron sich auf der Beerdigung von Ralph befinden^^
Mal sehn ob ich recht behalte *grins*

lg, deine risuma
Von:  Giluli
2009-07-19T14:30:22+00:00 19.07.2009 16:30
Sorry dass es hier so lang gedauert hat, dass ich ein Kommie
schreiben kann...Bin jetz ewig nicht dazu gekommen weiterzulesen
-.- So ein Scheiß!
Aber jetzt hab ichs gelesen und ich bin einfach nur....wumm...bamm
ich weiß nich wie ichs sagen soll...Ich bin voll traurig. Mal echt
ich hab geflennt grad! Un ich hab die letzte woche eh so viel
rumgeheult un ich dacht ich könnts jetz nich mehr....aber...ohne witz
des is so schlimm! Der Schluss! Mit dem Zettel...gott wie kann man...
ich weiß nich...oh des is so schrecklich
*wieder in Tränen ausbrich*
Der arme Aaron *rumjammer* der...der...is so arm...was soll ich nur
sagen? Lieber Gott wie kann Ralph denn nur so bekloppt sein? So
dumm einfach...Und oh gott ich wollt selbst fast weglaufen, als diese
Heinze von der Schule da kamen und die beiden gesehen haben...aber
Ralph hätt doch wieder kommen können...un dann nich noch mit so ner
dummen Ische rummachenmüssen!! Der is doch so dumm!! Woah des macht mcih ja schon fast wütend-.-...Wenn Aaron nich wütend sein kann,dann
kann ichs halt....Des kann der doch ncih machen....
Un dann der Schluss mit dem Zettel....mein Magen der hat sich so hässlich zusammengezogen un ich wusst sofort was die 3 Wörter sein werden und dann....dannn....dann hats gestimmt un ich hab voll
losgeflennt weil des einfach so ungerecht is
*in Taschentuch schnäuz*
Ey ich les keine traurigen sachen mehr....echt...die sin mir viel zu
heftig!! Dagegen is Saw un so Zeugs Kindergarten O.o`
Also öhm ich geh jetz weiter zum Epilog un les den noch....
öhm...ja :D

Von:  W-B-A_Ero_Reno
2009-07-18T13:25:54+00:00 18.07.2009 15:25
Hey =)
habs vorher leider nicht geschafft dir ein Kommentar zu schreiben, aber das hol ich jetzt nach!

Das Kpitel war wirklich traurig... Aaron tat mir so leid und auch Ralph tat mir leid... immerhin liebt er Aaron, aber hat nicht den Mut zu seinen Gefühlen zu stehen. Schon seltsam, dass gerade der coole Ralph am meisten angst hat, aber gut er hat auch am meisten zu verlieren...
freu mich jetzt schon auf den Epilog... hoffe wirklich, dass die zwei irgendwie auf eine andere art und weise noch glücklich werden!

liebe Grüße
MugenNoHana
Von:  shot_coloured
2009-07-09T11:33:26+00:00 09.07.2009 13:33
Sehr berührend, dieses Kapitel. Und wirklich traurig, ich glaube nicht, dass ich die Kraft gehabt hätte mit jemanden zusammen zu bleiben, der nicht zu mir steht. Ich wäre viel zorniger gewesen, und trotzdem ist sein Verhalten absolut authentisch. Sein Charakter ist eben so und das macht ihn nur liebenswerter und die Situation so tragisch. Ich würde mir wünschen, dass der Ich-Erzähler (ich hab seinen Namen vergessen, er kam so selten vor... Oo) sein Glück bei jemand anderem findet, aber durch den Prolog glaub ich, dass es anders kommen wird, was sicher die meisten Leser auch gutheißen würden. Ob die Liebe so stark ist, dass man ein gebrochenes Herz verzeihen kann? Ich weiß nicht, aber ich bin gespannt auf deinen Lösungsvorschlag. ;)
<3
sho_co
Von:  AliceWunderlich
2009-07-07T10:54:30+00:00 07.07.2009 12:54
Das war echt traurig.
Ich hoffe trotzdem immernoch das zwischen den beiden noch etwas passiert.
<3
Ivi.
Von:  Nosveratika
2009-07-07T09:20:05+00:00 07.07.2009 11:20
*heul* und das schlimme daran ist, diese Liebe hat nie eine Chance bekommen.

Merkt Lexa nicht wie unglücklich Ralph eigentlich ist? Wenn sie beim Klassentreffen immer noch zusammen und eventuell verheiratet sind.
Mich würde auch interessieren ob Ralph sich wenigstens etwas gebessert hat, was seine Selbstinszenierung angeht.

es ist so offensichtlich, dass sie sich immer noch lieben.....

mfg die freundliche Untote aus der Nachbarschaft

ps: jetzt muss ich darauf warten wies weiter geht *schnief*
Von:  Samrachi
2009-07-06T22:48:51+00:00 07.07.2009 00:48
ich bin richtig baff
man hat richtig dem verlauf folgen können: alles wurde immer 'schlimmer' und am ende ging es auseinander.
du kannst so wunderbar schreiben, ich könnte deine texte ewig durchlesen *_*
bin eig. fast schon enttäuscht dass die ff bald zu ende ist...
aber die bleibt bei meinen favs ^^

lg nana


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