Arlington High
Ich stehe auf, nun, da er so nahe neben mir sitzt. Ich gehe ein Stück von der Bank weg, drehe mich etwas, starre wieder zu der Raucherecke hinüber. Ob sie es noch immer ist? Und ist Raum K-551 noch immer der Friedhof der alten Möbel und unserer Geschichte?
„Ich habe dich auch vermisst“, sage ich, als ich mich wieder zu ihm drehe. „Ich glaube, es vergeht kaum kein Tag, an dem ich mich nicht frage, was gewesen wäre, wenn ich damals einfach vor allen auf dich zugegangen wäre und dich geküsst hätte…“
Ralph steht auf. Sein Blick zeigt Schmerz, als er zu mir tritt. Ich habe das Bedürfnis, nach seinen Händen zu greifen. Stattdessen vergrabe ich meine in meinen Hosentaschen.
„Wenn du es getan hättest, ich-“
„Hättest du meine Hand genommen?“
Still liegt in der Luft, nachdem ich ihm mit meiner Unterbrechung jegliches Wort genommen habe. Seine Lippen sind einen Spalt geöffnet, seine Augen sehen unruhig in meine. Am liebsten würde er wegsehen, mit Sicherheit. Ich rechne es ihm hoch an, dass er es nicht tut.
„Ich weiß es nicht“, kommt es schließlich.
„Gut.“ Ich bringe ein Lächeln zustande. „Ich nämlich auch nicht.“
Ich will mich umdrehen, aber dann streckt er doch die Hand nach mir aus. Seine Finger berühren meinen Arm.
„Warte noch“, bittet er leise, während meine Haut von einer Gänsehaut überzogen wird.
„Weshalb?“
„Nur ein paar Minuten.“
Ich nicke und drehe mich zurück. Seine Hand verweilt am selben Ort. Sie ist so unglaublich warm.
„Zehn Jahre“, spricht er dann und seine Stimme klingt rau.
„Ja. Es ist eine lange Zeit.“
„Wie geht es dir heute?“
In seinen Augen ist deutlich zu sehen, wie schwer ihm diese Frage fällt. Ob er Angst davor hatte, mich heute zu treffen? Ich hatte sie nicht; eigentlich hatte ich nach all den Jahren gehofft, ihn wiederzusehen. Ich wollte sehen, dass es ihm gut geht, so wie mir.
„Gut“, sage ich deshalb nun. Ich lächle ihn an, blinzle kurz zu den Fenstern unseres alten Klassenzimmers, hinüber zu dem Lachen meines Freundes, der sich dort mit den anderen austauscht.
„Bist du glücklich mit ihm?“
Ich nicke aufrichtig. „Er ist ein guter Freund.“
„Das hätte heute auch ich sein können, nicht wahr?“
„Ja.“ Nun hebe ich die Hand. Im Schatten seines Körpers, von drinnen unsichtbar, berühre ich seine Fingerspitzen. „Du warst ein guter Freund. Doch anders als du zeigt er seine Liebe zu mir.“
Ralphs Finger schlingen sich um meine. Sie halten sie fest. Ich hatte ihre Hitze vergessen, ihre Beschaffenheit und Größe, selbst wenn sie heute sicherlich etwas rauer sind. Ich übertrage diese neue Erkenntnis in meine Erinnerungen.
Einen winzigen Schritt mache ich auf ihn zu.
„Lexa erwartet ein Baby.“
Jegliche Bewegung von mir hält sofort wieder inne. Kälte durchzieht meinen Körper, plötzlich spüre ich auch den Ring an seinem Finger, der meine Haut berührt. Plötzlich wird mir wieder bewusst, welches Leben er wählte. Keines wie ich.
Ich lasse seine Hand los, nur widerwillig gibt er sie frei.
„Das freut mich für dich“, sage ich, während ich zu den Fenstern hinüberblicke. Dann setze ich mich in Bewegung. „Lass uns rein gehen.“
„Aaron“, hält er mich jedoch erneut auf.
Ich atme tief. Ich hätte nicht gedacht, dass es schmerzen würde, ihn meinen Namen sprechen zu hören.
„Ja?“ Wieder drehe ich mich zu ihm.
Plötzlich sieht er aus, als würde er jede Sekunde in Tränen ausbrechen.
„Du bist stärker als ich“, stößt er aus und kommt mir näher, streckt die Hand aus, zieht sie zurück. „Ich habe dich immer bewundert. Dir ist es egal, was die anderen sagen. Wäre ich mehr wie du gewesen… hätte ich mehr... Mut gehabt… vielleicht hätten wir heute... vielleicht…“
„Ja.“ Ich unterbreche ihn, gehe auf ihn zu und schlinge meine Arme um den bebenden Körper. „Vielleicht hätten wir das. Vielleicht hätten wir glücklich sein können. Aber man weiß es nicht.“
Seine Arme legen sich nun auch um mich. Kurz erschreckt es mich, doch man kann von hier nicht mehr hinter die Fenster blicken, also können auch sie uns nicht mehr sehen. Zögernd schließe ich die Augen, fahre leise fort.
„Wir wissen nicht, wie es gekommen wäre. Vielleicht hätte uns die Öffentlichkeit nicht gut getan, vielleicht hätten wir sie nicht ertragen.“ Ich lächle sanft, er kann dies nicht sehen. „Und ich bin nicht so stark, wie du denkst, Ralph. Das alles tat mehr weh, als du es dir vorstellen kannst… und die Erinnerungen quälen mich heute noch dann und wann. Aber...“
Ich seufze, drücke mich etwas von ihm weg.
„Aber?“
„Aber sie quälen nicht nur. Weißt du, dein Buch steht in meinem Schrank. Es lässt mich immer daran denken, wie schön all die Tage mit dir waren, dass sie vielleicht deshalb so schön waren, weil wir sie für uns allein hatten. Manchmal denke ich an unsere Träume und Erinnerungen, und an unser Wunder… und dann frage ich mich, ob wir es zur Realität hätten machen können. Es lässt mich darüber nachdenken, dass ich vielleicht alles geändert hätte, wenn ich nur dieses eine Mal wirklich stark gewesen wäre, wenn ich zu dir gegangen wäre, und dir gesagt hätte, was ich immer sagen wollte, und heute bereue ich, dass ich es nie getan habe. Aber dennoch, heute weiß ich auch, dass es vielleicht nichts gebracht hätte. Vielleicht musste alles genau so kommen.“
In meiner Rückwärtsbewegung nehme ich die Wärme seiner Wange mit mir. Unsere letzte Berührung. Sie ist bitter süß, schöner als der kalte Abschied in diesem Laden, der sich immer in mein Gedächtnis brannte.
„Glaubst du daran?“
„Ich versuche es. Ich sage mir, dass alles seinen Grund hat, und dass wir uns damals gefunden haben, um daraus zu lernen. Wir können es heute nur besser machen. Ich mit ihm und du mit deinem kleinen Baby.“
Ein Nicken, während ich in die traurigen Augen des Mannes sehe, der noch immer so viel Ähnlichkeit mit dem Jungen hat, den ich einst liebte. Auch erkenne ich wieder den winzigen braunen Punkt, von dessen Entdeckung ich ihm nie erzählt habe. Ob ihn mittlerweile noch jemand bemerkt hat? Lexa vielleicht? Ob er sie je so nah an sich heran gelassen hat, dass sie auch seine anderen Makel kennenlernen konnte? Er hätte einen solchen Menschen verdient… jemanden, der ihn festhält, ihm Kraft gibt, so nimmt wie er ist… Er sollte nicht auf ewig im Herzen alleine sein.
„Werden wir uns wiedersehen?“, dringt es über seine Lippen hervor, in meine Gedanken hinein.
„Vielleicht...“
Ich zucke leicht die Schultern und drehe mich um, damit er den Schmerz in meinem Blick nicht sehen kann. Für einen Moment lang kann ich ihn nicht verbergen. Ob meine Stimme es ebenfalls verrät? Auch er kannte mich einst so gut…
„Das weiß man nie“, setze ich leise hinterher.
Eine Sekunde warte ich, ob er etwas sagen wird, doch das tut er nicht. Stattdessen höre ich seine Schritte, als er sich zusammen mit mir in Bewegung setzt, vorbei an den Bäumen. Ich blicke zu den aufleuchtenden Fenstern hinüber, zu Lexa und zu Nick, der mir vor fünf Jahren seine Liebe gestanden hat. Nach dem College, mit den Worten, dass er zerbrechen würde, wenn er es mir nicht endlich sagte. Ich habe ihn angenommen, denn auch ich liebte ihn; anders als er mich, anders als ich Ralph; das wusste er und doch war es ihm genug. Er nahm mich so, wie ich war, vom ersten Augenblick an, und er versteckte sich nie, vor niemandem.
Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden wäre, wenn damals Ralph etwas mehr Mut gehabt hätte. Wo würden wir dann stehen? In welcher Konstellation wären wir zu diesem Klassentreffen gekommen? Hätte ich vielleicht in diesem Moment Ralphs Hand gehalten? Wäre Nick noch immer mein bester Freund? Hätte ich überhaupt eine Ahnung von seinen Gefühlen?
Ich weiß es nicht, und es tut manchmal weh, es nicht zu wissen, dann und wann, wenn ich mich frage, was ich mir eigentlich gewünscht habe. Ein Haus in Kalifornien? Auf Hawaii? Oder doch das Leben, wie ich es heute führe, mit allen Erinnerungen und geweinten Tränen?
Keiner kann mir diese Frage beantworten. Vielleicht ist es auch gut so, denn wer weiß, ob mir die Antwort gefallen würde. So allerdings weiß ich, dass ich dies Leben leben kann. Ich kann die Erinnerungen ertragen, die Liebe, und ich genieße jeden Augenblick, so wie damals auf unserer Lichtung, als nur sie für uns wichtig war. Ich habe sie nie wieder besucht, ein paar unserer Dinge liegen wohlmöglich noch immer dort.
Ralph reißt mich aus meinen Gedanken zurück, als er nun vor unserer alten Klassenzimmertür stehen bleibt, seinen Blick den Gang entlang, als könne er über die Verzweigungen hinweg den Ort sehen, an dem wir uns zum ersten Mal küssten. Ich kann mich nur noch dunkel an das Gefühl erinnern; an unseren letzten Kuss jedoch schon so gut wie gar nicht mehr.
Er dreht den Kopf wieder zu mir, als er die Hand an die Klinke legt; seine Augen verschwinden in meinen und es ist, als würde wieder der Junge mich ansehen, für den ich einst alles getan hätte. Dieselben Gefühle stehen in den zärtlichen Augen; dieselben Worte, deren Handschrift sich in mein Herz gebrannt hat. Er seufzt traurig; drückt die Klinke hinab und während die ersten Töne nach draußen dringen und er seinen Blick, sein Herz wieder verschließen will, flüstere ich es ganz leise und doch so laut, dass er es hören kann; aus meinem tiefsten, verborgenen Innersten her; das, was ich nie zu ihm sagte:
„Ich liebe dich auch.“
Und dann trete ich vor ihm durch die Tür, zu einem Lächeln, das mich offen empfängt, einer Hand, die sofort nach meiner greift, ohne jegliche Scheu.
„Geht es dir gut?“, flüstert er mir ins Ohr und seine Wärme geht auf mich über.
Ich drücke mich an seine Seite, schiele zu Lexa hinüber und zu Ralph, der sich neben sie setzt, eine Maske tragend, die er vielleicht nie ablegen wird. Ein letztes Mal erinnere ich mich an unseren ersten intensiven Blick, genau hier, in diesem Klassenzimmer. Dann küsse ich Nick zärtlich vor den Augen aller.
„Ja“, lächle ich mit Ruhe in meinem Innersten. Ich habe endlich das sagen können, was mir seit zehn Jahren auf der Seele lag. „Mir geht es gut.“ Mir ging es nie besser.
ENDE „Traces of the Love we left“
13. April 2009, Rohfassung: 9:30 Uhr bis 18:40 Uhr
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Erläuterungen:
1. Da ich es gefragt wurde, Fading Snow gibt es nicht wirklich; es ist lediglich ein Buch, welches ich für diese Geschichte erschaffen habe, auch wenn die Geschichte von Dorian und Alicée bestimmt schön wäre…
2. Diese Geschichte spielte in Arlington, Texas. Die erwähnten Straßen und Orte (abgesehen von dem Klassenzimmer) gibt es dort wirklich :-)
Kommentar:
Vielen Dank, dass ihr diese Geschichte gelesen und so zahlreich kommentiert habt! Es freut mich wirklich immer, zu lesen, was meine Leser über meine Werke denken. Es hilft mir, mich weiterzuentwickeln, besonders Kritik, die ich ab und an bekomme. Ich möchte mich wirklich für euer Interesse bedanken und hoffe sehr, dass ihr mit dem Ausgang der Geschichte zufrieden seid. Meistens schreibe ich Happy Ends, das gebe ich zu, aber ab und an passt dies einfach nicht. Aaron und Ralph waren nicht füreinander geschaffen, es hätte nicht gepasst, wenn sie am Ende wieder zueinander gefunden hätten.
Schade finde ich ein wenig, dass viele Ralph nicht wirklich mögen oder verstehen können. Ich denke, man sollte immer beide Seiten sehen. Ralph hat Fehler gemacht und er hat Aaron sehr verletzt; doch mehr als das hat er sich selbst verletzt. Ich glaube, dass es tatsächlich Menschen auf der Welt gibt, die sich wie Ralph einfach nicht trauen, zu sich selbst zu stehen… und ich finde, dass man auch diese Seite verstehen sollte, sei sie einem auch noch so fremd. Man kennt ihre Geschichten nicht, man weiß nicht, was sie erlebt haben… aber genug davon, jeder darf über Ralph denken, was er will; ich hoffe nur, dass ich gut gezeigt habe, was Aaron über ihn denkt; Aaron, meine bisher vielleicht stärkste Ich-Persönlichkeit. Ich hoffe ihr fühlt, was er für ein Mensch er ist….
Nun aber wirklich genug. Vielen Dank nochmals fürs Lesen, Kommentieren und Favorisieren. Ich freue mich riesig darüber!
Das Wesen der Welt:
Hierbei handelt es sich wieder um eine neue Geschichte von mir, mit etwa der Länge dieser hier. Ich hoffe sehr, dass ich in euch das Interesse wecken konnte, mehr von mir zu lesen, denn schon bald werde ich das erste Kapitel dieser Geschichte online stellen und ich würde mich wirklich riesig über euch als Leser freuen :)
Ganz liebe Grüße
Stiffy ^__^
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