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White Noise

von

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Schlechte Neuigkeiten

Das Durchwahlgeräusch ertönte. Dreimal, viermal, fünfmal. Die Anzeige auf seinem Viso Caster blieb schwarz. Cheren verdrehte innerlich die Augen. Wissenschaftler … warum war es immer so schwierig, sie zu erreichen? Endlich, nach dem siebten Klingeln, wurde sein Anruf entgegen genommen, und Prof. Esche erschien auf seinem Display. „Oh, hallo Cheren, wie geht es dir?“

Ich sitze seit sieben Stunden auf meinem Fasasnob fest, habe noch mindestens eine weitere Stunde Fliegen vor mir, und keine Ahnung, was mit Bell los ist. Und mir ist kalt. Und mein rechter Fuß ist eingeschlafen.

„Den Umständen entsprechend“, sagte er knapp. „Hören Sie, Professor, ich kann bereits den Janusberg sehen und werde wahrscheinlich bald nicht mehr in der Lage sein, Sie zu erreichen, weil sie Verbindung in der Gegend so schlecht ist. Ich wollte nur noch einmal anrufen und fragen, ob Sie etwas Neues von Bell gehört haben?“

Der beinahe flehende Unterton in seiner Stimme erschreckte ihn ein wenig. Insgeheim wusste er selbst, dass es sinnlos war, nachzufragen – wenn Prof. Esche in der Zwischenzeit wirklich etwas von Bell gehört hätte, hätte Sie ihn längst informiert, oder es spätestens jetzt gesagt.

„Hä, von wem? Ach ja, Bell! Ach, du meine Güte, Bell!“

Das Gesicht der Professorin wurde mit einem Schlag aschfahl. Cheren zog alarmiert die Augenbrauen hoch. „Professor?! Alles in Ordnung?!“

„Ja, ich meine nein, ich meine ...“ Prof. Esche schüttelte den Kopf, als wollte sie einen lästigen Gedanken abschütteln. Dann seufzte sie. „Tut mir leid, Cheren, ich bin wohl gerade etwas durch den Wind … ich hatte total vergessen, dass du auf dem Weg zum Janusberg bist, um Bell zu suchen. Ich war so beschäftigt, und … meine Güte, wo hab ich nur meinen Kopf?“

Die Frage war rein rhetorisch, und Cheren hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was er darauf antworten sollte, darum überging er sie einfach. „Ähm, das soll wohl heißen, dass Sie nichts von Bell gehört haben.“

„Leider nicht.“ Prof. Esche kratzte sich mit einer hilflosen Geste am Kopf. „Hat sich die Polizei noch nicht bei dir gemeldet?“

„Nein.“ Und das war kein gutes Zeichen. Wenn sie Bell gefunden hätten, wären sie längst dazu gekommen, ihn zu informieren. Dass bisher keine Antwort gekommen war, bedeutete höchstwahrscheinlich, dass sie Bell nicht gefunden hatten und immer noch in Monsentiero waren, um nach ihr zu suchen. Und dieser Gedanke machte ihm Angst. Aber es hatte keinen Sinn, das Prof. Esche spüren lassen.

„Okay, danke, Professor. Das war erst einmal alles, ich will Sie nicht länger bei der Arbeit stören. Ich melde mich später wieder.“

„Danke.“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber nicht die richtigen Worte zu finden. Cheren machte es ihr leicht, indem er das Gespräch einfach wegdrückte. Seine Nerven lagen sowieso schon blank, da brauchte er keine leeren Worte zur Aufmunterung. Und er selbst hatte auch keine auf Lager.

„Sie hatte Bell vergessen?“, murmelte er leise, um seiner Empörung Luft zu machen. „Was, bei Arceus, war denn das?“

Fasasnob stieß ein zustimmendes Kreischen aus.
 

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Es war schon seltsam: Während des ganzen Fluges hatte sich Cheren darüber geärgert, dass er zum Warten und Nichtstun verdammt gewesen war. Aber jetzt, da er endlich am Ziel seiner Reise angekommen war, hatte er plötzlich Angst, zur Landung anzusetzen. Dort unten wartete eine Antwort auf ihn, und zu landen bedeutete, sich dieser Antwort zu stellen, ganz gleich, wie unschön sie auch sein mochte. War er wirklich bereit dazu? Vielleicht war Bell tot. Vielleicht war Bell verschwunden. Vielleicht war sie verletzt. Vielleicht hatte sie ihre Verabredung auch einfach nur vergessen und er machte sich mit seiner Panikmache zum Trottel der Nation. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Konnte er es ertragen, die Antwort auf seine Fragen zu erhalten?

… Er musste.

Er ließ Fasasnob auf einem Felsvorsprung in der Nähe des Bergeingangs landen. Rockys Terribark kläffte aufgeregt, offenbar eingeschüchtert von seinem großen Flugpokémon, und Fasasnob, das angespannt und müde von der langen Reise war, schnappte wütend in Terribarks Richtung. Cheren beschloss, der Sache ein Ende zu setzen, bevor die Situation eskalieren konnte – er strich Fasasnob dankbar durch sein Gefieder, bevor er es in seinen Pokéball zurückrief, damit es sich ausruhen könnte. Terribarks Gekläff verstummte auf der Stelle.

Cheren sprang vom Felsvorsprung herunter und überwand die letzten Meter, die ihn von Officer Rocky trennten. „Was haben Sie herausgefunden?“, fragte er forsch. Im nächsten Moment wurde ihm klar, wie unhöflich sein Auftreten war, und er räusperte sich kurz. „Entschuldigung. Guten Tag. Haben Sie etwas herausgefunden?“

Die Polizistin musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und grinste kurz, als sie seine Entschuldigung hörte. Gleich darauf wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. Ihr Terribark wuselte aufgeregt um in herum und schnüffelte an seinen Schuhen.

„Guten Tag. Leider nichts Gutes. Du hattest Recht, uns anzurufen, deine Freundin ist wirklich verschwunden. Sie wurde zuletzt vor fünf Tagen gesehen. Ich habe den ganzen Berg nach ihr abgesucht und zwei Kollegen von mir suchen gerade in Monsentiero nach ihr. Das ist leider alles, was ich finden konnte.“ Sie hielt ihm einen grünen Stoffbeutel vor die Nase. „Kommt er dir bekannt vor?“

Cheren betrachtete den Beutel, doch in seinem Gedächtnis rührte sich nichts.

„Nein.“ Oh Arceus, flüsterte eine leise, nutzlose Stimme in seinem Kopf. Sie ist wirklich verschwunden. Ihr ist irgendwas passiert.

Cheren zwang sich, die Stimme zu ignorieren und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Nicht in Panik verfallen. Nachdenken. Lösungsorientiert handeln. Nur so konnte er Bell helfen.

„Der Beutel könnte ihr gehören. Grün ist eine ihrer Lieblingsfarben. Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.“ Den Inhalt zu betrachten half ihm auch nicht weiter. Er wandte sich wieder an Officer Rocky. „Was haben Sie sonst noch herausgefunden?“

Die Polizistin wischte ihre Haare glatt und setzte sich ihren Hut mit akribischer Genauigkeit wieder auf den Kopf. Die Geste erinnerte ihn an sich selbst, wenn er seine Krawatte richtete. Vielleicht war es genau wie bei ihm ein unbewusster Tick. „Wir sollten zurück zum Dorf gehen. Meine Kollegen warten sicher schon auf mich, vielleicht wissen sie inzwischen auch mehr. Ich werde dir unterwegs alles erzählen.“

Er warf einen letzten Blick auf den Eingang des Janusberges, nickte dann aber. Wenn sie sagte, sie hatte alles untersucht, wollte er ihr das glauben. Die Aussichten, etwas Neues in Monsentiero zu erfahren, waren wirklich besser, als allein im Dunkeln zu tappen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
 

~
 

Er hatte sein eigenes Terribark gerufen, damit es zusammen mit seinem Artgenossen spielen konnte, während Rocky ihre Geschichte erzählte. „Wir haben natürlich zuerst ihr Zimmer untersucht. Es war etwas unordentlich, sah ansonsten aber völlig normal aus. Es hatte nicht so gewirkt, als hätte Bell vorgehabt, zu gehen. Alles war noch an seinem Platz. Es gab keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens oder eines Kampfes. Es schien fast so, als hätten sie und ihre Pokémon sich einfach in Luft ausgelöst.“

Ihre Worte gingen Cheren durch Mark und Bein und verwandelten die Sorgen, die er bisher empfunden hatte, in nacktes Entsetzen. Er kannte Menschen, die in der Lage waren, sich unbemerkt an andere Leute heranzuschleichen und sie zu verschleppen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Er hatte es selbst erlebt, damals vor einem Jahr, als er diesen Psychopathen G-Cis zusammen mit Lauro abgeführt hatte: Die drei Ninja, die sich das Finstrio nannten, hatten sich unbemerkt an sie herangeschlichen, G-Cis einfach aus ihrem Griff entwunden und waren dann mit ihm im Schlepptau getürmt. Dieses Ereignis verfolgte Cheren bis heute – er fühlte sich schuldig, weil G-Cis noch auf freiem Fuß war und weiterhin eine Gefahr für Einall darstellte.

Allein die Vorstellung, dass dieser Geistesgestörte für Bells Verschwinden verantwortlich sein könnte, bereitete Cheren Übelkeit. Und allzu abwegig war diese Vermutung nicht. Team Plasma war seit Ns Niederlage gegen Lotta zwar inaktiv, doch sie wussten alle, dass G-Cis noch lange nicht aufgegeben hatte. Der Mann hatte geschworen, Rache an Lotta zu nehmen, und Bell war ihre beste Freundin … Und Lotta war nicht einmal in Einall, sondern irgendwo in Kanto, tausende Kilometer entfernt und nur durch einen sehr trägen Postweg erreichbar, denn eine Telefonleitung zwischen Einall und Kanto gab es nicht, dafür war die Entfernung zwischen den beiden Kontinenten zu groß.

„-eren? Cheren? Cheren!“ Rocky berührte ihn leicht an der Schulter, und es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, um nicht vor Schreck zusammenzuzucken. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt einen unseriösen Eindruck zu machen – nicht, wenn er weiterhin in die Ermittlungen involviert werden wollte. Deshalb wartete er eine Sekunde, die er dazu nutzte, sich wieder geistig zu sammeln, bevor er sich schließlich zur Seite drehte und Officer Rocky ansah. „Ja?“

Sie sah ihn eindringlich an, tat seine kurze geistige Abwesenheit dann aber mit einem Schulterzucken ab.

„Mir ist gerade noch etwas eingefallen. Wir haben ein Inventar der Gegenstände aufgestellt, die in ihrem Zimmer waren, und dabei haben wir auch die Kleidungsstücke genauestens aufgelistet. Ihre Lieblingskleidung, die sie auf dem Foto trug, das du uns gemailt hast, war noch da. Aber etwas anderes hat gefehlt. Wenn du für längere Zeit verreist, wie viele Pyjamas nimmst du dann mit?“

„... Zwei“, antwortete Cheren. Die Richtung, in die das führte, gefiel ihm gar nicht.

„Genau, zwei. Die meisten Menschen nehmen mindestens zwei Pyjamas oder Nachthemden mit, weil sie etwas zum Wechseln dabei haben wollen. Wir haben aber nur ein Nachthemd gefunden.“

„Mit anderen Worten, sie ist verschwunden, während sie ihre Schlafkleidung trug.“

„Es ist anzunehmen.“
 

~
 

„Da ich dir jetzt alles mitgeteilt habe, was ich weiß“, sagte Rocky über sein brütendes Schweigen hinweg, „hatte ich gehofft, dass du nun bereit bist, mir im Gegenzug ein paar Fragen zu beantworten.“ Sie wartete gar nicht erst ab, ob er einwilligte, oder nicht, und redete gleich weiter. „Schildere mir bitte noch einmal, wie du auf das Verschwinden deiner Freundin aufmerksam geworden bist.“

Es war wie eine Bitte formuliert, doch Cheren spürte, dass es in Wahrheit gar keine war. Aber ihm war das nur Recht. Vielleicht half ihm das Reden, das Bild von Bell, die im Schlaf überfallen wurde, aus dem Kopf zu kriegen.

„Vor zwei Tagen waren Bell und ich in Vapydro City verabredet. Wir wollten zum Pokéwood und uns die Premiere des neuen Kinofilms Super Sandro schlägt zurück 2 ansehen. Bell liebt diese Filmreihe ...“ Die Erinnerung an Bell, die vor Begeisterung förmlich gesprüht hatte, als er sie zur Premiere des ersten Films eingeladen hatte, wurde einen Augenblick lang übermächtig, und Cheren stockte kurz. Er lockerte seine Krawatte, die ihm plötzlich viel zu eng zu sitzen schien. „... aber sie tauchte nicht auf. Ich habe versucht, sie anzurufen, kam aber nicht durch.“

„Warum hast du nicht gleich die Polizei gerufen?“

Da war sie, die Frage, die ihn schon seit Stunden quälte. Warum hast du nicht eher reagiert, du Idiot? Warum hast du so lange gewartet?

„Ich hatte gedacht, es wäre nichts Ernstes.“ Wie sollte er das einem Menschen, der Bell nicht persönlich kannte, begreiflich machen? „Sie müssen verstehen, Bell … verspätet sich häufig. Wenn wir jedes Mal, wenn Bell sich zu irgendeinem Termin verspätet hatte, die Polizei eingeschaltet hätten, hätten Sie ziemlich viele Überstunden gemacht. Sie ist ...“ Ihm fiel kein passendes Wort ein, darum ließ er den Satz unvollendet in der Luft hängen. „Jedenfalls hatte ich geglaubt, sie würde sich nur ein wenig verspäten, oder dass ihr vielleicht etwas dazwischen gekommen war. Aber als ich sie gestern immer noch nicht erreichen konnte, habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Wie gesagt, Bell liebt diese Filmreihe, und sie hatte sich schon seit Monaten auf diesen neuen Film gefreut. Dass sie die Sache einfach so sausen ließ, kam mir im Nachhinein doch merkwürdig vor. Deshalb hielt ich es für klüger, einmal nachzuhaken, nur für den Fall ...“

Und nun war dieser Fall leider eingetreten.

Rocky musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er sehr gut kannte und umso mehr hasste – Mitleid – aber Cheren brachte es nicht fertig, sich darüber zu ärgern. Es gab einfach dringendere Probleme.
 

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Die Sonne ging gerade unter, als sie Monsentiero erreichten. Ein stämmiger Mann in Polizeiuniform – Cheren schätzte ihn auf etwa 50 Jahre – schien bereits auf sie zu warten, denn er kam ihnen sofort entgegen, als er sie bemerkte. „Rocky.“ Sein Blick flackerte kurz zwischen Cheren und Rocky hin und her, bis er sich schließlich wieder auf seine Kollegin richtete. „Wir müssen reden.“

Der Universalcode für „Es gibt Probleme“, dachte Cheren. Rocky schien das Gleiche zu denken; sie straffte ihre Schultern, als würde sie sich innerlich gegen eine neue Schreckensbotschaft wappnen. Sogar die beiden Terribarks schienen zu spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Bitte, lass Bell nicht tot sein, oh bitte, lass Bell nicht tot sein-

„Was ist los?“, fragte Rocky. „Wo ist Joel?“

„Darüber wollte ich mit dir reden.“ Ein erneuter, ablehnender Blick in Cherens Richtung – was auch immer das Problem war, der Mann wollte Cheren nicht bei diesem Gespräch dabei haben. Rocky bemerkte das ebenfalls. „Du kannst ruhig offen reden. Was ist los?“

„Joel ist nicht zurückgekommen!“ Es platzte regelrecht aus dem Polizisten heraus.



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