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Der Aufzug

von

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2.

Während sie abwartend dastand, schaltete sie die Musik ihres Handys etwas lauter und genoss die rauen Klänge, die aus ihren Kopfhörern drangen. Beiläufig registrierte sie, dass sie die Einzige war, die hier wartete; offenbar hatte sich die Menschenmenge von vorhin bereits auf die verschiedenen Gänge der Station aufgeteilt. Umso besser; dann musste sie keine nervigen Seitenblicke oder blöde Sprüche ertragen. Mit diesem Gedanken trat Emilia durch die Türe in die Aufzugkabine, als diese sich endlich mit einem leisen „Pling“ vor ihr öffnete. Sie betätigte den entsprechenden Knopf, der sich unter ihren kalten Finger seltsam warm anfühlte, und trat dann an die rückwärtige Kabinenwand zurück, wobei sie das Geburtstagsgeschenk an ihre Brust drückte; das Paket wurde langsam richtig schwer. Als die Kabine sich mit einem sachten Rucken in Bewegung setzte, atmete sie tief durch; sie hasste Aufzüge mit ihren engen Kabinen, den seltsamen Geräuschen und den plötzlichen Druckabfällen, die bei ihr manchmal eine leichte Übelkeit verursachten.

Natürlich wusste sie, dass das letztlich alles nur Ausreden waren; die Wahrheit war schlicht und ergreifend, dass sie Angst hatte. Sie fürchtete sich vor Fahrten mit Aufzügen, seit sie acht Jahre alt gewesen und gemeinsam mit ihrem Bruder in einem Aufzug stecken geblieben war.

Nur allzu deutlich hatte sie sein erschrockenes Gesicht vor Augen, seinen Blick, mit dem er sie als die Ältere stumm darum anflehte, das wieder in Ordnung zu bringen, etwas zu tun, das die Maschine zum Weiterfahren bewegen würde. Aber sie war selbst verängstigt und ratlos gewesen, und hatte sich, während sie verzweifelt um Hilfe gerufen hatten, ausgemalt, wie sie von nun an für immer in dieser engen, warmen Aufzugkabine festsitzen und qualvoll verhungern würden. Erst Jahre später würde man ihre Skelette in der Ecke sitzend vorfinden, mit einem hautlosen Grinsen auf den knochigen Gesichtern, die leeren Mundhöhlen zu unhörbaren Schreien aufgerissen, einander bei den Händen haltend, um wenigstens nicht alleine dem Grauen ins Angesicht blicken zu müssen.

Selbstverständlich war nichts dergleichen passiert und nach etwa einer Stunde bangen Wartens und Rufens hatte man sie aus ihrem Gefängnis befreit und ihnen erklärt, dass einer wohl in die Lichtschranke der Türe geraten war und der alte Aufzug daraufhin eine Fehlfunktion erlitten hatte. Trotzdem war ihr die Angst vor Aufzügen seitdem geblieben und verfolgte sie überallhin. Wann immer sie konnte, vermied sie es daher, Aufzüge zu benutzen, und jetzt, an die glatte Wand der Kabine gedrückt, die Musik in ihren Ohren, die sie nicht gerade beruhigte, und dem Schwanken des Kabuffs, in dem sie für Minuten festsaß, hilflos ausgeliefert, bereute sie es, sich auf die Fahrt eingelassen zu haben. ‚Was tut man nicht alles für die Familie...’, dachte sie zynisch und wippte ungeduldig auf den Fußspitzen, um ihre schmerzenden Sohlen kurz zu entlasten. Wie es meistens der Fall war, hielt der Aufzug nicht an all den Zwischenstationen, sondern schraubte sich sanft schaukelnd weiter in die Höhe, dem Licht des hellen Morgens entgegen, während seine Insassin den Blick, einfach um ihre Augen irgendwie zu beschäftigen und von der gläsernen Front der Kabine fernzuhalten, über die Wand zu ihrer Rechten gleiten ließ.

Eine mehr oder weniger offensichtliche Kamera blickte hier aus der Ecke auf sie herab - bestimmt hatte man sie unter dem Vorwand, die Leute zu schützen, angebracht, obwohl sie in Wahrheit nur der Spionage diente, frei nach dem Motto: Big Brother is watching you. Ein Kaugummi klebte direkt unter einem Sticker, der für ein Fastfoodrestaurant warb. Darunter hatte jemand sich mit seinem Namen verewigt, der in die metallene Wand geritzt worden war. Alles nicht besonders interessant, und dank der flackernden Leuchte unter der Decke der Kabine, die immer wieder kurz komplett ausging, war vieles auch nicht zu entziffern. Einzig ein Schriftzug, der rostrot auf dem Silber prangte, stach ihr sofort ins Auge: Mit krakeligen Buchstaben, die sie an jene von Volksschüler erinnern, war zu lesen: „Dort draußen sind Monster und keiner wird...“ - der Rest war wohl mit dickem, schwarzem Permanentmarker unleserlich gemacht worden, und mit einem anderen Stift hatte irgendein Witzbold daneben geschrieben: „Ja, und du bist eines davon!“ Begleitet wurde diese Aussage von einem zwinkernden Smilie, doch auch dieser konnte nicht verhindern, dass ihr beim Lesen der Worte ein kühler Schauer über den Rücken lief. ‚Wie lächerlich, da wollte doch nur einer witzig sein!’, sagte sie sich und blickte auf die rot blinkende Zahl der Anzeigetafel, laut der sie jeden Moment ihr Ziel erreicht haben würden. Als die Kabine tatsächlich wenige Sekunden später mit dem bekannten „Pling“ anhielt, stieß sich Emilia von der Wand ab und trat auf die Türen zu, die langsam aufglitten. Froh, endlich frei zu sein, zwängte sich das zierliche Mädchen durch den schmalen Spalt; sie konnte es kaum erwarten, den Aufzug hinter sich zu lassen - im Grunde konnte sie es kaum erwarten, den gesamten Tag hinter sich zu lassen. Doch daraus würde wohl nichts werden, wie sie feststellen musste.



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