Amaya läuft
Es ist ein merkwürdiges Leben, dass Amaya führt und sie weiß es. An jenen Nachmittagen, an denen sie im Café sitzt und die Anwesenheit des Fremden genießt, der nie mehr als drei Worte mit ihr spricht, verschwinden die fremden Bekannten und die Schatten und sie nehmen die Angst und die Ungewissheit mit. An den anderen Tagen aber scheint es immer ärger zu werden; sie folgen ihr auf Schritt und Tritt, lassen sie nicht entkommen und versuchen, sie in einer unachtsamen Minute zu greifen.
Doch Amaya ist nicht unachtsam; der Tag liegt in seiner Gänze schon am Abend vor ihr und sie macht Pläne, in denen sie genau weiß, welcher Weg zu nehmen ist – nur, um auch sich selbst überlisten zu können. Sie tut nichts, ohne das Für und Wider gegeneinander zu setzen und gewissenhaft zu vergleichen; sie verlässt das Haus nie ohne einen Grund und rennt die meisten Strecken, um ihren Angreifern keine Chance zu bieten.
Warum sie von ihnen als Angreifer denkt, vermag sie nicht zu sagen; noch hat sie jede Kontaktaufnahme vermeiden können und ist geflohen, sobald auch nur der ferne Geruch der schönen Frau mit den alten Augen sie gestreift hat. Doch sie weiß, sie fühlt, dass sie ein Treffen nicht zulassen kann – wer auch immer sie in diesen Körper gesteckt hat, jagt sie nun.
Und dann ist Freitag, dann ist da Duft, Wärme, Gemütlichkeit, Geborgenheit und dann ist er. Dann zeichnen die schlanken Finger über das weiße Papier, dann blicken die wundersamen Augen an ihr vorbei und sie trinkt ihren Kakao und fragt sich, wie er heißt. Was er malt.
Manchmal träumt sie von ihm, von seinen Geheimnissen, von seinem Leben, seinen Träumen. Und dann stellt sie sich vor, dass er sie malt, ihr Gesicht, ihre Augen und sie weiß nicht, ob sie das aushalten könnte. Ob sie es ertragen könnte, wenn er ein Gesicht malte, das nicht das ihre ist, Augen, die Fenster zu vielem, aber nicht ihrer Seele sein könnten, Lippen, die sie manchmal am liebsten zerbeißen möchte, um den Worten in ihrem Geist den Weg nach draußen zu zeigen.
Dann geht er und sie weint; leise, denn sie hat verlernt, laut zu sein und sie hofft gleichzeitig, dass es bald wieder Freitag wird.
Es ist ein merkwürdiges Leben und Amaya fragt sich, ob sie wohl den Verstand verliert. Es ist ein Gedanke, der sie keineswegs beunruhigt. Er besänftigt sie, umhüllt ihre Seele mit Trost - ihren Geist nicht mehr spüren zu müssen, nicht mehr im Spiegel Amaya zu sehen und in der Seele Kuraiko zu sein scheint ihr einer Befreiung gleich zu kommen.
Doch der Weg in das Debile weicht vor ihr zurück und in manchen Momenten weiß das Mädchen genau, dass es immer so bleiben wird, wie es jetzt ist. Dass sie immer so bleiben wird wie jetzt.
So grau, so trüb, so bedrohlich – so leer.
Denn das ist es, was sie von innen heraus auffrisst, diese Leere, dieses Nichts, das früher einmal sie selbst gewesen ist.
Zuhause wird wieder geredet, doch Amaya nimmt nicht teil; die Worte haben sie verlassen. Sie antwortet, wenn man sie fragt und erzählt, wenn es erwartet wird; doch das, was sie sagt, ist nichts. Vielmehr ist in dem, was sie nicht sagt; die Wahrheit liegt in dem dunklen Schweigen, das ihr folgt wie ein hungriger Verehrer.
Die Eltern befreit die Illusion, während seltene klare Momente die Gitterstäbe beleuchten, die in Wirklichkeit zwischen der Familie stehen; dann sehen sie, was ihre Tochter ist: ihnen und sich selbst seltsam fremd.
Es ist ein Mittwoch, an dem sich alles und auch nichts verändert. Die fremden Bekannten haben sie verfolgt, sind ihr durch die halbe Stadt nachgelaufen, haben sie gejagt, ohne Mitleid, bis sie orientierungslos durch ein ihr unbekanntes Viertel stolpert. Sie kann nicht mehr, ihr Atem rast, ihr Herz droht zu zerspringen und sie fühlt, dass ihr Ich vor Angst fast zerbirst. Sie kann nicht mehr, will nicht mehr können müssen, möchte sich einfach nur setzen.
Das Schild, das den Weg zur Akademie deutet, ist die einzige Chance, die sie sieht. Mit den Verfolgern dicht auf den Versen, mit der Verzweiflung im Nacken weiß sie nicht, wohin sie sich sonst noch wenden soll.
Wer sich selbst verloren hat, kennt keine Rettung.
Amaya läuft.
Ihr Ranzen ist schon vor einiger Zeit zu Boden gefallen, doch es hat sie nicht gekümmert. Nun hastet sie über das unebene Straßenpflaster, bis das kleine Gässchen, dem sie gefolgt ist, auf eine Hauptstraße mündet und sie über ihre eigenen Füße fällt.
Schnelle Schritte kommen näher, doch sie hat längst nicht mehr die Kraft, weiter zu laufen. Sie bleibt sitzen, bis ihre Verfolger neben ihr zur Ruhe kommen; nun endlich wird sie zumindest erfahren, was geschehen ist, was geschehen soll und wer für ihre Situation verantwortlich ist. Vielleicht wird sie danach auch sterben, doch so richtig kümmert es sie nicht; wenn da eine Regung ihren Geist verlässt, so ist es Hoffnung.
„Alles in Ordnung?“
Es sind nur drei Worte, doch die Hand, die man ihr reicht, ist kräftig, mit langen, schmalen Fingern und kurzen Fingernägeln, unter denen sich der Staub von Zeichenkohle gesammelt hat.
Es sind mehr als drei Finger.
Und Amaya weint unendliche Traurigkeit.