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von

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Prolog

Ich versichere es euch, jetzt sind die Sekunden stark und feierlich betont,

und jede, die von der Uhr herunterspringt, ruft:

„Ich bin das Leben, das unerträgliche, unerbittliche Leben.“

(Charles Baudelaire)
 

24/7

Zwischen den Zeilen
 

Prolog
 

Die letzten Tage des Julis waren warm, die Luft staubig und erfüllt vom Straßenlärm der Großstadt. Auf den unnatürlich sauberen Gehwegen Tokyos drängten sich zahllose Menschen, geschäftig und unermüdlich wie die Einzelteile eines gut organisierten Getriebes. Das Räderwerk einer fast perfekten Welt. Eine Maschinerie, die sich nicht darum kümmerte, ob eines ihrer Zahnräder fehlte.

Vor annähernd zwei Monaten hörten die Morde an Verbrechern schlagartig auf und seit ebenjener Zeitspanne hatte Yagami Light kein fremdes Gesicht mehr erblickt. Er hatte weder den anhaltenden Regen noch die flirrende Hitze des Sommers auf der Haut gespürt oder ein einziges der Feuerwerke gesehen, die so typisch für die heißeste Jahreszeit in Japan waren. Was er stattdessen wochenlang, Stunde um Stunde zu sehen bekam, waren die weißen Wände einer kargen Zelle, nicht das Licht der Sonne, sondern das Leuchten steriler Neonröhren. An den Handgelenken schmerzte ihn die unerträglich gewordene Umklammerung seiner Fesseln.

Light wusste, dass er unschuldig war, aber Furcht und Unsicherheit hatten ihn einen folgenschweren Entschluss fassen lassen. Anfangs war es demütigend, jede Minute des Tages unter ständiger Beobachtung, während er nichts weiter tun konnte, außer seinen natürlichen Bedürfnissen nachzugehen, bei denen ihm einer der Polizisten des Teams half. Meist war es Matsuda, der sich in erzwungener Fröhlichkeit seiner annahm, ermutigend und animierend, doch Light schaffte es nicht, sich von ihm anstecken zu lassen. Motivation wurde zum Fremdwort, Flucht zur irrealen Alternative. Seinen falschen Stolz hatte er längst weggeworfen.

Ab dem fünfzehnten Tag erschien Matsuda nicht mehr in seiner Zelle. Den Grund dafür konnte sich Light nicht erklären. Vermutlich hatte der junge Polizist den Glauben an ihn verloren. Obwohl Matsuda älter war und bereits im Berufsleben stand, hatte er stets eine gewisse Bewunderung für Lights deduktives Vermögen und seine Aufrichtigkeit empfunden. Bis jetzt.

Die Erkenntnis über die Verkehrtheit seiner Entscheidung kam nach der ersten Woche, unbändiger Zorn darüber nach der zweiten, in der dritten Woche folgte Verzweiflung, nach der vierten nur noch Resignation. Fremde Gesichter und Gestalten traten an ihn heran. Stimmen forderten ihn zum Essen und Trinken auf. Alte Hände, die ihn an seinen Vater erinnerten, lüfteten den Stoff über seinem Bauch, wenn er sich lange nicht bewegt hatte, und der Stich einer Spritze ließ ihn vermuten, dass es sich dabei um eine Maßnahme gegen Thrombose handelte. Angesichts der Ausweglosigkeit seiner Situation war es Light irgendwann gleichgültig.

Im Halbschlaf träumte er sich in unerreichbare Ferne, durchreiste in seinen Erinnerungen ganz Japan. Wenn er die Augen schloss, sah er das Häusermeer seiner Heimatstadt, sah Wälder und Berge, die hinter dem Rand von Tokyo das Land überschwemmten. Er flog über die weiten, weißen Flächen von Hokkaido, am Horizont die Grenze zwischen Himmel und Erde verwischend, in der Luft schneidende Kälte, die ihm beim Einatmen in den Schläfen stach. Er spürte den heißen Strandsand von Okinawa unter seinen nackten Füßen, fühlte den warmen Wind im Gesicht und das Salz des Meeres auf den Lippen. Der Duft des Sommers.

Light glaubte, ihn nicht mehr zu kennen, denn sobald er die Augen öffnete, war die Welt seiner Träume verschwunden. Übrig blieben kahle Mauern, Gitterstäbe, sanitäre Einrichtungen und ein schmales Bett. Mittlerweile hasste Light dieses Bett. Das war keine Schlafstätte, sondern eine Bahre. Darum vermied er es, sich dorthin zu legen, sonst wurde sein Körper zum Leichnam und das Bett zu einem Seziertisch. Aufgebahrt, um selbst in dieser Lage unermüdlich von dunklen, starren Augen analysiert zu werden, die hinter den Kameras lauerten.

Bald glaubte Light sogar, zu vergessen, wie er hieß und wer er war, hätte nicht manchmal ein Knacken aus den Lautsprechern ihn aus seiner Taubheit zurückgeholt und eine beruhigende, emotionslose Stimme seinen Namen ausgesprochen.

„Light-kun“, sagte die Stimme und rief ihm alles zurück ins Gedächtnis, seine freiwillige Inhaftierung, den Kira-Fall und die Konfrontation mit dem Meisterdetektiv L.

Aufzugeben war keine Option, die Light schnell und unumstößlich ergriff. Tagelang diskutierte er mit L, machte ihm Vorschläge, erkundigte sich nach dem Stand der Ermittlungen und erhielt irgendwann nur noch die Antwort:

„Du bist Kira.“

Er konnte es nicht mehr hören. Dennoch verlangte er nach dieser monotonen Stimme, die keinerlei Gefühlsregung für ihn zu hegen schien. Voneinander getrennt kam es Light so vor, als sei er nicht allein, sondern mit einem zweiten Insassen eingeschlossen. Stets war L anwesend, rührte sich nicht von der Stelle, reagierte auf jede von Lights Ansprachen. Obwohl ihre vermeintliche Freundschaft nichts an Ls Skrupellosigkeit ihm gegenüber änderte, teilten sie auf diese Weise ihre Gefangenschaft.

Zweiundvierzig Platten an der Wand. Jeweils neun an den beiden gegenüberliegenden Seiten. Vierundzwanzig an der langen Fläche hinter seiner Pritsche. Die Decke, ein leeres Rechteck. Der Boden, ein graues, zerkratztes Fundament, das ihm nichts bot, an dem er seinen Geist hätte erproben können. Light hatte sie gezählt, immer und immer wieder, all diese gleichförmigen Strukturen. Neun links, neun rechts, vierundzwanzig in der Mitte, zweiundvierzig insgesamt. Bittere Ironie zeigte sich in der metaphorischen Anzahl der rechteckigen Platten, als seien sie die Verstärkung seines eigenen Sarges. In seinem Kopf spielte er auf ihnen Schach und Go, pausenlos duellierte er sich mit einem unsichtbaren Gegner und hatte tatsächlich das Gefühl, innerlich einen Kampf gegen sich selbst auszufechten. Mit jeder Stunde häuften sich seine Niederlagen. Bis er irgendwann nicht mehr kämpfen konnte.

Sein Denken wurde zähflüssig, seine Gedanken drehten sich im Kreis, suchten nach Beschäftigung, nach Ablenkung, griffen in den Raum hinein ins Leere. Light konnte regelrecht beobachten, wie er Schritt für Schritt abbaute, körperlich und psychisch. Tagtäglich drohte ein weiterer Teil von ihm gebrochen zu werden. Seine Konstitution, sein Verstand und ganz zum Schluss sein Wille.

L war Zeuge seines Niedergangs.

Wie viel Zeit verging, wusste Light nicht, doch blieb L wochenlang das Einzige, an dem er sich festhalten konnte. Deshalb redeten sie und schwiegen und ertranken gemeinsam in ihren Worten, bis der Augenblick kam, da Light am Ende war.

Als habe er es von seinem Gesicht abgelesen, stand L kurz darauf in seiner Zelle. Gelassen wie stets betrachtete er sein Zielobjekt mit höchster Aufmerksamkeit. Light fühlte Zorn und Freude, einen unterdrückten Hilfeschrei und vage Hoffnung. War dies Ls Ziel gewesen, ihn zu brechen bis auf den letzten Knochen?

Endlose Minuten verstrichen, in denen sie einander stumm betrachteten und Light bereits erwartete, sein Richter sei lediglich eine Illusion, die sich im nächsten Moment in Luft auflöste.

Letztlich sagte L erneut nur einen einzigen Satz:

„Gib nicht auf, Light-kun.“

Damit wandte er sich ab und ging. Er verschwand wie das Trugbild, das Light in ihm zu sehen glaubte.

Am dreiundfünfzigsten Tag kamen sie zu ihm und holten ihn.

Zu seiner Exekution.

Matsuda blieb mit gesenktem Haupt neben der Zellentür stehen, während Light von Aizawa in das unterste Stockwerk geführt wurde. Keiner von ihnen sagte ein klärendes Wort. Auch sein Vater nahm ihn schweigend in Empfang.

Ein endloser Tunnel, kein Tageslicht in Sicht und Light konnte nicht begreifen, was ihm bevorstand. Nun saß er auf der Rückbank eines Wagens, aufgebrachtes Schreien in den Ohren, und starrte in den Lauf einer Schusswaffe, die ihm sein eigener Vater ins Gesicht hielt.

„Wir sehen uns in der Hölle, mein Sohn“, hörte Light ihn sagen und dachte in dem winzigen Bruchteil einer Sekunde, bevor der Abzug betätigt wurde, dass die Wirklichkeit ein Meer der Dunkelheit war, zu dessen Überquerung man ein riesiges Schlachtschiff benötigte, gepanzert mit Stahlplatten aus radikaler Wahrheit.

Die Wahrheit jedoch war eine gefälschte Waffe.

L hatte nicht den Verstand verloren. Er hatte ein Theaterstück inszeniert, dessen Fazit keineswegs Lights Hinrichtung, sondern seine Rehabilitation war. Über einen Lautsprecher erklärte der Meisterdetektiv entschieden:

„Du wirst mir bei meinen Ermittlungen helfen. Ich möchte, dass du rund um die Uhr an meiner Seite bist, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.“

„Verstanden“, antwortete Light und willigte in den Pakt ein.

Tabula Rasa

Tabula Rasa
 

Der Metallring legte sich um sein linkes Handgelenk und mit klickenden Geräuschen rastete der Schließmechanismus ein. Als Light die Hand vor sein Gesicht hob, betrachtete er das kalte Material der Fessel, welche durch die Bewegung seinen Unterarm hinabrutschte. Die anderthalb Meter lange Kette, die daran befestigt war, verband ihn mit dem jungen Mann, der ihm gegenüberstand und nur wenig älter war als er selbst. Diese gemeinsame Gefangenschaft war der einzige Weg, um Lights Unschuld zu beweisen. Die Handschellen standen als Symbol für den Verdacht, der schwer auf ihm lastete. Der Verdacht, Kira zu sein und somit der Mörder unzähliger Menschenleben.

Doch gab es keine andere Möglichkeit, ihn von dieser Last zu befreien?

„Müssen wir wirklich so weit gehen, Ryuzaki?“ Fragend schaute Light zu seinem Ermittlungspartner auf, welcher den Blick ausdruckslos erwiderte und nur entgegnete:

„Ich mache das nicht, weil ich es möchte.“

Das blonde Mädchen, das neben ihnen stand und dessen Blick von einem zum anderen wanderte, fiel verstehend ein:

„Das meintest du also, Ryuzaki-san!“ Als dieser ihr den Kopf zuwandte, zupfte sie ein wenig an ihrem dunklen Rock, der so kurz war, dass man die Halter sehen konnte, die ihre schwarzen Overknees über der Netzstrumpfhose hielten. Skeptisch fuhr sie fort: „So etwas mit einem Mann zu machen, wirkt auf Misa irgendwie...“ Ihre unausgesprochenen Gedanken waren nicht ernst gemeint und dennoch ließ sie sich für einen Augenblick die Vorstellung durch den Kopf gehen, dass dieser ihr unbekannte und merkwürdige Typ eine pervertierte Beziehung zu der Person haben könnte, in die sie sich verliebt hatte. Ryuzakis Mimik gab keinerlei Aufschluss darüber, ob er ihre Andeutungen in irgendeiner Weise für wichtig erachtete. Er wiederholte nur:

„Ich mache das nicht, weil ich es möchte.“

„Aber“, setzte sie erneut verärgert an, „wenn du vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit ihm zusammen bist, wann haben Light und Misa denn dann Zeit füreinander?“

„Du kannst mit ihm zusammen sein, wann immer du willst. Das ist mir egal. Ich werde weiterhin dabei sein und beobachten.“

„Ich wusste es“, rief Misa entrüstet, „du bist ein Perversling!“

Light merkte, dass ihr Verhalten seine Toleranzgrenze zu strapazieren begann, und er glaubte dies auch bei Ryuzaki mitzubekommen, obwohl weder dessen Miene noch Stimme eine derartige Emotion verriet. Allerdings bestätigte sich Lights Vermutung, als Ryuzaki ihn teilnahmslos bat:

„Light-kun, kannst du bitte dafür sorgen, dass Misa-san still ist?“

Die beiden Ermittler waren sich im Klaren darüber, warum die Gefangenschaft mit den Handschellen notwendig geworden war. Zweifelte er an seinem eigenen Verstand, würde Light sich selbst am meisten verdächtigen, denn abgesehen von den jüngsten Ereignissen sprachen alle Indizien gegen ihn und Misa. Hinzu kam, dass keines der anderen Polizeimitglieder eine wirkliche Hilfe für Ryuzaki darstellte, einzig Light war dazu fähig, auf derselben Ebene zu denken.

Trotz seines wachsenden Unverständnisses für Misas übertriebene Abneigung gegen diese Maßnahmen hielt sich Light zurück und meinte nur:

„Du solltest dankbar sein, dass du dich noch immer frei bewegen darfst. Schließlich ist es eindeutig bewiesen, dass du es warst, die die Videobänder an die Presse geschickt hat.“

„Du auch, Light?“, fragte Misa empört. „Ich bin deine Freundin und dennoch unterstellst du mir das?“

„Auch wenn...“ Der junge Mann stockte, da Ehrlichkeit und Höflichkeit in ihm miteinander im Konflikt standen. „Auch wenn du sagst, dass du meine feste Freundin bist... du warst es, die sich auf den ersten Blick in mich verliebt hat und das seitdem behauptet.“

„Wie?“ Misa riss schockiert die Augen auf. „Warum hast du mich dann geküsst? Wolltest du mich ausnutzen?“

Nun klinkte sich Ryuzaki wieder in das Gespräch ein. Derweil war Light mit seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen beschäftigt und hörte deshalb nur halb zu. Er wusste nicht, wieso er Misa damals geküsst hatte. Nach wie vor hatte er keine Gefühle für sie entwickelt und würde ihr auch niemals falsche Hoffnungen machen wollen, sodass sie letztlich enttäuscht werden müsste. Momentan konnte er einzig und allein den zweiten Kira mit ihr verbinden. Light verdächtigte sie nicht, dieser tatsächlich zu sein, doch er hielt die Theorie für sehr wahrscheinlich, dass sie von einem der beiden Kiras manipuliert worden war.

„...Wenn sich nun herausstellen würde“, drang Ryuzakis Stimme wieder in sein Bewusstsein, „dass Light-kun Kira wäre, was würdest du dann denken, Misa-san?“

„Wenn Light Kira wäre...?“ Misa blickte zu ihrem Freund auf und klammerte sich an dessen Arm. Sie dachte darüber nach, bis sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. „Das wäre das Beste, das Misa passieren könnte.“

Jene Aussage veranlasste Ryuzaki dazu, Light mit den Augen zu durchbohren, sodass dieser den in der Luft liegenden Verdacht wieder stärker auf sich lasten spürte. In der ganzen Geschichte ging es weniger um Misa; sie war nur ein weiterer Beweisträger. Light war sich bewusst, dass das eigentliche Interesse ihm galt, und darauf richteten sich nach wie vor auch die Fragen des Meisterdetektivs.

Es war ein Spiel zwischen den vermeintlichen Gegnern, das schon einige Opfer auf beiden Seiten gefordert hatte. Doch Light ging es nicht um das Gewinnen. Er stand voll und ganz hinter Ryuzaki und musste für den Fortschritt ihrer Ermittlungen eindeutig beweisen, dass er nicht Kira war. Dass er kein Feind war.
 

Leise hatte Light die Tür hinter sich geschlossen, als er an jenem schon lange vergangenen Abend in sein Zimmer getreten war. Misa hatte ihn zum zweiten Mal daheim besucht und war soeben gegangen, einen verträumten Ausdruck im Gesicht. Stille hatte sich im Haus ausgebreitet; Lights Schwester und seine Mutter waren sicher schon eingeschlafen.

Warum hatte er Misa geküsst? Light war zwar bewusst, dass es nicht das erste Mal darstellte, auf diese Weise bei einem Treffen mit einer Frau umzugehen, doch das Motiv dahinter sah sonst anders aus. Hatte er nicht nur seinen Status bewahren wollen, als bester Absolvent aller Schulen, als Sohn des Polizeiinspektors, in einer Rolle, die seiner Position gerecht werden sollte?

Light war kein Mensch, der andere zu seinem Vorteil missbrauchen wollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits vieles in seinem Leben geändert. Er hatte einen ebenbürtigen Freund gefunden, auch wenn er in diesem Augenblick, da er unschlüssig in der Mitte seines Zimmers stand, wieder daran zweifelte, ob Ryuga tatsächlich L war. Wieso diese Zweifel?

„Ich dachte, du würdest dich an damals erinnern, als er dich seinen Freund nannte.“

Light glaubte fast, sein Gedächtnis würde ihm einen Streich spielen.
 

„Light-kun?“ Der Angesprochene sah auf und begegnete dem durchdringenden Blick jenes Mannes, der sich selbst den Buchstaben L als Namen gewählt zu haben schien. „Ist es dir ernst mit Amane?“

Zögernd, aber dennoch seiner Worte sicher, antwortete Light:

„Nein... ich sagte doch, es ist eine einseitige Liebe.“

„Wäre es nicht möglich für dich, daran etwas zu ändern?“, fragte L weiter. „Ich meine, dass du so tust, als wärst du tatsächlich in sie verliebt? Du sagtest vorhin selbst, es sei eindeutig bewiesen, dass sie die Videobänder geschickt hat. In irgendeiner Weise muss sie mit Kira in Verbindung stehen.“

Light schwieg einen Moment, bevor er ohne Vorbehalt erwiderte:

„Du meinst also, ich soll sie dazu benutzen, etwas über den zweiten Kira herauszufinden?“

„Ja“, bestätigte L ohne Skrupel, „das dürfte für dich kein Problem darstellen.“

„Ryuzaki... auch wenn es dazu beitragen könnte, den Fall um Kira zu lösen, ich kann die Gefühle eines Mädchens nicht einfach dafür missbrauchen.“

L gab darauf keine Entgegnung. Die scheinbar tiefe Ehrlichkeit in Lights Verhalten irritierte ihn, als hätte dieser seine gesamte Persönlichkeit grundlegend geändert. Konnte das alles nur gespielt sein, um sie alle hinters Licht zu führen? Oder bestand die Möglichkeit, dass nicht nur Misa von Kira manipuliert worden war?
 

Nur leicht berührte das Stück Zucker mit einer Ecke die Oberfläche des Getränks. Sofort fraß sich die Flüssigkeit hinauf in die kristalline Substanz und ließ diese bei dem Prozess allmählich zerfallen. Die weiße Farbe des Zuckers verdunkelte sich, als würde die Schwärze seine Reinheit vereinnahmen. Schließlich zerbröselte er gänzlich zwischen den Fingerspitzen, die ihn hielten. L klaubte einen weiteren Zuckerwürfel aus der Porzellanschale und wiederholte das Spiel, während er die Kaffeetasse vor sich fixierte. Den Kopf auf die Hand gestützt beobachtete Light ihn dabei.

Er war müde. Erst jetzt, da er nicht mehr in einer Zelle eingesperrt war und sich erholen konnte, ergriff allumfassende Erschöpfung von ihm Besitz. Er hatte es bereits gespürt, nachdem man ihm die Fesseln von den Füßen gelöst hatte und er die ersten Schritte außerhalb der Zelle gelaufen war. Seine Muskeln gehorchten ihm kaum, seine Beine fühlten sich schwach an, jede Bewegung war anstrengend. Wochenlang hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, sich ohne Einschränkung bewegen zu können, aber nun, da er es durfte, war er aufgrund seiner Verfassung schwerlich in der Lage dazu. Noch immer war er eingesperrt, lediglich der Radius seines Gefängnisses hatte sich vergrößert und die neuen Fesseln machten mittlerweile die Tatsache sogar direkt sichtbar, dass er die Gefangenschaft mit L teilte. Trotzdem wünschte er sich keine Freiheit, sondern allenfalls Schlaf.

„Light-kun.“ Seine Augen fokussierten L, als dieser ihn ansprach. „Woher kam dein plötzlicher Wandel nach einer Woche in Gefangenschaft? Auf einmal wolltest du unbedingt befreit werden, obwohl du vorher selbst daran gezweifelt hast, nicht Kira zu sein.“

„Das habe ich doch schon gesagt“, entgegnete Light ein wenig genervt. „Frag mich lieber, wieso ich mich überhaupt zur Inhaftierung entschloss. So haben wir wertvolle Zeit verloren, die wir mit der Suche nach dem eigentlichen Täter hätten verbringen sollen.“

„Wertvolle Zeit... also meinst du, es war sinnlos? Mit deiner Inhaftierung wurde uns schließlich deine Unschuld bewiesen.“ L sagte das in belanglosem Ton, während er ein weiteres Stück Zucker in seinen Kaffee fallen ließ. Mit einem resignierten Seufzen antwortete Light:

„Nicht für dich. Sonst gäbe es die hier nicht.“ Er hob seinen linken Arm und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Handschellen. Schweigend starrte L auf das kalte Metall. Dann blickte er auf sein eigenes Handgelenk und schließlich erneut in Lights Gesicht.

„Stört dich das so sehr?“

„Nein“, erwiderte Light irritiert, „es wäre natürlich angenehmer, sich frei bewegen zu können, aber der Grund für diese Überwachung stört mich viel mehr als die Überwachung selbst.“

„Ah, so ist das“, gab L nur zurück und hob bedacht seine Kaffeetasse an die Lippen. Die nächsten Minuten waren nur erfüllt vom Surren der Monitore und einem leisen Trinkgeräusch. Herr Yagami war schon vor längerer Zeit im Sessel sitzend eingeschlafen. Sonst befand sich niemand weiter im Raum.

„Du bist müde, oder?“

Light hob den Blick, der ihm für einige Sekunden entglitten war.

„Ein wenig. Was machen wir nun?“

„Uns im Kreis drehen“, antwortete L und Light schmunzelte leicht, „zumindest gedanklich. Ich lasse alles noch einmal Revue passieren und stoße immer wieder auf das gleiche Ergebnis. Das stört mich, weil ich weiß, dass es letztendlich keinen Fehler in der Kombination gab.“

Für einen Moment brannte Light eine Frage auf den Lippen, doch er entschied sich dagegen, sie zu stellen. Störte L am Ende vielleicht nur die Vorstellung, Light könnte nicht Kira sein? Wollte er nur keinen Fehler begangen haben oder jagte er vergeblich ein Ideal?

Stattdessen sagte Light nach einer Weile:

„Man sieht es dir nicht an, L... aber du bist ein Perfektionist.“

Erstaunt schaute L auf, entgegnete jedoch bloß:

„Das hat mir noch nie jemand gesagt, der mich gesehen hat.“

„Der dich gesehen hat? Wenn du das so formulierst, dann klingt es, als sei dir dein Auftreten ganz anders bewusst, als ich anfangs dachte.“

Dieses Mal erwiderte L nichts. Eine seltsame Kälte durchlief Lights Körper, die er sich nicht erklären konnte. Das Schweigen zwischen ihnen vermittelte ihm ein Gefühl, das unangenehm war und ihn dennoch ungewohnt mit seinem Freund verband.

Mit seinem Freund? Light hätte einiges dafür gegeben, in diesem Augenblick Ls Gedanken lesen zu können.
 

Als Light am nächsten Tag erwachte, taten ihm sämtliche Knochen weh. Er war auf dem Stuhl sitzend eingeschlafen, ein Stechen breitete sich in seinem Kopf von der Stelle aus, mit der er auf dem Tisch gelegen hatte. Jemand hatte ihm eine Decke über die Schultern gelegt. Sein Vater war verschwunden, doch L saß noch immer in der gleichen Position auf seinem Stuhl, als hätte er sich die gesamte Nacht keinen Zentimeter bewegt.

„Wie spät ist es?“

„Sieben Uhr Achtunddreißig“, antwortete L, ohne sich dabei umzuwenden.

„Noch eine Nacht halte ich nicht so aus.“ Light begann sich zu strecken und warf dann einen Blick auf den Computermonitor, den L unentwegt anstarrte. Dort war allerdings nichts weiter zu sehen als der Desktop, kein einziges Programm war geöffnet. „Ryuzaki, ich würde es bevorzugen, in einem richtigen Bett zu schlafen.“

Es dauerte lang, bis L auf diesen Hinweis reagierte:

„Das ist in Ordnung. Die anderen sind unterwegs, um alles für unseren Umzug vorzubereiten. Bis dahin sind es nur noch wenige Tage. Abgesehen von deinem Vater wirst auch du deine Familie kaum mehr sehen, Light-kun. Möchtest du jetzt etwas essen?“
 

„Ich habe das Gefühl, wir wären keinen einzigen Schritt vorangekommen.“

Während L am Rand des Bettes saß und auf seinem Daumennagel herumbiss, gab er keine Antwort auf Lights Aussage, als habe er ihn nicht gehört. War er angespannt oder nervös oder lediglich durch seine Überlegungen abwesend? Es war schwierig für Light, das Verhalten seines Partners zu entschlüsseln, der ihm kaum Einblick in seine Gedanken gewährte.

Davon abgesehen fand Light die derzeitige Situation selbst befremdlich. Im Frühling dieses Jahres hatten sie einander kennen gelernt und eine außergewöhnliche Freundschaft geschlossen. Bis dahin hätte er niemals damit gerechnet, dem berühmten Detektiv leibhaftig zu begegnen. Sie hatten in der Universität oft gute Gespräche geführt und darüber hinaus im Kira-Fall zusammengearbeitet. Dann war Misa inhaftiert worden, kurz darauf hatte sich auch Light aus irrwitzigen Selbstzweifeln heraus festnehmen lassen und war wochenlang eingesperrt, schon fast dem Wahnsinn verfallen. L hatte in den letzten Monaten sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Und jetzt waren sie hier, im schick möblierten Zimmer eines der zahlreichen Hotels im Herzen Tokyos. Eigentlich war die ganze Sache wirklich absurd. Kaum zu glauben, dass der geheimnisvolle L, der vorher niemandem auch nur sein Gesicht gezeigt hatte, nun ein derartiges Eindringen in seine Privatsphäre gestattete.

Einen Perfektionisten hatte Light ihn gestern genannt. Wenn man ihn sah, in nachlässiger Kleidung, miserabler Körperhaltung, mit wirren Haaren, dann konnte man L tatsächlich kaum für einen Perfektionisten halten. Doch dahinter lag weit mehr, als der erste Blick vermuten ließ. Selbst wenn er sich zu hundert Prozent sicher war, würde L niemals seine Prinzipien verraten und einen deduktiven Schluss ohne den letzten Beweis mit allen Mitteln durchsetzen. Sonst wäre Light jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit schon tot. Das war wohl der Grund dafür, warum L derzeit so frustriert wirkte.

„Vielleicht können wir in ein paar Tagen im neuen Quartier unter besseren Bedingungen arbeiten“, fuhr Light fort, wobei er umständlich seine Stoffhose auszog, um sie gegen Sachen für die Nacht einzutauschen.

„Jedenfalls“, entgegnete L endlich, ohne sich dabei zu rühren, „wären wir dort vorerst sicher.“

Light schaute irritiert zu seinem Kollegen hinüber, wobei er sein Hemd aufknöpfte. Dann sagte er jedoch nur:

„Glaubst du, dass ich mich so umziehen kann?“ Er hob den Arm mit den Handschellen. L starrte einen langen Moment aus seinen dunkel umschatteten Augen auf das Metall.

„Schließ die Augen, Light-kun.“

Der Aufforderung nachkommend spürte Light kurz darauf kühle Finger an seinem Handgelenk, anschließend lockerten sich die Handschellen und wurden vollends gelöst. Doch mehr noch, Light fühlte die fremden Finger seine Arme hinaufgleiten, wo sie das Hemd von seinen Schultern streiften. Überrascht öffnete er die Augen und schaute L, der dicht vor ihm stand, in sein emotionsloses Gesicht. Nichts war aus dessen Blick zu lesen. Er hielt Light das Oberteil seiner Schlafsachen entgegen und beobachtete ihn unverwandt. Nachdem Light vollständig umgezogen war, rasteten sofort die Handschellen wieder ein und stellten erneut die Verbindung her, die L in der Zwischenzeit mit seinem Blick aufrechterhalten hatte.

„Wir wären dort sicher, meinst du“, griff Light den Faden wieder auf. „Du bist von deiner Wichtigkeit wirklich überzeugt, nicht wahr?“ Er sagte dies ohne Vorwurf, Skepsis oder Spott. In seiner Stimme lag lediglich die Gewissheit, dass er diesen Gedanken durchaus nachvollziehen konnte. L hatte sich wieder an den Bettrand gesetzt und starrte auf seine Füße, die er an den Körper gezogen hatte.

„Das ist der eine Grund“, erwiderte er, „der andere ist der natürliche Trieb des Menschen zur Selbsterhaltung.“

„Angst?“, fragte Light interessiert und setzte sich neben ihn.

„Eine gute Frage. Über den Menschen wurde schon vieles gesagt, Positives wie Negatives. Er wird dem Tier gleichgestellt, über es erhoben oder auch als das niederste Lebewesen überhaupt betrachtet. Aber was steht am Ende im Mittelpunkt?“

„Das Leben.“

„Und die Sterblichkeit, die jedem allzeit bewusst ist. Exakt.“

„Aber das ist doch auch gut so.“ Light ließ sich bei diesen Worten zurück auf das Bett fallen und schaute zur Decke. „Der Wunsch zur Selbsterhaltung führt dazu, dass sich Lebewesen zusammenschließen. Ohne diese Neigung zur Gemeinschaftsbildung wäre der heutige Mensch wahrscheinlich nie entstanden.“

„Weil wir allein nicht überleben können, Light-kun?“ Ls Stimme schwankte zwischen einer Frage und dem Aufstellen einer These. Deshalb wusste Light nicht, ob L von ihm eine Antwort erwartete. Doch bevor er sich darüber klar werden konnte, sprach dieser bereits weiter. „Der Wille zur Selbsterhaltung ist allerdings nicht das einzige Motiv, das den Menschen antreibt.“

Light schaute im Liegen zu seinem Kollegen hinüber und ließ das Schweigen seine Frage stellen, bis L schließlich hinzufügte:

„Der andere Grund ist die Ruhmsucht.“
 

Durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel das Licht der Nacht herein und malte helle Muster auf den Boden und die Wände des Raumes. L lag im Bett und gab sich der Sinnestäuschung hin, dass die dunklen Umrisse seiner Umgebung abwechselnd unscharf wurden, um sich kurz darauf wieder deutlich vom Hintergrund abzuheben. Er hatte Light den Rücken zugewandt und hörte dessen leisen, gleichmäßigen Atem.

Ein eisiger Schauer lief durch Ls Körper, als er sich vorstellte, dass jener nur so tat, als würde er schlafen. Fast spürte er Lights stechenden Blick im Nacken, die Mordlust und den Wunsch zum Sieg.

Angst? Als Light diese Frage vorhin an ihn stellte, fehlte der herablassende Tonfall, den L von Kira erwartet hätte. Welche Bedeutung jemand für das Wohl der Gesamtheit hatte, warum Menschen lebten, was sie motivierte und streben ließ, das alles konnte nicht mit ein paar simplen Worten umfasst werden. Diente die Erschaffung einer perfekten Welt dazu, um in ihr zum Gott aufzusteigen? Oder wollte Kira ein Gott werden, um die perfekte Welt zu erschaffen? L hatte es absichtlich reduziert, um bei seinem Gegner eine verräterische Reaktion zu provozieren. Doch diese blieb aus. Es schien beinahe, als hätte sich der selbsternannte Gott, der in Wirklichkeit nichts weiter war als ein gefürchteter Serienkiller, plötzlich vor Ls Augen in Luft aufgelöst. Oder schlief das Ungetüm nur, um im geeigneten Moment loszuschlagen? Lag es womöglich direkt in seinem Rücken und starrte ihn voller Blutdurst an?

L setzte sich vorsichtig auf und schaute zu Light hinab. Es war keine Angst, die er empfand, während er das schlafende Gesicht im Halbdunkel betrachtete. Da waren viele widerstreitende Gefühle, die er zuvor nicht gekannt und die erst Light in ihm hervorgerufen hatte.

Und dieses eine Gefühl, das ihn jetzt fortwährend wach hielt, war der Wille, nicht zu verlieren.

Selbstjustiz

Selbstjustiz
 

Matsuda streckte sich und gähnte unverhohlen, bevor er den Blick durch den Raum schweifen ließ, um die anwesenden Männer einen nach dem anderen zu mustern. Herr Yagami saß in einem Sessel und starrte auf die Seiten der Zeitung, die er in der Hand hielt. Nicht weit entfernt hatte sich L ebenfalls niedergelassen, in seiner eigenen ungewöhnlichen Haltung, und aß gelangweilt ein Stück Kuchen. Nur Light war damit beschäftigt, an einem Computer zu arbeiten, und widmete dieser Tätigkeit seine ganze Aufmerksamkeit.

„Ich finde es toll, dass du wieder bei uns bist.“ Mit diesen Worten und aller Fröhlichkeit seiner Person richtete sich Matsuda an Light, der seine Arbeit für einen Moment unterbrach und ihn irritiert ansah. „Mir war von Anfang an klar“, fuhr der junge Polizist fort, „dass du auf keinen Fall Kira bist.“

„Wie kommen Sie jetzt darauf, Matsuda-san?“ Light lachte, wenn auch noch immer verwirrt.

„Nun, weißt du...“ Mit verschränkten Armen und einem wissenden Gesichtsausdruck lehnte sich Matsuda mit dem Rücken gegen eine Kommode. „Ich musste daran denken, was du damals gesagt hast, kurz vor deiner Inhaftierung. Du meintest, es wäre dir schon oft durch den Kopf gegangen, eigenhändig über manche Verbrecher zu richten. Ich kann das verstehen und das macht dich so menschlich.“

„Menschlich?“, wiederholte Light skeptisch. „Das wäre aber keine abgrenzende Eigenschaft. Denn was sollte Kira sonst sein, wenn nicht ein Mensch?“

„Ich meine, du hast dich gestellt und nicht versucht, dich irgendwie rauszureden! Ich glaube nicht, dass Kira das getan hätte.“

„Danke, Matsuda-san.“ Light lächelte und drehte sich auf seinem Stuhl zu den restlichen Anwesenden herum. „Aber das habe ich damals wegen meiner eigenen Unsicherheit gesagt, weil ich Angst hatte, Kira zu sein und anderen Menschen zu schaden. Natürlich meinte ich es ernst. Doch ich weiß, dass ich mir niemals das Recht herausnehmen würde, mit einer solchen Fähigkeit nach eigenem Ermessen zu handeln. Das würde nicht funktionieren, wenn ich als einzige Person selbstgerecht handle, in einer Welt des ethnologischen Relativismus.“ Eine Augenbraue Matsudas zuckte unmissverständlich nach oben, sodass Light seufzte und zu erläutern versuchte: „Das bringt unser gesellschaftliches System mit sich. Wie soll ich das erklären...?“

„Unsere jetzige Zeit“, half L ihm weiter, ohne von seinem Stück Kuchen aufzuschauen, „die Situation der Postmoderne ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ideal der einen, uniformen Vernunft in den Plural disparater Vernünftigkeiten und das polymorphe Nebeneinander divergierender Lebensentwürfe und Weltanschauungen zerbrochen ist.“

„Genau“, bestätigte Light mit einem Nicken, „so fragt man sich, ob nicht ein moralischer Nihilismus anerkannt werden sollte, weil Mitleid eine individuelle Befähigung und Vernunft keine ausreichende Begründung ist.“

„Genau?“, sprach Matsuda unbewusst nach, während sich in seinem Gesicht noch mehr Unverständnis widerspiegelte.

„Das heißt nur, dass wir alle unterschiedlich leben und denken“, erklärte Herr Yagami von der Seite und wirkte dabei etwas steif. „Darum ist es nicht gut, wenn ein Einzelner allen anderen seine Gerechtigkeitsvorstellung aufzwingt.“

„Ich will mich natürlich nicht auf Kiras Seite stellen“, warf Matsuda halb protestierend ein, „aber seitdem er das Ruder in die Hand genommen hat, ist die Verbrechensrate gesunken.“

„Das lässt sich leider kaum leugnen.“ Herr Yagami hatte seine Zeitung sinken lassen und schaute nachdenklich zu Boden. „Aber Selbstjustiz ist keine Lösung.“

„Und was soll mit einer solch perfekten Welt auch erreicht werden?“ L hielt seine Kuchengabel zwischen Daumen und Zeigefinger nach oben und schaute an der aufgespießten Erdbeere vorbei direkt in Matsudas Gesicht. „Eine schöne neue Welt? Oder die Rückreise zum Jahr 1984? Wir sollten uns da keine illusorischen Vorstellungen machen. Sobald Kira gerichtet ist, wird alles wieder so sein wie früher. Nichts wird sich verändert haben.“

„Außerdem“, fügte nun Light hinzu, „hat Kira all das nur durch Gewaltanwendung und die Verbreitung von Angst erreicht. Der Mensch ist dadurch nicht besser geworden, auch wenn sich unsere Gesetze genauso wenig ohne Sanktionen durchsetzen lassen. Wenigstens besteht in unserer Verfassung eine Zustimmung der großen Mehrheit, sonst gäbe es für niemanden mehr Sicherheit in unserem Land.“

„Sicherheit?“, fragte L und sprach das Wort aus, als würde er es im Mund herumwenden, um es von allen Seiten zu betrachten. „Meinst du, dass man jeden Bürger vor sich selbst und seinen Mitmenschen beschützen muss, Light-kun?“

Der Sohn des Polizeichefs schwieg einen Augenblick überlegend und nickte dann.

„An sich schon. Warum sonst besitzt Justitia ein Schwert? Ohne das Schwert bliebe die Gerechtigkeit ein bloßes Wort, das keine Kraft besäße, um dem Menschen auch nur einen Hauch von Sicherheit zu geben. Wo keine allgemeine Gewalt ist, da existieren keine Gesetze.“

„Aber wo es kein Gesetz gibt, da herrscht auch keine Ungerechtigkeit. Das, woran wir uns halten, ist der allgemeine Wille, der sich am Ende durchgesetzt hat.“

Matsuda presste die Lippen aufeinander, während er der Unterhaltung zu folgen versuchte, und integrierte sich nun vorsichtig:

„Na ja, genau dadurch passiert es doch, dass Menschen ungerecht behandelt werden. Weil unsere Gesetze zu starr sind. Und die Verbrecher nutzen sie doch ebenfalls.“

Überrascht musterte L den oftmals naiv erscheinenden Mann.

„Matsuda-san etwas Intelligentes sagen zu hören, das ist wirklich eine erstaunliche Erfahrung. Sie meinen also, dass Gesetze nicht nur die Opfer schützen, sondern auch die Verbrecher?“

„Äh, ich glaube schon?“ Unsicher kratzte Matsuda sich am Hinterkopf, wobei seine Antwort eher wie eine Frage klang. Jetzt schaltete sich sein Vorgesetzter ein:

„Wahrscheinlich will Kira darum das gleiche wie unsere Gesetzgebung. Er will den Menschen die Sicherheit zurückgeben, aber seine Mittel sind falsch. Er kann nicht gleichzeitig richterliche und exekutive Gewalt spielen.“

„Denn genau damit“, fügte sein Sohn hinzu, „stellt er sich diktatorisch über das Gesetz. Er sieht sich selbst nicht als Teil des Staates.“

L schob sich die Erdbeere zwischen die Zähne und sagte mit vollem Mund:

„Wie heißt es doch? Wer sich in den Staat nicht integriert, ist entweder eine Bestie oder Gott. Und letzteres ist genau das, was Kira sein will.“
 

Während sich Light seiner Sachen entledigte, versuchte er den stechenden Blick seines Ermittlungspartners zu ignorieren. Immer wenn die Eisenkette gelöst wurde, die sie miteinander verband, hatte Light das Gefühl, er würde noch genauer beobachtet werden als sonst. Er fröstelte und sein Atem wurde von den Kacheln des Badezimmers zurückgeworfen.

„Leider sind wir auch heute nicht weitergekommen“, versuchte er nun die unangenehme Stille zu überbrücken. „Ryuzaki, vorhin sprachen wir doch über Kiras Beweggründe für sein Handeln, du erinnerst dich? Du meintest, Kira wolle nicht nur die Gerechtigkeit verkörpern, sondern selbst zu einem Gott aufsteigen.“

„Siehst du das etwa nicht so?“ Unverwandt schaute L ihm ins Gesicht, als Light bereits entkleidet vor ihm stand.

„Ich bin mir nicht sicher. Schließlich scheint es doch so zu sein, dass erst das Volk ihn zu einer Gottheit erhoben hat. Selbst der Name Kira ist das Pseudonym für die Gerechtigkeit in den Köpfen der Masse geworden, etwas, an das jeder glauben kann.“

„Das ist das Problem“, erwiderte L, während Light in die Duschkabine stieg, „der Mensch braucht etwas, das er anbeten kann. Und dieses Etwas muss über allen Zweifel erhaben sein, sodass es jeder anbetet. Dadurch wird überall nur von falschen Göttern gesprochen und jeder meint, sein eigener Glaube sei der richtige. So wie du vorhin schon vom ethischen Nihilismus sprachst, herrscht in diesem Falle bereits ein religiöser Nihilismus.“

„Abgesehen von atheistischen Vorstellungen, die mittlerweile ebenfalls zur Norm geworden sind.“ Das einsetzende Rauschen des Wassers unterbrach für einen Moment ihre Unterhaltung, bis Light es wieder abstellte, um sich einzuseifen. Dabei sprach er mit nachdenklicher Stimme weiter: „Doch selbst wenn ein allgemeiner Agnostizismus sich immer weiter ausbreitet, klammern sich die Menschen an den letzten Rest von Mystik. Da hast du schon Recht.“

„Dabei spielt es am Ende gar keine Rolle. Der Vergleich von Kira mit Gott stört mich nicht, weil er viele Gemeinsamkeiten aufweist.“ Light schaute irritiert auf. Noch immer lehnte L mit dem Rücken an der Wand, die Hände in den Hosentaschen, ohne dass man seinen Gesichtsausdruck deuten konnte. „Gott gilt meist als gütig und allmächtig. Hier kann sich die Frage einschalten, ob Kira gut oder böse ist. Das ist eine einfache Rechnung, die zu beiden Seiten der Gleichung aufgelöst werden muss. Wenn Gott gütig und allmächtig ist, dann gibt es kein Leiden in der Welt. Aber es gibt Leid in der Welt. Also ist Gott nicht gütig oder nicht allmächtig. Das gleiche gilt für Kira.“

„Vor allen Dingen, weil bei Kira kein Entweder-oder besteht“, entgegnete Light und drehte das Wasser wieder auf. Nachdem er sich abgespült hatte und aus der Kabine gestiegen war, fügte er lächelnd hinzu: „Religiöse Anschauungen mathematisch zu berechnen ist äußerst ungewöhnlich.“

„Findest du?“, fragte L und reichte ihm ein Handtuch.
 

Das Wetter war mild gewesen an jenem Tag. Seit dem Beginn des Semesters hatten Light und L ständig Zeit miteinander verbracht. Light konnte sich nicht daran erinnern, dass er je zuvor eine vergleichbare Bekanntschaft geschlossen hatte. Hatte bis dato überhaupt eine Person einen solch prägnanten Eindruck bei ihm hinterlassen?

An diesem Tag, der nun schon seit Ewigkeiten Vergangenheit zu sein schien, hatten sie sich zu einem Tennismatch verabredet. Ein Freundschaftsspiel, nichts weiter.

Doch so unterschiedlich die beiden Männer auch waren, so hatten sie doch viele Dinge gemeinsam. Beide wollten nicht verlieren.

Während sich die Situation in Lights Kopf wiederholte, wurde ihm immer deutlicher bewusst, dass er das Geschehnis im Schlaf Revue passieren ließ. Die Bilder jenes Tages liefen im Stakkato an seinem inneren Auge vorbei, wobei er das Gefühl hatte, jeden einzelnen Schlag real auszuführen. Ein luzider Traum, dachte Light unbewusst und konzentrierte sich wieder darauf, mit aller Kraft den nächsten Ball anzunehmen.

Warum war er so versessen darauf gewesen, dieses Match für sich zu entscheiden?

Er hatte geglaubt, zwischen ihnen, dem Sohn des Polizeichefs und dem bekanntesten Detektiv der Welt, könnte nie eine normale Freundschaft bestehen. Jetzt verstand Light diese Zweifel nicht mehr, denn letztlich war die ganze Sache nur eine Frage der Definition.

Wahrscheinlich hatte es ihn deshalb innerlich so hart getroffen, als L ihm eröffnet hatte, dass er Light für Kira hielt.
 

„Light-kun?“

Seine Augenlider zuckten, doch gab er nur einen leisen unbestimmten Laut von sich und drehte sich auf dem Bett herum.

„Light-kun.“

Nun öffnete er verschlafen die Augen und stellte verwundert fest, dass noch tiefste Nacht zu sein schien, da nur die Dunkelheit von draußen hereindrang. In Lights rechter Schläfe pochte es schmerzhaft. Er hatte in letzter Zeit eindeutig zu wenig Schlaf.

Langsam setzte er sich auf und fuhr sich mit der vom Metallring taub gewordenen Hand durchs Haar. Im nächsten Moment erhellte das schwache Licht der Nachttischlampe den Raum. Light schaute in große, dunkle Augen, die seinen Blick suchten und deren Ausdruck schwer zu lesen war. Ls Gedanken zu erraten war die eine Sache, seine Gefühle eine ganz andere. Darum fragte Light nachsichtig:

„Was ist los, Ryuzaki?“

„Nichts, ich wollte nur aufstehen.“

Light gab darauf keine Erwiderung, sondern atmete nur tief ein und aus, bevor er sich ungelenk erhob. Er war nicht wütend. So war L eben, denn er hatte offenbar noch mehr in seinem Inneren zu verbergen als nur seinen Namen. Einen Herzschlag lang fühlte Light sich hilflos.

„Kannst du nicht schlafen?“ Die Frage klang in seinen eigenen Ohren seltsam, als würde er ein kleines Kind trösten, das aus einem Alptraum erwacht war. Diese Vorstellung widersprach jedoch dem, was er tatsächlich empfand.

„Ich weiß es nicht“, antwortete L schlicht, wobei er sich ebenfalls erhob. Er stand unschlüssig im Raum und biss auf dem Daumennagel seiner rechten Hand herum.

„Willst du vielleicht“, versuchte Light es weiter, „etwas essen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wir können auch weiter arbeiten.“

„Das ist doch sinnlos, Light-kun.“ Kurzentschlossen ging L zum Fenster, wobei er den Anderen mit sich zog. Ein ernster, undurchdringlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als er am Fensterrahmen lehnte und hinaussah. Light war aufgrund der letzten Aussage Ls noch immer verwirrt. Was war sinnlos und wieso? Doch er entschied sich dagegen, ihn auf diese Dinge anzusprechen. Stattdessen sagte er:

„Ich bin nicht nur dein Partner in diesem Fall, Ryuzaki. Du kannst... mir alles sagen. Erinnerst du dich nicht, was du damals gemeint hast?“

Light schaute ebenfalls in die Nacht hinaus, da L seinen Blick nicht erwiderte. Dieser antwortete nun mit monotoner Stimme:

„Dass du mein erster und einziger Freund bist?“

„Genau.“

„Bei meiner Ermittlungsarbeit gehe ich nicht nur von Statistiken und Fakten aus. Auch menschliche Emotionen berechne ich mit ein. Dir zu sagen, dass ich dich als Freund sehe, hätte dich als Kira vielleicht in deiner Menschlichkeit angesprochen und Hemmungen in dir aufgebaut. Oder es hätte dir ein Gefühl von Sicherheit gegeben, sodass du unbedacht handelst...“

„Was soll das jetzt plötzlich?!“ Light fasste L an den Schultern und hielt ihn fest, damit er ihm ins Gesicht sehen konnte. Die Ringe unter dessen Augen wirkten durch das gedämpfte Licht noch dunkler als sonst. Irgendwie schien es, als sei L erschöpft, doch Light war sich nicht sicher, ob er sich das vielleicht nur einbildete. Nach einer langen Pause, die nur vom Schweigen der beiden erfüllt war, entgegnete L:

„Fast könnte man meinen, es würde dich wirklich stören, was ich eben gesagt habe.“

„Natürlich stört es mich!“ Light hielt inne. Plötzlich nahm er bewusst wahr, dass er L noch immer an den Schultern festhielt und dieser unverwandt seinen Blick erwiderte. Und auf einmal wurde ihm etwas klar. „Du testest mich schon wieder, Ryuzaki. Dabei solltest du wissen, dass ich dir vertraue. Und ich sollte wohl akzeptieren, dass du mir ebenfalls vertraust, aber auf andere Weise und mit anderen Auswirkungen. Sonst würdest du meine Nähe nicht so dulden.“

Diesmal lag Verwunderung in Ls Augen, während er fragte:

„Ist das so?“

„Ja, vielleicht auch nur unbewusst. Du wirkst oft so, als fändest du die Berührungen anderer abstoßend, aber manchmal unvermeidlich.“

L schaute hinab auf Lights Hände, die auf seinen Schultern ruhten, und meinte:

„Nein, so etwas fühle ich im Moment nicht.“

„Gut.“ Light lächelte. „Was ist dann also los?“

Wieder baute sich zwischen ihnen Stille auf, die jedoch eher erwartungsvoll als unangenehm war. In Gedanken versunken ließ L den Blick nach draußen gleiten. Die unbekannte, neuartige Nähe war tatsächlich nicht störend. Ganz im Gegenteil. Schließlich sagte er:

„Es tut mir sogar ein wenig leid. Du weißt, dass ich dich oft im Unklaren lasse, dich manchmal sogar belüge. Auch wenn du im Moment die Wahrheit sagst, denke ich, dass das auf Gegenseitigkeit beruht.“

Zuerst wollte Light protestieren, besann sich dann jedoch eines Besseren.

„Du vernachlässigst eben nie deine Deckung.“ Seufzend löste er seine Hände von L. „Davon abgesehen, wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist. Wenn du mir allerdings nur von deinen Gefühlen erzählst, einfach nur davon, was in dir vorgeht, könnte ich dir damit selbst als Kira nicht schaden.“

„Wie ich mich fühle?“ L hatte sich ihm wieder zugewandt, die Augen voller Erstaunen geöffnet, als würde er das Wort „Gefühle“ zum ersten Mal hören. Dann antwortete er jedoch: „Ich sagte doch schon, dass wir uns im Kreis drehen. Dadurch fühle ich mich unbefriedigt und ziellos. Für einen kurzen Moment kommt der Wunsch zurück, etwas zu bewirken, etwas zu erreichen, aber die Entscheidung fällt mir schwer. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll und irre nur in meinen Gedankengängen umher, die keinen Sinn mehr zu ergeben scheinen. Oder doch, sie ergeben Sinn, aber der Beweis fehlt mir. Warum reicht es nicht, dass ich weiß, dass du Kira bist?“

„Ich bin nicht Kira!“ Light hatte nicht erwartet, dass sein Freund so viel über sich erzählen würde, doch die jetzige Wendung gefiel ihm nicht.

„Vielleicht meinst du nur, dass du nicht Kira bist. Warum wehrst du dich so sehr gegen diesen Gedanken?“

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass es sich furchtbar anfühlt, unter diesem Verdacht zu stehen.“ Natürlich hatte L den Abend nicht vergessen, als er Light das Zugeständnis gemacht hatte, dass sich ein solcher Verdacht wahrscheinlich schrecklich anfühlen musste. Dennoch konterte er:

„Solange du selbst weißt, dass du es nicht bist, kann dir das doch egal sein.“

„Aber du bist nach wie vor davon überzeugt, dass ich Kira bin.“ Jetzt glaubte auch Light, sie würden sich im Kreis drehen. Hatte das alles überhaupt einen Sinn? L legte interessiert einen Finger an die Lippen und fragte:

„Also spielt meine Meinung eine wichtige Rolle für dich?“

„Natürlich... wie oft sollen wir noch darüber diskutieren, dass wir Freunde sind. Als Freund ist es mir wichtig, was du von mir denkst, ganz unabhängig von der gesamten Ermittlung um Kira.“

„Und wenn die Tatsache, dass du Kira bist, nichts an meinen Gefühlen dir gegenüber ändern würde, Light-kun?“ Ganz im Gegenteil, setzte L seinen Gedanken fort, wenn ich mir sogar wünsche, du seist Kira?

Light fuhr sich zum wiederholten Mal durch das Haar und schloss die Augen. Er war müde, verwirrt und nicht mehr gewillt, sich weiter mit einer Sache auseinanderzusetzen, die er eigentlich längst akzeptiert haben sollte. Darum sagte er schließlich:

„In dieser Angelegenheit denke ich wie mein Vater. Ich glaube nicht an Gerechtigkeit durch Selbstjustiz.“

L schaute noch einen langen Moment in jene klaren braunen Augen, die von keiner Unsicherheit getrübt waren, und nickte dann. Er würde Light nicht darauf ansprechen, weshalb er der Frage ausgewichen war. Vielleicht war es ihm selbst nicht bewusst.

Das danach eintretende Schweigen würde noch den Rest der Nacht zwischen ihnen bestehen.

Ein neues Gefängnis

Ein neues Gefängnis
 

Obwohl die Nacht bereits hereinbrach, war es ungewöhnlich hell, da der von Wolken bedeckte Himmel die Lichter der Stadt zurückzuwerfen schien. Kein einziger Stern war zu sehen.

Als Inspektor Yagami den Wagen in die unterirdische Garage fuhr, umgab die Insassen sofort grelles, kaltes Neonlicht. Light sah zu, wie sein Vater auf Ls Anweisung hin den Arm aus dem Fenster streckte, um auf einer Schalttafel einen Code einzugeben und anschließend seinen Fingerabdruck scannen zu lassen. Danach mussten die drei Männer noch einige Sicherheitsvorkehrungen über sich ergehen lassen, bevor sie in das Herz der neuen Zentrale vordringen konnten. Light war nicht überrascht, dass hier ein ganzes Arsenal an Computermonitoren auf sie wartete. Die Umgebung war steril, als hätte noch nie ein Mensch seinen Fuß auf diesen Boden gesetzt oder mit seiner Hand die Geräte berührt. Er fragte sich, für welchen Zeitraum dieses Gebäude ihr neues Zuhause werden würde, und spürte dabei deutlich das Gewicht der Handschellen.

„Was ist mit dir, Light-kun?“

Der junge Mann wandte den Blick zur Seite und schaute in Ls rabenschwarze Augen.

„Nichts, es war nur...“ Light dachte einen Moment nach und kam schließlich zu dem Schluss, dass eine ehrliche Aussage keine Auswirkungen auf die Situation haben würde. Deshalb antwortete er: „Wenn ich dieses Gebäude sehe und dann an die Handschellen denke, dann habe ich kurzzeitig das Gefühl, mich wieder in einem Gefängnis zu befinden.“

„Light!“, ermahnte Herr Yagami seinen Sohn.

„Das ist schon in Ordnung“, beschwichtigte ihn L, „gegen das eigene Empfinden kann man nichts machen. Die ehrliche Meinung Ihres Sohnes wirft gewiss kein schlechtes Licht auf ihn.“ Damit ging er zu dem Überwachungssystem hinüber und schaltete es mit wenigen Handgriffen ein, sodass auf den Bildschirmen etliche Zimmer aus den unterschiedlichsten Perspektiven erschienen. „In der Theorie“, sagte L dann und deutete auf die verschiedenen Monitore, „hat Light-kun sogar recht. Ein Gefängnis erfüllt die Anforderungen von Sicherheit und Ordnung, so wie viele andere Institutionen auch. Die ersten Formen der Inhaftierung existierten bereits sehr früh und selbst für den Minimalstaat ist irgendeine polizeiliche Instanz unentbehrlich.“

„Was redet ihr da schon wieder?“ Matsuda war soeben eingetreten und stellte die Frage teils belustigt, teils peinlich berührt. Der Polizeiinspektor fügte nachdenklich hinzu:

„Ich wüsste auch nicht, wie ich das verstehen soll. Ich bin Polizist aus Leidenschaft und das gilt sicher auch für Matsuda. Aber an die zurückliegenden Enttäuschungen können wir uns noch gut erinnern. Darum sind wir doch hier, um als einzelne Menschen unser Ideal von Gerechtigkeit zu vertreten. Nicht alle am Kira-Fall Beteiligten sind Polizisten und auch die Lenkung durch das polizeiliche Institut ist kaum mehr vorhanden.“

„Genau diesem Prinzip“, erläuterte Light nun, während er sich auf einen Drehstuhl fallen ließ, „folgt auch die minimalstaatliche Konzeption, von der Ryuzaki spricht. So wird ein politisches Gemeinwesen bezeichnet, das vom Menschen und nicht vom Staat gelenkt wird. Die Funktionen des Staates sind auf ein Minimum reduziert, auf den Schutz des Eigentums und der Person. Dazu ist allgemein gesehen eine Rechtsinstanz wie die Polizei nötig.“

L bestätigte die kurze Erklärung mit einem Nicken und fuhr fort:

„Bedenkt man dies alles, ist das Gefängnis auch die Geburt der Anstalt oder der Schule. Die Funktionen dieser Einrichtungen sind ähnlich.“

„Anstalt oder Schule?“, wiederholte Herr Yagami ungläubig. „Kann man das miteinander vergleichen?“

„Wenn man unsere Gesellschaft als Räderwerk betrachtet, dann schon“, antwortete Light an Ls Stelle, „aber ich weiß nicht, ob mir dieser Gedanke gefällt.“

„Mit einer solchen Vorstellung muss man sich nicht moralisch arrangieren“, meinte L, wobei er seine Aufmerksamkeit von Herrn Yagami auf Light richtete, „schließlich ist das nur ein Konzept, um sich vorzustellen, wie unsere Gesellschaft funktioniert oder funktionieren könnte. Mit individuellen Anschauungen hat das nichts zu tun, auch wenn ich weiß, was du damit ausdrücken willst. Ansonsten passt der Vergleich mit einem Räderwerk sehr gut.“ Damit wandte er sich von Light wieder an dessen Vater. „Die Schule ist das Instrument zur Konditionierung der nachfolgenden Generation. Um in der Moderne leben zu können, reicht in der Regel die Betreuung durch die Eltern nicht aus. Darum dient die Schule der Integration neuer Räder in das Räderwerk. Anstalt und Gefängnis dagegen sondern die kaputten Teile des Getriebes aus. Letzten Endes bestimmt unsere Gesellschaft, wer normal ist und wer nicht, wer sich integriert und funktioniert und wer nicht.“

Light verschränkte seine Arme vor der Brust und seufzte skeptisch:

„Aber was wäre dann noch Gerechtigkeit? Dann würde sich uns nicht mehr die Frage stellen, was gerecht ist, sondern was der Norm entspricht. Und der Mensch ist dann nicht mehr als ein genormtes Subjekt.“

„So kann man es aber auffassen, Light-kun. Das gesellschaftliche Leben bestimmt das Bewusstsein des Menschen, nicht andersherum. Eine Person entwickelt sich erst durch ihre Sozialisation.“

„Das stimmt zwar, aber es öffnet auch Tür und Tor für die Legitimation der Ungerechtigkeit durch den Staat. Ein Dieb oder Gewaltverbrecher kann sich dann einfach aus der Affäre ziehen, indem er meint, das Ghetto hätte ihn so werden lassen. Kriminelle Wohnviertel entstehen aber nicht aus sich selbst heraus. Die dort lebenden Menschen machen eine solche Gegend erst zu einem belastenden Faktor für die menschliche Psyche. Ansonsten klingt es so, als wärest du der Meinung, Kira selbst könnte nichts für sein Handeln.“

Light hatte das Gefühl, von Ls schwarzen Augen durchbohrt zu werden, als dieser fragte:

„Bist du denn absolut sicher, Kira hätte anders handeln können?“

Auf einmal kam es Light so vor, als hätten er und L die Seiten getauscht. Klangen die letzten Worte des Detektivs nur in seinen eigenen Ohren wie eine Verteidigung Kiras? Oder verbarg sich hier ein neuer Trick, um Light als etwas zu entlarven, was er nicht war?

Bevor er antworten konnte, fügte L noch hinzu:

„Du meintest doch, du würdest keine Selbstjustiz walten lassen. Aber wie können wir uns eine Meinung über einen Anderen erlauben, wenn wir uns nicht selbst in seinen Schuhen befinden? Weißt du denn, wie du mit der Fähigkeit Kiras handeln würdest, Light-kun?“

An diesem Punkt unterbrach Herr Yagami die Konversation:

„Jungs, ihr solltet anfangen in seichteren Gewässern zu fischen. Durch diese ganzen Gesprächsthemen macht ihr euch irgendwann noch eure Köpfe kaputt.“ Er klopfte seinem Sohn schwach lächelnd auf die Schulter. Light erklärte sich mit einem Nicken einverstanden, das Thema vorerst zu beenden.

„Ich habe gehört“, wandte sich nun Matsuda an Light und grinste dabei unverhohlen, „Misamisa verlangt ein Date von dir, sobald sie hier eintrifft.“

Stirnrunzelnd erwiderte Light mit einem Blick auf die Monitore:

„Wahrscheinlich wird sie sich dieses Date aber völlig anders ausmalen.“
 

Die Fensterfront des Schlafzimmers erstreckte sich über die gesamte Länge der Wand und bot einen fantastischen Blick auf die nächtliche Stadt. Light wusste, dass die Scheiben verspiegelt waren, nicht aus Schutz vor der Sonne, sondern vor den Augen Fremder. Obwohl es in dieser Höhe fast unmöglich war, dass ein Feind seinen Weg hierher fand, stellte dies eine weitere Sicherheitsmaßnahme dar. Zum wiederholten Mal überlegte Light, ob sich sein Ermittlungspartner tatsächlich für so wichtig hielt, ob dessen Antrieb nun Uneigennützigkeit war oder einfach nur pure Angst.

Der Blick des Japaners fiel auf eine gläserne Halbkugel an der Decke. Wahrscheinlich war das nicht die einzige Kamera, die sich in diesem Raum befand. L saß schon eine Weile reglos auf dem Bett, schien nun jedoch Lights Gedanken zu erraten und sagte:

„Die Funktionen des Überwachungssystems, das du vorhin gesehen hast, beschränken sich bei den Privaträumen allein auf den Bereich, der für Amane Misa vorgesehen ist.“

„Und was ist mit dem Rest?“, fragte Light, wobei er sich ihm zuwandte.

„Die restlichen Kameras werden an anderer Stelle ausgewertet“, erwiderte L schlicht. Er hatte die Augen auf einen unbestimmten Punkt am Boden gerichtet und biss auf seinem Daumennagel herum. Sein Schweigen machte Light unmissverständlich klar, dass er nicht mehr dazu sagen würde.

„Du solltest das lassen.“

„Wie bitte?“, fragte L und sah irritiert auf. Bevor er jedoch eine Antwort erhielt, hatte Light die geringe Distanz zwischen ihnen überwunden und Ls Hand von dessen Lippen fortgezogen.

„Du beißt dir sonst noch deine Finger kaputt.“ Light war vor ihm auf die Knie gegangen und hielt dessen kalte Hand in seiner eigenen. L spürte die angenehme Wärme, die von der Berührung ausging, und erwiderte den Griff kurzentschlossen, um dieses Gefühl für den Moment nicht zu verlieren.

„Ich glaube an Gerechtigkeit“, sagte er schließlich leise und unvermittelt, „darum versteh das, was ich vorhin sagte, bitte nicht falsch. Du glaubst doch auch daran, oder?“

„Natürlich“, antwortete Light ungewohnt sanft, nachdem er seine anfängliche Irritation überwunden hatte.

„Dennoch ist es nur eine Idealvorstellung in unserem Kopf, Light-kun. Wir richten uns nach ihr, wenn unsere Persönlichkeit so konzipiert ist, aber in welchem Maß wir so gestrickt sind, können wir nicht bestimmen.“

Light seufzte und schaute seinem Ermittlungspartner direkt in die Augen, als er antwortete:

„Glaubst du denn wirklich, dass jede Erklärung für unser Verhalten in der Gesellschaft zu finden ist? Es gibt viel zu viele Faktoren, die dafür eine Rolle spielen. Ein ganzes Spektrum an menschlichen Emotionen, zu viele, um sie unter einfachen Begriffen zusammenzufassen.“

„Vielleicht...“, setzte L gedankenversunken an und konzentrierte sich noch immer auf die Wärme, die von Lights Hand ausging. „Vielleicht sind wir viel einfacher zu beeinflussen, zu lenken oder zu reparieren. Unsere Schwächen könnten weit weniger individuell sein, unsere Persönlichkeit weniger unantastbar, als wir glauben. Vielleicht fehlen bei Depressionen nur ein paar Neurotransmitter, man gibt den betreffenden Personen Tabletten und sie funktionieren wieder. Ein Gramm Soma oder ein Schuss falsches Glück, damit es keine Rolle mehr spielt, als wäre es niemals Wirklichkeit gewesen.“

„Aber was du fühlst“, entgegnete Light ernst, „ist für dich echt. Darüber kann dich niemand belügen. Darum ist das die einzige Wahrheit.“

Ohne etwas zu sagen, erwiderte L den Blick seines Ermittlungspartners auf eine Weise, die dieser schwer zuordnen konnte. Nach einiger Zeit lösten sie die Hände voneinander und gingen wortlos zu Bett, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
 

Die ganze Situation verwirrte Light. Das neue Hauptquartier war hervorragend ausgestattet, besonders in Bezug auf die Sicherheit und Verwahrung der Insassen. Lights Vater hatte sich sofort nach ihrer Ankunft mit dem Polizeidezernat in Verbindung gesetzt, um die neuesten Informationen einzuholen. L hatte ein wenig Zeit darauf verwendet, Matsuda das Überwachungssystem zu erklären. Doch danach rührte sich bei dem Meisterdetektiv nichts mehr.

Vor einigen Tagen noch war Light der Meinung gewesen, dass die allgemeine Tatenlosigkeit beendet werden würde, sobald sich alle im neuen Quartier befanden. Jetzt allerdings saß er zusammen mit Misa und L an einem Tisch mit Kaffee und Kuchen, um der belanglosen Konversation der beiden zuzuhören.

Langsam verlor Light die Geduld.

„Sag mal, Ryuzaki, was ist eigentlich mit dir los?“, wandte er sich an L, der gelangweilt neben ihm saß und sein Stück Kuchen aß. „Was ist mit deiner Motivation?“

„Motivation? Die habe ich verloren“, antwortete dieser, als würde es sich nur um eine belanglose Sache handeln. „Ich bin an einem toten Punkt angelangt.“

Mit einer solchen Einstellung hatte Light bereits gerechnet, seitdem L ihm eröffnet hatte, sie würden sich bei ihrer Ermittlungsarbeit nur noch im Kreis drehen. Light konnte dieses Gefühl nachvollziehen. In letzter Zeit ging es einfach nicht mehr voran.

„Ich war so darauf fixiert, dich als Kira zu entlarven, dass ich durch mein Scheitern den Boden unter den Füßen verlor. Kira hat die Fähigkeit, Menschen zu manipulieren. Er hätte mich glauben lassen können, du seiest er. Ihr könntet beide von ihm manipuliert worden sein. Das ist im Moment die einzig logische Erklärung.“

Ernst hörte Light den Worten zu und wurde sich in diesem Augenblick einer Tatsache bewusst, die er aus der Erläuterung schließen musste. Um sich zu vergewissern, fragte er:

„Selbst wenn wir nichts davon wussten, würde das dennoch bedeuten, dass Misa und ich Kira wären, oder?“

„Das ist korrekt. Ihr seid beide Kira.“

Ein eisiger Schauer lief Lights Rücken hinunter, als er sich erneut mit diesem Vorwurf konfrontiert sah. Er schluckte so hart, dass es in seinem Hals wehtat. Konnte das tatsächlich sein?

„Während du in Einzelhaft saßt“, erläuterte L, „hörten die Morde plötzlich auf. Bis zu diesem Punkt warst du Kira. Doch als nach zwei Wochen neue Morde verübt wurden, startete damit auch ein neuer Fall. Das heißt, dass Kira seine Kraft einfach weitergibt.“

Light fragte sich, wie weit seine eigene Schuld ging, wenn diese Vermutung zutraf. Bei einer Manipulation konnte er kaum für das Geschehen verantwortlich gemacht werden. Darum glaubte er voller Zuversicht an seine eigene Unschuld.

„Interessante Theorie, Ryuzaki. Aber wenn du Recht hast, gibt es kaum eine Möglichkeit, ihn zu fangen.“

„Und darum sprach ich von einem toten Punkt.“

Während L seine Vermutung mit ein paar weiteren Worten ausführte, hörte Light schweigend zu und blieb auch danach noch einen langen Moment stumm. Dann entschied er sich jedoch, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden. Er legte L eine Hand auf die Schulter, um ihm mit dieser Geste ein wenig Mut zu spenden.

„Aber das alles ist nicht zweifelsfrei erwiesen“, sagte er aufmunternd. „Wir wissen noch immer nicht genug über Kira. Deshalb gibt es auch keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen.“

Die Demotivation stand L deutlich ins Gesicht geschrieben, als er entgegnete:

„Ich weiß nicht... Ich glaube nicht, dass das was bringt. Wir sollten uns besser zurückhalten, sonst riskieren wir nur unser Leben.“

„Ryuzaki...“

Light war schockiert. Er selbst war noch immer voller Kampfgeist. Umso mehr schmerzte es ihn, zu sehen, dass L anscheinend aufgegeben hatte. Bevor es Light selbst bewusst wurde, war er bereits auf den Beinen und schlug seinem Ermittlungspartner mit all seiner angestauten Wut ins Gesicht.

Durch die Wucht wurde L vom Sofa gerissen. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, starrte er Light mit weit aufgerissenen Augen an.

„Das hat wehgetan.“

„Reiß dich endlich zusammen!“, überging Light den Protest. „Nur weil ich nicht der richtige Kira bin, weil deine Theorie sich nicht bewahrheitet hat, bringst du jetzt keine Motivation mehr auf?!“

„Ich habe nur gemeint, dass sich die Situation mit jeder unserer Bewegungen verschärfen könnte.“

„Wovon sprichst du überhaupt? Wenn wir nichts unternehmen, dann können wir Kira niemals fangen. Wer hat denn großspurig im Fernsehen angekündigt, er wolle ihn hinrichten lassen?“ Light packte L am Kragen und zog ihn näher zu sich. „Wie viele Menschen wurden in die Sache hineingezogen, wie viele getötet, bis du zu der Erkenntnis kommen konntest, dass du jetzt nicht mehr genügend motiviert bist?“

„Das ist mir alles klar“, antwortete L scheinbar unbeeindruckt, obwohl ihn der Gefühlsausbruch seines sonst so beherrschten Partners innerlich aufwühlte, „aber es spielt keine Rolle mehr... Auge um Auge.“ Mit einem gezielten Tritt traf er Light am Kinn, sodass dieser weggestoßen wurde und L mit sich zog. Im Fall warfen beide die Couch um. Misa wich verängstigt zurück. Während sich Light mühsam wieder aufzurichten versuchte, sprach L bereits weiter. Mittlerweile bebte auch seine eigene Stimme vor Zorn. „Das Frustrierende ist, dass der Fall nicht gelöst ist, obwohl feststeht, dass ihr beide Kira seid. Ist es nicht verständlich, dass mich das ankotzt?“

„Nein“, entgegnete Light kalt, „ich habe eher das Gefühl, du kannst es nicht ertragen, dass ich unschuldig bin.“

„Ich kann es nicht ertragen, dass du unschuldig bist?“ Ls rabenschwarze Augen schienen für den Moment noch dunkler zu werden als sonst. Er wusste doch schon längst, was er wollte. „Das wird mir gerade richtig klar, insgeheim habe ich mir gewünscht, dass du Kira bist.“ Diese Aussage war Light einen weiteren Schlag mit der Faust wert, der L direkt im Gesicht traf. Beide steigerten sich immer mehr in den Kampf hinein.

Zwar hatte L zugegeben, dass er Light als Kira sehen wollte, doch die eigentliche Erkenntnis, die ihm gekommen war, ging tiefer. Ihm war bewusst geworden, dass diese Tatsache nicht an seiner Gewinnsucht lag. L wollte nicht einfach nur Recht haben. Dieser Fall war sein bisher schwerster und forderte von ihm alles. Durch den Schlagabtausch, den er sich mit Kira geliefert hatte, war zwischen dem Meisterdetektiv und dem unbekannten Killer eine besondere Beziehung entstanden. Eine Beziehung aus Rivalität, die stärker als jede Freundschaft zu sein schien. L wollte nicht, dass die Person, gegen die er so unerbittlich kämpfte, jemand anderes war als Yagami Light.

Während L einen erneuten Faustschlag erntete, fragte er sich, warum es Light so zusetzte, dass er aufgeben könnte. War er vielleicht wirklich nicht Kira? Doch genauso gut bestand die Möglichkeit, dass Light selbst seine Kraft weitergegeben hatte und jetzt nur unwissend tat.

Als beide Kontrahenten nach dem Kragen des Anderen griffen und die Hand zum Schlag erhoben hatten, klingelte plötzlich das Telefon.

Zu viel gedacht

Zu viel gedacht
 

Lights Atem ging schwer. Während L den Telefonhörer abnahm, versuchte er seine Fassung zurückzuerlangen. Nach der Freilassung aus der Einzelhaft hatte sich Light tagtäglich seiner körperlichen Konstitution gemäß sportlich betätigt, um Schritt für Schritt seine Kondition wieder aufzubauen. Nun war es jedoch nicht nur der Kampf, der ihn so verausgabt hatte. Sein Körper tat weh, wo L ihn getroffen hatte, aber da war noch mehr. Ls Gegenwart, die ihm langsam zur Selbstverständlichkeit wurde, war Light ungewöhnlich präsent gewesen. Vergleichbar mit dem damaligen Tennismatch, nur intensiver und unausweichlicher. Was war denn los mit ihm?

Er wischte diesen Gedanken beiseite und fragte L, als dieser gerade auflegte:

„Was gibt es?“

„Nichts“, antwortete L genervt, „nur eine weitere Idiotie von Matsuda.“

„Tja, er war schon immer von schlichtem Gemüt.“

L nickte abschließend und begann nun, das Sofa wieder aufzustellen. Light half ihm dabei und richtete danach auch den Tisch her. Misa, die die ganze Zeit verängstigt im Hintergrund gestanden hatte, beruhigte sich mittlerweile und meinte:

„Habt ihr das etwa gebraucht, euch mal so richtig zu prügeln?“

„Vielleicht“, entgegnete Light lachend. Mit einem Blick auf seinen Ermittlungspartner, der sich in seiner gewohnten Weise zurück auf die Couch setzte, bezweifelte Light jedoch, dass die körperliche Auseinandersetzung irgendetwas an Ls Gemütszustand geändert hatte.

„Warum sitzt du eigentlich immer so da, Ryuzaki-san?“, fragte Misa, wobei sie ebenfalls Platz nahm.

„Das fördert meine Denkleistung“, erklärte L knapp. Nach einem kurzen Moment beschloss er allerdings, mehr dazu zu sagen. „Abgesehen davon ist auch mein Erinnerungsvermögen unmittelbar von meiner Sitzhaltung abhängig. Man kann sich immer besser an Dinge erinnern, wenn man sich in einem ähnlichen Zustand befindet wie zur Zeit des Lernens. Unter Stress Gelerntes lässt sich unter Stress auch besser abrufen. Letztendlich ist Erinnerung ein sehr unzuverlässiges Konstrukt.“

Auf Misas Gesicht zeichnete sich Unverständnis ab, doch im nächsten Augenblick fragte sie misstrauisch:

„Soll das noch ein Hinweis darauf sein, dass Light und Misa falsch liegen? Dass unsere Erinnerungen uns täuschen?“

Light seufzte und beschränkte sich darauf, der Antwort seines Partners Gehör zu schenken, der nun entgegnete:

„Ich will euch nur vor Augen führen, dass das Gedächtnis uns ungewollt schnell einen Streich spielen kann. Erinnerung hängt von der passiven oder aktiven Beteiligung des Menschen ab. Woran wir uns zu erinnern glauben, ist nicht die Wirklichkeit, sondern nur ein der Wirklichkeit ähnliches Abbild, das aber in allen Fällen subjektiv ist. Hinzu kommt die intuitive Narrativität des Erinnerns und Widergebens. Verbale und gedankliche Wiederholung, die Geschehnisvielfalt und Geschehnisdichte sowie die ungezielte Selektivität unseres Gehirns, da wir nicht jede Kleinigkeit in unserem begrenzten Speicher erhalten können, das alles führt unweigerlich zu einer Kontamination des Erinnerten. Es folgt eine holistische und egozentrische Konstruktivität mit der Neigung zur Kanonbildung, abhängig vom jeweiligen Charakter des Menschen. Die Geschehnisse und deren Ablauf sind in unserem Gehirn festgehalten, werden jedoch ständig überschrieben und mit neuen Inhalten gefüllt. Den Abschluss bilden die qualitative, temporale Inversion sowie die hirninterne und hirnexterne Situativität. Und das alles ist von einem Phänomen im Menschen begleitet, das man als Gewissheitssyndrom bezeichnen kann. Das bedeutet, dass nach der ganzen Vermengung unseres Wissens, dem Abrufen kaum erhaltbarer Informationen der Mensch doch tatsächlich glaubt, er wüsste mit Gewissheit, was wirklich geschehen ist.“

„Hä?“, war Misas einziger Kommentar.

„Das wollte ich auch gerade sagen“, meinte Matsuda, der den Raum betreten hatte und sich direkt an das blonde Idol wandte. „Aber mal was anderes, ich habe tolle Neuigkeiten für dich, Misamisa. Die Leserumfrage bei Eighteen hat dich auf den ersten Platz gebracht. Wenn du mich fragst, ist damit deine Hauptrolle in Nishinakas neuem Film sicher.“

„Super, Herr Manager!“ Misa war vom Sessel hochgesprungen und klatschte erfreut in die Hände. „Du hast ja doch so einiges drauf. Aber... warum bist du jetzt eigentlich hier?“

Matsuda lachte und kratzte sich verlegen am Hinterkopf, bevor er antwortete:

„Das hier sollte doch ein Date sein. Aber du sahst irgendwie nicht so glücklich aus. Darum dachte ich, dass dich diese Nachrichten sicher aufmuntern werden.“

„Mit anderen Worten“, mischte sich L ein, während er an seiner Gabel knabberte, „bei der Ermittlungsarbeit wird Matsuda-san mal wieder nicht gebraucht und vertreibt deshalb seine Langeweile bei uns.“

„Hey!“ Der junge Polizist verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Du machst dich schon wieder über mich lustig, genauso wie vorhin. Dabei solltet ihr euch lieber selbst fragen, was ihr hier macht. Nämlich nur über Dinge reden, von denen kein Mensch auch nur ein Wort versteht.“

„Da hat er Recht“, warf Misa mit einem unschuldigen Schulterzucken ein.

„Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt“, sagte L desinteressiert, wobei er die Zinken der Gabel aufs Genaueste musterte.

„Ehrlich gesagt“, fügte Light nun hinzu, um den Detektiv zu verteidigen, „verstehe ich das auch nicht. Ryuzaki wollte uns schließlich nur erklären, wie zweifelhaft all das ist, worauf wir unsere Gewissheit aus Erfahrungen stützen, zumindest vom neurologischen Standpunkt aus.“

„Denn unser Gedächtnis macht mit Erinnerungen in etwa dasselbe wie eine Kochwäsche mit Feinstrumpfhosen“, nuschelte L mit der Gabel im Mund. „Da bleibt nicht mehr viel übrig.“

„Du musst es ja wissen“, kicherte Misa. „Kennst dich wohl mit Nylon aus?“

„Soll ich dich ebenfalls treten, Misa-san?“

Inzwischen hatte sich Matsuda auf die Lehne der Couch gesetzt und wandte sich vorsichtig an Light:

„Wie ist das denn nun gemeint?“

„Das ist gar nicht so kompliziert, wie Ryuzaki es im Scherz formulierte“, erläuterte Light mit einem unverhohlenen Seitenhieb, wobei er sich in die Polster des Sofas zurücksinken ließ. „Das soll nur heißen, dass wir eigentlich vollständig durch die körperliche Substanz determiniert sind und allein unser Gehirn bestimmt, wie und wer wir sind. Man kann banal sagen, dass an die Stelle des Ichs der Neokortex rutscht, an die Stelle des Es das limbische System und an die Stelle des Über-Ichs der mediale Präfrontalkortex. Entgegen landläufiger Meinungen ist dieses freudsche Konzept nämlich ansonsten längst überholt.“

„Das nennst du banal?“, fragte Matsuda und legte die Stirn in Falten.

„Salopp ausgedrückt“, antwortete L an Lights Stelle, „ist der menschliche Körper ein Sack voller Organe und das menschliche Selbst nur ein Gehirn, das sich diktatorisch über die anderen Körperteile erhebt und sich von ihnen herumtragen und am Leben erhalten lässt.“

„So ungefähr“, bestätigte Light, auch wenn er aufgrund des Ausdrucks jener Erklärung eine Augenbraue hob. „Genauer gesagt können den verschiedenen Bereichen unseres Gehirns verschiedene Denkstrukturen und Handlungen zugeordnet werden. Auch das Gefühl der Selbstwahrnehmung, das viele Menschen dazu bringt, in sich so etwas wie eine Seele zu vermuten, womöglich als wabernde, mit dem Körper verbundene Masse, lässt sich regional im Gehirn festlegen. Viele haben ein Problem damit, von ihrer dualistischen Vorstellung abzulassen, und unterscheiden nach wie vor zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Auch ohne ein religiöses Fundament ist man häufig gewillt, mehr in seinem Geist zu sehen als bloße neuronale Interaktion.“

„Dabei lässt sich bereits in verschiedener Hinsicht beweisen“, führte L mit einem Nicken die Aussage seines Partners weiter, „dass wir von unserer Hirntätigkeit bestimmt werden und nicht andersherum.“

„Ja, wie du letztens meintest, so können beispielsweise psychische Krankheiten entstehen, die vererbt sind und vielleicht nicht geheilt werden können, weil schlichtweg etwas im Kopf schief gelaufen ist.“

Jetzt mischte sich Misa mit einer Frage ein:

„Meinst du etwa, man könnte theoretisch solche Krankheiten operativ entfernen, Light?“

„Im Prinzip besteht diese Möglichkeit durchaus, obwohl die Forschung sehr vieles noch nicht versteht. Doch der Mensch zögert oft schon im Grundsatz, sein Gehirn als ein Organ zu sehen wie jedes andere auch.“

„Obwohl es streng genommen keine Unterschiede gibt“, fiel L unbekümmert ein, „es ist aus Fleisch und Blut und führt seine Aufträge aus wie das Herz, die Lunge oder der kleine Finger.“

„Allerdings“, setzte nun Light dagegen, „kann eine Verletzung des Gehirns dazu führen, dass sich die komplette Persönlichkeit eines Menschen ändert. Plötzlich bevorzugt man andere Speisen, vertritt andere Anschauungen, empfindet keine Liebe mehr für seinen Partner oder seine Kinder.“

„Und damit stellt sich uns eine Frage.“ L legte die Gabel auf den Tisch und blickte die Anwesenden nacheinander an, wobei er die Hände auf seinen an den Körper gezogenen Knien ruhen ließ. „Ist es in einem solchen Fall eine andere Person, ein anderer Mensch? Woran lässt sich die Individualität eines Menschen festmachen, wenn selbst das Zellgewebe sich immer weiter erneuert, wenn auch Erinnerungen keinen Halt bieten? Manche glauben, sich durch die Vorstellung retten zu können, dass bei einer Verletzung eben nicht nur das Gehirn, sondern ein Teil unserer Seele verletzt wird, vielleicht sogar stirbt. Aber was nützt das? Wenn unsere Seele nicht existiert, dann sind wir völlig an unseren Körper gebunden. Doch wenn eine Verletzung des Körpers auch die Seele betrifft, dann ergibt sich für uns kein Unterschied. So oder so sind wir gefangen in unserem Körper und doch zur Freiheit jeglicher Entscheidung gezwungen, nicht wahr? Und das alles ohne ein ganz eigenes unzerstörbares Ich zu besitzen?“

„Das war jetzt aber nicht nur eine Frage“, meinte Matsuda. L verdrehte die Augen und schaute zu Light, der ohne auf Matsuda einzugehen schließlich sagte:

„Deshalb fühlt sich der Mensch vielleicht um sein Selbst betrogen. Doch ich persönlich finde das alles zu berechnend und eigentlich auch völlig unwichtig. Ich bin ich, daran ändert sich am Ende nichts. Und unsere Gesellschaft könnte damit ebenso wenig anfangen. Wenn wir allein materialistisch determiniert sind, könnten wir nicht für unser Handeln verantwortlich gemacht werden. Wie sähe es dann mit der Bestrafung von Verbrechern aus? Das führt uns nur in eine Sackgasse, wie schon beim letzten Mal.“

„Nun gut, das stimmt“, gestand L ihm zu, differenzierte danach jedoch, „nichtsdestotrotz hält uns auch die Alltagspsychologie nicht vollständig, sondern nur zum Teil für frei. Sonst würde man solche Sachen wie Alkoholkonsum oder geistige Zurechnungsfähigkeit bei Bestrafungen nicht berücksichtigen.“

„In solchen Fällen steht trotzdem eventuelle Fahrlässigkeit zur Debatte. Sonst würde die Weiterführung einer solchen Entschuldigung irgendwann in der Annahme von Verbrechergehirnen münden. Dann könnte man alles aus den Nervenbahnen des Menschen ablesen. Frei nach Vogt, der der Meinung war, Lenins Fähigkeiten rührten von der besonderen Entwicklung der dritten Zellschicht der Hirnrinde her.“ Eine Spur von Sarkasmus hatte sich in Lights Stimme gelegt. L ließ sich davon nicht beirren. Bevor er allerdings etwas entgegnen konnte, meldete sich Misa bereits zu Wort:

„Wie schlau du klingst, Light, das ist echt toll! Aber wer ist denn dieser...?“

„Oskar Vogt war ein Hirnforscher“, erklärte Light geduldig, „der den Versuch gestartet hat, alles aus dem Hirn abzulesen, und damit war er nicht der Einzige. Er fragte sogar bei den Nürnberger Prozessen nach, ob man ihm nicht die Gehirne der nationalsozialistischen Verbrecher zu Forschungszwecken geben könnte.“

„So weit würde ich aber nicht gehen“, stellte L klar, „denn ich verstehe absolut, was du damit meinst, Light-kun, dass diese Fragen am Ende keine Rolle spielen. Ich wollte nur eine kleine Diskussion anregen.“

„Kleine Diskussion...“, sagte Matsuda seltsam tonlos. „Obwohl ich älter bin, komme ich irgendwie nicht mehr mit. Worüber ihr euch in eurem Alter den Kopf zerbrecht, ist doch nicht normal.“

„Klugheit ist nicht im Alter, sondern im Kopf“, kommentierte L kühl. Daraufhin entgegnete Light ein wenig haltlos:

„So gesehen ist Klugheit aber auch nur Erfahrung, die alle Menschen, die sich gleichlang mit den gleichen Dingen beschäftigen, gleichermaßen erwerben können. Was diese Gleichheit höchstens unglaubwürdig erscheinen lässt, ist die selbstgefällige Eingenommenheit von der eigenen Weisheit, weil einige Menschen meinen, sie wären klüger als andere.“

„Denkst du etwa anders?“, schoss L sofort zurück.

„Mir reicht es.“ Matsuda war aufgestanden und fuhr sich verwirrt durch das Haar. „Wenn ich weiter hier bleibe, explodiert mein Kopf.“ Damit ließ er die drei Jüngeren zurück. Lights Blick war irritiert, der von Misa verständnisvoll. Und L betrachtete interessiert seine Füße.
 

Flüchtig fuhr Light mit dem Handrücken über sein Kinn, das von dem Tritt schmerzte, den er soeben einkassiert hatte. Er spürte den Boden unter seinen Händen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und dämpfte somit das Geräusch seines eigenen keuchenden Atems.

Ruckartig richtete er sich auf und schlug L erneut ins Gesicht. Ein Stechen zuckte durch sein Handgelenk, als er an dem kalten Metall mitgezogen wurde. Wieder musste er einen harten Tritt einstecken. Für einen Moment drehte sich alles in seinem Kopf, seine Umgebung verschwamm und erschien in seiner Wahrnehmung seltsam unwirklich. Auch der Schmerz fühlte sich irreal an.

Als seine Sinne zurückkehrten, nahm er das Gewicht eines anderen Körpers auf sich wahr. Schwarzes Haar berührte leicht seine Wange. Während sich L mühsam über ihm hochzustemmen versuchte, registrierte Light, dass dessen Atmung genauso schnell ging wie seine eigene. Light drückte seine Hände gegen die flache Brust unter dem weißen Shirt, um sich ebenfalls aufzurichten.

Eine Sekunde lang fragte er sich, warum sie eigentlich gegeneinander kämpften.

Dann wurde er jedoch von L, der seine Kräfte wiedererlangt hatte, am Kragen hochgerissen und gegen die nächste Wand geschleudert. Kurz wurde es schwarz vor Lights Augen, doch der Schmerz war nur gedämpft. Verwirrt fragte er sich, ob er wieder träumte, ob er nur eine vergangene Situation Revue passieren ließ. Doch er glaubte die Wand in seinem Rücken zu spüren, gegen die ihn L mit seinem eigenen Körpergewicht presste. Noch deutlicher nahm Light allerdings dessen Nähe wahr. Leichenblasse Haut, ein Grau von Metall oder Asche, tiefschwarze Augen. Bildete er sich den ungewohnt emotionalen Ausdruck in Ls Blick nur ein?
 

Erschrocken öffnete Light die Lider und starrte an eine unbekannte Zimmerdecke, die nur schwach von der Nachttischlampe beleuchtet wurde. Langsam erkannte er, wo er sich befand. Die Erinnerung an ihr neues Hauptquartier kehrte zurück und an die Auseinandersetzung zwischen ihm und L. Doch das eben war tatsächlich nur ein Traum gewesen.

„Alles in Ordnung?“, drang eine besorgte Stimme an sein Ohr. In liegender Position wandte Light den Blick zu L, der neben ihm halb im Schneidersitz auf dem Bett saß und sich ein wenig zu ihm herunter gebeugt hatte. Light spürte den Druck von Ls Hand auf seiner Schulter, die nun sein Schlüsselbein hinabglitt und auf seinem Brustkorb verweilte.

„Beruhige dich erst einmal“, sagte L und schaute aus seinen großen dunklen Augen auf ihn hinab. Erst jetzt merkte Light, dass seine eigene Atmung noch immer unkontrolliert war und dass sein Herz unter Ls Hand schnell schlug.

„Es ist okay“, antwortete Light und setzte sich auf, sodass L von ihm abließ und sich damit begnügte, ihn undurchdringlich zu mustern, „ich habe nur geträumt.“

„Ein Alptraum?“, fragte L, während er interessiert den Zeigefinger an die Lippen legte.

„Nein, eigentlich nicht.“

„Aber du hast dich im Schlaf herumgeworfen.“

„So?“ Irritiert vergrub Light die Hand in seinem Haar. „Habe ich dich damit geweckt? Das tut mir leid.“

L schüttelte jedoch langsam den Kopf, während er eines seiner Beine an den Körper zog und mit den Armen umschloss.

„Nein, ich habe nicht geschlafen.“

Nun betrachtete Light seinen Ermittlungspartner genauer. Dieser schaute gedankenversunken vor sich auf die Bettdecke. Das gedämpfte Licht warf Schatten unter seine Augen. Er sah erschöpft aus, matt und ziellos. Und doch fiel Light plötzlich wieder der besänftigende Druck ein, der von Ls Hand auf seiner Schulter ausgegangen war. Mit einem leichten Lächeln sagte Light deshalb leise:

„Danke.“

„Wie?“ L blickte verwundert auf.

„Du wolltest mich beruhigen“, erklärte Light ernst, „nicht wahr? Als du mich festgehalten hast, während ich schlief. Dabei dachte ich schon, du wärst mysophob oder so und würdest mich lieber nicht anfassen wollen.“ Wegen des verdutzten Blinzelns, mit dem L diese Aussage quittierte, musste Light unwillkürlich lachen und setzte dann zu einer Begründung an: „Ich habe dir doch schon letztens gesagt, dass du so wirkst, als würdest du den Kontakt zu anderen Menschen meiden, auch wenn du ihn manchmal zulässt.“

„Hmm... schon möglich“, entgegnete L, „aber genauso habe ich zu dir gesagt, dass das nicht auf dich zutrifft. Es stört mich nicht, von dir berührt zu werden, genauso wenig habe ich ein Problem damit, dich anzufassen.“

„Aber du hältst auch viele Dinge so vorsichtig fest.“ Zur Demonstration zog Light mit Daumen und Zeigefinger an dem Stoff der Bettdecke. „Da ist es doch kein Wunder, dass ich auf komische Gedanken komme.“

„Komisch würde ich das nicht nennen“, meinte L noch immer verdutzt, als sein Partner wieder zu lachen begonnen hatte, „das ist schon eher absurd.“

„Absurd waren eher deine ellenlangen Ausführungen heute Mittag“, widersprach Light milde schmunzelnd. „In der Uni haben wir solche Debatten oft geführt, aber selten im Beisein des Ermittlungsteams. Sonst drückst du dich doch auch allgemein verständlicher aus. Wolltest du dich über Matsuda und Misa lustig machen oder sie einfach nur loswerden?“ L zuckte mit den Schultern.

„Was denkst du denn, was ich wollte, Light-kun?“

„Beweisen, dass ich Kira bin“, antwortete dieser mit Bestimmtheit, „oder zumindest aufzeigen, dass ich nicht das Gegenteil behaupten kann.“

„Erinnerungen“, raunte L grüblerisch, „nehmen maßgeblich Einfluss auf unsere Persönlichkeit.“

„Es mag sein, dass ich mein Gehirn und die meisten der körperlichen Prozesse nicht steuern kann“, räumte Light ein, „in gewisser Weise sind sie mir fremd. Aber meine Familie und Freunde, mein Denken und Fühlen, meine Qualen und meine Sehnsucht sind es nicht. Sie wären mir nur fremd, wenn ich ein Gott wäre, nicht wahr?“

Mit einem eigentümlichen Lächeln ergänzte L:

„Oder ein Monster.“

Zuerst reagierte Light überrascht, dann besann er sich und entgegnete aufmunternd:

„Ich glaube, die anderen haben Recht. Wir sind oft viel zu ernsthaft.“

„Meinst du?“

„Ja, meine ich.“ Light schaute nun still zum Fenster hinaus, wo der Himmel langsam die hellgraue Farbe des Morgens anzunehmen begann. „Wir sind uns zu ähnlich und vergessen beide schnell mal, wie man normal lebt. Darum sollten wir nicht alles durch Diskussionen kaputt machen. Du weißt doch, wenn wir in den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens nichts gelten lassen wollten als den direkten klaren Beweis, dann hätten wir in dieser Welt wohl nur eine einzige Gewissheit.“

„Dass wir bald zugrunde gehen werden?“, fragte L, wobei er den Blick ebenfalls nach draußen gerichtet hatte. Nicht zum ersten Mal lag unerwartet viel Emotion in seiner Stimme, wenn die beiden jungen Männer allein waren.

„Hart ausgedrückt, ja“, entgegnete Light und seufzte. Ihm war klar geworden, dass jeder Funken Menschlichkeit, der ihm von L entgegengebracht wurde, in ihm die Hoffnung aufkeimen ließ, irgendwann all die Dinge zu verstehen, die für ihn im Moment noch keinen Sinn ergaben. Bis dahin durften sie nicht gegeneinander, sondern mussten miteinander kämpfen, um Kira gemeinsam zu besiegen.

Verfehltes Ziel

Verfehltes Ziel
 

Lights Blick war konzentriert auf den Bildschirm gerichtet, während er eine Seite voller Text und Tabellen hinab scrollte. Die linke Hand in seinem Haar vergraben merkte er kaum, dass er unbewusst die Zähne aufeinander biss.

Ein Anhaltspunkt, es musste doch irgendeinen Anhaltspunkt geben.

Seufzend lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss für einen Moment die Augen. In seinen Schultern hatte sich ein tauber Schmerz ausgebreitet, der sich sein gesamtes Rückgrat entlangzog. Viele Stunden hatte er nun schon mit der Recherche verbracht und war dennoch keinen Schritt vorangekommen. Es war spät geworden. Alle anderen Mitglieder des Untersuchungsteams waren bereits gegangen. Ein weiterer Tag neigte sich ergebnislos seinem Ende zu.

Als Light die Augen wieder öffnete, wandte er den Kopf zur Seite. Der Anblick, der sich ihm bot, überraschte ihn nicht. L hatte die Beine angewinkelt, seine Arme hingen kraftlos rechts und links von dem Drehstuhl herab und er starrte schon seit einer Ewigkeit einen unbestimmten Punkt an der Decke an. Seitdem Light das letzte Mal zu seinem Ermittlungspartner hinübergesehen hatte, war dessen Zustand unverändert.

Kurzentschlossen stand er auf. Die Kette zwischen den Handschellen klirrte leise, als Light den Stuhl, auf dem L saß, herumdrehte und sich mit den Händen auf den Lehnen abstützte, um auf ihn hinab zu schauen. Dieser erwiderte den Blick ohne jegliche Regung.

„Willst du einfach darauf warten, bis uns der entscheidende Anhaltspunkt entgegenfliegt?“, fragte Light mit ruhiger Stimme.

„Wenn du meinst, dass du etwas findest, dann suche weiter nach Hinweisen“, antwortete L in ebenso ruhigem Ton, „niemand hält dich davon ab, Light-kun. Doch ich bin nicht bereit, diesen Felsblock den Berg hinaufzuschieben.“

„Was wir tun, ist aber keine Sisyphusarbeit.“

„Für dich vielleicht nicht.“

Angestrengt stieß Light die Luft zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen aus und unterdrückte die Wut, die erneut in seinem Inneren hochzukochen drohte. In sachlichem Tonfall sagte er dann:

„Wir beide haben mit unseren Ermittlungen an unterschiedlichen Punkten begonnen, bis sich unsere Wege schließlich kreuzten. Wir haben dasselbe Ziel und ich kann dir versichern, dass ich nicht aufgeben werde und dieses Ziel erreichen will oder beim Versuch sterbe. Wir sind nicht in einer Sackgasse angekommen, es geht noch immer weiter. Denn der Weg hört erst mit dem Gehen auf, Ryuzaki. Vielleicht führt uns schon der nächste Schritt zur Lösung. Solange müssen wir uns anstrengen.“ Die Intensität, mit der Light auf ihn einzureden versuchte, erstaunte L nicht zum ersten Mal. Dass die Theorie zutraf, Lights Verhalten wäre nur eine weitere ausgeklügelte Taktik, war mittlerweile auf eine kaum nennenswerte Wahrscheinlichkeit herabgesunken. Aber Light war Kira gewesen. Selbst wenn sie durch ihre Arbeit die nächste Marionette fingen, würde ihnen das Phantom des gottgleichen Killers entkommen.

„Wir müssen uns anstrengen?“, fragte L mit annähernd ironischem Unterton. „Anstrengung lässt nur Dinge in uns leben, die nicht existieren. Es heißt zwar, der Weg sei das Ziel, aber warum sollte ich einen Pfad beschreiten, der nur ins Nichts führt?“

„Wer sagt, dass das alles sinnlos ist?!“, rief Light aufgebracht und packte im Affekt Ls Kragen. Dessen Miene blieb jedoch ausdruckslos und gab keinen Aufschluss darauf, mit welchem neuerlichen Plan er Light aus der Reserve zu locken gedachte, als er entgegnete:

„Wir können Kira nur fassen, wenn er einen Fehler macht. Aber das wird nicht passieren.“

„Was meinst du damit?“, fragte Light und merkte dabei nicht, dass er fast bedrohlich klang. Doch L gab keine Antwort und wartete nur eine weitere Reaktion ab. „Ryuzaki... du glaubst doch wohl nicht, dass Kira keinen Fehler machen würde, oder? Auch wenn er sich für einen Gott hält, er ist und bleibt ein Mensch, genau wie du und ich. Wie kannst du Kira so idealisieren?“ Damit drückte Light ihn verärgert zurück in den Stuhl und ließ dessen Kragen los, bevor er sich mit einem Ruck von ihm abwandte. Die Handschellen machten es ihm jedoch unmöglich, einfach zu gehen. L betrachtete einen Moment lang Lights Rücken und ließ dann den Blick auf dessen Händen ruhen, die zu Fäusten geballt waren und leicht zitterten.

„Du meinst“, sprach L schließlich leise, „weil ich denke, dass Kira keine Fehler begeht, hätte ich mir ein Idealbild von ihm kreiert?“

„Kein Mensch ist perfekt“, erwiderte Light schlicht, ohne sich umzudrehen.

„Und was ist mit dir, Light-kun? Hast du denn jemals einen Fehler begangen?“ Das Zittern in Lights Fingerspitzen hatte aufgehört. Er atmete gleichmäßiger und schwieg. Wozu eine Antwort? Dass er nicht perfekt war, musste er nicht erst betonen. Deshalb fuhr L in monotoner Weise fort:

„Warum stört es dich, dass ich Kira idealisiere? Wenn ich noch immer davon ausgehe, dass du Kira bist, dann wäre das doch ein großes Kompliment für dich, erst recht, da es von mir kommt.“

„Aber ich bin es nicht.“ Resignation lag in diesen Worten, von denen Light wusste, dass es sinnlos war, sie auszusprechen.

„Nun, wenn das so ist...“, entgegnete L kühl, „wenn du nicht Kira bist, dann wirst du ihm wohl nicht das Wasser reichen können.“

„Was soll das schon wieder heißen?“ Light wandte sich um und starrte in Ls dunkle Augen. „Hast du denn nur Achtung vor mir, wenn ich Kira bin? Wenn ich mit meiner Intelligenz über Leichen gehe, um die kranke Vorstellung einer neuen Welt zu verwirklichen? Bin ich nur dann etwas für dich wert?“

Eiskalte Stille breitete sich zwischen beiden jungen Männern aus, während sie sich gegenseitig mit den Augen durchdrangen. Bis L sein Schweigen brach:

„Beweise mir doch, dass du so gut bist wie er.“

Lights Augen weiteten sich, doch er widerstand dem Drang, ihm erneut ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen suchte er eine Möglichkeit, um zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren, und meinte:

„Ich dachte, wir seien ein Team. Wozu soll ich dir etwas beweisen, wenn wir eigentlich zusammenarbeiten müssten, Ryuzaki? Ich kann dir natürlich keine Vorschriften machen, aber...“

„Dann tu es nicht“, unterbrach ihn L und ging damit in keiner Weise auf den Appell ein. Währenddessen kam sich Light vor, als würde er mit bloßen Händen versuchen, eine Stahlwand zu zerkratzen, die jedoch nicht nachgab und nur seine blutigen Fingernägel abplatzen ließ.

Es hatte keinen Sinn.

Light ließ sich zurück auf seinen Stuhl sinken und vergrub wortlos das Gesicht in den Händen.
 

Der Druck an seinem Handgelenk holte Light aus seinem Schlaf. Jede Nacht versuchte er seine linke Hand so zu positionieren, dass ihm nicht die Knochen wehtaten. Dennoch wurde er am nächsten Tag meist durch das kalte Metall geweckt.

Er setzte sich auf. Neben ihm, am äußeren Rand des Bettes, lag L in einer dem Anschein nach unbequemen Position. Er hatte sich mit dem Rücken auf die Decke gelegt, doch seine Beine waren seitlich unter den Körper gezogen, während die gefesselte Hand auf seiner Brust ruhte und der andere Arm leblos vom Bett herabhing. Light fragte sich, ob man so überhaupt schlafen konnte. Doch diese Frage erübrigte sich, denn L war wach und starrte unentwegt die Wand an.

Als Light darüber nachdachte, musste er feststellen, dass er L noch nie hatte schlafen sehen. Selbst seitdem die beiden jungen Männer keine Sekunde mehr allein waren, hatte Light niemals die geschlossenen Augen des Meisterdetektivs gesehen. Wahrscheinlich würde L erst im Moment seines Todes die Lider senken.

Light wunderte sich über diesen Gedanken, der ihm überraschend gekommen war, und wischte ihn sofort beiseite.

„Wollen wir aufstehen?“, fragte er vorsichtig. Doch L quittierte es nur mit einem unbestimmten Laut, weshalb Light fortfuhr: „Wenn du mich allein in einen deiner Meinung nach aussichtslosen Kampf schickst, dann solltest du mich wenigstens nicht in meiner Arbeit behindern.“

Er hatte versucht, seine Stimme anklagend und genervt klingen zu lassen, doch verfehlte es bei L seine Wirkung, der offensichtlich unbeeindruckt blieb. Dennoch bewegte er nach ein paar Sekunden seine Beine und machte Anstalten, sich zu erheben.

„Bleib liegen“, änderte Light plötzlich seine Forderung, wobei er eine Hand auf Ls Schulter legte und ihn bestimmt zurück auf das Bett drückte. Dieser wandte ihm nun irritiert seine Aufmerksamkeit zu.

„Auf diese Weise funktioniert es nicht“, meinte Light erklärend. Aus einem Impuls heraus ließ er sich ebenfalls in die Kissen zurückfallen und starrte, neben L liegend, zur Decke.

Einen langen Moment schwiegen beide.

„Ich weiß, wie du dich fühlst“, begann Light schließlich unvermittelt, „und ich verstehe auch dein Verhalten. Aber das hier ist keine Lösung. Dieser Kampf sollte erst vorbei sein, wenn der letzte Wortführer der gerechten Sache stumm ist und jeder an die neue Gerechtigkeit Kiras glaubt. Aber das tun wir nicht, oder? Keiner im Ermittlungsteam tut das, selbst Matsuda nicht. Besonders meinen Vater bewundere ich für seinen unerschütterlichen Glauben.“

Der Sohn des Polizeichefs drehte seinen Kopf zur Seite und stellte fest, dass L ihn mit seinen schwarzen Augen musterte, ohne dabei etwas von seinen Gedanken preiszugeben. Schwach lächelnd setzte Light seine Erzählung fort:

„Mein Vater war mir immer ein Vorbild, ein Ausdruck der Gerechtigkeit, die ich gern verwirklichen wollte. Schon in der Grundschule habe ich versucht, mich für die Schwächeren einzusetzen, habe mich manchmal sogar geprügelt, wenn jemand schikaniert wurde. Aber allein kann man nicht viel ausrichten. Ich habe oft verloren und oft hat es mir nicht einmal die Dankbarkeit derjenigen eingebracht, denen ich helfen wollte.“

„Du fandest es ungerecht“, kommentierte L die Worte seines Partners, „aber so sind die Menschen nun einmal. Ob man Täter oder Opfer ist, sagt nur etwas über die eigene Rolle aus, nichts über den Charakter.“

„Ja, die Menschen sind so. Einer wie der andere“, murmelte Light, während er die Hände hinter seinem Kopf verschränkte, „so gesehen ist die Welt voll von Leuten, die...“ Eine plötzliche Erinnerung drängte sich Light auf, doch vermochte er nicht, sie zu greifen. Die Erinnerung schien nicht mehr als ein Traum zu sein, den man am Morgen schon vergaß und der den eigenen Gedanken schneller entglitt, je stärker man ihn festzuhalten versuchte.

„Light-kun?“ Der Angesprochene kehrte in die Realität zurück und merkte, dass er nun vollends den kleinen Fetzen der Vergangenheit verloren hatte. Doch war es überhaupt wichtig gewesen?

„Ich muss zugeben“, gestand Light, „dass ich mittlerweile immer abwäge, ob das Eingreifen in eine Situation sinnvoll ist oder nicht. Meist lasse ich es bleiben, wenn es eindeutig aussichtslos erscheint, denn wenn ich unterliege, gäbe es keinerlei Grund mehr für mein Handeln.“

„Und dann hättest du dich umsonst geopfert.“

„Genau das ist eine Form der Sinnlosigkeit, vor der wir auch jetzt wieder stehen“, bestätigte Light, „darum glaube mir, Ryuzaki, dass ich zumindest in Ansätzen weiß, was in dir vorgeht.“

„Ist das so? Dann frage ich mich, wie sich völliges Versagen in Ansätzen anfühlt.“ Ein ungewohnter Sarkasmus klang aus Ls Stimme heraus. Er hatte den Blick wieder zur Decke über ihren Köpfen gerichtet und biss allem Anschein nach verärgert auf seinem Daumennagel herum, obwohl seine Mimik kaum Aufschluss über seinen emotionalen Zustand gab. „Bist du sicher, dass du weißt, wie sich das Versagen kurz vorm Ziel anfühlt? Es fehlte nur noch ein kleines Stück und der Fall wäre gelöst gewesen. Ich hasse es, zu verlieren.“ Light merkte, dass Ls rechte Hand sich neben dessen Körper verkrampfte. „Aber diesmal war es mehr als demütigend. Als Kira könntest du jetzt wirklich über mich lachen.“

„Darum geht es doch gar nicht!“ Light hatte sich wieder aufgesetzt und schaute eindringlich auf L hinab. „Es geht nicht immer ums Gewinnen oder darum, außergewöhnliche Leistungen an den Tag zu legen. Man muss einfach nur so viel tun, wie man kann! Es ist gerecht, sein Leben so gut wie möglich zu leben und den Menschen im Umfeld zu helfen. Niemand muss versuchen, die Welt zu verändern.“

Dieses Mal glaubte Light in Ls Augen eine Frage zu sehen: Denkst du wirklich so? Gerade du?

„Wenn man nicht dazu in der Lage ist“, fuhr Light energisch fort, um sich selbst davon zu überzeugen, „dann muss man auch nicht alles Schlechte ändern, um gerecht zu sein, sondern nur die kleine Welt verbessern, in der man selbst lebt. Aber du... du bist L, du bist der weltbeste Detektiv und wirst es wahrscheinlich als einziger schaffen, Kira dingfest zu machen. Verstehst du das? Du hast eine Verantwortung zu tragen, die du vor vielen Menschen und vor dir selbst rechtfertigen musst.“

L zeigte keinerlei Reaktion.

Seufzend schlug Light die Beine übereinander und starrte auf die Handschelle an seinem linken Arm, bevor er mit ruhigerer Stimme sagte:

„Man kann auf den Sinai steigen und dort in den Wolken weilen, um auf eine Eingebung zu warten; aber man muss dann auch mit Gesetzestafeln in der Hand herunterkommen.“

„Du meinst, dass ich früher oder später zu meiner Arbeit zurückkehre?“, fragte L ebenso ruhig. „Ich weiß, was das bedeutet. Selbst wenn ich jetzt resigniere, muss ich irgendwann wieder aktiv werden. Denn die Welt will eine Leistung sehen.“

Mit diesen Worten wandte sich L ab, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an seinen Körper. Light betrachtete ihn noch einen langen Moment, bevor er nach dem Hörer des Telefons griff, das neben dem Bett auf dem Nachttisch stand. Er würde Matsuda darum bitten müssen, ihm einen Laptop aufs Zimmer zu bringen. Denn wie es aussah, würde sich L nicht so bald wieder bewegen.
 

Die nächsten drei Stunden waren nur vom leisen klackernden Geräusch erfüllt, welches Lights geschäftige Finger auf der Tastatur des Laptops verursachten. Nun allerdings begann seine Arbeit an Beständigkeit zu verlieren. Langsam gingen ihm die Ideen aus, Elan und Konzentration ließen nach, bis er schließlich erschöpft den Laptop zuklappte und beiseite legte.

Als Light sich, auf dem Bett sitzend, an die Wand in seinem Rücken lehnte und den Blick durch das Fenster nach draußen schweifen ließ, veränderte L zum ersten Mal seit jenen drei Stunden seine liegende Position. Er drehte sich auf den Rücken und hob die rechte Hand gerade über seinen Kopf, wobei die Metallfessel den dünnen Unterarm hinabrutschte. L schaute an seinen langen Fingern vorbei zur Decke.

Durch die Bewegung war das weiße Oberteil verrutscht, sodass ein paar Zentimeter seines flachen Bauchs freilagen. Light starrte gedankenversunken auf Ls Beckenknochen, der unter seiner nackten Haut zum Vorschein kam.

„Wollen wir uns von Matsuda etwas zu essen bringen lassen?“, fragte Light, da ihm selbst eingefallen war, dass sie an diesem Tag noch nicht einmal ans Frühstück gedacht hatten.

„Wieso nicht“, entgegnete L gelangweilt, „für irgendetwas muss er ja zu gebrauchen sein.“

„Du scheinst keine allzu hohe Meinung von ihm zu haben.“

„So würde ich das nicht sagen“, erwiderte L, während sein rechter Arm über seinem Kopf leicht hin und her schwankte. „Matsuda ist nur dummerweise ein Faktor, den man schlecht berechnen kann.“

„Das stimmt.“ Light konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Nichtsdestotrotz ist es von Vorteil, einen solchen Ermittler in der Sondereinheit zu haben. Bei ihm könnte ich mir auch niemals vorstellen, dass er Kira ist.“

„Nein, das sicher nicht. Anfangs hatte ich vor, dem gesamten Team ein paar Tests aufzuerlegen, um ihre Ehrlichkeit und Loyalität zu überprüfen. Aber ich verlor relativ schnell das Interesse daran.“

Zuerst wollte Light ihn mit der Frage konfrontieren, warum er trotz allem nicht das Interesse an ihm, dem vorbildlichen Schüler und Ermittlungspartner, verloren hatte. Mitten im Atemzug hielt er jedoch inne, da er wusste, dass er dadurch nur eine fruchtlose Diskussion provozieren würde. Stattdessen meinte er:

„Als Manager ist Matsuda sehr gewissenhaft und glaubwürdig. Vor kurzem hat er den Vertrag für Misa bestätigt, damit sie in Nishinakas neuem Film mitspielen kann. Sie wird nun viel mit den Dreharbeiten beschäftigt sein, weshalb Matsuda im Moment kaum die Aufgabe hat, neue Aufträge an Land zu ziehen.“

„Dann hat er also zumindest für solche Dinge Zeit, die er nicht ins Chaos stürzen kann.“

„Wie unser Essen zum Beispiel. Matsuda wird nachher mit Misa hierher kommen. Was möchtest du denn? Mochis vielleicht? Oder gezuckerte Mandeln...?“

„Da kennst du mich aber schlecht.“ Endlich richtete sich L auf. Seine Lippen umspielte sogar fast ein Lächeln, als er dem verwunderten Blick seines Partners begegnete. „Auch wenn ich den Geschmack dieser Süßigkeiten mag, esse ich sie nicht allzu gern, weil sie so kleben. Wie man sie auch anfasst, der Zucker bleibt beispielsweise bei den Mandeln an den Fingern hängen. Kekse dagegen krümeln bloß, das ist nicht weiter schlimm. Komplette Schokoladenkekse sind wiederum problematisch, es müssen schon Stellen frei sein, die sich mit Daumen und Zeigefinger festhalten lassen.“

Die Verblüffung stand Light offen ins Gesicht geschrieben, doch ein paar Sekunden später musste er bereits lachen. Für diesen Moment war jene Resignation, die in letzter Zeit immer häufiger Besitz von ihm ergriffen hatte, in den Hintergrund getreten. Light fragte sich, ob sein Partner ihn beabsichtigt aufmuntern wollte.

Mit unerschütterlichem Ernst in der Stimme hörte er L jedoch sagen:

„Ich möchte Taiyaki haben, aber ohne Bohnenmus, fünfzehn mit Vanillecreme und fünfzehn mit Schokoladencreme.“

Sofort hörte Light zu lachen auf.

„Das ist nicht dein Ernst, Ryuzaki. So viele...?“

„Wenn es um so etwas geht“, entgegnete L kühl, „mache ich keine Scherze. Das solltest du eigentlich wissen.“

Zwischen Menschen

Zwischen Menschen
 

„Ihr seid die ganze Zeit hier gewesen?“ Misa stellte die Tüten, die sie bei sich trug, auf dem Boden ab, bevor sie sich neben Light auf den Bettrand setzte, um sich an ihn zu schmiegen. Dieser reagierte zuerst nicht darauf, sondern starrte weiter auf den Bildschirm des Laptops, der auf seinen Beinen ruhte.

Etliche Bilder von Verbrechern, die in den letzten Tagen ihr Leben lassen mussten, wechselten einander ab. Light versuchte ein Schema in den jetzigen Verurteilungen Kiras zu erkennen, die sich von den Morden vor seiner Inhaftierung unterschieden. Konnte Ls Theorie tatsächlich stimmen, konnte sich Kira beliebiger Personen bemächtigen, sodass die japanische Sondereinheit nun nach einem völlig neuen Killer suchen musste? Light wollte diesen Gedanken nicht akzeptieren. Vielleicht sollte er sich weniger auf die an Herzversagen verstorbenen Verbrecher fixieren. Möglicherweise erhielt er von ganz anderer Seite Aufschluss über den Fall.

„Light?“ Misas Stimme klang drängend und ein wenig beleidigt. „Du hörst mir gar nicht zu.“

Endlich wandte Light ihr seine Aufmerksamkeit zu, als schien er erst jetzt ihre Anwesenheit zu bemerken. „Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Sie wollte wissen“, mischte sich stattdessen L ein, wobei er auf komische Weise über das Bett kroch, „ob wir den gesamten Tag hier gewesen sind.“ Er hatte den Bettrand erreicht und streckte den Arm aus, um die Tüten zu erhaschen, die Misa mitgebracht und unbedacht mitten im Zimmer hatte stehen lassen.

„Ja, wir waren hier“, beantwortete Light die Frage schlicht, während er seinen Kollegen dabei beobachtete, wie dieser nach den Tüten hangelnd das Gleichgewicht zu halten versuchte. Die Möglichkeit, einfach aufzustehen, schien L nicht in Betracht zu ziehen.

Seufzend löste sich Light von Misa, ließ den Laptop auf der Bettdecke zurück und erhob sich, um L wortlos eine der Tüten mit den Taiyaki zu reichen.

Misa verschränkte die Arme vor der Brust und meinte:

„Die wollt ihr doch nicht alle essen, oder?“

„Ich nicht“, entgegnete Light schulterzuckend und deutete auf seinen Partner, „aber er.“

„Es ist nicht so, dass ich nichts abgeben würde“, erklärte L, während er von einem der Gebäcke den Fischschwanz abbiss.

„Da verzichte ich“, wehrte Misa ein wenig ungehalten ab. „Das habe ich doch schon letztens gesagt, dass Süßigkeiten schlecht für die Figur sind. Misa ist schließlich ein Star und Stars sehen immer gut aus.“

„Wie du meinst“, entgegnete L, „und ich habe gesagt, Denken hilft.“

„Du bist schon wieder so gemein! Dabei hast du am Anfang gesagt, du wärst ein Fan von mir.“

„Nicht alles, was ich sage, sollte man für bare Münze nehmen. Zu dieser Zeit hatte sich der Verdacht gegen dich, der zweite Kira zu sein, schon längst erhärtet. Der Rest war Recherche, denn ich bin normalerweise kein Leser der Eighteen. Das bewegt sich weit außerhalb meines Alters- und Interessenbereichs.“

„Weil du dich wie ein kleines Kind benimmst?“, schoss Misa stur zurück und klammerte sich wieder an Light.

Desinteressiert pflückte L die beiden Waffeln des Gebäcks auseinander, um die Creme aus dem Inneren abzulecken. Das blonde Mädchen verzog das Gesicht und meinte:

„Am Anfang dachte ich ja, du wärst ein lustiger Typ. Aber so wird sich bestimmt nie eine Frau für dich interessieren.“

„Das ist mir egal.“

„Ha! Was anderes hättest du in deiner Lage jetzt auch gar nicht sagen können.“

„Wenn du meinst“, überging L die Aussage zum zweiten Mal mit Gleichmut und fischte ein neues Taiyaki aus der Verpackung.

„Wenn du deinen Süßkram isst“, versuchte das hübsche Mädchen den Detektiv mit einem Lächeln zu überzeugen, „dann könnten Light und Misa ja Zeit miteinander verbringen.“

„Besser nicht“, mischte sich Light nun in das Gespräch ein, ließ sich allerdings nicht anmerken, wie sehr seine Geduld abermals auf die Probe gestellt wurde. „Ich bin momentan einfach zu sehr mit diesem Fall beschäftigt.“

Misas Miene spiegelte die unterschiedlichsten Emotionen wider. Sie schien wirklich mit sich zu kämpfen. Dass Light ihr nicht die von ihr gewünschte Aufmerksamkeit entgegenbrachte, machte sie wütend und eifersüchtig. Doch sie wusste nicht, worauf sie diese Eifersucht richten sollte. Gleichzeitig war sie verzweifelt, weil ihre eigenen Gefühle kein Echo in der Person hervorriefen, die sie liebte. Wie sollte sie mit dieser Unsicherheit umgehen? Würde der Abstand zwischen ihnen nicht größer werden, wenn sie Light weiterhin bedrängte? Vielleicht war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Misa seufzte einsichtig und wandte sich zum Gehen.

„Nun gut, ich muss mich auch noch mit dem Skript für meine Rolle befassen“, entschuldigte sie sich, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

Light fühlte sich ein wenig schuldig, dass er das Mädchen so verletzt hatte. Würde er ihr jedoch falsche Hoffnungen machen, wäre die Enttäuschung für sie vermutlich umso schlimmer. Es half nichts.

„Hattest du nicht etwas mit Takada-san?“, fragte L plötzlich frei heraus und schob sich ein weiteres Taiyaki zwischen die Lippen. Light schaute seinen Kollegen nur verwirrt an, sodass dieser mit vollem Mund erklärte: „Als du Amane Misa kennen lerntest, sollst du auf der Uni gerade mit Takada Kiyomi liiert gewesen sein. Bist du da etwa zweigleisig gefahren?“

„Nun, das nicht unbedingt“, überlegte Light, als er sich an die anfängliche Zeit auf der Universität erinnerte. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen zu sein, obwohl es in Wirklichkeit erst vier Monate waren. „Takada-san hatte damals den ersten Schritt gemacht, indem sie mich ansprach. Wir kannten uns noch nicht besonders gut, haben nur zusammen Vorlesungen besucht. Aber sie ist eine intelligente und sehr schöne Frau, das war mir sofort aufgefallen. Misa ist zwar durchaus hübsch, aber im Grunde genommen mag ich eher Frauen mit seriösem Auftreten.“

„Also hattest du dich in Takada verliebt?“ Light wich dem Blick seines Partners aus, der ihn aus großen Augen genau musterte, und räumte mit bedachten Handgriffen den Laptop vom Bett, bevor er sich wieder hinsetzte. Unwillkürlich musste er an die anderen weiblichen Kommilitonen denken, mit denen er sich bekannt gemacht hatte. Nach einem Moment des Überlegens antwortete er:

„So kann man das auch nicht sagen. Ich wollte Takada erst einmal kennen lernen. Richtig verliebt habe ich mich nicht in sie.“ Light zögerte, entschied sich dann jedoch, seiner Aussage etwas hinzuzufügen. „Das ist mir bisher auch noch nie passiert, dass ich mich wirklich verliebt hätte.“

„Aber du hast Amane Hoffnungen gemacht.“

„Das stimmt, der Kuss...“, lenkte Light ein, als ihm einfiel, dass L anwesend war, als Misa ihn darauf angesprochen hatte. „Ich weiß selbst nicht mehr, warum ich das getan habe. Aber ich kann mich erinnern, dass Misa damals ganz unerwartet und ungünstig aufgetaucht ist. Es klingt zwar hart, aber ich glaube, ich wollte sie einfach nur zum Gehen bewegen. Was ist da schon ein Kuss?“

„Du bist bei Frauen sehr beliebt, Light-kun.“ Mit einer unbekümmert wirkenden Geste leckte L die Krümel von seinen Fingern. „Dann machst du das also nur aus... wie sagt man? Lustgewinn?“

Light streckte müde seine Arme aus, bevor er sich zurück auf die Decke legte, während er seine Beine noch vom Bett hängen ließ. Er wunderte sich, dass L ihm eine solche Frage stellte, schließlich waren sie beide junge Männer, sodass sich eine Antwort eigentlich hätte erübrigen sollen.

„Vielleicht“, fuhr L fort, als ihm nichts entgegnet wurde, „dient die Zuneigung anderer Menschen nur zur Selbstversicherung. Dann magst du es, von Frauen begehrt zu werden und dich gebraucht zu fühlen.“

„Ich benutze sie doch nicht“, protestierte Light, „das geschieht alles unter gegenseitigem Einverständnis. Es gibt viele Mädchen, die einfach ein wenig Spaß haben wollen, ohne gleich eine ernste Beziehung zu fordern.“

„Ein wenig Spaß?“ L hielt eines der Taiyaki mit Daumen und Zeigefinger vor sein Gesicht und betrachtete die Stelle, an der er von dem Gebäck den Fischkopf abgebissen hatte. „Sexuelle Betätigung dient zur Fortpflanzung und der menschliche Körper kennt verschiedene Tricks, um diesen Akt für das Individuum attraktiv zu machen. Läge es jedoch nur am hormonellen Haushalt, würde Selbstbefriedigung bereits ausreichen.“

„Was willst du damit sagen?“ Im Liegen schaute Light zu seinem Partner hinüber, der den Blick jedoch nicht erwiderte.

„Ich stelle nur eine These auf, Light-kun. Es geht um die Frage, ob man andere Menschen nur deshalb auf diese Weise benötigt, um für sich selbst Bestätigung zu finden. Sex kann Unterdrückung und Machtausübung verkörpern und ein Beleg für die eigenen Fähigkeiten sein.“

„Das lässt es aber zum bloßen Kalkül werden“, gab Light skeptisch zu bedenken.

„Kommt drauf an. Du meintest doch, viele Frauen würden keine ernste Beziehung fordern. Aber eines haben meine Nachforschungen mit hundertprozentiger Sicherheit ergeben, dass Amane Misa Liebe für Yagami Light empfindet. Wenn du das wusstest, diese Gefühle aber nicht erwidern konntest, dann war deine erste Reaktion auf Misa-san Kalkül.“

Light biss die Zähne aufeinander und starrte an die weiße Wand. Sein Ermittlungspartner hatte genau den Punkt getroffen, der ihm selbst schon Kopfzerbrechen bereitet hatte. Doch hatte Light diese Fragen immer wieder verdrängt, weil sie ihm eröffneten, dass er viele seiner eigenen Handlungen später nicht mehr nachvollziehen konnte.

Als er nichts erwiderte, schaute L zu ihm hinab und drang weiter auf ihn ein:

„Warum hast du das also getan? Weshalb hast du dich auf diese Weise Amane gegenüber verhalten, wenn sie eigentlich nicht deinem üblichen Geschmack entspricht? Weshalb lehnst du es jetzt aus moralischer Verpflichtung ab, Amane für unsere Zwecke einzusetzen, wenn du vorher anscheinend weniger ein Problem damit hattest? Vielleicht liegt der Grund hierfür darin, dass du sie als zweiten Kira gebrauchen konntest. Womöglich gingst du deshalb nicht auf meinen Vorschlag ein, um die Ermittlungen zu behindern, weil du dadurch...“

„Hör endlich auf damit!“, unterbrach ihn Light energisch, um sich zu verteidigen. „Woher soll ich jetzt noch so genau wissen, was ich mir in einer vergangenen Situation gedacht habe? Ich bin auch nur ein Mensch und habe früher Dinge getan, die ich nun nicht mehr tun würde. Ich entwickle mich weiter, genauso wie sich meine Ansichten ändern. Muss ich mich für alles rechtfertigen, was ich jemals getan habe? Ich hatte nicht die Chance, weder Takada noch Misa näher kennenzulernen. Als Misa verhaftet wurde, stand ich völlig neben mir. Aus meinem eigenen Zweifel heraus habe ich mich dir gestellt. Du hast überhaupt keine Vorstellung davon, wie mich das alles fertig gemacht hat!“

Während seines Ausbruchs hatte sich Light aufgesetzt, damit er L auf gleicher Höhe begegnen konnte. Dieser hielt dem Augenkontakt ernst stand, ohne eine emotionale Regung im Gesicht zu zeigen.

Nach einem langen Moment des Schweigens senkte er jedoch überraschend den Blick und sagte leise:

„Tut mir leid.“

Light blinzelte irritiert. Er hatte nicht erwartet, dass sich L entschuldigen würde. Dann dachte er allerdings daran, dass man bei vielen Aussagen des Meisterdetektivs nicht klar bestimmen konnte, ob sie ehrlich gemeint waren oder nicht. Mit dieser Erkenntnis in seinen Gedanken schüttelte Light langsam den Kopf und meinte:

„Ist schon gut. Vergiss es einfach.“
 

Kurzes dunkles Haar berührte ihre sich leicht hebenden schmalen Schultern. Der sanfte Schwung ihres Schlüsselbeins, der sich unter der hellen Haut abzeichnete. Kiyomi besaß eine angenehme Stimme. Ihre Atmung hatte sich beschleunigt. Sie schloss die Augen, sodass ihre Wimpern einen schwarzen Kranz auf ihren dezent geröteten Wangen bildeten.

Light war bei Frauen sehr beliebt. Hatte er nicht seinen Status bewahren wollen, als bester Absolvent aller Schulen, als Sohn des Polizeiinspektors? Auf jede erdenkliche Weise wurde er dieser Stellung gerecht.

Er trat aus der Tür heraus. Seine Mutter tauschte einen verwunderten Blick mit seiner Schwester. Vor dem Haus der Familie Yagami stand ein blondes Mädchen und lächelte. Wer war das nur?

Viele mochten Misa. Sie war hübsch und berühmt, hatte einen außergewöhnlichen Kleidungsstil, ein auffallendes Erscheinungsbild. Niedlich, aber nicht ganz nach Lights Geschmack. Durch ihre zierliche Statur war sie viel kleiner als er.

Warum hatte er sie geküsst?

„In dem Film gibt es auch eine Liebesgeschichte. Wirst du eifersüchtig sein, wenn Misa mit einem anderen Mann zusammen ist?“

Misa liebte ihn. Vielleicht liebte ihn auch Kiyomi.

Und Light, er liebte die Menschen.

„Wir werden ein gemeinsames Zimmer haben, Light-kun. Die Handschellen erfordern das.“

Der Raum war spartanisch eingerichtet. Ein großes schlichtes Bett mit weißen Laken bezogen zwischen zwei Nachttischen an der Wand. Im ersten Moment hatte sich Light gewundert, warum es nicht zwei Betten waren, die dicht beieinander standen. Hätte das nicht gereicht?

Kiyomi lag auf der Decke und streckte ihm ihre Hand entgegen. Das Metall der Fessel zog an Lights Handgelenk, als L an ihm vorbei zum Bett ging. Der Detektiv nahm die Einladung der attraktiven Frau an und ließ sich von ihr hinabziehen. Light verfolgte die feingliedrigen Finger Kiyomis, die sich in das wirre schwarze Haar des anderen Mannes gruben. Mit den Fingernägeln der rechten Hand fuhr sie behutsam über Ls blasse Lippen, zeichnete die Kontur seines Kiefers nach, strich seinen Hals entlang, wobei sie mit dem Daumen über seinen Kehlkopf glitt. L hatte sich zu ihr hinabgebeugt. Seine Wirbelsäule und sogar seine Rippen waren unter dem Oberteil anhand eines leichten Schattens zu erkennen. Währenddessen hielt sich Kiyomi an dem weißen Stoff seiner Kleidung fest, sodass ein Teil von Ls flachem Bauch freilag. Light starrte gedankenversunken auf den Beckenknochen, der unter der nackten Haut des jungen Mannes zum Vorschein kam.

Und dann begegneten sich ihre Blicke.

Für einen Moment glaubte Light, dass die schwarzen Augen bis in sein Innerstes sahen.
 

Light erwachte irritiert und schaute vom Rand des Bettes auf den Fußboden. Er brauchte einige Sekunden, bis er seine Gedanken geordnet hatte und registrierte, dass ihn ein Geräusch aus dem Schlaf gerissen hatte. Nun nahm er auch bewusst den Lichtstreifen wahr, der über den Boden geworfen wurde und das Zimmer geringfügig erhellte.

Ein Husten erklang aus dem Badezimmer, dessen Tür einen kleinen Spalt offen stand. Dann war die Toilettenspülung zu hören, begleitet von einem dumpfen Ton und einem erneuten Husten.

Überflüssigerweise drehte sich Light um und erkannte, dass L nicht mehr neben ihm lag. Nur die Handschellen ruhten losgelöst auf den weißen Laken.

Sofort griff Light danach und hielt den kühlen Metallring fest, der sich normalerweise um Ls Handgelenk schloss. Dann stand er auf, um sich mit raschen Schritten auf das Bad zuzubewegen. Im Vorbeigehen bemerkte er flüchtig die leeren Tüten, in denen Misa die Taiyaki transportiert hatte.

Er trat in das grelle Licht, spürte die kalten Fliesen unter seinen nackten Füßen und hielt inne.

L kniete vor der Toilette, die Hände klammerten sich an den mit Emaille überzogenen Keramikrand, während er das Gesicht von Light abgewandt auf den Oberarm gebettet hatte. Seine Atmung war schwerfällig. Er muss das gesamte Gebäck gegessen haben, schoss es Light verstehend durch den Kopf.

„Was willst du hier, Light-kun?“

Ohne sich umzuwenden hatte L jene Frage mit annähernd emotionsloser Stimme gestellt. Doch sein Partner kannte ihn gut genug, um aus dem Tonfall den Hauch an Frustration und Schwäche herauszuhören.

„Das könnte ich dich genauso fragen“, antwortete Light sanft.

Nach einem kurzen Zögern ging er auf ihn zu, ließ sich in die Hocke sinken und legte vorsichtig die Hand auf Ls Schulter.

„Du hättest nicht so viel davon essen sollen.“

„Aber essen beruhigt mich“, entgegnete L schlicht, während er die Berührung kommentarlos zuließ. Doch seine Finger zuckten kaum merklich. „Es beruhigt mich, beschäftigt zu sein ohne wirklich etwas zu tun.“

„Dann solltest du wenigstens etwas Gesünderes essen.“

„Aber Süßigkeiten machen mich glücklich.“ Kein anderer Mensch außer L würde wahrscheinlich auf solche Weise das Wort „Glück“ aussprechen. Dieser traurige Gedanke ließ Light schwer atmen. Anstatt seinem Freund Halt zu geben, war er fast versucht, sich selbst an ihn zu lehnen. Stattdessen umklammerte er die Metallfessel in seiner linken Hand noch stärker.

„Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche“, sagte L leise, „und kaum trenne ich unsere Verbindung für ein paar Minuten, bist du schon wieder da und lässt mir keine Ruhe.“

Bestürzt löste Light die Hand von Ls Schulter. Dieser zeigte jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass er seine Worte bereute oder dass Light sie falsch verstanden hatte.

Ein langer Moment des Schweigens herrschte zwischen den beiden jungen Männern, bis sich L langsam zu rühren begann und vom Toilettenrand entfernte. Beim Ellbogen beginnend wanderte sein Blick über den eigenen Arm bis hin zu den Fingerspitzen. Er starrte auf seine Handflächen. Für Außenstehende nur bei genauerem Hinsehen wahrnehmbar verzog L das Gesicht. Er stand auf und ging zum Waschbecken hinüber.

Auch Light hatte sich erhoben, wich jedoch ein paar Schritte zurück, wobei er seinen Partner weiterhin beobachtete. Dieser drehte mittlerweile den Wasserhahn auf und wusch mit sorgfältigen Bewegungen seine Hände und die Unterarme. Danach spülte er sich den Mund aus und griff nach seiner Zahnbürste.

Light verweilte im Hintergrund und wartete. Er konnte nicht gehen, obwohl die Handschelle, die er nach wie vor umklammert hielt, momentan nutzlos war. Doch konnte er genauso wenig voranschreiten. Ihm blieb nichts weiter übrig, als wie immer wortlos danebenzustehen.

Allerdings glaubte er dieses Mal, dass er mehr gesehen und mehr verstanden hatte als sonst.

Verwandt

Verwandt
 

Jenseits der Menschen gab es mehr als Vernunft. Jenseits der Außenwelt war eine andere Sehnsucht. Es war nur die Spitze, die unbemerkt die Oberfläche durchstoßen hatte. Erst viel zu spät verdeutlichte der Schmerz, wie tief der Stachel bereits gedrungen war. Doch nicht jeder Schmerz tat weh.

„Du siehst erschöpft aus, Vater.“

Soeben hatte der Polizeiinspektor den zentralen Arbeitsbereich der japanischen Sondereinheit betreten. Light war aufgestanden, um auf ihn zuzugehen, hielt dann jedoch inne und warf einen Blick hinab auf die Handschellen. Seit kurzem bemühte er sich unverwandt, seine Fesselung zu ignorieren, wenn er sie schon nicht lösen konnte.

„Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut“, antwortete der in letzter Zeit hager gewordene Mann mit einem müden Lächeln und hob beschwichtigend eine Hand. Während Lights Blick wieder besorgt auf seinem Vater ruhte, machte L keinerlei Anstalten, sich umzuwenden. Mit angewinkelten Beinen saß er auf einem Stuhl und starrte auf den Computermonitor, während er lustlos ein paar Daten analysierte.

„Im Polizeidezernat fragt man sich, was wir eigentlich machen“, erklärte Herr Yagami seinem Sohn. „Seit kurzem sind bei uns keinerlei Fortschritte mehr zu verzeichnen. Ich weiß nicht, was ich meinem Vorgesetzten berichten soll.“

„Darüber kann sich doch niemand in der Zentrale ein Urteil erlauben“, meinte Light stirnrunzelnd und verschränkte dabei die Arme vor der Brust, „schließlich haben sich die meisten vom Kira-Fall zurückgezogen, sobald es brenzlig wurde.“

„Das sind nun einmal ganz normale Menschen“, räumte der Inspektor ein, „mit Zukunftsplänen, mit Familie, mit Verantwortung zu tragen.“

„Als hättest du keine Familie.“

Eine Sekunde, nachdem er es ausgesprochen hatte, bereute Light seine Worte bereits. Denn er las im Gesicht seines Vaters den beständigen Zweifel, der diesen zwischen der Verantwortung seiner Familie gegenüber und dem Streben nach Gerechtigkeit schwanken ließ. Herr Yagami öffnete nicht einmal den Mund zu einer möglichen Entgegnung. Es gab nichts, was er dazu hätte erwidern können.

Stattdessen schaute er zu dem Meisterdetektiv hinüber und seufzte kaum merklich, bevor er ein Buch aus seiner Tasche zog.

„Wir scheinen alle auf der Stelle zu treten. Vielleicht ist es besser, ab und an ein wenig Abstand zu gewinnen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“ Damit reichte er seinem Sohn das in hellen Farben gehaltene Buch, auf dem über dem Titel, welcher mit Kanji geschrieben war, ein paar Worte in lateinischen Buchstaben standen. Light betrachtete die Vorderseite, wobei ein Lächeln über seine Lippen huschte.

„Es ist immer etwas, das ich nicht erwarte, Vater.“

„Du weißt doch“, erklärte Herr Yagami, „um Ordnung zu schaffen, muss man erst einmal alles leerfegen und in eine andere Welt eintauchen.“

Lachend entgegnete Light:

„Jetzt weiß ich, warum Mutter meinte, du hättest eine romantische Ader. Ich dachte immer, sie wollte mich auf den Arm nehmen.“

Auf das Gesicht des Älteren schlich sich ebenfalls ein Lächeln, doch lag etwas undefinierbar Trauriges darin.

„Wenn du es für Zeitverschwendung hältst...“

„Keineswegs“, versicherte Light, „vielleicht bringt es mich im Endeffekt sogar ein Stück voran. So habe ich Raum, um über einiges nachzudenken.“

„Aber Vorsicht, zu viel Abstand scheint mir auch nicht angebracht zu sein.“ Damit wandte sich der Polizeiinspektor weniger an seinen Sohn als vielmehr in Richtung des teilnahmslosen Detektivs. Dieser reagierte jedoch nicht darauf, sodass Lights Vater unvermittelt hinzufügte: „Je mehr Verantwortung man zu tragen hat, desto weniger sollte man sich egoistisch und unvernünftig verhalten.“

„Unvernunft ist unabhängig von Egoismus“, sagte L auf einmal, bar jedes Anzeichens dafür, dass er der bisherigen Unterhaltung überhaupt gefolgt war. „Sobald jemand egoistisch handelt, handelt er auch vernünftig.“ Bevor Herr Yagami etwas erwidern konnte, hatte sein Sohn bereits das Wort ergriffen:

„Menschen können nur schwer zum Denken und Handeln gezwungen werden, das funktioniert nur bis zu einem bestimmten Punkt. Jeder muss selbst eine Entscheidung treffen, ob der nächste Schritt nach vorn oder zurück führen soll.“ Light warf seinem Vater einen kurzen Blick zu, der diesen um Verständnis und Geduld bat.

„Kann man sich denn entscheiden?“ Ls tonlose Stimme stellte die Frage mitten in den Raum. Nach einem Moment holte er schwerfällig Luft. „Hat man denn die Wahl, wieder umzukehren?“

„Was meinst du, Ryuzaki?“

„Wir können das, was wir sind, nur vor uns und in Gestalt von Zielen erkennen. Darum hat unser Leben immer die Form des Entwurfs oder der Wahl, sodass jede Handlung spontan zu sein scheint. Wenn wir aber von Anfang an auf ein künftiges Ziel zusteuern, ist doch auch unser Entwurf durch unsere anfängliche Wesensart festgelegt. Das wiederum heißt, dass die Wahl schon mit unserem ersten Atemzug getroffen ist.“

Während Lights Miene ernst wurde, wandte sich sein Vater wortlos ab. Für einen langen Augenblick starrte der ältere Mann zu Boden. Dann entschied er mit einem leichten Kopfschütteln, dass die beiden Jüngeren auf seine Anwesenheit verzichten konnten, und verließ den Raum. Light bemerkte es nicht einmal und meinte zu seinem Ermittlungspartner:

„Wenn uns nichts von außen zwingt, dann nur, weil wir selbst für das verantwortlich sind, was wir eine Wirkung auf uns ausüben lassen. Unser Verhalten anderen Menschen und der Welt gegenüber ist von äußeren Einflüssen unabhängig, wenn es nicht auf Überlegungen beruht. Der Teufel, der dich reitet, bist immer du selbst. Wir sind zur Freiheit verurteilt.“

„Aber sind wir auch frei in Hinblick auf uns selbst? Ist unsere Entscheidung nicht in das jetzige Leben zurückversetzt, gibt es überhaupt eine Wahl, wo es noch kein Feld klar unterschiedener Möglichkeiten gibt, sondern nur einen einzigen Reiz, eine einzige Versuchung, die alles andere unwahrscheinlich macht?“

Bei dem Wort „Versuchung“ horchte Light auf. Zuerst hatte er geglaubt, L würde auf die Arbeit im Kira-Fall ansprechen und die damit verbundene Gefahr, welche allgegenwärtig geworden war. Es gab keinen Weg mehr zurück, denn neben der Verantwortung stellten Stolz und Siegeswillen zu große Hindernisse dar.

Doch als Light noch einmal über Ls Aussagen nachdachte, bemerkte er, dass das Ziel dieser Diskussion nicht irgendetwas Unbestimmtes oder Allgemeines betraf, sondern sie selbst. Für L war Kira der Anreiz zum Handeln geworden, alle nachträglichen Aktionen nur eine logische Konsequenz. Auf der anderen Seite schien er in Light etwas entdeckt zu haben, das diesen in Konfrontation mit einer ebensolchen Versuchung zu Kira hätte werden lassen. Aus dieser Überlegung heraus sprach Light schließlich mit Bedacht:

„Wenn ich von Geburt an Entwurf bin, lässt sich unmöglich unterscheiden, was in mir Gegebenes und was Geschaffenes ist, von keiner einzigen Geste lässt sich sagen, sie sei ausschließlich vererbt oder angeboren, sozusagen fern jeglicher Spontaneität.“

„Von keiner aber auch, sie sei etwas völlig Neues für dein eigenes Sein zu dieser Welt, das du von Anfang an bist. Niemand ist ein unbeschriebenes Blatt“, konterte L sofort, sodass Light seinen Verdacht bestätigt sah. Er entschied sich jedoch dagegen, eine zu starke Angriffsposition einzunehmen, und sagte deshalb distanziert:

„Du meinst, wenn es eine wirkliche Freiheit gibt, dann nur im Laufe des Lebens durch die Überwindung unserer Ausgangssituation, ohne dass wir jedoch aufhörten derselbe zu sein, nicht wahr?“

„Ja, das ist das Problem“, stimmte ihm L zu. „Zwei Dinge stehen fest, was die Freiheit betrifft, dass wir nie determiniert sind und dass wir uns nie ändern. Wenn wir zurückblicken, werden wir in unserer Vergangenheit immer die Ankündigung dessen entdecken können, was wir geworden sind.“

Lights Körper überlief es eiskalt. Was er auch tat, L schien zu der Erkenntnis gelangt zu sein, dass er Kira nicht verloren hatte. Falls alles andere in Vergessenheit geriet, so war Light nicht sicher, ob er froh darüber sein konnte, den Meisterdetektiv in dessen Wahl nicht zu enttäuschen.

Seit der Ankunft seines Vaters hatte Light hinter Ls Rücken gestanden. Als er nun registrierte, dass der Inspektor nicht mehr zugegen war, fühlte er sich hilflos und erschöpft. Schweigend setzte er sich wieder neben seinen Partner und fuhr sich durch das Haar.

Indessen beugte sich L nach vorn und zog die Tasse Tee, die schon eine geraume Zeit auf dem Tisch gestanden hatte, mit Daumen und Zeigefinger an der Untertasse zu sich heran. Obwohl das Getränk bereits kalt war, goss er aus einer kleinen Kanne Milch hinein. Nachdem er einen Schluck davon getrunken hatte, fragte er vermeintlich übergangslos:

„Light-kun, du erinnerst dich doch an die Psychologievorlesungen, die wir gemeinsam besucht haben, oder?“

Der Angesprochene nickte knapp, sodass L fortfuhr:

„Man kann an dieser Stelle nämlich auch mit psychoanalytischen Mitteln argumentieren, so überholt sie auch sein mögen. Obwohl sich die Deutungsvorschläge nicht beweisen lassen oder gar widerlegt wurden, sind sie prinzipiell nicht von der Hand zu weisen. Schließlich kann man nicht den Zufall für all die komplexen Korrespondenzen verantwortlich machen, die zwischen dem Kind und dem Erwachsenen entdeckt wurden. Die Psychoanalyse ist nicht dazu da, um uns wie die Naturwissenschaften über notwendige Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung aufzuklären, sondern um uns auf Motivationszusammenhänge hinzuweisen...“

„...die aber immer nur Möglichkeiten darstellen, ich weiß“, beendete Light den Satz. „Wir sind einer unaufhörlichen Veränderung unserer Persönlichkeit unterworfen, deren permanente Realität, wenn überhaupt, nur als retrospektive Hypothese verstanden werden kann.“

Der Anflug eines Lächelns strich über Ls Lippen.

„Du darfst eines nicht vergessen, Light-kun“, sagte er mit einer Stimme, die fast sanft klang, „wir können nie aus unserem Leben heraustreten. Du hast es selbst zugegeben. Wir sind, was wir sind, und werden es wohl immer bleiben.“
 

Das Wasser verursachte ein leises Geräusch in der Stille des Badezimmers. Es hatte etwas Beruhigendes an sich, sodass keiner der beiden jungen Männer sich genötigt sah, das Schweigen zu unterbrechen.

L hockte auf einem Waschschemel, ein Handtuch um die Hüfte gebunden, und säuberte soeben voller Konzentration seine Füße. Diese Prozedur kannte Light bereits, ebenso wie die Sorgfalt, mit der er sie durchführte. Er wusste nicht, ob es an der momentanen Tatenlosigkeit seines Kollegen lag, dass dieser so viel Zeit darauf verwendete, oder ob L schon immer peinlich genau auf seine Körperhygiene geachtet hatte. Es spielte keine Rolle. Light hatte sich an das tagtägliche Verfahren gewöhnt. Ganz im Gegenteil empfand er jene Momente der Ruhe sogar als angenehm und vertraut.

Obwohl eine Zeitersparnis mittlerweile nicht mehr nötig war, bevorzugte Light es meist, bloß kurz zu duschen, ohne danach ein Bad zu nehmen. Noch konnte er seinen nackten Oberkörper nicht bedecken, weil L ihn in der Zwischenzeit häufig an den Handtuchhalter kettete. Kaum merklich seufzte er.

Einerseits hatte sich die Gefangenschaft als weniger unangenehm und anstrengend herausgestellt, als man es eigentlich von einer solch permanenten Zweisamkeit erwarten würde. Andererseits schien sie unterschwellig doch belastender zu sein. Da L seinen Verdächtigen nicht von sich stoßen konnte, ließ er seine Anspannung womöglich an allen anderen Beteiligten aus und nötigte ihnen Abstand auf. Das würde zumindest sein Verhalten in letzter Zeit erklären. Deshalb bemühte sich Light, ihnen beiden mehr Raum zu gewähren, denn auch ihn selbst wühlte die derzeitige Situation auf. War ihre Nähe zueinander vielleicht zu viel?

„Betrachtet man deinen Vater, begreift man, woher du deine Gerechtigkeitsvorstellung hast, Light-kun“, sagte L unvermittelt, ohne sich dabei umzudrehen. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?“ Seine Stimme wurde leiser, in sich gekehrt, fast orakelnd. „Die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Eine Versuchung. Verführung.“

Verwirrt schaute Light auf, schob sich das Handtuch vom Kopf und legte es um seine Schultern. Sein eigenes helles Haar war fast vollständig getrocknet, nachdem er es vorher kurz geföhnt hatte. Ls wirre, schwarze Mähne hingegen war noch immer nass, vereinzelt fielen Wassertropfen herab und perlten über die weiße Haut. Light betrachtete die knochigen Schultern, Wirbel und Rippen, die feinen Muskellinien des gekrümmten Rückens und der schlanken Gliedmaßen, die von einem feuchten Film überzogen waren. Blinzelnd wandte er den Blick ab.

„Du meintest vorhin sinngemäß“, fuhr L fort, „niemand könne zur Vernunft gezwungen werden, oder?“

„Vernünftig zu handeln heißt für meinen Vater, sich hinter das Gemeinwohl zu stellen“, erklärte Light und richtete starr den Blick zu Boden. „Doch es kommt darauf an, wie man das definiert. Vernunft folgt im Grunde nur der eigenen Ratio. Was unser Verstand für vernünftig hält, kann für Außenstehende höchst irrational sein.“

„Tja, was bedeutet schon Vernunft.“ Kein fragender Ton lag in Ls Aussage. „Es lässt sich schwer definieren, was man darunter zu verstehen hat. Schließlich widerspricht es der Vernunft auch nicht, wenn ich die Zerstörung der ganzen Welt einem Kratzer an meinem Finger vorziehe.“

„Würdest du das denn wollen?“

Nun endlich drehte L seinen Kopf zu Light und erwiderte dessen Blick. Seine großen Augen zeigten wie zumeist nur ein stummes Interesse.

„Würdest du“, wiederholte Light seine Frage, „die ganze Welt zerstören, wenn deine Vernunft dir das sagte?“

„Gegenfrage, Light-kun. Würdest du deine Familie opfern, wenn du dafür Kira aufhalten könntest?“

Bestürzung spiegelte sich auf Lights Miene wider. Zwar öffnete er den Mund, doch vermochte er vorerst nicht, eine Antwort darauf zu geben. L nutzte die Gelegenheit und fügte ohne Umschweife hinzu:

„Wenn ich den Kratzer an meinem Finger für die größte Ungerechtigkeit hielte, dann würde ich dafür vielleicht auch die ganze Welt verraten.“

„Es geht hier um viel mehr! Kira hat unzählige Menschenleben auf dem Gewissen.“

„Wenn das Ideal groß genug ist, sind Opfer also zu verschmerzen? Für die meisten ist das eigene Leben, die eigene Familie mehr wert als der Rest der Welt“, gab L zu bedenken. „Wie sieht es bei dir aus, Light-kun? Ich weiß, du würdest nicht gegen deine Moral verstoßen, um diesen Fall zu lösen. Aber trotzdem riskierst du das Leben deiner Familie, genau wie dein Vater. Um eure Gerechtigkeit zu vertreten, würdet ihr dieses Opfer erbringen, nicht wahr?“

Light atmete schwer aus und senkte kopfschüttelnd den Blick. Seine Mimik zeigte deutlich, wie wenig er diese Worte hören oder akzeptieren wollte, wie sehr sie auch zutreffen mochten. Mit belegter Stimme gestand er:

„Gerechtigkeit ist meines Erachtens eines der bedeutendsten Güter der Menschheit. Doch auch meine Familie ist mir wichtig. Ich kann sie nicht einkalkulieren, als wären es nur Fremde für mich.“

„Also würdest du niemals wie Euthyphron handeln?“

„Du meinst“, fragte Light irritiert, „ob ich meinen Vater anklagen würde, wenn er ungerecht handelt? Ob ich ein Urteil darüber fällen würde, vermeintlich richtig zu handeln, weil es allgemein verlangt wird oder ob ich meiner eigenen Moral folgend gar nicht anders kann und sein Leben dagegen verrechne? Das ist doch eine völlig andere Sache.“

„Ist das so? Dein Vater würde deine Schuld wahrscheinlich nie akzeptieren, Light-kun. Wegen der Schande wird er euch beide töten, wenn du Kira bist.“

Light schluckte hart und schloss die Augen. Lange Zeit sagte er nichts mehr, während L wieder dazu überging, stillschweigend seinen Oberkörper zu waschen. Ein paar Minuten vergingen, bis Light leise fragte:

„Wenn wir eine Gemeinschaft von Fremden wären, was können wir dann anderes tun, als Gerechtigkeit an die erste Stelle zu setzen?“

„Das sind wir aber nicht. Wie wenig wir uns auch verstehen, wir werden einander niemals fremd sein.“ L hatte sich abgetrocknet und griff nach der Jeanshose, die zusammengefaltet auf einem Schrank lag. „Menschen ohne jede Sozialbindung, im buchstäblichen Sinne frei und unabhängig, jeder sein eigener Erfinder und Gestalter seines je eigenen Lebens, ohne Kriterien, ohne gemeinsame Maßstäbe und Normen, die ihn bei der Gestaltung leiten... das sind keine Menschen, sondern mythische Figuren.“

„Wie sollen wir damit umgehen, wenn die liberale Vorstellung einen solchen Trugschluss in sich birgt?“, warf Light gedankenversunken auf, während er am Rande seiner Wahrnehmung Ls Bewegungen registrierte. „In dieser Hinsicht sind wir niemals frei von den Dingen, die von außen auf uns einströmen und die eine Wirkung auf uns ausüben, wie sehr wir sie auch zu ignorieren versuchen.“

„Ja, das ist allerdings problematisch. Wir werden zwar als Individuen geboren, doch gehören wir sofort unterschiedlichen, sozial äußerst wichtigen Gruppen an. Menschen werden mit bestimmten Identitäten geboren, männlichen oder weiblichen, katholischen oder jüdischen, schwarzen, demokratischen, der Arbeiterklasse angehörigen oder einfach elternlosen Identitäten.“ L starrte bei den letzten Worten undurchdringlich zu Boden, sodass Light spüren konnte, wie entscheidend diese Aussage für seinen Partner war. Doch nachdem sich der Detektiv das weiße Oberteil übergestreift hatte, war in seinem Gesicht nichts mehr von der vorigen Abwesenheit zu lesen. Emotionslos beendete er seine Ausführung: „Viele der späteren Zusammenschlüsse sind bloßer Ausdruck dieser Grundidentitäten, die ihrerseits weniger selbstgewählt als vielmehr verordnet sind.“

„Wichtig ist nur, was man aus seinem Entwurf macht“, fügte Light mit einem Nicken hinzu, „welche Prioritäten man setzt.“

„Mir hat mal jemand gesagt“, erzählte L vorsichtig, während er die Handschellen löste und seinem Partner gestattete, sich anzukleiden, „wenn das Glück kommt, müsse man ihm einen Stuhl hinstellen. Du hast Recht, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Darum muss auch jeder allein entscheiden, wie viel er geben will, um sich treu zu bleiben.“

Light seufzte. Es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden.

„Du willst das alles von mir wissen, weil du testen möchtest, wie weit ich als Kira gehen würde, wie skrupellos ich wäre, nicht wahr?“

„Stimmt“, bestätigte der Detektiv ungerührt.

„Manchmal bist du verflucht ehrlich, L.“

„So?“ Mit einem rasselnden Geräusch schlossen sich ihre Fesseln. L hatte die Hand auf die Klinke der Badezimmertür gelegt, zögerte nun jedoch. „Dann gestehe ich dir noch etwas, Light-kun. Selbst in dieser Hinsicht sind wir uns nämlich sehr ähnlich. Ich würde einiges opfern, um gegen meine Feinde zu gewinnen.“ Er öffnete die Tür und kehrte Light den Rücken zu. „Vielleicht kommt für uns beide irgendwann der Tag, an dem wir die Menschen aufs Spiel setzen müssen, die uns am meisten bedeuten.“

Kaltes Wasser

Kaltes Wasser
 

Er hatte nicht erwartet, so schnell jenes Buch mit dem hellen Umschlag zur Hand zu nehmen, das ihm sein Vater mitgebracht hatte. Doch nun verlangte das Chaos in Lights Kopf nach Ablenkung. Während L mehrere Akten vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte, darin herumblätterte und manchmal scheinbar wahllos innehielt, um eine Seite eingehender zu studieren, hatte sich Light bequem auf dem Sessel gegenüber niedergelassen.

„Was liest du da?“

Beide Männer schauten auf, als Matsuda diese Frage stellte. Der junge Polizist war neben Light getreten und blickte interessiert auf das Buch in dessen Händen hinab.

„Die Göttliche Komödie“, antwortete dieser, „sicher nichts für Sie, Matsuda-san.“

„Wieso nicht?“

„Weil es ein Epos ist, in dichterischer Form.“ Matsuda legte fragend den Kopf schief. „Sie haben noch nie etwas davon gehört, kann das sein?“, wollte Light behutsam in Erfahrung bringen. Der Gesichtsausdruck des Polizisten war Antwort genug. „Nun, es ist ein eher religiöses Werk mit fiktivem Inhalt.“

„Also Fantasy?“, brachte Matsuda einen ungeschickten Vergleich hervor. Light verzog kaum eine Miene, obwohl er L leise schmunzeln hörte. Geduldig erklärte er:

„Na ja, so ähnlich. Heutzutage würde man es vielleicht als das bezeichnen, aber dafür ist es eigentlich zu stark politisch gewichtet. Außerdem werden mittlerweile nur noch selten Werke in dieser Form geschrieben. Die meisten Leute bevorzugen Romane.“

Eine Weile schien Matsuda darüber zu grübeln, bevor er meinte:

„Ich dachte, Dichtungen lesen nur alte Leute.“ Diesmal war es offensichtlich, dass sich L amüsierte. Zumindest für Light waren solche Dinge an seinem Partner nicht mehr zu übersehen, weshalb er nur knapp entgegnete:

„Das ist Geschmackssache.“

„Dann gib mir doch ein Beispiel“, forderte Matsuda ihn auf.

Während Light bemerkt hatte, dass L ihn grinsend beobachtete, ergriff er kurzerhand die Gelegenheit und blätterte ein paar Seiten in dem Buch zurück.

„Tu ab die Trägheit“, las er vor und richtete sich vermeintlich an Matsuda, „wer immer in Federn, unter Pfühlen säumt, erfuhr vom Licht des Ruhmes nie den holden Schimmer. Und ohne Ruhm lässt seines Lebens Spur der Mensch auf Erden grade wie im Meere der Wellenschaum, wie Rauch in Lüften nur.“

„Das schon wieder“, sagte L und verdrehte die Augen.

„Versteh ich nicht“, meinte dagegen Matsuda.

Light schlug das Buch zu und zuckte mit den Schultern.

„Dilettanten.“

„Klassik ist tot“, meinte L belanglos, „Matsuda-san ist das beste Beispiel dafür.“

Der Polizist hob eine Augenbraue, doch keine Wut lag in seinem Gesicht. Er hatte sich an die spöttischen Beleidigungen des Meisterdetektivs gewöhnt und sagte deshalb nur:

„Jeder interessiert sich eben für unterschiedliche Dinge. Im Gegensatz zu manch anderen Leuten bin ich wenigstens jung geblieben.“

„Ihr habt beide Recht“, versuchte Light die Situation zu schlichten, „Kultur ist ein weites Feld, in dem Klassisches ebenfalls seine Berechtigung hat, auch in unserer Zeit.“

„Unserer Zeit?“, nahm L den Faden auf, wobei er einen der Aktenordner auf den Tisch fallen ließ. „Du meinst das Atomzeitalter, in dem eigentlich kein Platz für solche großen Dinge wie Kultur ist. Die Welt ist mittlerweile sehr klein geworden.“

„Wenn sich niemand dafür interessieren würde, gäbe es Kultur doch schon längst nicht mehr, Ryuzaki.“

„Mit dieser Aussage gibst du aber weder mir noch Matsuda-san Recht. Auch wenn manche jung gebliebenen Leute diese Feinheiten nicht bemerken, sind diverse Floskeln also nicht nötig.“ L schlug einen weiteren Ordner auf und blätterte in zügigem Tempo eine Seite nach der anderen um. Während Matsuda die Arme vor der Brust verschränkte, fuhr er fort: „Heutzutage ist das Dasein des Menschen vom Atom geprägt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse machen uns die Welt so begreifbar und durchsichtig, dass wir uns vor lauter Fragen gar nicht mehr retten können. Dennoch gibt es jene andere Seite, die man gemeinhin als Kultur bezeichnet. Theater, Kunst, Film und Funk, Literatur, sogar Glaube und Religion, das hinkt alles noch hinterher.“

„Hängt das nicht von jedem selbst ab?“, fragte Matsuda skeptisch.

„Tja, vielleicht“, meinte L und schob ein paar Akten in eine entfernte Ecke des Tisches, um gleich darauf den nächsten Ordner zu nehmen und neben sich auf die Couch zu legen. „Vielleicht können wir gar nicht anders, weil die Gesellschaft schon vollständig kultiviert ist.“

„So gesagt klingt es, als wäre sie von einer Seuche befallen“, entgegnete Matsuda stirnrunzelnd und schien dieses Mal zu wissen, dass er damit nicht Unrecht hatte.

„Kultur, was ist das schon?“ Mit einem Schulterzucken überging L die Aussage. „Wir leben in einer von Menschen geschaffenen Welt, zwischen Gebrauchsgegenständen, in Häusern, auf Straßen, in Städten, und die meiste Zeit sehen wir all diese Dinge nur unter dem Blickwinkel der menschlichen Tätigkeiten. Wir sehen nur das, was mit diesen Dingen um uns herum passiert, was durch unsere eigenen Hände an ihnen vorgenommen wird. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass all das notwendig existiert und unerschütterlich ist.“

„Dennoch bleiben wir einfache Menschen“, meinte Light mit abwesendem Gesichtsausdruck, „und leben als solche in einer eingeschränkten Welt. Wir verstehen nur noch einen Bruchteil dessen, was wir so selbstverständlich benutzen. Literatur, Filme, sogar Videospiele, das alles versetzt uns in unbekannte Ferne. Für kurze Zeit versinken wir, können andere Personen sein, Abenteuer bestreiten und Erfahrungen machen, die nicht die unsrigen sind. Kultur ist wie eine Droge für unser tristes Dasein.“

„Zivilisation führt eben zu Langeweile“, pflichtete L gelassen bei, „und Langeweile zu Anarchie, aber auf eine sehr zivilisierte Weise. Wir glauben, dass wir uns eine eigene Meinung bilden, indem wir Zeitungen studieren, Dokumentationen schauen, Demonstrationen besuchen, intellektuelle Bücher lesen und individuell provokative Musik hören. Dabei vergessen wir, dass diese Kultur mittlerweile als Massenmedium im Kaufhaus steht. Es ist politische Kalkulation, dass wir kultiviert sind. Gerade hier in Japan.“

Light legte das Buch, das ihm sein Vater geschenkt hatte, vor sich auf den Tisch und starrte durch den Umschlag hindurch einen unbestimmten Punkt an.

Er wusste, was L meinte. Die japanische Gesellschaft baute auf Einheitlichkeit und Leistung. Das zeigte sich bereits im Kindesalter, denn die Wahl jeder einzelnen Einrichtung konnte durch ihren Ruf über die jeweilige Zukunft des Schülers entscheiden. An dem Druck zerbrachen viele und viele wollten ausbrechen, um sich ihre Individualität zu bewahren.

Doch dem Sohn des Polizeiinspektors war es nie eine Last gewesen. Er hatte von Beginn an zeigen können, dass er etwas Besonderes war. Dass er zur Elite gehörte.
 

„Matsuda hat sich ziemlich schnell wieder aus dem Staub gemacht.“ L stocherte mit einer Gabel in seinen Crumbles herum und schob ein paar Streusel von den warmen Äpfeln und Cranberrys herunter. „Er taucht immer völlig überflüssigerweise auf und verdrückt sich, sobald er überfordert ist.“

„Überfordert?“, fragte Light beiläufig, während er an drei verschiedenen Computern Datenpakete, Statistiken und Tabellen miteinander verglich.

„Damit meine ich, dass nicht jeder so intelligent ist wie wir, Light-kun.“

„Aha“, äußerte sich dieser dazu nur, hatte jedoch offensichtlich nicht richtig zugehört. Als er einen Moment später realisierte, was L gesagt hatte, drehte er sich auf dem Stuhl herum. „Spinner, du hast ihn doch selbst in die Flucht geredet.“

„Matsuda bewundert dich sehr“, überging L den scherzhaften Einwurf, „er hört dir immer genau zu, Light-kun.“

„Wirklich?“

„Nur weil er dir zuhört, heißt das nicht, dass er auch alles kapiert. Er wird nicht verstanden haben, von welchen Problemen unserer heutigen Leistungsgesellschaft wir vorhin geredet haben.“

„Sicher gehört er einfach nicht zu den Menschen, die sich von einem solchen Druck kaputtmachen lassen.“ Light streckte kurz seine schmerzenden Glieder, bevor er die einzelnen Rechner in Bereitschaftsschaltung versetzte. Auf den Monitoren der Zentralüberwachung war Misa zu sehen, die vor der Kommode stand und mit dem Drehbuch in der Hand zu ihrem Spiegelbild sprach. L schob sich die mit Früchten und Streuseln beladene Gabel in den Mund und ließ undeutlich verlauten:

„Oft sind einfach gestrickte Menschen gerade deshalb nicht unzufrieden, weil sie nicht wissen, was sie erlangen könnten, nach welchen höheren Zielen sie zu streben hätten.“

„Das heißt aber nicht, dass sie immer glücklich sind“, merkte Light an. „Du musst dir bloß den japanischen Alltag vorstellen, beispielsweise in der Untergrundbahn zur Hauptverkehrszeit, diese Masse an Anonymität. Du siehst müde Gesichter und Glieder, Emotionen wie Hass, Ärger und Stress. Man hat das Gefühl, jeden Augenblick könnte jemand ein Messer hervorziehen, einfach nur so. Und doch können ein paar Stunden später dieselben Leute, von Gerüchen befreit, gewaschen, festlich oder bequem gekleidet, glücklich und zärtlich sein, wirklich lächeln und vergessen. Es ist traurig, sich die Realität auszumalen, denn die meisten von ihnen werden zu Hause wohl nur ein unangenehmes Miteinander erleben oder schrecklich einsam sein.“

„Das ist die ungesellige Geselligkeit des Menschen“, stimmte L tonlos zu, während er die Gabel neben seinen leeren Teller legte, „ein Antagonismus, der dadurch entsteht, dass wir uns vergesellschaften wollen, um wirklich Mensch zu sein, denn nur so können wir alle unsere Anlagen verwirklichen. Aber gleichzeitig möchten wir uns isolieren.“ Light dachte über die Worte seines Partners nach und musste damit unwillkürlich die Isolation verbinden, in der L selbst die meiste Zeit lebte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sich der Meisterdetektiv bisher kaum mit etwas anderem vertraut gemacht als jenen leeren, sterilen Räumen und dem Surren etlicher Computermonitore. Wenn L könnte, würde er den Kontakt zu anderen Menschen vermutlich ausschließlich durch Mikrofone und Bildschirme aufrechterhalten.

„Womöglich“, setzte Light nachdenklich an, „wollen viele Menschen nicht Gefahr laufen, anderen zu unterliegen, weil sie Angst haben, dass ihre eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen. Wenn man sich gar nicht erst auf einen Kampf einlässt, kann man auch nicht von sich selbst enttäuscht sein.“

„Es liegt eben in unserer Natur, dass wir alles nach unserem Willen lenken wollen.“ L war aufgestanden und wandte sich zum Gehen. Dabei ließ er den Teller, auf dem nur noch ein paar vereinzelte Krümel lagen, einfach stehen. Am nächsten Tag, das wusste Light, würde ihn jemand weggeräumt haben.

„Ordnung und Kontrolle sind für den Menschen nun mal sehr wichtige Themen“, sagte er, wobei er sich ebenfalls erhoben hatte.

„Und gleichzeitig“, gab L zurück, „erwarten wir immer Widerstand und wissen, dass wir selbst der Widerstand gegen andere sind. Es kann in der Ethik nicht darum gehen, ob Menschen einander ihre Freiheit einschränken dürfen, sondern nur darum, wie sie es dürfen.“

„Der Widerstand, von dem du sprichst“, schloss sich Light der Argumentation an, während er dem Anderen die Treppe hinauf folgte, „er weckt doch auch die Kräfte des Menschen und bringt ihn dazu, seine Trägheit und Langeweile zu überwinden.“

L reagierte auf den spitzen Appell in jener Aussage mit Sarkasmus:

„Und dabei ist er nur noch getrieben von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, um sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er zwar nicht leiden kann, von denen er allerdings auch nicht lassen kann. Die Partikularinteressen führen zu einem erhöhten Leidensdruck, dem sich der Mensch nicht entziehen kann. Er ist schließlich mehr oder weniger dazu gezwungen, sich auf gesetzliche Regelungen einzulassen.“

„Die Aufgabe der Gesetze besteht aber nicht darin, Meinungen zu bewahrheiten, sondern die Sicherheit des Gemeinwesens sowie der Güter und der Person jedes einzelnen zu gewährleisten.“

„Genau aus dem Grund hat sich diese krankhaft erzwungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft am Ende in ein moralisches Ganzes verwandelt.“

Die beiden Männer betraten ihr gemeinsames Zimmer. L ließ sich sogleich auf das Bett fallen, mit zur Decke gewandtem Blick, während sein linker Fuß noch immer den Boden berührte. Ganz in seiner Nähe setzte sich sein Partner an den Rand des Bettes.

„Eigentlich hätte der Verstand doch ausreichen müssen“, meinte Light trübsinnig, „damit der Mensch das alles erkennt. Stattdessen müssen wir erst die traurige Erfahrung von Kriegen machen, bis wir zuletzt am Ende unserer Kräfte angelangt sind und uns eingestehen, dass wir nur gemeinsam überleben können. Doch bevor wir zu dieser Erkenntnis gelangen, müssen unzählige unter unserer Selbstherrlichkeit leiden. Da kann man nur noch schwer an das Gute glauben.“

„Wenn die Menschen gutartig wie Schafe wären, dann würden sie ihrem Dasein nicht mehr Wert verschaffen als ihrem eigenen Nutzvieh.“ L starrte weiterhin gelangweilt die Decke an, obwohl in seiner Stimme etwas mitschwang, das beinahe als Frustration zu interpretieren war. „Darum müssen wir dieser mangelnden Fähigkeit zum Konsens danken, unserer im Wettstreit stehenden Eitelkeit und der nicht zu befriedigenden Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen.“

Irritiert schaute Light zu seinem Kollegen hinüber und entgegnete:

„Aber im Grunde genommen wollen wir doch alle nur ein einträchtiges Beisammensein, oder nicht?“

„Die Natur weiß besser, was für unsere Gattung gut ist“, widersprach L, „nämlich Zwietracht. Nur dadurch sind wir in unserer Entwicklung so weit gekommen.“

Light sagte nichts dazu und ließ den Blick durch das Fenster nach draußen gleiten. Der Himmel war vollständig von Wolken bedeckt, die sich langsam über den Hintergrund der Stadtkulisse bewegten und die Wände des Zimmers in grauweiße Farbe tauchten. Die ersten Lichter erhellten die Häuser und Straßen, doch hinter den Fassaden Tokyos blieb jeder einzelne Mensch unbekannt.

„Wenn du so pessimistisch von Ehrgeiz und Selbstbehauptung sprichst“, brach Light schließlich mit leiser Stimme das Schweigen, „warum fehlt dir dann der Mut, um weiterzumachen? Warum hast du deinen Elan über Bord geworfen?“

„Ich möchte einfach gar nichts tun“, erwiderte L deprimiert, „nur die Augen schließen und im Schlaf alles vergessen.“

„Als ob du wirklich Schlaf suchen würdest“, meinte Light ein wenig zynisch.

„Auch wenn ich unmotiviert bin, ich kann es nun mal nicht“, erklärte der Detektiv. „Ich kann nicht nachlässig sein oder untätig bleiben.“

„Das widerspricht sich doch! Nimmst du dich weiter vor mir in Acht, obwohl ich meinen Wert eingebüßt habe? Was war überhaupt dein Ziel, wenn es jetzt egal zu sein scheint? Du darfst dich nicht hängen lassen und musst deinen Enthusiasmus wiederfinden! Wie willst du zurückkehren können, wenn du den Weg aus den Augen verlierst?“ Darauf gab L keine Antwort mehr. Seufzend senkte Light den Kopf und vergrub, wie so oft in solchen Situationen, die Hände in seinem braunen Haar.

Ein weiterer langer Moment der Stille verstrich. Light versuchte das Chaos in seinen Gedanken zu ordnen. Wie war Ls Lustlosigkeit mit der Tatsache zu vereinbaren, dass dem Detektiv der Sieg eigentlich so wichtig war? Es konnte nicht daran liegen, dass er schon verloren zu haben glaubte, denn noch war das Spiel nicht zu Ende. Lief es wieder auf dasselbe Problem hinaus? Um sich Klarheit zu verschaffen, sagte Light:

„Du willst in Wirklichkeit gar nicht mit mir kooperieren.“

„Wie?“ Teilnahmslos wandte sich L seinem Ermittlungspartner zu. Dieser wagte sich in seiner These noch einen Schritt weiter, wobei sein Vorwurf zunehmend ungehaltener wurde.

„Du willst nicht mit mir, sondern gegen mich kämpfen, ist es nicht so, Ryuzaki? In deinen Augen hat Kira mein Gesicht verloren und das passt dir nicht. Du bist schlichtweg beleidigt und stur wie ein kleines Kind, weil du es nicht zulassen willst, dass jemand anderes Kira ist!“

„Was interessiert dich das denn?“

Wütend war Light aufgestanden. Das bittere Gefühl in seiner Magengegend hatte sich aufgrund des gleichgültigen Verhaltens, das ihm sein Freund entgegenbrachte, zu einer Welle des Zorns gesteigert. Die ruckartige Bewegung ließ L wegen der Metallkette beinahe aus dem Bett fallen. Doch nachdem er sich gerade noch rechtzeitig gefangen hatte, wurde er bereits am Handgelenk gepackt und durch das Zimmer gezerrt.

„Light, was...?“ Zu perplex, um zu reagieren, taumelte L hinter dem Jüngeren her.

„Ich habe es satt.“ Lights Stimme bebte. Er zog seinen Partner ins Badezimmer und stieß ihn ohne Umschweife in die Duschkabine. L schaffte es zwar rechtzeitig, sich an der Kabinenwand festzuhalten, stolperte dann jedoch und fiel rücklings auf den weißen Untergrund. Während er sich mit den Händen abstützte, um wieder eine aufrechte Position zu erlangen, prasselte plötzlich eiskaltes Wasser auf ihn herab.

Vor Schreck erstarrt hob L den Kopf. Undeutlich sah er Light über sich stehen, der verzweifelt auf ihn hinabschaute. Dieser war ebenfalls halb in die Duschkabine hineingestiegen, sodass seine Hosenbeine nass wurden. Es schien ihn jedoch nicht zu kümmern.

„Wach endlich auf!“ Aus Lights Stimme klang deutlich die Hoffnungslosigkeit hervor, gegen die sich der junge Ermittler schon seit Wochen zur Wehr setzte. Er hatte einfach keine Kraft mehr.

„Warum lässt du dich so gehen?“, rief er dem Meisterdetektiv fragend entgegen. Dieser lehnte stumm den Kopf gegen die Wand. Das Wasser durchtränkte seine Kleidung, die ihm schwer und kalt an der Haut zu kleben begann. Sein Gesicht gab kaum Aufschluss darüber, ob ihm das alles überhaupt etwas bedeutete.

Light ließ sich hinabsinken, fasste seinen Freund bei den Schultern und schüttelte ihn leicht.

„Was ist denn los mit dir?“, redete er auf L ein, während dieser langsam den Kopf drehte und ihn mit seinen unergründlichen Augen durchdrang. „Warum hilfst du mir nicht, verdammt?!“

Unter seinen Fingern spürte er, dass L zu zittern begonnen hatte. Auch Light konnte sich gegen die Kälte nicht mehr wehren. Seine Sachen hafteten klamm an seinem Körper. Das Wasser verschleierte seinen Blick.

Dennoch sah er auf einmal wirklich in die schwarzen Augen seines Freundes, die reglos auf ihn gerichtet waren, vergleichbar mit denen eines Toten.

Das Erkennen traf Light wie ein Schlag ins Gesicht. Fast hatte er vergessen, dass man manchmal genauer hinsehen musste, um unter die Oberfläche zu dringen. Und dass man es stets auf eigene Gefahr tat. War er denn blind gewesen?

„Es...“ Lights Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Es tut mir leid.“ Mit diesen Worten überwand er seinen inneren Konflikt und die immerwährende Distanz zwischen ihnen. Er streckte die Arme aus und schloss sie um Ls Körper, um ihn an sich zu ziehen.

Der Detektiv rutschte noch ein weiteres Stück gegen die Wand in seinem Rücken, sodass Light, um ihn nicht loszulassen, sein Gewicht auf den fremden Körper verlagern musste und zwischen dessen angewinkelten Beinen zum Ruhen kam. Verwundert schaute L aus seinen dunkel umschatteten Augen auf den braunen Haarschopf hinab. Keiner von beiden wusste, wem diese Umarmung als Stütze dienen sollte und wer hier tatsächlich nach Halt suchte.

Während kaltes Wasser über die geschlossenen Lider Lights und dessen Wangen lief, hielt er seinen Freund weiterhin fest umschlungen. Er wollte über sein eigenes Handeln nicht mehr nachdenken müssen. Ansonsten hätte er sich vielleicht eingestanden, dass er sich selbst wie das Kind benahm, als welches er L im Affekt bezeichnet hatte.

„Es tut mir leid“, wiederholte Light kaum hörbar.

„Du musst dich nicht entschuldigen“, antwortete L, wobei er sich auf die Nähe des Anderen konzentrierte und dessen Nacken und Schulterblätter betrachtete, die unter dem durchnässten weißen Hemd zum Vorschein kamen. „Wenn jemand um Verzeihung bitten sollte, dann bin ich das.“

„Ach, komm“, lachte Light schmerzlich und löste sich von ihm, „das meinst du doch sowieso nicht ernst.“

„Wer weiß.“ Es verwirrte L, dass er für einen Moment den Drang verspürt hatte, den Jüngeren festzuhalten. Stattdessen registrierte er fasziniert die Verlegenheit, die sich auf Lights Gesicht widerspiegelte, eine für den sonst so ernsten Studenten ungewohnte Emotion.

Das Rauschen des Wassers hörte auf. Light zog seine Hand zurück und ließ sie achtlos hinabfallen. Er konnte L nicht in die Augen schauen, diesem hochintelligenten Mann und weltbesten Detektiv, den er ohne nachzudenken in eine solch unangenehme Lage gebracht hatte.

„Ich habe wohl einfach Angst“, gestand Light schwermütig. „Angst davor, dass du dich selbst verraten könntest.“

Im Namen Gottes

Im Namen Gottes
 

Mit einem leisen Geräusch verschwand das letzte Wasser im Abfluss, bevor sich Stille über die Szenerie legte. Hundertfach wurde die erstickende Lautlosigkeit von den weißen Wänden und Kacheln zurückgeworfen. Inmitten des Schweigens saßen die zwei jungen Männer in der Duschkabine, durchnässt bis auf die Knochen, die Kleidung schwer und kalt auf ihrer Haut. Wasser tropfte von ihren Haarspitzen. Nicht einmal ihre Atmung war zu hören.

Light hielt den Kopf gesenkt, die Stirn im Arm vergraben und wagte es nicht, den Blick zu heben. Langsam setzte sich L in Bewegung und zog aus seiner hinteren Hosentasche einen Schlüssel hervor, mit dem er die Metallfesseln löste. Seine Hände waren ruhig, doch seine Lippen zitterten.

„Es ist erstaunlich“, setzte er endlich an und richtete die dunklen Augen auf seinen Ermittlungspartner, „dass du mal die Kontrolle verlierst, Light-kun. Und es im Nachhinein sogar bereust.“

„Erstaunlich ist eher, dass du es zugelassen hast.“ Light war froh, dass das Schweigen gebrochen wurde. Er selbst hatte nicht die Stimme und den Mut dazu gefunden.

„Manchmal lasse ich Dinge einfach geschehen“, erklärte L und kaute dabei gedankenversunken an seinem Daumennagel, „um zu sehen, was sich daraus entwickelt. Man kann nie wissen, welche Situationen später noch von Nutzen sein werden.“

Eine solche Antwort hatte Light erwartet. Kommentarlos erhob er sich, wobei weiteres Wasser aus seiner Kleidung auf den gefliesten Boden fiel. Er zögerte nicht lang und öffnete sein Hemd, um sich die kalten Kleider vom Leib zu streifen. Währenddessen hatte L die Beine an den Körper gezogen und starrte an seinen Knien vorbei ins Unbestimmte.

Nachdem sich Light seiner Sachen entledigt und sie achtlos hatte fallen lassen, band er sich locker ein Handtuch um die Hüften. Von außerhalb der Duschkabine hielt er seinem Freund die Hand entgegen.

Dieser reagierte im ersten Moment jedoch nicht. Ohne den Arm zu senken, sagte Light seufzend:

„Du kannst es wirklich nicht akzeptieren, dass ich nicht dein Gegner bin, oder?“

L hob den Kopf und starrte Light mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck an, bevor er sich kurzentschlossen von ihm hinaufziehen ließ und mit triefender Kleidung mitten im Badezimmer stehen blieb.

„Vielleicht liegt es an meiner Position“, murmelte L, „und meiner Stellung gegenüber Kira.“

„Es ist kalt hier drin.“

„Auch wenn ich vorher nicht daran gedacht habe.“

„Du solltest deine Sachen ausziehen.“

„So scheint es, als hätte mich mein eigener Name vergöttlicht.“

„Ryuzaki“, sprach Light plötzlich eindringlich, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen, „du solltest deine nassen Sachen ausziehen, sonst erkältest du dich noch. Und wenn wir schon dabei sind, können wir gleich warm duschen.“

Mit unbewegter Miene rang sich L ein Nicken ab und zog daraufhin ungelenk sein Oberteil aus. Light holte seine eigene nasse Kleidung aus der Dusche und warf sie zu der seines Partners. Auf den Kacheln hatte sich die Feuchtigkeit ohnehin schon ausgebreitet. Sobald Light die Handschellen, die auf dem Boden vor der Kabine lagen, mit dem Fuß beiseitegeschoben und sein Handtuch darüber geworfen hatte, drehte er das heiße Wasser auf, um sich die Kälte vom Körper zu waschen. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.

Nach einiger Zeit schaute er durch das beschlagene Glas zu seinem Freund hinüber, der sich ein Handtuch um den dünnen Körper gebunden und an den Rand der Badewanne gelehnt hatte, wobei er undurchdringlich auf seine Füße starrte. Light stieg aus der Duschkabine, damit er dem Anderen die Möglichkeit geben konnte, sich ebenfalls aufzuwärmen.

Beim Abtrocknen dachte Light über Ls Worte nach und fragte schließlich unvermittelt:

„Was meinst du damit, dass dich dein Name vergöttlicht hat?“

L stellte das Wasser ab, drehte sich jedoch nicht herum, als er entgegnete:

„Der Gedanke kam mir, als ich die verschlüsselten Nachrichten von Kira erhielt.“

„Diese bedeutungslosen Hinweise, die von den Verbrechern hinterlassen wurden und die uns gezeigt haben, dass Kira Menschen vor ihrem Tod manipulieren kann?“ Verwundert zog Light die Augenbrauen tiefer ins Gesicht. „Du hast sie mir gezeigt, was war das noch...?“

Vorerst ohne eine Antwort zu geben ging der Detektiv an ihm vorbei zum Spiegel und schrieb mit dem Finger ein „L“ auf die beschlagene Scheibe.

„Wer hätte das gedacht“, sagte er mit monotoner Stimme, malte ein paar weitere Schriftzeichen auf das Glas und setzte zwei lateinische Buchstaben daneben.

„El?“, las Light fragend vor.

„Ursprünglich stammt es aus dem Hebräischen“, erläuterte L.

„Du kannst Hebräisch?“

„Nein, ich habe mich nur ein wenig damit beschäftigt.“

„Einfach so?“

„Mein Mentor hat mich dazu angehalten, alte Sprachen zu lernen“, erwiderte L ungeduldig, „Latein und Altgriechisch gehören zur Grundausbildung. Erstens bekommt man dadurch ein erweitertes Gespür, um Codes zu entschlüsseln, und zweitens wird das Denkvermögen durch das Erlernen einer Sprache gefördert.“

„Dein Mentor? Was für eine Ausbildung meinst du denn?“

„Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich dir auf diese Frage eine Antwort gebe, Light-kun.“

„Oh, Verzeihung.“ Light lächelte entschuldigend. „Fahr fort.“

„Wie gesagt, zwar liegt der Ursprung in den semitischen Sprachen, doch auch heute findet man das“, L zeigte auf die beiden Buchstaben, „an vielen Stellen wieder, zum Beispiel in der christlichen Religion.“

Light überlegte einen Moment, während er die Zeichen auf dem Spiegel betrachtete, und fragte dann:

„Du meinst die Namen der Engel?“

„Genau. Mit dem El am Ende ihrer Namen wird stets auf ihre höhere Verbindung hingewiesen.“

„Ihre Verbindung zu Gott.“

„Korrekt.“ Der Detektiv richtete die schwarzen Augen auf seinen Partner. „Bereits in den ältesten Sprachen der Welt bedeutete El Gott.“

Light blinzelte irritiert und musterte die Linien der unterschiedlichen Schriften, die auf dem beschlagenen Glas geschrieben standen. Es dauerte lang, bis er nachdenklich meinte:

„Daran wird Kira sicher nicht gedacht haben. Er würde L nicht als Gott sehen, sondern ihn unter sich stellen. Wie auch L Kira nicht als Gott, sondern als ganz normalen Menschen sieht, allenfalls als Kind, dem man göttliche Kräfte in die Hand gelegt hat.“

„So scheint es wohl zu sein.“ Der Detektiv hatte nach einem weiteren Handtuch gegriffen, um sich die schwarzen Haare zu trocknen. „Aber ein Krieg auf selber Höhe gegen einen Gott gibt dem Kampf gleich viel mehr Wert, nicht wahr? Deorum iniuriae Diis curae.“

„Das kommt mir bekannt vor.“

„Ja, ein lateinisches Sprichwort. Beleidigung der Götter ist Sache der Götter. Menschen müssen sich nicht darum kümmern, das Recht einer übergeordneten Instanz zu verteidigen, denn das wird sie selbst übernehmen. Man kann nur von einem wirklichen Krieg sprechen, wenn beide Parteien gleichwertig sind. Nur dann ist der Kampf interessant.“ L ließ das Handtuch teilnahmslos fallen, sodass ihm die feuchten Haare wirr vom Kopf abstanden. „Und was ist der Unterschied zu Gott schon, wenn die menschliche Rasse bereits genügend qualitative Abstufungen aufweist?“

Die Arme vor der Brust verschränkend wandte Light den Blick vom Spiegel ab und ließ ihn auf dem Meisterdetektiv ruhen, als er nüchtern feststellte:

„Dir ist ein intelligenter Gegner also lieber als ein beschränkter Freund, Ryuzaki.“

Unbestimmt und scheinbar gelangweilt zuckte L mit den Schultern und sagte nichts dazu, sodass Light kühl fortfuhr:

„Letztendlich ist ein Name doch nur Schall und Rauch. Er existiert nur durch die Menschen, die ihn uns geben. Ohne sie hätten wir keine Gewissheit, ob wir wirklich das sind, was sich hinter dem Namen verbirgt.“

„Aus diesem Grund kann durch einen Namen auf eine Person Kontrolle ausgeübt werden“, erwiderte L und starrte den Buchstaben auf dem Glas an. Als Light dem Blick folgte, verlor sein Gesicht den distanzierten Ausdruck. Behutsam fragte er:

„Du meinst als selbsterfüllende Prophezeiung?“

„Wenn jemand sein Leben lang nur als Monster bezeichnet wird, dann kann er gar nichts anderes werden als das.“

„Und wenn jemand als Gott bezeichnet wird?“ Light konnte sich den Schmerz kaum erklären, der plötzlich in seiner eigenen Stimme mitschwang. Er erinnerte sich an eines ihrer älteren Gespräche. Hätte Kira überhaupt etwas anderes werden können? Konnte L etwas anderes sein?

„Auch Light-kun trägt das Zeichen Gottes in seinem Namen“, unterbrach L die Gedanken seines Ermittlungspartners und schrieb mit dem Finger die Schriftzeichen für „Yagami Light“ auf die Spiegelscheibe, direkt unter seinen eigenen Namen.

„Wenn der Gott einer neuen Weltordnung existierte“, sagte L leise, „dann würde ich ihm deinen Namen geben.“

„Verarsch mich nicht.“ Lights Stimme blieb beherrscht. „Welche Reaktion meinerseits würde dir denn jetzt bestätigen, dass ich Kira bin?“

„Nimm nicht alles so ernst, Light-kun“, entgegnete L schlicht und wandte sich ab, um das Badezimmer zu verlassen. Mit schlurfenden Schritten durchquerte er das Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Die Jeans, die er daraus hervorzog, sah genauso ausgewaschen und zerbeult aus wie alle seine anderen.

Light war ihm seufzend gefolgt. Er streifte sich soeben einen Pullover über, wobei er das Handtuch, mit dem er sein braunes Haar abgetrocknet hatte, über die Schultern legte.

„Ein Name hat nicht nur Bezeichnungsfunktion“, sagte L, nachdem er sich vollständig angezogen hatte. Er hob die Hand und deutete direkt auf Lights Gesicht, in welchem sich Ernst und Aufmerksamkeit widerspiegelten. „Ein Name ist mehr als ein Finger, der auf jemanden zeigt. Ich verwende einen Buchstaben, der einer bestimmten Reihe an Zuschreibungen von Prädikaten entspricht, beispielsweise als Meisterdetektiv oder als Leiter der Ermittlungen gegen Kira. L liegt zwischen den beiden Polen der Beschreibung und der Bezeichnung. Sicher weist der Buchstabe eine gewisse Verknüpfung mit dem auf, was er benennt, aber weder ganz im Sinne des Bezeichnens noch ganz im Sinne des Beschreibens, weil es sich vielmehr um eine spezifische Verknüpfung handelt. Die Verknüpfung des Eigennamens mit dem benannten Individuum und die des Detektivs, der durch L benannt wird, sind nicht isomorph und funktionieren nicht auf dieselbe Weise. Ich trete gewissermaßen hinter dem zurück, was ich bin.“

„L“, sagte Light mit brüchiger Stimme und merkte, dass sein eigenes Herz unerklärlicherweise raste. Der Detektiv sah ihn ein wenig erstaunt aus großen Augen an. „Das klingt, als sei es nicht nur ein Pseudonym.“

Der Blick, mit dem L diese Feststellung seines Ermittlungspartners quittierte, war schwer einzuordnen; auf der einen Seite wirkte er noch durchdringender und stechender als sonst, auf der anderen Seite stellte er ein Abbild perfekter Gleichgültigkeit dar. Ebenso war aus Ls tonloser Stimme kaum ein Rückschluss zu ziehen.

„Glaubst du wirklich, ich würde dir das sagen, wenn es so wäre, Light-kun?“

„Glaubst du denn, dass ich dich das fragen würde, wenn ich Kira wäre?“

„Es ist zumindest keine Falsifikation.“

L drehte sich um, schob die Hände in die Hosentaschen und ging erneut auf das Badezimmer zu. Mit einem leichten Lachen schüttelte Light den Kopf und meinte:

„Irgendwie bekomme ich dich einfach nicht zu fassen.“

„Geht mir genauso“, entgegnete L, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Light sah ihm einen kurzen Moment nachdenklich hinterher. Nur noch die Abenddämmerung erhellte den Raum, sodass der Sohn des Polizeiinspektors kurzerhand das Licht einschaltete. Als er aus dem Fenster schauen wollte, erkannte er nicht mehr die Silhouette der Stadt, sondern bloß sein eigenes reflektiertes Ebenbild als Gegenstück seiner selbst.

„Und Kira?“, fragte er ruhig, als L schweigend und mit den Metallfesseln in der rechten Hand neben ihm erschienen war. „Sein Name sagt nur etwas darüber aus, was er tatsächlich ist.“

„Ein Killer“, bestätigte L mit einem Nicken.

„Ob sich Kira seinen Namen selbst gewählt hat?“

Die beiden Männer starrten ein paar Sekunden auf die Glasscheibe des Fensters, bevor sie gleichzeitig sagten:

„Nein, sicher nicht.“

Light warf seinem Freund einen überraschten Blick zu. Anstatt weiter darauf einzugehen, entschied er sich jedoch, ein anderes Thema anzuschneiden, das ihm nicht mehr aus dem Sinn ging.

„Eines verstehe ich nicht, Ryuzaki“, begann er vorsichtig. „Bezeichnest du dich etwa selbst als Gott? Der Gott der Gerechtigkeit, der keinen Namen besitzt, da das Aussprechen dieses Namens Blasphemie bedeuten würde?“

„Kira ist selbst der Meinung, der Gott der Gerechtigkeit zu sein.“ Nach wie vor blieb Ls Blick starr auf das Fensterglas gerichtet. „Wer am Ende diese Position einnimmt, das wird allein über Sieg oder Niederlage entschieden.“

„Ich bin mir sicher, Kira würde es ganz genauso ausdrücken.“ Mit bitterer Miene wandte sich Light ab. „Die Ähnlichkeit eurer Gedanken ist manchmal erschreckend.“

Er wollte eben das Zimmer verlassen, als L ihn am Handgelenk festhielt und meinte:

„Aber ist nicht auch die Ähnlichkeit der Gedanken von L und Light-kun erschreckend?“

Bevor sich der Jüngere von dem Meisterdetektiv losmachen konnte, hatte dieser ihm bereits die Handschellen umgelegt und damit die Verbindung erneut zwischen ihnen hergestellt. Abwehrend protestierte Light:

„Du weißt, dass ich das...“

„...nicht hören will?“, beendete L den Satz unbeteiligt. „Ja, ich weiß.“

„Ich meine damit aber nicht uns, Ryuzaki.“

„Uns?“ Interessiert legte L den Finger an die Lippen.

„Unser Verhältnis zueinander“, versuchte sich Light zu erklären. „Wie ähnlich wir uns auch sein mögen, das stört mich nicht. Ich will nur nicht ständig mit Kira verglichen werden.“

„Ah, so ist das.“

„Tu bitte nicht so, als würdest du das zum ersten Mal hören“, entgegnete Light abschätzend und runzelte dabei die Stirn, „außerdem gibt es noch eine andere Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet, wenn nicht sogar Unbehagen... dieser Bezug zu Gott.“

„Wieso?“, fragte L unbekümmert. „Du tust gerade so, als würdest du das zum ersten Mal hören.“

Light überging die spöttische Aussage seines Partners und führte seine Kritik weiter aus.

„Mich stört einfach diese Verbindung mit einer übermächtigen Instanz. Als Mensch scheint man dagegen nichts ausrichten zu können, weil Gesetze schon immer von Göttern gemacht wurden. Aber gerade das hat dazu geführt, dass höhere Mächte und göttliche Fügung oft zur Legitimation missbraucht wurden.“

„Sind wir also wieder bei der Monotheismusdebatte?“ Die eine Hand in der Hosentasche kratzte sich L mit der anderen am Hinterkopf. „Ein Problem, mit dem sich Japan kaum herumschlagen muss.“

„Du meinst, weil im ostasiatischen Kulturraum viele Glaubensrichtungen nebeneinander existieren, sodass bei der hier herrschenden Toleranz die religiösen Konflikte des Westens alles andere als verständlich erscheinen. Die drei großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam entstammen alle derselben Wurzel und verehren gleichermaßen einen einzigen Gott. In Japan würden wir wohl einfach sagen, dass sie alle den gleichen Gott anbeten und ihm nur einen anderen Namen gegeben haben.“

„Aber genau dieser Gott ist ein eifersüchtiger Herrscher“, fügte L mit einem Schulterzucken hinzu, „zumindest ist er es durch die Menschen geworden, die an ihn glauben. Das kehrt in der gesamten Menschheitsgeschichte wieder. In den alten polytheistischen Anschauungen gab man sich oft damit zufrieden, die Verehrung der Götter mit der Vorstellung eines einzelnen Gottes zu teilen. Doch etliche Religionskriege, die selbst bis heute andauern, sind ein Beleg jener Eifersucht, die ein einzelner Gott mit sich bringen kann. Als letztes Zeugnis weisen nur die geplünderten und zerstörten Tempel der alten Götter anklagend in den Himmel.“

„Durch Religion wurde oft festgelegt, was gut und was böse ist, was richtig und was falsch.“

„Um diese Frage geht es im Fortbestand der Menschheit schon seit geraumer Zeit. Wie ein roter Faden zieht sich das durch die Geschichte... oder noch eher wie eine rote Linie.“ L deutete zu Boden und zeichnete mit seinem Finger eine imaginäre Grenze von links nach rechts, die genau zwischen den sich gegenüberstehenden Männern verlief. „Ein Limes, der die Gerechtigkeit bestimmt. Stets muss entschieden werden, wer auf der richtigen Seite steht.“

Light schaute hinab. Doch sein Blick fiel nicht auf den Boden zu seinen Füßen, sondern auf die Metallkette, die ihn mit dem Anderen verband. Mit Gewissheit sagte er:

„Damit kann unser Zusammenleben gesichert werden.“

„Wobei aber immer auch solche ihr Leben lassen müssen, die keine Verbrecher sind“, gab L zu bedenken. „Für die höhere Sache Gottes wurden oft wissentlich Menschen gerichtet, die eigentlich unschuldig waren.“

„Darum ist es gleichzeitig ein Mittel zur natürlichen Auslese, quasi die humane Variante des unbarmherzigen Gesetzes der Natur. Unsere Gesellschaft ist nicht perfekt, sie hat unzählige Makel und erscheint für den Einzelnen kalt und skrupellos.“ Zwar konnte sich Light mit seinen eigenen Gedanken nur schwer anfreunden, dennoch sprach er den nächsten Satz unverhohlen aus. „Kira wollte womöglich nur zeigen, dass hier etwas gehörig falsch läuft.“

„Aber ist das, was Kira tut, nicht ebenfalls ein Ausleseverfahren?“ L schob beide Hände zurück in die Hosentaschen und starrte Light direkt in die Augen. „Wie will man der Menschheit einen Spiegel vorhalten, um ihr zu zeigen, wie sie ist und was in ihr falsch läuft? Dafür müsste man die gesamte Welt darstellen und sichtbar machen. Doch nur die Allwissenheit eines Gottes ist dazu fähig. Ein Gott könnte die Menschen allerdings nicht berühren, wie sie sind, weil er dafür zu perfekt, im wahrsten Sinne des Wortes zu unmenschlich ist. Je näher man also versucht, den Menschen zu sein, desto weiter entfernt man sich von ihnen. Man kann nicht beides sein. Nicht gleichzeitig Gott und doch Mensch.“

Grenzwall

Grenzwall
 

Lights Augen waren geschlossen, als er mit dem Erwachen langsam seine bewusste Wahrnehmung wiedererlangte. Er hörte das Geräusch von Wind, der über Dächer jagte und sich an Hausfassaden brach. Verschlafen öffnete er die Lider. Das Fenster war angekippt, die Luft im Zimmer kühl. L saß halb im Schneidersitz auf der Bettdecke und starrte in den Morgen hinaus, über die in grauem Dunst liegende Stadt.

Erst jetzt bemerkte Light, dass er sich im Schlaf der Seite seines Freundes genähert haben musste, denn obwohl L bereits am Rand des Bettes saß, war die Entfernung zwischen ihnen gering.

Reglos blickte Light nach draußen über die erwachende Stadt. Tage und Wochen waren nun schon vergangen, seit die beiden Männer gemeinsam in einem Zimmer übernachteten. Aber noch immer hatte Light kein einziges Mal gesehen, wie sein Partner die Augen schloss und an seiner Seite zur Ruhe kam.

„Woran denkst du, Light-kun?“

Der Angesprochene registrierte erst jetzt, dass L aufmerksam auf ihn hinabschaute, und antwortete ohne Umschweife:

„Ich habe mich gerade gefragt, ob du Angst vor mir hast.“

Ganz leicht legte L den Kopf schief und entgegnete auf seine ihm eigene Art:

„Es klingt nicht wie eine rhetorische Frage, dennoch habe ich das Gefühl, du würdest keine Antwort erwarten.“

Light schmunzelte kaum merklich, auch wenn ihm eigentlich nicht danach zumute war. Er sah wieder aus dem Fenster und bemerkte, wie das Licht der Straßenlaternen erlosch. Obwohl er eben erst erwacht war, fühlte er sich erschöpft. Was war nur los mit ihm?

„Womöglich“, überbrückte L das Schweigen seines Partners, „hast du es nicht auf die Weise ernst gemeint, wie du es gesagt hast.“

Verwundert schaute Light zurück in Ls Gesicht. Dann richtete er sich auf, schwang die Beine über den Bettrand und blieb neben L sitzen. Dieser hatte die schwarzen Augen noch immer nicht von ihm abgewandt und fragte nun seltsam leise:

„Was ist los mit dir, Light-kun?“

Es klang fast besorgt. Ein kleiner Teil von Light erschrak jedes Mal ein wenig, wenn L so leicht und präzise sein Inneres analysierte. Da der Student und Ermittlungspartner jedoch selbst keine Erklärung für seine Schwermut hatte, sprach er einfach aus, was ihm schon seit längerem durch den Kopf gegangen war, ohne weiterhin die Distanz zu wahren, die er stets und unerklärlicherweise für so wichtig hielt.

„Macht dich das nicht müde, Ryuzaki? Dich immer vor anderen zu verbergen?“

Als sich nur Irritation auf Ls Miene widerspiegelte, holte Light tief Luft und vertrieb damit jegliche Zweifel, bevor er sagte:

„Überall, wo ich mich befinde, wird mir bewusst, wie ich mit all den Menschen um mich herum unweigerlich verbunden bin, so sehr ist die Kontrollgesellschaft mittlerweile zu einem vernetzten Konstrukt geworden, aus dem man sich nicht einfach zurückziehen kann. Wir Menschen sind nur Funktionäre dieses Systems. Unter dem Vorwand von Individualisierung und Selbstbestimmung wird unsere Intimität liquidiert. Gerade in letzter Zeit belastet mich diese Tatsache sehr, obwohl ich gerade jetzt fern von der Gesellschaft lebe.“ Mit geöffneter Hand verwies Light auf die Stadt vor dem Fenster. „Fern von all dem da draußen.“

„Durch meine Kontrolle.“ Ls Worte waren schlicht und nicht eindeutig als Frage zu identifizieren. Noch immer versuchte Light, das Durcheinander seiner Gedanken zu ordnen, indem er sich mit seinen Ausführungen nicht nur an den Detektiv, sondern auch an sich selbst wandte. Er stellte allgemeine Aussagen zur Debatte, die sich scheinbar bloß auf das gesellschaftliche Konstrukt bezogen, und hoffte insgeheim, dass L ihm nicht ausweichen würde, dass er ihm Antworten auf jene Fragen gewährte, die tiefer unter der Oberfläche lagen. Darum hielt er sich an seinem Ausgangspunkt fest und fuhr fort:

„Wir sind fast zum Opfer der Digitalisierung geworden, die von uns ununterbrochen fordert, Zeugnis abzulegen. Dabei protegieren die unterschiedlichen Medien eine Verwechslung von Beachtung und Beobachtung, damit wir dem Voyeurismus, dem wir ausgesetzt sind, mit einem nicht weniger starken Exhibitionismus begegnen. Der Mensch ist mittlerweile gläsern geworden und gibt viel zu viel von sich preis.“

„Oft wird er sogar dazu gezwungen“, stimmte L tonlos zu und musterte seinen Gefangenen einen kurzen Moment ernst, als wollte er hinzufügen: Wie du, nicht wahr?

Light überlegte, ob es das war, worunter er litt, doch dann fiel ihm wieder ein, was ihn eigentlich auf diesen Gedanken gebracht hatte. Unverhohlen meinte er:

„Man kann sich mitten in diesem Informationsüberfluss, hinter seinen Monitoren auch verstecken.“

L schwieg und wandte den Blick ab. Er schien dem Hinweis keine Beachtung zu schenken, sodass Light fortfuhr:

„Ich stelle mir das unglaublich anstrengend vor, für die Welt da draußen zu leben und dennoch vor jedem auf der Hut zu sein, stets Zugriff auf unzählige Menschen unter sich zu haben und doch niemandem wirklich vertrauen zu können. Wenn du jeden Morgen so erwachst, macht dich das nicht müde?“

L blieb weiterhin stumm. Ihm sollte keine emotionale Regung anzusehen sein. Warum stellte sein Freund ihm auch all diese unsinnigen, irrelevanten, nutzlosen, schmerzhaften Fragen?

„Ist dir nie aufgefallen...“, setzte Light an und legte zögernd eine Hand auf Ls Schulter, „hast du dich nie gewundert, warum du bisher immer allein warst?“

Für einen kurzen Moment glaubte Light zu erkennen, dass sich die tiefschwarzen Augen des Detektivs weiteten, während jener nach wie vor aus dem Fenster starrte. Doch der Moment verging so schnell, dass sich Light seiner Erkenntnis nicht mehr sicher war.

„Ich weiß so wenig von dir, L“, meinte er bitter. „Das Einzige, das ich kenne, ist dieser goldene Käfig hier. Und mit jedem Tag kommt es mir mehr wie ein Gefängnis vor, aber nicht nur wie eines, das meiner eigenen Überwachung dient. Es erscheint mir fast, als hättest auch du dich hinter undurchlässigen Mauern eingeschlossen, als würden wir beide uns hinter Panzerglas befinden.“ Seufzend löste Light die Hand von der Schulter seines Freundes und spürte dabei die Spitzen des schwarzen Haares weich über seinen Handrücken streichen. Unbewusst zeichnete er mit der Außenseite seiner Finger flüchtig die Kontur von Ls Kiefer nach, wobei ihn eine vage Erinnerung überkam. „Dadurch, dass ich mich nun ebenfalls in diesem Gefängnis befinde, reflektieren die Wände so viel von dir, die vielen komplexen Nuancen deiner Persönlichkeit. Aber wenn ich die Hand nach dir ausstrecken will, dann stoße ich nur auf eine glatte, kalte Oberfläche und im nächsten Augenblick... gar nichts mehr.“

Als L ihm endlich den Kopf zuwandte, um seinen Blick direkt zu erwidern, hielt Light in seinem Redefluss inne. Sie schauten einander in die Augen, L wirkte seltsam atemlos und irritiert, beinahe konsterniert. Sogleich zog Light die Hand zurück. Auf einmal befürchtete er, zu weit gegangen und eine Grenze überschritten zu haben. Nicht allein mit seinen Worten.

„Du fühlst dich eingeengt, Light-kun?“

Zuerst öffnete dieser den Mund, schloss ihn jedoch ebenso rasch wieder. Er hätte wissen müssen, dass L ihm ausweichen würde. Resignierend deutete Light erneut hinaus und meinte:

„Hinter diesen Wänden gibt es eine ganze Welt, Ryuzaki, da gibt es Freiheit und Ferne. Vielleicht vermisse ich das wirklich.“

„Da draußen ist man nur einer von Millionen“, entgegnete L gleichgültig. „Es macht keinen Unterschied, ob man sich von Stahl und Beton oder von Konventionen einsperren lässt.“

„Ich weiß das“, gab Light offen zu, „mir ist klar, dass ich mich auch nur in die Ordnung der Dinge füge und im Grunde gar nicht frei sein kann. Die erste Pflicht des Menschen in unserer Gesellschaft besteht nun einmal darin, so künstlich wie möglich zu sein.“

„Und was die zweite Pflicht ist, hat noch keiner herausgefunden“, fügte L schulterzuckend hinzu.

„Aber unter der Kontrolle“, brachte Light mit Nachdruck hervor, „trägt jeder von diesen Millionen Menschen einen Funken in sich, der ihn einzigartig macht. Und du bist nicht nur einer unter vielen, Ryuzaki, solange ich an deiner Seite bin.“

Dieses Mal glaubte sich Light nicht zu irren, als er den leichten Schrecken in den weiten Pupillen seines Freundes sah. Wahrscheinlich zeugte das von einer ähnlichen Ungewissheit, wie sie sich in seinen eigenen Augen abzeichnen musste. Nachdenklich und ein wenig verwirrt senkte Light den Kopf. Kurz darauf äußerte L eine teilnahmslose Feststellung:

„Das liegt dir schon die ganze Zeit auf der Zunge, nicht wahr?“

„Entschuldige“, entgegnete Light nur, ohne den Blick zu heben, „ich wollte dich das alles nicht fragen. Mir fällt hier drinnen wohl einfach langsam die Decke auf den Kopf.“

Damit stand er auf, um sich anzuziehen.
 

Die Zahlen der Statistik zeigten die regionale Häufigkeit der von Kira getöteten Menschen der letzten zwei Monate an. Keine Auffälligkeiten waren zu vermerken. Hinzu kamen weitere Schemata, die die Verbrecherprofile der Opfer zeigten. Sie wiesen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Nirgendwo ließen sich Rückschlüsse auf Kira ziehen.

Doch die Tabellen und Zahlen auf dem Monitor halfen Light, in seinem eigenen Denken wieder Ordnung und Klarheit herzustellen. Er hatte das Gefühl, bereits einen wichtigen Ansatz gefunden zu haben. In seiner gedanklichen Abwesenheit resümierte er die Erinnerungen an die Gespräche mit L.

Was Kira tat, war ein spezielles Ausleseverfahren. Allerdings hatte die Geschichte gelehrt, dass im Namen der gerechten Sache nicht immer nur Verbrecher starben. Manchmal waren Opfer unumgänglich für die Verwirklichung des Endzieles. So wurden wissentlich Menschen gerichtet, die eigentlich unschuldig waren.

Lag hierin der Schlüssel?

„Wollen wir rausgehen, Light-kun?“

Voller Überraschung schaute er zu L hinüber, der neben ihm saß und lustlos in einer Tasse Tee herumrührte, in der er bereits fünf Stück Zucker ertränkt hatte.

„Zuerst verlässt du freiwillig unser Zimmer“, entgegnete Light mit gespielter Skepsis, „und dann willst du sogar das Gebäude verlassen? Du wirst ja richtig mutig, Ryuzaki.“

„Ich bin nur vorsichtig.“ L schaffte es, zur gleichen Zeit schneidend und gelangweilt zu klingen. „Die Mutigen waren meist nur zu dumm, um den Schützengraben zu finden.“ Er trank einen Schluck aus seiner Tasse. Nach einer Minute des Schweigens fragte Light:

„Du meinst nicht ernsthaft, dass du mit mir das Gebäude verlassen möchtest, oder? Du hast wahrscheinlich nur an ein Picknick auf dem Helikopterlandeplatz gedacht, nehme ich an.“

„Nein.“ L schubste ein weiteres Stück Würfelzucker in seinen Tee. „Selbstverständlich würde es seltsam aussehen, wenn wir mit den Handschellen durch die Straßen spazieren, aber ich habe mir bereits eine Lösung hierfür ausgedacht.“

Light drehte sich mit seinem Stuhl vollständig zu seinem Ermittlungspartner herum.

„Tust du das, weil ich dich mit meinen Aussagen von vorhin beleidigt habe?“

„Nein, sicher nicht“, entgegnete L mit beleidigtem Gesichtsausdruck.

Ein amüsiertes Lächeln zeichnete sich auf Lights Lippen ab, als er sagte:

„Mit dem Hinweis, dass du womöglich nur aus Angst nicht hinausgehen wollen würdest, habe ich wohl deinen Stolz verletzt.“

„Geh nicht zu weit, Yagami-kun, sonst überlege ich mir meinen Vorschlag noch mal.“
 

Im unterirdischen Parkhaus des Gebäudes stand eine englische Limousine für sie bereit, das alte Modell eines Rolls-Royce. Light kannte diesen Wagen noch aus seiner Studienzeit, da L oft damit von der Universität abgeholt worden war. Auch den Chauffeur, einen ergrauten Herrn in Anzug, meinte der Student mehrmals gesehen zu haben.

Light stieg hinter L in den schwarzen Wagen ein und glitt hinab auf die offensichtlich teure Lederausstattung.

„Wohin fahren wir?“, fragte er verwundert.

„Das wirst du dann schon sehen.“

Mit einem leichten Nicken unterband Light seine Neugier, während L unverwandt auf die Rückenlehne des Vordersitzes starrte und schließlich monoton verlauten ließ:

„Ich möchte mich einfach bei dir revanchieren, Light-kun.“

Die Limousine setzte sich mit einem sanften Motorengeräusch in Bewegung. Der Fahrer sprach kein einziges Wort und hielt sich dezent im Hintergrund.

„Vor deiner Inhaftierung“, sprach L weiter, wobei er den Blick seines Verdächtigen auf sich ruhen spürte, „als ich lange nicht mehr in der Uni aufgetaucht war, hast du gemeint, dass du dich ohne mich einsam fühlen und gern wieder mehr Zeit mit mir verbringen würdest.“

„Ja, das stimmt.“ Lights Stimme klang ruhig und aufmerksam. „Es war... langweilig ohne die Gespräche mit dir.“

„Jetzt ist es wahrscheinlich andersherum und dir wird meine Nähe langsam zu viel.“

„Nein, sicher nicht“, setzte Light energisch dagegen, „das wollte ich vorhin in keiner Weise andeuten. Was ich wirklich will, ist...“ Dein Vertrauen, brachte Light den Satz gedanklich zu Ende, doch sprach er die letzten Worte nicht aus. Eine solche Forderung an L zu stellen, das wäre geradezu lächerlich gewesen. Es würde den Verdacht nur bestätigen, dass er als Kira zu versuchen gedachte, L hinters Licht zu führen.

„Was?“, fragte der Detektiv und wandte seinem Freund den Blick zu. Light schüttelte schwach lächelnd den Kopf und schwieg. Deshalb fuhr L nach kurzer Zeit fort:

„Aufgrund deiner Bitte habe ich meine Angst überwunden und bin deinetwegen in die Uni gekommen.“

„Du weißt doch, dass ich das nicht ernst meinte“, griff Light den versteckten Hinweis auf. „Ich würde deine Zurückhaltung niemals auf eine profane Angst reduzieren.“

Beide Männer schwiegen, während hinter den abgedunkelten Fensterscheiben des Wagens der tokyoter Alltag vorüberzog. Light dachte über Ls Aussagen sowie über seine eigene Antwort nach. Schließlich eröffnete er:

„Du hattest damals schon genügend Indizien gegen Misa und mich gesammelt. Ihre Festnahme folgte an jenem Tag auf dem Fuß, nur deshalb bist du wahrscheinlich in die Uni gekommen. Ich denke, das war weniger ein Zeichen deiner Freundschaft zu mir“, Light seufzte schmerzlich, „als vielmehr deines berechnenden Charakters. Du musst mir also nichts vormachen, Ryuzaki.“

Light bemerkte nicht, wie die schwarzen Augen noch ein Stück größer wurden und damit das ehrliche Interesse preisgaben, das L von Anfang an nicht mehr losließ, seitdem er den Sohn des Polizeiinspektors kennengelernt hatte. Mittlerweile war dem Detektiv dieses Gefühl völlig vertraut. Es überkam ihn jedes Mal, wenn er Lights Schlussfolgerungen zuhörte und dieser so leicht und präzise sein Inneres analysierte. L wusste, was er empfand, war pure Faszination.

„Ich mag berechnend sein“, räumte er tonlos ein, „aber der Verstand macht den Menschen erst zu dem, was er ist.“

„Menschliches Verhalten lässt sich aber nicht bloß anhand von Logik und Wahrscheinlichkeiten berechnen.“

„Für Kira sind die meisten Personen wohl auch nur Variablen in einer Gleichung. Also solltest du dich nicht darüber beschweren, Light-kun.“ Als L den bohrenden Blick seines Verdächtigen abfing, fügte er belanglos hinzu: „Ah, ich vergaß, du bist ja nicht Kira.“

Light schaute hinaus, das Stechen in Hals und Brust ignorierend. Er wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigte und er nicht mehr in Versuchung geriet, die Argumentation seiner Faust zu überlassen. Er musste sich besinnen, mit Analytik wieder Ordnung in seine Gedanken zu bringen, mit Rationalität seine Gefühle im Zaum zu halten. Wie sonst in solchen Momenten.

Nachdem er sich gefangen hatte, entgegnete er:

„Logische Analyse ist ein schwieriges Unterfangen, wenn es um den Realitätsbezug geht. Denn eigentlich stellt Mathematik die reinste aller Geisteswissenschaften dar, weil sie völlig unabhängig von der Natur ist. Sie ist ein Konstrukt des menschlichen Verstandes. Deshalb kann man auch nicht jede Handlung und jedes Ereignis der Zukunft anhand von Berechnungen voraussagen.“

„Aber man kann es versuchen.“ Ls Stimme hatte den Sarkasmus verloren, welchen wahrscheinlich nur Light hinter der Emotionslosigkeit seines Partners zu erkennen vermochte. Vielmehr klangen seine Worte nun, trotz des theoretischen Inhalts, seltsam schmerzlich. „Die äußere Welt kann natürlich nicht durch unsere Lehren exakt wiedergegeben werden. Aus diesem Grund besteht die Wahrheit für jeden sozialen oder persönlichen Fall in dem Annäherungsgrad, den die Wiedergabe jeweils erreichen kann. Man versucht positivistisch die erlangten Resultate mit der einfachsten Hypothese in Einklang zu bringen. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht darin, möglichst viele Ereignisse aufgrund der Einsicht in den gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen vorauszuwissen, anstatt sie erst aus der Beobachtung zu erkennen.“

„Weil Naturgesetze, getrennt von unserer Wahrnehmung, unveränderlich sind“, unterstützte Light die These mit einem Nicken, wobei sich L sofort wieder anschloss.

„Unveränderlich und zugleich notwendig für eine rationale Voraussicht. Die Untersuchung der statischen Beziehungen der Ähnlichkeit erfolgt vor allem durch Induktion.“

„Dagegen untersucht man die Kausalverkettung von dynamischen Beziehungen vermittels der deduktiven Methode.“

„Alle sozialen Angelegenheiten, die den Menschen betreffen, lassen sich nur bedingt voraussagen, das stimmt, Light-kun. Trotzdem ist es machbar. Im sozialen Bereich manchmal mehr als in der Ökonomie, manchmal sogar mehr als in der Natur.“

„Aus diesem Grund bedienst du dich immer der Wahrscheinlichkeitsrechnung?“, fragte Light skeptisch.

„Ich rechne mit Möglichkeiten, aber niemals mit irgendwelchen Theorien der Überschneidung, die meinen eigenen Zustand oder den anderer unpräzise werden lassen.“

Light lachte und fügte hinzu:

„Du lässt dich also nicht zu Schrödingers Katze machen.“

Genervt verzog L das Gesicht.

„Nur weil die Welt der Chaostheorie folgt“, antwortete er ein wenig spöttisch, „heißt das nicht, dass ich der Entropie folgend in meine Umgebung diffundiere.“

Schmunzelnd wandte Light den Kopf zum Fenster. Sie fuhren über eine Brücke, einen künstlich angelegten Kanal entlang, der in seinem betonierten Flussbett lag. Überall türmten sich Hausfassaden auf, dazwischen verliefen asphaltierte Straßen und gepflasterte Gehwege, nur an wenigen Stellen wurde einem eingegrenzten Stück Grün die Existenz in dieser steinernen Welt gestattet. Ab und zu bildete ein Tempel oder kleiner Schrein einen Kontrast zu der hochmodernen Kulisse, die Tokyo erst sein typisches Aussehen verlieh.

„Berechenbarkeit bezieht sich auf das Ganze“, meinte Light unvermittelt. „Voraussagen funktionieren in erster Linie für die Masse, den Schwarm, weniger für das Individuum.“

L schloss die Hände um seine Beine, die er sogar im Auto an den Körper herangezogen hatte, und schaute wieder nach vorn. Dabei spannte er mit seiner Antwort den Bogen zum Ausgangspunkt der Diskussion.

„Für eine hundertprozentige Voraussicht sind unsere Möglichkeiten eindeutig zu begrenzt. Doch der Mensch kann als mittelpunktloses Netz von Überzeugungen und Wünschen beschrieben werden, unser Vokabular und unsere Meinungen sind durch die historischen Umstände festgelegt, sodass durchaus Rückschlüsse machbar sind.“

„Das bedeutet“, schlussfolgerte Light ein wenig bitter, „dass du aus Worten und Handlungen ein Profil des Täters erstellst und ebenso deine Mitarbeiter nur deshalb konsultierst, damit sie dir zur Lösung deines Falles verhelfen.“

L blickte erneut zu seinem Ermittlungspartner hinüber, in dessen teils erwartungsvolles, teils trauriges Gesicht. Der Meisterdetektiv fragte sich, ob Light das alles nur vorspielte oder ob es ihm tatsächlich zuwider war, auf eine bloße Funktion als Täter oder Mitarbeiter reduziert zu werden. Der Freund jedoch, der L zu sein drohte, war innerlich mit weit mehr konfrontiert. Nachgiebig lenkte er ein:

„Es geht mir nicht darum, meine Ausführungen vorzutragen und von anderen Personen Bestätigung dafür zu finden. Du hast mir die Möglichkeit gegeben, in Interaktion zu treten, Light-kun. Worte sind mehr als ein Kommunikationsmittel.“

„Sie stellen selbst eine Tat dar“, stimmte Light zu, „eine Handlung oder einen Akt, der die Realität verändert.“

„Doch ein Gespräch ist nicht die Koordinierung von Handlungen unterschiedlicher Individuen, sondern ein im starken, irreduziblen Sinne gemeinsames Handeln. Auch wenn man sich manchmal nichts Neues erzählt, aber auf einer tieferen Ebene sind die Menschen, mit denen ich über die Dinge spreche, die mir wichtig sind, meine Vertrauten. Vertrautheit oder Intimität ist ein wesentlich dialogisches Phänomen.“

„Mit Dialog meinst du mehr als bloß Worte, oder?“, erkundigte sich Light im Nachvollziehen der Argumentation.

„Ja, denn die Erkenntnis über meine eigene Identität erlange ich im Austausch über das Erkennen dessen, was ich billige und ablehne, was ich für gut erachte und was nicht. Ich erschaffe meinen Gegenpart, wie mein Gegenpart mich erschafft. Vielleicht verstehe ich mich selbst sogar erst durch den Widerspruch. In der Erkenntnis wird mir mein Gegenüber vertraut.“

Damit wandte sich L ab, um aus dem Autofenster zu schauen.

Light schwieg nachdenklich, während er sich fühlte, als hätte er von tausend Schritten einen einzigen hinter sich gebracht. Auch wenn ihn dieser Schritt näher an L herangeführt hatte, war ihm eines klar: Vertrautheit war noch lange kein Vertrauen.

Doppeltes Spiel

Doppeltes Spiel
 

Nachdem der betagte Chauffeur ihnen die Tür geöffnet hatte, stiegen die beiden Männer ohne Umschweife aus dem Rolls-Royce. L ließ seinem Kollegen nur wenige Sekunden Zeit, um an der Fassade des relativ niedrigen Gebäudes, vor dem der Wagen gehalten hatte, hinaufzuschauen. Dann steuerte er bereits auf den Eingang zu, sodass Light ihm mit zügigen Schritten folgen musste. Keiner von ihnen schenkte den wenigen Passanten Beachtung, die auf dem Gehweg an ihnen vorübereilten, kurz innehielten und einen irritierten Blick zurück auf die Handschellenkette warfen.

An der Eingangstür hatte ein großgewachsener Mann im schwarzen Anzug Position bezogen. Neben ihm standen zwei sportlich gekleidete junge Frauen, die die Neuankömmlinge neugierig musterten.

„Der sieht gar nicht aus wie Ryuga Hideki“, hörte Light eine von ihnen tuscheln.

„Da siehst du mal, was die Bildbearbeitung im Fernsehen ausmacht.“

Innerlich schmunzelnd betrat Light nach dem Detektiv das Gebäude. L nannte zahlreiche Namen sein Eigen und verbarg sich unter anderem auch hinter dem Pseudonym jenes bekannten japanischen Idols. Nur seinem Hauptverdächtigen gegenüber hatte sich L in der Öffentlichkeit außerhalb der Sonderkommission zu erkennen gegeben. Einen Moment lang fragte sich Light, ob diese scheinbare Last nicht auch ein eindeutiges Privileg darstellte.

Seine Gedanken wurden allerdings zurückgedrängt, als er hinter L eine Treppe erklommen hatte und an einer Theke vorbei in einen größeren Raum trat. Verwundert schaute er über die unterschiedlichen Trainingsgeräte des Fitnesscenters, in welches sein Partner ihn geführt hatte. Kein Mensch war zu sehen.

„Willst du“, fragte er verunsichert, aber auch ein wenig belustigt, „etwa Sport treiben, Ryuzaki?“

„Ja, durchaus“, antwortete dieser, als sei daran nichts Ungewöhnliches. „Wieso auch nicht? Oder reichen dir unsere Tai-Chi-Übungen auf dem Hausdach?“

Light lachte heiter, als er daran dachte, dass L ihn tatsächlich zu solchen gelegentlichen Aktivitäten überredet hatte. Natürlich saßen sie nicht den ganzen Tag untätig in der Ermittlungszentrale, schon allein um Lights Kondition seit seiner Zelleninhaftierung wieder aufzubauen. Dass sie jedoch den Schutz des Gebäudes verließen, war wirklich überraschend.

Während L desinteressiert an den Gerätschaften vorüberging, erklärte er:

„Ich habe meine Beziehungen und mein momentanes Pseudonym spielen lassen, damit wir trotz Überwachung ungestört sind.“

„Ungestört?“, wiederholte Light das Wort fragend.

„Ja.“ L griff in ein Regal und holte zwei Schläger und einen kleinen schwarzen Ball hervor. „Hierfür, Light-kun.“

Stirnrunzelnd betrachtete der junge Student das, was er eigentlich als Tennisschläger identifiziert hätte. Allerdings schien dazu der schwarze Ball nicht zu passen, der aus einer Art hartem Gummi bestand und viel zu klein für jene Sportart wirkte, in welcher sich Light einst mit dem Meisterdetektiv gemessen hatte. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, dass sich in diesem Gebäude ein Tennisfeld befand.

„Squash“, reagierte L auf die Irritation seines Kollegen, „kennst du diese Sportart?“

„Ja, schon...“, entgegnete Light langsam.

„Es ist ein englischer Sport, vergleichbar mit Tennis. Es wird dir gefallen, Light-kun, also zieh dich um.“

Nach wie vor verwundert folgte er L in eine Umkleidekabine, die nur vom Licht der Neonröhren erhellt wurde. Die Jalousien waren heruntergefahren und ließen keinen Blick in das Innere zu.

„Das Gebäude ist vor Fremdeindringen geschützt“, kommentierte L beiläufig, während er die Handschellen öffnete, „was natürlich auch impliziert, dass es nicht möglich ist, unbemerkt hinauszugelangen.“ Light registrierte die Warnung wortlos, bis seine Aufmerksamkeit plötzlich auf eine Tasche gelenkt wurde, die auf einer Bank vor den Schließfächern stand.

„Das ist doch...“

„...deine Sporttasche, genau“, bestätigte L mit einem Nicken. „Ich habe Yagami-san darum gebeten, sie herzubringen, ohne dass deine Mutter oder deine Schwester etwas davon mitbekommen.“ Mit ernster Miene schaute Light auf die Tasche hinab, bevor er sie stumm öffnete und das kurzärmlige Oberteil daraus hervorholte. Es war sorgfältig zusammengelegt und roch nach Weichspüler. Er erinnerte sich daran, wie er den Rest seiner Familie in Unkenntnis zurückgelassen hatte. Sicher machte sich seine Mutter unerträgliche Sorgen und wartete jeden Tag darauf, dass er zurückkehrte. Dennoch hatten Light und sein Vater sich entschieden, sie zu belügen. Wie viele Lügen waren wohl berechtigt für eine größere Wahrheit? Wie viel war im Namen der Gerechtigkeit erlaubt?

„Ich frage mich, ob es eine Wahrheit ohne Richtigkeit gibt“, sprach Light kaum vernehmlich zu sich selbst.

„Die gibt es“, hörte er plötzlich die tiefe, beruhigende Stimme des Detektivs dicht hinter sich. Er drehte sich herum, damit er L in die Augen sehen konnte. „Genauer gesagt gibt es mehr als sechs Milliarden Wahrheiten, Light-kun. Ich kämpfe gegen Kira, weil ich seine Wahrheit nicht für richtig halte, genauso wenig wie er meine für richtig hält. Man müsste schon äußerst naiv sein, um nicht zu wissen, dass zwischen Recht und Gerechtigkeit Welten liegen.“

Einen langen Moment erwiderte Light den Blickkontakt. Dann wandte er sich erneut ab und sagte ernst, während er sich umzuziehen begann:

„Nachdem du dich mir als L offenbart hattest, meintest du selbst, die menschlichen Grundrechte dürften nicht verletzt werden. Es ist rechtswidrig, ohne begründeten Verdacht in die Privatsphäre eines Menschen einzudringen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann sprachst du damals davon, dass die Wahrscheinlichkeit für mich, Kira zu sein, bei einem Prozent läge. Dennoch hast du mich ohne mein Wissen mit Kameras überwachen lassen.“

„Dass die Observation ohne dein Wissen geschah, ist eine unbestätigte Annahme.“

Light seufzte, da er diesen Einwurf bereits erwartet hatte, und meinte:

„Dein Verdacht blieb also bestehen, obwohl er durch die Überwachung so gut wie zerschlagen war.“

„Nur weil man den fehlenden Hinweis nicht findet, verweist das auf keine Unschuld“, konterte L sofort. „Ein Bild, in diesem Fall die Aufnahme einer Kamera, gibt nicht die Wirklichkeit wieder. Jegliche Darstellung lebt von Auslassungen, denn was im Objekt enthalten ist, kann nie vollständig im Bild wiedergefunden werden. Das gilt auch im übertragenen Sinn. Und genau das kann man sich zunutze machen. Darum werde ich das Gefühl nicht los, dass ich selbst dabei als Alibi dienen sollte.“

„Mir das zu sagen, ist wirklich hart.“ Lights Worte waren leise und tonlos. „Aber im Zweifel für den Angeklagten, nicht wahr?“

„Ja, leider“, gestand L trübsinnig. Light fragte sich, ob dieses Bedauern wirklich ernst gemeint war, erkundigte sich jedoch nicht danach, sondern fasste nur nüchtern zusammen:

„Und um eine dieser sechs Milliarden Wahrheiten unabhängig von Recht und Ordnung zu verwirklichen, bist du aus dem Schutz der Anonymität herausgetreten. Ich bin nur ein ganz normaler Mensch und weiß, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Aber alle Beteiligten um dich herum müssen wohl der Meinung gewesen sein, du würdest den Grenzwall verlassen und dich dieses Mal direkt der Bedrohung stellen. Als würdest du für mich dein Leben riskieren.“

L starrte seinen mittlerweile vollständig umgezogenen Partner an und überlegte, ob sich dieser darüber im Klaren war, wie überheblich seine eigene Aussage klang. Doch er sagte lediglich:

„Unabhängig von der Richtigkeit gibt es in den menschlichen Dingen einen gewissen Zusammenhang, Light-kun, so etwas wie eine allgemeine Wahrheit oder Macht. Je größer und geheimnisvoller diese Macht ist, desto mehr fordert sie den Geist heraus, sie kennen zu lernen und zu ergründen.“
 

L schob seinen ausgestreckten Zeigefinger in die Öffnung der Glastür, um den kleinen Metallhebel herunterzudrücken, der das Schloss in der Verankerung hielt. Mit einem klackenden Geräusch öffnete sich die Tür, sodass die beiden Männer den Squashcourt betreten konnten. Der Raum war durch die gläserne Rückwand komplett einsehbar. Light schätzte die Breite des Feldes auf eine ähnliche Länge wie den Abstand zwischen Netz und Aufschlaglinie bei einem üblichen Tennisfeld. Die Tiefe des Courts war mit ungefähr zehn Schritten zu bemessen.

L erklärte die wichtigsten Regeln, während sie sich warmspielten. Bevor Light nun seine Position in einem der beiden nebeneinander liegenden Felder einnahm, äußerte er eine letzte Feststellung:

„Du hast vorhin im Wagen gemeint, du wolltest dich revanchieren. Jetzt verstehe ich, was du damit meintest, Ryuzaki.“

L hielt den Squashball schon zum Aufschlag bereit in seiner Hand und musterte seinen Gegenspieler nur abwartend, ohne etwas zu sagen.

„Du wolltest eine Revanche“, beendete Light seine Aussage und lächelte leicht.

An Stelle einer Erwiderung warf L den Ball in die Luft und legte so viel Kraft in seinen Schlag, dass das schwarze Gummi wie ein Geschoss an der vorderen Wand abprallte. Light reagierte jedoch sofort. Die Energie seiner Annahme beförderte den Ball in den hinteren Teil des gegnerischen Feldes. Zwar war L unlängst gefolgt, doch die Glaswand behinderte seine Annahme, sodass er jenen Punkt verlor.

Mit der linken Hand fuhr sich L durch sein schwarzes Haar, während er in der anderen locker den Schläger hielt.

„Ah, du unterschätzt mich nicht mehr.“

Light wusste, worauf er anspielte, und entgegnete:

„Das habe ich noch nie.“ Damit hob er den Ball auf und setzte zum Aufschlag an.

Es war für Light trotz seines anfänglichen Erfolgs ungewohnt, sich auf das Spiel einzulassen. Die Kraft musste anders bemessen werden und die Annahmen erfolgten präziser, damit der Ball stets die Vorderwand traf. Im Gegensatz zum Tennis hatte man es beim Squash nicht mit einer einzigen, sondern mit fünf nutzbaren Ebenen des Feldes zu tun. Dabei konnten die Seiten sowie die Rückwand beliebig oft angespielt werden. Lediglich der Parkettboden unter ihren Füßen beendete einen Satz, sobald der Ball ihn zweimal berührte.

Light konzentrierte sich vorläufig darauf, ganz gezielt mit kraftvollen Schlägen in den schwer zugänglichen Bereich der Rückwand zu spielen, doch L blieb völlig unbeeindruckt und wiederholte seinen Fehler vom Anfang nicht. Stattdessen nutzte er Lights Schwäche aus, der die Bälle meist direkt anzunehmen versuchte und Schwierigkeiten hatte, sie erst vorbeizulassen, damit sich ihr Tempo verringerte. Der Jüngere konnte die Sprungkraft noch nicht richtig einschätzen und verlor dadurch ein paar Punkte.

Verbissen richtete Light seine Aufmerksamkeit auf die Abwehr der Attacken seines Gegners und gewann zunehmend ein Gespür dafür. Seine eigenen Angriffe wurden dabei immer sicherer. Nachdem er es geschafft hatte, durch einen schnellen Schlag über die Seitenwand einen erneuten Punkt zu erzielen, meinte L plötzlich:

„Du spielst wie damals, Light-kun.“ Der Mund des Detektivs verzog sich kaum merklich, was fast wie ein Lächeln aussah. „Es hat sich nichts verändert.“

„Ich nehme an, du meinst damit nur meinen Elan, nicht die Qualität meines Spiels?“

„Elan nennst du das also.“ Das Lächeln auf Ls Lippen war nun klar als solches zu erkennen, doch eine Antwort auf die Frage blieb er Light schuldig.

Im Laufe des Matches passten sich die beiden Kontrahenten im Tempo einander an, um sich nicht gegenseitig zu behindern. Was Light am Ungewöhnlichsten bei dieser Sportart fand, war das gemeinsame Spielfeld. Beim Squash standen die gegnerischen Spieler in ständiger Konfrontation, ohne sich direkt anzugreifen, wie es beispielsweise im Kampfsport der Fall gewesen wäre. Rücksicht und Fairness waren deshalb das entscheidende Fundament. So abstrus es Light auch erschien, kam es ihm aus diesem Grund so vor, als würde er einerseits zwar gegen L kämpfen, doch gleichzeitig mit ihm ein Team bilden. Er hatte sich auf dessen bizarre Bewegungen eingestellt, um in den richtigen Momenten auszuweichen und ihm den nötigen Platz einzuräumen. Diese Vorsicht legte auch L an den Tag.

Als Light endlich mit einem Treffer wieder den Ausgleich erzielte, bemerkte er, wie erschöpft er bereits war. Das Spiel war rasant. Man war permanent in Bewegung. Noch dazu hatte Light das Gefühl, die Hitze in dem geschlossenen Raum würde ihn erdrücken. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, wobei er bemerkte, dass auch sein Partner erste Anzeichen der Ermüdung zeigte.

„Elan ist bei weitem nicht ganz zutreffend“, ließ L zwischen seinen schweren Atemzügen verlauten, bevor Light den Ball anwerfen konnte. „Das ist schon beinahe feindseliger Kampfgeist. Dabei solltest du als Kohai nur ein paar Lehrstunden von mir erhalten.“ Belustigt gab Light zurück:

„Als ob du nicht auch gewinnen wollen würdest.“

„Du kannst ruhig aufgeben, wenn dir die Hitze zu schaffen macht, Light-kun.“

„Das würde dich doch gar nicht zufriedenstellen, Ryuzaki-kun.“

Ein Grinsen huschte über beide Gesichter, bevor sie sich wieder dem Spiel zuwandten.

Die Sätze wurden länger, ausdauernder. Keiner hatte vor, das Match aufzugeben, obwohl ihre Kräfte sie langsam verließen. Light gewöhnte sich daran, die anderen Wände mit einzubeziehen, und spielte den Ball über die rückwärtige Begrenzung nach vorn. L nahm mit einem schnellen Volley an und zwang seinen Gegner damit zum Spurt über das Feld. Doch dieser erreichte den Ball rechtzeitig, worauf ein zügiger Wechsel folgte, dessen Geschwindigkeit für einen Außenstehenden kaum mehr nachvollzogen werden konnte. Sie standen dicht beieinander, als Light sich rasch drehte, um im letzten Moment anzunehmen. Nachdem L den Ball mit aller Kraft zurückgespielt hatte, fiel sein Blick aufmerkend hinab.

„Light-kun, dein...“

Es war zu spät. Als Light gerade losrennen wollte, um den nächsten Schlag auszuführen, spürte er plötzlich ein Ziehen an seinem Fußgelenk. Sofort verlor er das Gleichgewicht, stolperte unbeholfen vorwärts und riss dabei L mit sich zu Boden.

„...Schuh ist offen“, beendete dieser seinen Satz.

L griff sich an den Hinterkopf, den er sich beim Sturz gestoßen hatte. Sein Herz trommelte gegen den Brustkorb, während er das Gewicht von Lights Körper auf sich spürte, dessen keuchender Atem genauso schnell ging wie sein eigener.

„Entschuldige“, brachte Light endlich hervor und stützte sich auf einen Ellbogen. Noch immer schwer atmend senkte er die Stirn auf Ls Brust, um für ein paar Sekunden die Augen zu schließen. Dann rollte er sich von ihm herunter und blieb reglos mit dem Rücken auf dem Boden liegen.

Beide starrten in dieser Position an die Decke und warteten darauf, dass sich ihre Atmung beruhigte.

„Ein Glück, dass mein Schnürsenkel daran schuld war“, meinte Light schließlich, „ich hätte sonst ewig versucht, weiterzuspielen. So musste ich wenigstens nicht an Überanstrengung sterben.“

Eine kurze Pause folgte, bis er hinzufügte:

„Oder noch schlimmer, den Satz verlieren.“

L lachte leise. Augenblicklich wandte Light seinem Freund den Kopf zu.

„War das ein Lachen?“

„Nein, das musst du dir eingebildet haben“, erwiderte L trocken.

„Ach komm, gib es doch zu.“

„Wenn überhaupt“, entgegnete der Detektiv und setzte sich auf, wobei ein eindeutiges Lächeln seine Lippen zierte, „war das nur eine Reaktion auf deine irrtümliche Aussage. Wegen Fahrlässigkeit bekommst du dafür nämlich kein Let.“

Auch Light richtete sich jetzt auf und ging auf die Sticheleien ein, indem er schmunzelnd meinte:

„Du kämpfst wohl um jeden Punkt, weil du Angst hast, zu verlieren?“

„Binde deinen Schuh dieses Mal richtig zu“, gab L sachlich zurück und hob den Ball auf, „dann wird sich zeigen, wer hier verliert.“
 

„Als ich dich das erste Mal sah, hätte ich dir das gar nicht zugetraut“, gestand Light, während er nach dem Duschen in der Umkleide damit beschäftigt war, sein Hemd zuzuknöpfen.

„Was?“

„Dass du so sportlich bist.“

L brachte mit der Hand sein schwarzes Haar durcheinander, eine Geste, die fast so wirkte, als wäre er wirklich verlegen.

„Wie hast du denn über mich gedacht?“, wollte er wissen.

„Was für ein komischer Typ“, antwortete Light unverhohlen und überlegte einen Moment, bevor er vorsichtig ergänzte: „Wenn ich ehrlich bin, war ich sogar ein wenig enttäuscht. Damals kannte ich deinen Charakter noch nicht, darum habe ich dich falsch eingeschätzt. Als ich mit dir Freundschaft schließen wollte, dachte ich an eine Verbindung unter Kommilitonen. Das hat sich erst mit der Zeit geändert.“

L sagte nichts dazu. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, auch als sie beide schon zum Aufbruch bereit waren. Erst beim Verlassen der Umkleideräume fragte er:

„Hast du dich bei der Benachrichtigung zu deiner Universitätsaufnahme gekränkt gefühlt?“

„Wieso das denn?“ Verwirrt drehte sich Light herum und blieb stehen. „Ich wollte überall die volle Punktzahl, das habe ich doch erreicht.“ Schweigend betrachtete L den jungen Studenten. Er musste nichts erläutern, Light verstand auch so, worauf L hinauswollte.

„Es geht mir nicht darum, überall der Beste zu sein“, erklärte Light. „Ich mache meine Zielsetzung nicht nur vom Gewinn abhängig. Ohne einen ebenbürtigen Gegner wäre das alles doch langweilig. Wieso hätte ich mich also gekränkt fühlen sollen? Ich war bei der Einstiegsfeier sogar ziemlich aufgeregt und neugierig.“

„Neugierig?“, griff L das Wort fragend auf.

„Du hast doch vorhin selbst davon gesprochen, oder nicht?“ Light zuckte mit den Schultern. „Zumindest habe ich das so aufgefasst. Was aber nicht bedeutet, dass mir der Sieg egal ist.“

„Wenn du dich demnach erst einmal auf einen Kampf eingelassen hast...“, begann L den Satz, welchen Light mit einem aufrichtigen Lächeln beendete.

„...dann möchte ich auch gewinnen.“

Mit einem Nicken steuerte L auf den Ausgang zu. Er hatte nichts anderes erwartet und war nicht einmal überrascht, dass Light diese Tatsache so offen zugab. Als L die Tür erreicht hatte, stellte er eine weitere Frage:

„Wenn du als Kira gewusst hättest, dass Ryuga Hideki in Wahrheit L ist, was hättest du dann getan?“

„Mich mit ihm angefreundet“, antwortete Light ohne Umschweife und räusperte sich sogleich. „Das heißt, ich hätte auf gleiche Weise wie du Freundschaft schließen wollen.“

„Ein recht hinterhältiges doppeltes Spiel also.“

„So streng würde ich das gar nicht beurteilen“, räumte Light ein und schüttelte dabei leicht den Kopf, „aber davon abgesehen solltest du aufpassen, dass ich mich nicht daran gewöhne, deinetwegen ständig für Kira zu denken.“

„Das hat ja auch nicht ausschließlich etwas mit ihm zu tun.“ Die Hände in die Hosentaschen geschoben ging L die Treppe hinunter. „Schließlich hätten wir genauso unabhängig davon ein Tennismatch bestreiten können. Beim Spiel kann man über einen Menschen in einer Stunde mehr erfahren als in sieben Jahren Konversation.“

„Wenn man dir so zuhört, könnte man meinen, du hieltest das gesamte Leben nur für ein Spiel oder ein Match.“

„Vielleicht ist das ja auch so.“ L präzisierte nicht, ob er sich mit seiner Aussage auf sich selbst oder das Leben bezog. „Wenn es aber so ist, Light-kun, dann lautet die erste Regel: das ist kein Spiel, das ist todernst.“

Kontakt

Kontakt
 

„Light-kun, dein Schuh...“

Es war zu spät. Er spürte ein plötzliches Ziehen an seinem Fußgelenk. Die Welt geriet aus dem Gleichgewicht, als er gegen den fremden Körper prallte und ihn mit sich zu Boden riss. Der keuchende Atem zweier Männer durchhallte den Raum, das abgeschlossene Feld ihres Spieles. Rauschen in den Ohren, das Trommeln eines Herzschlags. Light senkte die Stirn auf Ls Brustkorb und versuchte sich zu beruhigen. Er schloss die Augen und nahm Rauschen und Herzschlag wie ein Dröhnen in seinem Inneren wahr.

Er richtete sich auf, spürte noch immer die Nähe des anderen Körpers und die eigene Erschöpfung. In sitzender Position schaute Light auf L hinab, welcher sich nun auf einen Ellbogen stützte. Der Detektiv griff sich an den Hinterkopf, wobei er ein wenig das Gesicht verzog, bevor er seinen Nacken hinabfuhr.

„Hast du dich verletzt?“ Light hörte seine eigene Stimme wie durch einen dichten Schleier. Zaghaft beugte er sich vor und hob die Hand. Er strich Ls Hals entlang, fühlte die erhitzte, vom Schweiß feuchte Haut und glitt mit den Fingerspitzen unter den Kragen des weißen Oberteils und über die knochigen Schulterblätter. L hatte den Kopf gesenkt, die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht. Seine Lippen waren noch leicht geöffnet, der Atem von der Anstrengung schwer. Trotz der Schatten unter seinen Augen war sein Blick wachsam und durchdringend. Der Kontakt von Lights Hand auf Ls nackter Haut verriet überraschend, dass sich die Temperatur ihrer Körper annähernd glich.

„Hast du dich verletzt?“, fragte Light erneut und erwachte.
 

„In letzter Zeit schläfst du wenig, Light-kun“, stellte L scheinbar belanglos fest, „und wenn, dann unruhig.“

Mit spitzen Fingern stellte er eine Tasse Tee, English Breakfast von Twinings, auf den Tisch. Danach schwang er sich auf einen Stuhl, um seine übliche Haltung einzunehmen. Die beiden Männer befanden sich in einem der oberen Apartments des Gebäudes, angrenzend an die Küche und einige frei zugängliche Konferenzräume. Light saß schweigend vor seinem Laptop, mit den reglosen Fingern auf der Tastatur, und starrte über den Rand des Monitors aus dem Fenster. Draußen kleidete sich der morgendliche Himmel in eine Mischung aus grauer und violetter Farbe. Doch der junge Ermittler sah es kaum. Einen Moment später realisierte er erst, was sein Partner gesagt hatte, und wandte sich ihm zu.

„Das sagst gerade du, obwohl du jeden Tag vor mir wach bist.“

L goss ein wenig Milch in seinen Tee und warf fünf Stück Zucker hinterher, bevor er sich über die Fingerkuppen leckte. Dabei ließ er sich von Lights Blick nicht aus der Ruhe bringen. Dieser betrachtete ihn nachdenklich, jedoch nicht in Erwartung einer Antwort. Noch immer ging ihm jener Anhaltspunkt durch den Kopf, den er schon seit längerer Zeit überdachte. Es war die Idee, dass ein höheres Ziel oft unschuldige Menschenleben gefordert hatte, die ihn nicht losließ und mit der er sich abzulenken versuchte. Auch Schlaf konnte er sich im Moment kaum leisten.

„Morgen, Light.“

Verschlafen kam Misa durch den Raum auf sie zu. Sie trug einen Blazer, dessen Kragen mit Rüschen besetzt war, und einen karierten Rock. Ihre Schuhe hatte sie allerdings nur lose übergestreift und nicht zugebunden.

„...und Ryuzaki-san“, fügte sie gleichgültig hinzu, als sie sich setzte. Light nickte nur kurz, bevor er sich wieder auf seinen Laptop zu konzentrieren versuchte. Ein paar Strähnen seines braunen Haares fielen ihm ins Gesicht. Unwirsch strich er sie beiseite.

„Du siehst müde aus“, bemerkte Misa besorgt, was Light mit einem leichten Seufzen quittierte. Sogar seine selbsternannte Freundin hatte es gemerkt.

„Ich schlafe in letzter Zeit nicht so gut“, antwortete er, ohne aufzuschauen. „Das heißt, eigentlich will ich endlich in diesem Fall vorankommen.“

„Ach so...“ Misa legte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite. „Du gönnst dir absichtlich keinen Schlaf, damit du mehr arbeiten kannst.“

„So ungefähr“, entgegnete Light.

„Anhand des japanischen Anstands“, warf L unvermittelt ein, „bedeutet eine solche Aussage im Sinne einer halben Zustimmung in Wirklichkeit eine Verneinung.“ Er rührte in seiner Tasse herum und nahm einen Schluck. Light seufzte erneut und schaute abschätzend in Misas Gesicht, bevor er sagte:

„Wenn ich viel arbeite, dann bin ich abends müde genug, um sofort einzuschlafen.“

Die Miene des jungen Idols spiegelte keinen Argwohn wider, allerdings schien sie verwirrt auf eine weitere Erläuterung zu warten. Light war sich im Klaren darüber, dass sein darauf folgendes Schweigen offenbarte, wie unwohl er sich bei diesem Gesprächsthema fühlte. Fieberhaft suchte er nach den passenden Worten, wobei er sich genervt das Haar aus dem Gesicht strich.

„Ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein“, sagte er dann so leise, dass es niemandem im Raum zu gelten schien, „und mich für den Herrscher eines unermesslichen Gebietes halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“

„Hamlet.“ L hatte das Zitat sofort erkannt. „Light-kun geht demnach davon aus, dass er durch die Müdigkeit seine REM-Phase verkürzen kann.“

Obwohl sich der Detektiv so kompliziert ausdrückte, glaubte Misa, dass sie den Kern der Aussage verstanden hatte. Sie wollte gerade den Mund zu einer Frage öffnen, als Matsuda eintrat.

„Ich habe eben einen Anruf erhalten, Misamisa“, teilte er ihr umgehend mit, „der Regisseur ist der Meinung, dass die Kostüme nicht zum Set passen.“

Misa hob verwirrt eine Augenbraue.

„Wird jetzt etwa die Garderobe ausgetauscht?“

„Äh, nein... Nishinaka-san hat gesagt, wir sollen bis Mittag warten, damit das Wetter die richtige Atmosphäre schafft. Solange überlegt er, ob er den Szenenbildner oder nur den Locationscout verklagen soll.“ Matsuda zuckte mit den Schultern, um deutlich zu machen, dass er von solchen künstlerischen Sachen nichts verstand.

„Ich will Honig haben“, mischte sich nun L in selbstverständlichem Tonfall ein, „und da Matsuda-san momentan sowieso nichts zu tun hat...“

Empört wollte der Polizist etwas entgegnen, allerdings schenkte Misa ihm bereits keinerlei Beachtung mehr und wandte sich mit erfreuter Stimme an Light:

„Toll, dann haben wir den Morgen für uns allein.“

Light schien die Aussage des Mädchens jedoch nicht zu registrieren und meinte stattdessen gedankenversunken:

„Ryuzaki, es heißt doch ganz trivial, dass der Verbrecher häufig zum Tatort zurückkehrt.“

„Die Polizei aber auch“, ergänzte L, während er ein Milchbrötchen in seinen Tee tunkte. „Ein Dieb wird wahrscheinlich weniger zu einer ausgeraubten Bank zurückkehren, sondern eher das Weite suchen, Light-kun. Doch bei Gewaltverbrechen, insbesondere Mord, mag das durchaus zutreffen.“

„Führt das FBI dazu nicht sogar Statistiken?“

„Wie verlässlich die sind, ist eine andere Frage.“

„Das stimmt schon.“ Mittlerweile bewegten sich Lights Finger wieder geschwind über die Tastatur. „Niemand rennt herum und befragt Verbrecher auf freiem Fuß, ob und wie oft sie zum Tatort zurückgekehrt sind. Einige werden wohl nicht wahrheitsgemäß antworten. Gewissheit hat man daher kaum, außer jemand wurde genau dort am Ort des Verbrechens erwischt. Dennoch ist es keine unbegründete Phrase und ich frage mich...“ Den Blick auf den Monitor gerichtet bemerkte Light nicht, dass Matsuda den Raum längst mit einem Schulterzucken wieder verlassen hatte und sich Misa mit verschränkten Armen, aber ohne ein Wort zu sagen, neben ihn gesetzt hatte.

„Bei Null anzufangen“, sprach Light leise, als seine Hände wieder zum Stillstand gekommen waren, „bedeutet in den meisten Fällen, an den Anfang des Geschehens, also den Tatort zurückzukehren. Ich habe das Gefühl, das wäre mein einziger Anhaltspunkt.“

„Oh“, kommentierte L den Umstand, dass ein Stück seines Milchbrötchens in den Tee gefallen war. Für einen Moment fragte sich Light, wozu er überhaupt arbeitete, wenn seine Leistung weder seiner Zielsetzung noch als Vorwand genügte. Ein paar Strähnen kitzelten seine Wimpern, doch er ignorierte es.

„Soll ich dir deine Haare schneiden?“ Verwirrt schaute Light auf und begegnete dem Blick von Misa, die ein Stück näher an ihn herangerückt war. „Ich kann das eigentlich ganz gut. Früher habe ich mir die Haare immer selbst geschnitten und gefärbt, weil ich oft etwas Neues haben wollte. Also?“

Light dachte kurz darüber nach und nickte schließlich zustimmend, sodass Misa mit einem Freudenschrei aufsprang und hinauslief. Ohne ihr nachzusehen, wandte sich Light daraufhin erneut an seinen Kollegen.

„Erinnerst du dich, als du gesagt hast, es gäbe so viele Wahrheiten wie Menschen auf der Welt?“ L nickte bloß, während er mit dem Löffel in seinem Tee nach dem Milchbrötchen fischte. „Ist das der Grund, weshalb du ein Weitersuchen sinnlos findest, Ryuzaki?“

„Eigentlich nicht.“ Der Detektiv legte den Löffel beiseite und trank seine Tasse leer, bevor er Light ins Gesicht schaute. „Das Problem ist allein die Definition. Selbst wenn es nur eine einzige Wahrheit gibt, bleibt sie ein Heer von Metaphern.“

Mit dem Ellbogen auf der Tischplatte stützte Light seinen Kopf auf die Hand.

„Ich fand es damals ziemlich beeindruckend, wie du Kira im Fernsehen überwältigt und ihm indirekt gesagt hast, er sei böse.“

„Provokation“, erklärte L schlicht. „Das ist alles.“

„Es gibt also kein Gut und Böse, kein Richtig oder Falsch. Und trotzdem sagst du, dass du an die Gerechtigkeit glaubst.“

„Das sind Dinge, die weder du noch ich je verstehen werden, Light-kun, auch wenn wir zu wissen glauben, was wahr und richtig ist.“

„Träume sagen beispielsweise die Wahrheit“, gab plötzlich Misa von sich, die zurückgekehrt und neben Light getreten war. Sie hielt eine Rasierklinge zwischen den Fingern und lächelte.

„Dann ist die Wahrheit manchmal aber ziemlich verquer“, setzte Light skeptisch dagegen, „oder hattest du nie einen komischen und unsinnigen Traum, Misa?“

Das blonde Mädchen ging nicht darauf ein und legte stattdessen ein Handtuch um Lights Schultern, nachdem sie ihn gegen die Stuhllehne gedrückt hatte.

„Weil sich Träume erinnern“, sagte sie dann, „und selten lügen, willst du fest schlafen, damit du nicht träumst.“

„Sie ist doch kein so dummes Kind“, meinte L, während er ein weiteres Milchbrötchen entblätterte.

„Hör auf, mich ständig zu verschaukeln, Ryuzaki-san!“

„Ich habe keinerlei Namen genannt. Aber getroffene Hunde...“

Beleidigt presste Misa die Lippen aufeinander, blieb jedoch stumm. Sie ignorierte die Kränkungen dieses ungehobelten Kerls und fuhr sanft mit den Händen durch Lights braunes Haar. Bei der Länge und diesem Schnitt hielt sie es nicht für nötig, vorher Wasser zu verwenden.

„Es ist doch so, dass ein Traum wahr, aber nicht wirklich ist“, sprach Misa mit langsamer Stimme, während sie sich darauf konzentrierte, die Frisur in der richtigen Länge zu kürzen. „Sobald sich ein Traum erfüllt, ist er eigentlich kein Traum mehr, dann hat man ihn verloren.“ Light schenkte ihren Worten nur wenig Aufmerksamkeit. Er dachte an seine Familie, weil die Berührung von Misas Händen ihn an seine kleine Schwester erinnerte. Generell waren sich die beiden Mädchen in einigen Belangen ähnlich. Ein seltsamer Vergleich, fand Light. Unschuldige Menschen, auch das konnte er im Moment nicht vergessen, fielen oft der höheren Sache zum Opfer.

Während der Sohn des Polizeichefs fortwährend darüber nachsann, sprachen weder L noch Misa ein weiteres Wort. Schweigen breitete sich zwischen den drei Personen aus, die am tiefsten in den Fall um Kira verstrickt waren.

Es verging eine lange Zeit in jener gleichbleibenden Stille, sodass die blasse Sonne bereits um einiges höher über der Stadt stand, als Misa ihre Arbeit beendete und auch Matsuda zurückkehrte. Der Polizist stellte ein Glas auf den Tisch, dessen dunkelbrauner Inhalt sich in halb festem, halb flüssigem Zustand befand. L schaute verdutzt auf, nachdem er das Glas gemustert hatte.

„Buchweizenhonig?“, fragte er trocken. „Sehe ich aus wie ein Lebkuchen?“

„Ha!“ Triumphierend stieß Matsuda einen Finger in die Luft. „Ich wusste, dass es daran bestimmt etwas auszusetzen gibt, und habe vorsorglich noch eine andere Sorte mitgebracht. Hier bitte, das ist Erdbeerbaumhonig. Ich dachte mir, mit Erdbeeren liege ich sicher nicht falsch.“

„Matsuda-san...“ Ungläubig starrte L das zweite Glas an, das soeben auf den Tisch gestellt wurde. „Sie sind ein Idiot.“

Der Ernst in Matsudas Miene verwandelte sich in Verwirrung. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, schaltete sich Light unvermittelt ein, wobei er eingehend seine Haare in dem Spiegel betrachtete, den ihm Misa entgegenhielt.

„Ich habe da eine Bitte, Matsuda-san. Es geht um ein paar Datenpakete, die ich dem Intranet eingespeist habe. Ich möchte einen Ansatz verfolgen, bei dem es mir helfen würde, wenn diese Daten schon mal überprüft und ausgewertet werden könnten.“

„Kein Problem!“, erklärte sich Matsuda sofort voller Begeisterung bereit.

„Dann sollte er sich vorher aber klar machen, was Gewissenhaftigkeit und Kontinuität bedeuten“, murmelte L und schob angewidert die Honiggläser über den Tisch.
 

„Was auch immer du tust, du hättest Matsudas Hilfe nicht benötigt.“ Der Detektiv stand vor der Brüstung des Helikopterlandeplatzes, die Hände wie so oft in den Hosentaschen, und schaute über die Dächer von Bürogebäuden, Firmensitzen und Privatschulen. „Du magst es nicht, wie ich mit manchen Menschen umgehe, nicht wahr, Light-kun?“ Aus dem Augenwinkel schaute L zu seinem Kollegen hinüber, der sich schweigend auf die steinerne Abgrenzung gesetzt hatte. Light ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, auf eine unbekannte Welt hinter den Fassaden der Stadt. „Du wolltest Matsuda ein Gefühl von Kompetenz vermitteln.“

„Was spielt das für eine Rolle?“, fragte Light ruhig, ohne L dabei in die Augen zu sehen. „Inwiefern würde dir eine Antwort bei deiner Ermittlung gegen mich helfen?“

Stumm betrachtete L das von ihm abgewandte Gesicht seines Freundes. Lights jugendliche Züge wirkten auf seltsame Weise erwachsen, in seinen Augen lagen Erschöpfung und vermeintlich ein unter Kontrolle gehaltener Schmerz. Dagegen sollte die Mimik des Meisterdetektivs nichts über dessen Emotionen verraten.

Das orangefarbene Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in den Fenstern der Häuser, sodass es aussah, als würde Tokyo in Flammen stehen. Light fühlte die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut und schloss die Augen. Der Wind frischte auf, sodass er leicht fröstelte. Er spürte, dass Ls Blick auf ihm ruhte, und sagte schließlich seufzend:

„Es ist so schnell kalt geworden.“

Ein paar Sekunden blieb L reglos stehen. Dann löste er sich aus seiner Erstarrung und ging die wenigen Schritte auf den Anderen zu, die zuvor die Distanz zwischen ihnen markiert hatten.

„Wenn einem kalt ist“, sagte er und hob die linke Hand, welche nicht an die Metallkette gefesselt war, „ist es am besten, zuallererst den Kopf zu wärmen.“ Als L vorsichtig mit den Fingern durch Lights weiches, braunes Haar strich, erschraken sie beide ein wenig. Light sah zu seinem Partner auf, der direkt vor ihm stand und schützend die Hand auf sein Haupt legte. Die Berührung ließ ihn daran denken, dass es vielleicht gar keine Belastung sein würde, in eine Nussschale eingesperrt zu sein, wenn nur seine Träume nicht wären.

„Das basiert doch bloß auf einem Mythos, Ryuzaki“, meinte er leise schmunzelnd, obwohl es das nicht weniger wahr machte. „Außerdem ist deine Hand doch selbst ganz kalt.“

„Oh, entschuldige.“ Sogleich wollte L sie wieder fortziehen, aber Light war ungewollt schneller und hatte bereits, bevor er über sein Handeln nachdenken konnte, nach der Hand des Detektivs gegriffen, um sie festzuhalten. Verwirrt ließ L die wärmende Berührung geschehen. Seine Finger zuckten leicht und verhakten sich halb mit denen von Light, während er dessen hilfesuchenden Blick erwiderte.

„Ich...“ Light konnte nicht weitersprechen. Er wusste ohnehin nicht, was er eigentlich sagen wollte. Den Kopf senkend ließ er Ls Handgelenk dennoch nicht los. Dieser machte ihm die Situation allerdings leichter, indem er nicht lange darauf wartete, dass sein Partner die Aussage beendete, sondern seinerseits aus dem Zusammenhang gerissen meinte:

„Es ist nicht gut, dass du so viel arbeitest und so wenig schläfst, Light-kun.“

„Wieso?“, fragte dieser verständnislos. „Keine Sorge, es ist alles in Ordnung.“

Stillschweigend betrachtete L den Jüngeren, bevor er plötzlich dessen Griff eindeutig erwiderte und ihn in eine aufrechte Position hinaufzog. Durch die abrupte Bewegung wurde Light schwarz vor Augen, sodass er fast das Gleichgewicht verloren hätte, wäre der Andere ihm kein Halt gewesen.

„Das liegt an deinem Kreislauf“, erklärte L sanft, während er ihn festhielt und einen Moment wartete, bis sich dessen Wahrnehmung wieder normalisierte, „du hast es selbst nicht bemerkt... oder besser gesagt, du hast es ignoriert. Du musst mehr auf dich Acht geben.“

„Ich handle nur nach meinen Prioritäten“, rechtfertigte sich Light, „und nach meinen Gefühlen.“ Er löste sich von L, blieb aber dicht vor ihm stehen, um ihm seine Gedanken und Beweggründe begreiflich zu machen, obwohl er selbst nicht alles verstand und auch nicht alles erzählen konnte. „Es mag stimmen, dass ich nicht erklären kann, warum ich an Wahrheit und Gerechtigkeit glaube. Aber das erscheint mir bedeutungslos, solange ich in meinem Inneren weiß, was richtig ist. Darum will ich die Menschheit von Kira befreien, weil er ein völlig Fremder ist, der seine eigene Gerechtigkeit vertritt. Noch dazu macht sich meine Familie Sorgen, mein Vater steckt all seine Kräfte in diesen Fall, Misa ist wegen des Verdachts genauso wie ich hier gefangen... ich kann jetzt nicht an mich denken.“ Er schüttelte den Kopf und schaute in den Abendhimmel hinaus. Daraufhin fing L mit bedachter Stimme zu sprechen an.

„Weißt du, was Thomas Jefferson über die Wahrheit gesagt hat, Light-kun? Er meinte, sie wäre so groß, dass sie sich immer durchsetzen könne, wenn man sie sich selbst überließe. Sie hat im Streit gegen den Irrtum nichts zu befürchten, sofern die Menschen ihr nicht die natürlichen Waffen rauben, die sie besitzt: das Wort und die freie Meinungsäußerung. Jeder trägt einen der zersplitterten Teile der Wahrheit in sich, deshalb können wir nur gemeinsam herausfinden, was Gerechtigkeit bedeutet, so übertrieben und pathetisch das auch klingen mag.“

„Ich glaube... Wahrheit und Gerechtigkeit sind manchmal weit voneinander entfernt.“

„Aber für beides kann man weder auf Kalkül noch auf Gefühl verzichten.“

Light atmete schwer aus, während er alles aufzunehmen versuchte, was er von seiner Höhe aus mit den Augen erreichen konnte.

„Kira versucht eine bessere Welt zu erschaffen“, sagte er dann, „aber er bekämpft nur allgemein Verbrecher. Die wirkliche Ungerechtigkeit in der Welt kann nicht bekämpft werden. Regierungen sind dafür verantwortlich, dass es keine Gleichheit in der Welt gibt. Was sagen hungernde Menschen, elternlose Kinder, Soldaten, die im Krieg ihr Leben aufs Spiel setzen und ihre Freunde sterben sehen? Was ist mit den Menschen, die an Krankheiten leiden oder die an ihrem eigenen Leben zugrunde gehen? Sind sie dankbar? Denken sie, dass Kira ihnen helfen kann und ihnen eine bessere Welt geschenkt hat? Es gibt so viel mehr als Kira. Ich kann hier nicht stehen bleiben.“

„Es gibt keinen Menschen, der wirklich rein ist, Light-kun.“ L schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: „Aber du versuchst es wenigstens.“

Light musste schmunzeln.

„Danke.“

„Wofür bedankst du dich?“, fragte L tonlos. „Dafür, dass...“

„...damit nur ein weiteres Indiz meiner Schuld geliefert wurde?“ Light lächelte kaum merklich. Wozu sollte er sich gerade jetzt darüber aufregen? Es reichte ihm, neben seinem Freund und Partner zu stehen und zu beobachten, wie der Abend in aller Stille die Stadt einnahm. Zumindest für diesen Augenblick.

Die Sonne verschwand glühend rot in den Häuserschluchten. Die letzte Wärme des Sommers verging. Es wurde Herbst.

Ohne Macht

Ohne Macht
 

„Heureka“, murmelte Light kaum hörbar, „es geht doch.“

Ein letztes Mal überflog er seine gesammelten Daten, um sich seiner Entdeckung gewiss zu sein, bevor er etwas deutlicher verlauten ließ:

„Ryuzaki, entschuldige. Auch wenn du keine Lust hast, aber kannst du mal eben herkommen und dir das anschauen?“

Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck rollte L seinen Stuhl zu ihm hinüber und schaute auf den Computermonitor.

„Ist das nicht seltsam, dieser sprunghafte Anstieg?“

Light zeigte seinem Ermittlungspartner einige Diagramme parallel zu einer Tabelle mit Namen und wusste, dass dieser die Andeutungen ohne Schwierigkeiten verstehen würde. Wie erwartet zeichnete sich auf dem Gesicht des Meisterdetektivs sofortiges Erkennen ab.

„Light-kun...“

„Was ist, lässt das deine Motivation zurückkehren?“

Endlich hatte Light den entscheidenden Hinweis gefunden, nach welchem er eine schiere Ewigkeit von zwei Monaten gesucht hatte. Er hatte so lange darauf warten müssen, diesen Ausdruck im Gesicht seines Freundes zu sehen, dass er jenes nun aufkommende Gefühl kaum mehr nur als Erleichterung beschreiben konnte. Es war das Erwachen eines alten Kampfgeistes, der schon fast von beiden Ermittlern aufgegeben worden war und der nun wahrscheinlich sein Herz vor Aufregung schneller schlagen ließ.

Um besser sehen zu können, legte L ohne Umschweife die Hand auf Lights Schulter und beugte sich weiter nach vorn.

„Wenn Kira für diese Tode verantwortlich ist“, meinte er verstehend, „geht es ihm in Wirklichkeit nicht darum, Verbrecher zu bestrafen, jedenfalls nicht in erster Linie.“

Obwohl Light zuhörte, konzentrierte er sich für einen Moment nur auf Ls Berührung, die mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. Es beruhigte ihn, dass die Nähe zwischen ihnen kein Problem mehr darstellte. Dann ermahnte er sich allerdings, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass er L noch eine Antwort auf dessen Aussage schuldete.

„Ja, es sieht eher so aus, als würde er die Verbrecher nur umbringen, um damit sein eigentliches Ziel zu verschleiern.“

„Du hast doch mal gesagt, wäre Kira ein Erwachsener, würde er seine Kräfte zum persönlichen Vorteil nutzen. Das hier könnte eventuell ein Anhaltspunkt sein, dass der jetzige Kira weder dem ersten noch dem zweiten gleicht.“ Während L seinen Partner zu der Entdeckung beglückwünschte, löste er noch immer nicht die Hand von dessen Schulter.

„Ich habe ihm auch sehr geholfen, Ryuzaki“, machte Matsuda aus dem Hintergrund heraus auf sich aufmerksam, wurde aber von beiden kaum beachtet.

Light erläuterte sein Vorgehen nun genauer. Ohne das System, das ihm der Meisterdetektiv zur Verfügung gestellt hatte, wäre er trotz seiner Fähigkeiten als Hacker nicht allzu weit gekommen. Es war nicht grundlos gewesen, dass er mit L darüber gesprochen hatte, der Anfang einer Ermittlung müsse am Tatort des ersten Verbrechens beginnen, denn genau darauf hatte er sein Augenmerk gelenkt. Ein erster Ansatz konnte nur in Japan gefunden werden. Das war auch L bewusst gewesen, als er vor einem knappen Jahr in dieses Land gereist war.

„Ich habe überlegt“, erklärte Light, „dass möglicherweise einige der durch Herzversagen getöteten Opfer gar nicht als solche erkannt wurden, weshalb ich alle Personen in Japan überprüfen wollte, die seit Kiras Auftreten an plötzlichem Herzversagen gestorben sind.“

„Dabei habe ich ihm geholfen“, mischte sich Matsuda erneut mit Stolz ein. L erkannte nun, welchen Auftrag Light dem jungen Polizisten erteilt hatte. Diese Aufgabe wäre tatsächlich nicht schwer zu bewältigen gewesen und hätte der Hilfe eines anderen in keiner Weise bedurft. Die Vermutung, dass Matsuda damit nur in seinem Selbstwertgefühl aufgebaut werden sollte, bestätigte sich also. Es erstaunte L immer wieder, wie sehr Light auf die Menschen in seiner Umgebung zu achten versuchte. Er betrachtete ihn eingehend, während dieser seine Ausführungen fortsetzte.

Light hatte an jener Stelle seiner Ermittlungsarbeit mehr durch Zufall festgestellt, dass sich seit seiner Inhaftierung einige rätselhafte Todesfälle ereignet hatten, die sowohl durch Herzversagen als auch durch andere Ursachen hervorgerufen wurden. Und sie alle hatten einem Konzern namens Yotsuba zum Vorteil gedient und dessen Aktienkurse steigen lassen. Dass die Rivalen dieses Unternehmens reihenweise wie die Fliegen starben, waren einfach zu viele Zufälle, um nicht suspekt zu erscheinen. Dies wiederum deutete noch auf eine weitere Tatsache hin, die L und Light nun zeitgleich aussprachen:

„Kira kann nicht nur durch Herzversagen töten.“

Die beiden Männer schauten einander ernst in die Augen. Wenn all diese Annahmen stimmten, dann hatten sie hiermit den ersten Kontakt geknüpft, um nach langer Tatenlosigkeit erneut in den Fall um Kira einzusteigen.

„Matsuda-san“, wandte sich L an den Polizisten, „teilen Sie den anderen Mitgliedern mit, dass ich für den morgigen Tag eine Sitzung anberaume. Yagami-san soll im Polizeipräsidium anfragen, ob wir noch ein paar Leute bekommen. Es könnte sein, dass wir jetzt Unterstützung brauchen.“

„Jawohl!“ Matsuda wirkte aufgeregt und erfreut.

„Ansonsten“, fügte der Detektiv hinzu, „sobald das erledigt ist, nehmen Sie sich ruhig für den Rest des Tages frei.“ Matsuda nickte pflichtbewusst und schenkte Light noch ein kurzes Lächeln, bevor er den Raum mit leichten Schritten verließ.

Nun löste L seine Hand von Lights Schulter und wiederholte sein Kompliment:

„Das hast du wirklich gut gemacht.“

„Eigentlich ist es sogar dein Verdienst, Ryuzaki.“ Fragend blickte L ihn an, schwieg jedoch abwartend. „Du hast selbst gesagt, dass für die höhere Sache immer auch solche sterben, die keine Verbrecher sind, und dass schon oft wissentlich über Menschen gerichtet wurde, die eigentlich unschuldig waren. Ich konnte deine Worte einfach nicht vergessen, darum bin ich auf die Idee gekommen, nach denjenigen zu suchen, die an Herzversagen gestorben sind, ohne selbst Verbrecher zu sein.“

„Ah, so ist das...“ L sprach seine Entgegnung nur sehr langsam aus, als müsste er ihr noch einige Überlegungen widmen. „Es ist schon länger her, dass ich das sagte, aber du hast es dir trotzdem gemerkt?“

Verwundert schaute Light in das Gesicht seines Partners, weil er sich nicht sicher war, ob dieser mit seiner Aussage etwas andeuten oder in Erfahrung bringen wollte. Bevor sich Light allerdings zu einer Antwort entschließen konnte, meinte L bereits:

„Es scheint dir gut getan zu haben, das Gebäude zu verlassen. Womöglich bekamst du dadurch besser den Kopf frei, als es dir mit dem Lesen ausführlicher und alter Bücher möglich gewesen wäre.“ Light warf ihm aufgrund dieser Bemerkung einen tadelnden Blick zu, welcher allerdings in jeder Hinsicht freundschaftlicher Natur war. „Es ist also von Vorteil“, fuhr L gleichmütig fort, „wenn man dich öfter mal frische Luft atmen lässt. Darum würde ich vorschlagen, dass wir nun genau das tun sollten.“

„Wieso plötzlich?“ Lights Irritation wuchs beständig, weshalb er sich darauf konzentrierte, Ls Mimik richtig zu entschlüsseln. In dessen fast leblose Gesichtszüge war ein Ausdruck getreten, der nur schwer zu interpretieren war.

„Ich verstehe nun“, gestand L bedacht, „was du mir damals sagen wolltest, Light-kun. Man kann zwar vernichtet werden... aber man darf nicht aufgeben.“
 

Die Dämmerung jagte die letzten Lichtstrahlen über den Horizont. Ein Farbenspiel teilte den Himmel in Tag und Nacht, bevor sich der Abend über die Stadt legte. Im Berufsverkehr und auf den Bürgersteigen verschmolzen die Menschen zu einer stummen Masse der Müdigkeit und einem Gefühl nach Heimweh, das schon längst kein Ziel mehr hatte.

Niemand achtete auf die beiden Männer, die in ihrem ganzen Auftreten so verschieden wirkten und dennoch dicht nebeneinander die Straße überquerten, um in den angrenzenden Park zu gelangen. Die Kette zwischen ihnen hatte Light um sein Handgelenk gewickelt, sodass sie weniger auffällig sein musste. L schien dieser Umstand ziemlich gleichgültig zu sein.

„Ist es möglich“, fragte Light in entspanntem Ton, „dass dich die Aussicht, Yotsuba könnte hinter den ganzen Vorfällen stecken, ruhiger gestimmt hat?“

L zuckte mit den Schultern und schaute gelangweilt einem kleinen Mädchen hinterher, das ihren Hund zu sich rief, um nach Hause gehen zu können. Die Parkanlage war mittlerweile fast völlig verlassen. Ein kalter Wind strich durch die Bäume.

„Diese Firma stellt im Moment keine Gefahr dar“, erklärte L endlich, „sonst wären die Mitglieder des Konzerns nicht so unvorsichtig in ihrem Vorgehen. Sie wären über ihr jetziges Handeln hinaus längst in Aktion getreten, um alle eventuellen Feinde auszulöschen. Mal abgesehen davon, dass ich Kira in diesem Konzern die Fähigkeiten dazu gar nicht zutraue. Solange sie also nicht angegriffen werden, scheinen die Leute von Yotsuba stillzuhalten und abzuwarten.“

L lehnte seinen krummen Rücken gegen einen Baum, beließ dabei allerdings die Hände in den Hosentaschen, während er den Kopf zur Seite neigte und gedankenversunken zur Erde starrte.

„Es kommt mir so unbegreiflich vor“, meinte Light, wobei er den Kragen seiner Jacke aufrichtete, um sich besser vor der Kälte zu schützen, „dass ein wirtschaftliches Unternehmen, das so viel Macht besitzt, zu solchen Mitteln greifen könnte, um noch mehr Einfluss und Geld zu erlangen.“

„Zu viel Macht kann einen Menschen blind machen.“

„Und ihn unentwegt nach mehr verlangen lassen?“ Light seufzte und schüttelte leicht den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum oft gerade diejenigen mit dem meisten Besitz zugleich am schlechtesten teilen können. Dagegen geben solche, die selbst kaum etwas haben, auch dieses Letzte noch her, um anderen zu helfen.“

„Wer weiß, ob die soziale Stellung dafür überhaupt eine Rolle spielt“, äußerte L seine Vermutung nur vage, „zum Schluss hängt es doch immer von der Persönlichkeit des Einzelnen ab. Wer viel Macht und Geld besitzt, ist unter Umständen weniger bestechlich, weniger angreifbar und kann demzufolge auch autonom agieren. Nicht jeder muss zwangsläufig von Angst geleitet sein.“

Light schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und blickte gen Himmel, wo bereits die ersten Sterne auftauchten, einzeln verteilt wie Stecknadelköpfe auf blauviolettem Samt. Es kam selten vor, dass man in Tokyo überhaupt Sterne sah. Nur die Dunkelheit ringsum ließ das schwache Licht sichtbar werden.

„Trotzdem kommt es mir so vor, als hätten immer die falschen Leute am meisten Anteil an Gewalt und Einfluss.“ Light sprach in einem Tonfall, der fast bitter zu sein schien. „Wohingegen manche, die wirklich etwas bewegen wollen, niemals die Möglichkeit dazu erhalten.“

Der Sohn des Polizeichefs trat näher an L heran und schaute an dem robusten Stamm des alten Baumes hinauf zu dessen Krone. Das Rauschen in den Blättern klang wie ein geheimnisvolles Wispern. Behutsam legte Light die Handfläche auf die zerfurchte Rinde, dicht neben Ls rechter Schulter, bevor er mit schwerer Stimme sagte:

„Wenn ich versuchen wollte, diesen Baum mit meinen eigenen Händen zu schütteln, dann würde ich das nicht schaffen, weil mir die Kraft dazu fehlt, aber der Wind, den wir nicht sehen, biegt den Baum ganz leicht, wohin er will.“ Einen kurzen Moment zögerte Light. „Auch wir Menschen werden am schlimmsten von unsichtbaren Händen gebogen und niedergedrückt. Eigentlich haben wir nicht die Kraft, um etwas in der Welt zu bewegen oder zu verändern.“

„Nicht nur in dieser Hinsicht ist ein Mensch wie ein Baum“, ging L mit seiner Antwort auf den Vergleich des Jüngeren ein, „sie ähneln sich, denn je mehr man hinauf in die Höhe und Helligkeit will, desto tiefer treiben sich die eigenen Wurzeln in die Erde, desto stärker strebt man abwärts ins Dunkle und Böse. Kira meint wohl, er könnte dem Licht der hellen Wahrheit am nächsten sein, und merkt dabei nicht, wie groß sein eigener Schatten geworden ist.“

Schwermütig ließ sich Light diesen Gedanken durch den Kopf gehen, bevor er tonlos bemerkte:

„Es kann sich furchtbar anfühlen, der Realität nur hilflos und ohnmächtig gegenüberzustehen. Dann wird einem klar, dass man nicht immer die Menschen beschützen kann, die man beschützen möchte.“

Die schwarzen Augen des Meisterdetektivs bohrten sich in die seines Partners. Es lag keine Überraschung oder Missverstehen zwischen den beiden Männern, schon längst nicht mehr. L wägte stumm seine folgenden Worte ab, bis er sich schließlich entschied, die Verantwortung dafür Light zu überlassen, und lediglich sagte:

„Ich muss es wohl kaum aussprechen, oder? Du weißt wahrscheinlich, was ich jetzt fragen könnte, Light-kun.“

„Da ich schon so unbedarft war“, entgegnete dieser daraufhin seufzend, „und dir genügend Angriffsfläche geboten habe... ja, ich weiß vermutlich, was du fragen möchtest. Was würde Yagami Light tun, wenn er nicht machtlos wäre, sondern die Kräfte Kiras besäße?“

„Oh, was für eine interessante Frage.“

Light warf ihm einen etwas pikierten Blick zu und setzte erneut an:

„Was würde denn L mit der Macht Kiras tun?“

„Das scheint mir eher unerheblich zu sein“, entgegnete dieser teilnahmslos. Seine ganze Körperhaltung drückte Desinteresse aus, als er gelassen und mit den Händen in den Taschen seiner Jeanshose an dem Baumstamm in seinem Rücken lehnte. Light spürte, wie sich Frustration in seinem Inneren ausbreitete, während er den Kopf senkte und reglos vor seinem Freund stehen blieb. Ein ernster Ausdruck hatte sich auf sein Gesicht gelegt.

Doch dann hörte er erneut Ls Stimme.

„Vielleicht hätte ich genau das gleiche getan.“

Sofort hob Light den Kopf und starrte den Detektiv voller Unverständnis an. Ein unnachgiebiges, kaltes Gefühl schnürte ihm die Kehle zu.

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Natürlich nicht“, erwiderte L schlicht, „schließlich bin ich das Gute, schon vergessen? Aber wer weiß... wenn ich gewusst hätte, dass du mich jagen würdest.“

„Warum sagst du so etwas?!“ Light packte L bei den Schultern und drückte ihn wütend gegen den Baumstamm in dessen Rücken. „Willst du, dass ich meinen Respekt vor dir verliere?“

Ls Augen waren so unergründlich wie tiefes Wasser. Er schwieg ungerührt.

„Warum antwortest du nicht?“, drang Light weiter auf ihn ein. Indem er den Druck seines Griffes verstärkte, versuchte er den Anderen mit Gewalt zum Sprechen zu bewegen, obgleich er wusste, dass es keinen Sinn haben würde.

„Gegen wen willst du eigentlich kämpfen?“ Damit stellte Light endlich die Frage, die ihm unentwegt auf den Lippen brannte. „Gegen Kira oder gegen mich?“

Noch immer starrte L ihn aus seinen großen, schwarzen Augen an, als würde er lediglich in der Rolle des Zuschauers eine Szene beobachten, in die er selbst nicht involviert war. Stumm wartete er ab, während sein Partner langsam zu verzweifeln begann. Light bemerkte, dass er wieder nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren, und gemahnte sich deshalb zur Ruhe. Er atmete tief ein, schloss die Augen und suchte unbewusst an Ls Schultern Halt, bevor er erneut zu sprechen begann.

„Wenn du feststellen würdest, dass ich nicht Kira bin, würdest du dich dann auf Kiras Seite stellen, nur um gegen mich zu kämpfen?“

Nun endlich zeichnete sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf Ls Lippen ab.

„Du hast Angst, Light-kun“, erwiderte er mit tiefer, sanfter Stimme, „dass ich es vielleicht nicht tun würde.“
 

Es kam ihm vor, als bestünden seine Gliedmaßen aus Blei und die Zeit der letzten beiden Monate hätte sich wie eine Last auf Lights Körper gelegt. Eine Last, der er nun langsam erliegen musste. Ihm war vor Müdigkeit schwindlig. Vielleicht hatte L Recht damit, dass er sich hätte schonen sollen, und vielleicht wäre Light dieser Bitte sogar nachgekommen, wenn sie nicht wie ein Befehl geklungen hätte.

Er streckte sich müde, um seine Verspannungen zu lösen, bevor er über sein linkes Handgelenk rieb. Draußen vor dem Fenster herrschte bereits tiefste Nacht. Ls weißes Oberteil bildete einen deutlichen Kontrast zu dem dunklen Hintergrund, als er abwartend und die Handschellen festhaltend vor dem halb reflektierenden Glas verharrte.

Mit schweren Bewegungen entledigte sich Light seiner Kleidung. Jeder Gedanke schien ihm im Moment zu viel zu sein, während er sich das Hemd für die Nacht nur lose überstreifte. Fast konnte er vergessen, dass der weltbeste Detektiv neben ihm stand und ihn beobachtete.

Dessen ungeachtet ließ sich Light auf das Bett fallen, blieb mit dem Rücken auf der Decke liegen und schloss die Augen.

„Du hast vorhin im Park gesagt“, setzte er trotz seiner Erschöpfung an, „dass man mit Macht autonom agieren kann.“

Light nahm wahr, wie sich das Bett durch das Gewicht des anderen Mannes leicht bewegte, öffnete jedoch nicht die Augen. Dann spürte er Ls kühle Finger an seinem Handgelenk und im nächsten Moment das noch kältere Material der Fesseln, die sich mit einem klickenden Geräusch schlossen.

„Autonomie kann doch alles Mögliche bedeuten“, fuhr Light mit leiser Stimme fort. „Jeder ist auf irgendeine Weise von etwas abhängig oder auf etwas angewiesen.“

Die Müdigkeit legte sich wie ein dunkles Band auf seine Lider. Dennoch meinte er zu spüren, dass L sein Gewicht verlagerte und sich über ihn beugte, während Light fragte:

„Wie sollte man sich Unabhängigkeit für den Menschen dann schon vorstellen?“

„Einsamkeit ist Unabhängigkeit.“

Unvermittelt öffnete Light die Augen und dachte zuerst, er hätte es wegen der Aussage seines Freundes getan. Doch dann registrierte er, dass er sich aufgrund von dessen Berührung nahe seinem Herzen erschreckt hatte. Scheinbar teilnahmslos nahm L den leichten Stoff von Lights Hemd zwischen die Finger, wobei er ganz sacht dessen Haut streifte, um die Knöpfe zu schließen. Light war nicht aufgefallen, dass er das vergessen hatte.

„Einsamkeit soll Unabhängigkeit sein?“, wiederholte er die Worte aufgewühlt. „Du meinst falsche Freiheit, Ryuzaki.“

Mit gesenktem Kopf entfernte sich L von ihm und sagte ausweichend:

„Wie auch immer.“

„Ist es das, wovon du letztens sprachst?“ Light hatte sich etwas aufgerichtet und versuchte seinen Freund direkt zu konfrontieren, damit dieser sich nicht wieder so einfach entziehen konnte. „Wir mögen auf vieles angewiesen sein, doch können wir ebenso auf vieles verzichten oder es ersetzen. Nur manchmal wird uns etwas zur Notwendigkeit.“

„Ich hätte wissen müssen“, seufzte L, „dass du nicht viel von mir brauchst, um meine Gedanken zu lesen.“

„Doch, das tue ich“, widersprach Light. „Ich brauche... deine Antwort.“

„Wovon wir erst wirklich abhängig werden“, sinnierte L zögerlich, als fiele es ihm schwer, seine eigenen Worte zu akzeptieren. Er stand von Light abgewandt und drehte sich nicht zu ihm herum, während die Metallkette unbewegt zwischen ihnen hing. „Das ist etwas, das uns wehrlos macht. Gegen dessen Anziehungskraft wir keine Macht besitzen.“

Verantwortung

Verantwortung
 

In der Sonderkommission kam man nach einer Besprechung darin überein, dass eine Mittäterschaft Yotsubas im Fall um Kira nicht unwahrscheinlich war. L hatte erklärt, einer seiner engsten Mitarbeiter könne Informationen aus Kontakten der Finanzwelt beschaffen. Die Person, die Light zuvor nur als zweiten L gekannt hatte, hieß demnach Watari und war offensichtlich der wichtigste Vertraute für den Detektiv.

Aufgrund der neuen Erkenntnisse lenkte Light nun seine Aufmerksamkeit darauf, Zugang zum internen Netzwerk Yotsubas zu erlangen. Mittlerweile war auch sein Vater aus dem Polizeipräsidium zurückgekehrt, wo er Unterstützung anzufordern gedachte. Sofort nach seiner Ankunft teilte ihm Matsuda voller Übereifer mit, dass man zu dem Schluss gekommen sei, zwischen der japanischen Firma Yotsuba und Kira müsse eine Verbindung bestehen. Allerdings zeugte die Mimik des Inspektors seinerseits von keinen guten Neuigkeiten.

„Die Polizei zieht vor Kira den Schwanz ein.“

Alle Anwesenden starrten Herrn Yagami ungläubig an, nur Mogi stand mit unbewegtem Ernst im Gesicht hinter seinem Vorgesetzten.

Ohne Frage ergab alles einen Sinn. In der Öffentlichkeit sollte noch immer der Schein gewahrt werden, man würde weiter gegen Kira ermitteln. Doch in Wirklichkeit wurde die polizeiliche Instanz längst von der Regierung unter Druck gesetzt. Die Information, dass ein so großer Konzern wie Yotsuba seine Finger mit im Spiel hatte, verdeutlichte zusätzlich, dass dies alles nicht aus Angst vor der Ermordung korrupter Politiker im Ministerium geschah, sondern schlicht und ergreifend aus Geldgier. Damit war Kira nicht mehr bloß eine Warnung für Verbrecher, sondern eine Waffe gegen jeglichen nationalen Feind geworden.

„Mir wurde durch die Blume mitgeteilt“, sagte Herr Yagami mit schwerer Stimme, „dass jeder, der die Zusammenarbeit mit L nicht einstellt, gefeuert wird.“ Bevor es dazu kommen konnte, da war sich der langjährige Polizeichef sicher, würde er persönlich seine Kündigung eingereicht haben. Er konnte seinen Gerechtigkeitssinn nicht verraten und L im Stich lassen. Das verlangte allein schon seine Ehre. Die Anwesenden waren größtenteils derselben Meinung, doch nicht für jeden gestaltete sich eine Entscheidung so einfach.

In Folge dessen kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen L und Aizawa, welcher bisher noch nie mit den Methoden des Meisterdetektivs einverstanden gewesen war. Noch dazu trug Aizawa gegenüber seiner Familie die Verantwortung und konnte aus diesem Grund nicht einfach seinen Job aufgeben, um sich kopflos in den Kira-Fall zu stürzen. Erst Wataris unbedachte Äußerung, L habe beim Eintreffen einer solchen Situation finanzielle Vorsorge für alle Mitglieder der Sonderkommission getroffen, erübrigte die Bedenken. Gleichzeitig jedoch wurde Aizawa damit bewusst, dass er nur getestet worden war. Enttäuscht und wütend verließ er die Ermittlungszentrale. Während L teilnahmslos ein paar Kirschen aß, passierte Aizawa zum letzten Mal die Sicherheitsbarrieren. Er würde nicht wiederkommen.

Schweigend kehrte Mogi zu seinen Aufgaben zurück und selbst Matsuda versuchte sich daraufhin mit einer Beschäftigung von seiner Betroffenheit abzulenken. Nur Lights Vater blieb noch in Gedanken versunken neben den beiden Jüngeren stehen. L schien von der gesamten Situation nicht berührt zu werden und widmete sich stattdessen einem Becher Eiscreme, wobei er die Tasse Kaffee neben sich unbeachtet kalt werden ließ.

„Was ist mit dir?“, fragte Light seinen Vater vorsichtig, da er dessen Abwesenheit bemerkt hatte. Herr Yagami schaute auf und begegnete dem klaren Blick seines Sohnes. Er konnte diesem Jungen nichts vormachen.

„Ich bin mir sicher, dass ich das Richtige tue“, begann der ältere Mann langsam und erschöpft, „aber in letzter Zeit häufen sich die Diskussionen, die ich deswegen mit deiner Mutter führe. Wer weiß, wie sie dieses Mal reagieren wird, wenn ich ihr beichten muss, dass ich meine Kündigung einreichen werde.“

„Aber ihr muss doch klar sein, wie wichtig das hier ist. Außerdem hat Mutter oft genug gesagt, dass sie dich gerade wegen deines Pflichtbewusstseins geheiratet hat.“

„Ja, natürlich...“ Seufzend starrte Herr Yagami auf Ls Rücken. Der Detektiv schien den beiden keinerlei Beachtung zu schenken und kippte stattdessen die Schüssel mit den restlichen Kirschen über sein Eis. „Sachiko hat immer hinter mir gestanden und mich unterstützt, wo sie konnte, ohne meine Entscheidungen in Frage zu stellen. Aber vergiss nicht, Light, auch sie ist eine Mutter, die sich um ihre Kinder sorgt... Das musst du nicht verstehen, es spielt für dich sowieso keine Rolle.“

„Denkst du das wirklich?“ Ernst blickte Light seinem Vater ins Gesicht und versuchte das unbehagliche Gefühl zu ignorieren, das ihn beschlich. „Denkst du nicht, dass mir klar sein dürfte, wie Mutter dir Vorwürfe macht, weil sie glaubt, du würdest die Familie vernachlässigen?“

Anstatt seinem Sohn aufrichtig entgegenzukommen, versteinerte sich die Miene Herrn Yagamis. Er warf erneut einen flüchtigen Blick zu L, bevor er knapp sagte:

„Das hat dich nicht zu interessieren, Light.“

„Vater“, sprach dieser leise und ruhig, „ich bin kein Kind mehr.“

„Für deine Mutter schon!“, entgegnete Herr Yagami sofort. „Außerdem bin ich ebenso der Meinung, dass Intelligenz keine Erfahrungen ersetzen kann.“ Light öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, doch sein Vater kam ihm zuvor, indem er weitersprach. „Nicht genug, dass Sachiko mir vorhält, ich wäre kaum zu Hause und würde mich überhaupt nicht um Sayu kümmern. Viel schlimmer ist die Tatsache, dass wir sie im Glauben gelassen haben, ich hätte dich verstoßen und du wärst meinetwegen ausgezogen. Aber es ist wenigstens besser, sie schlecht von ihrem Mann denken zu lassen, als dass sie an ihrem eigenen Sohn zweifeln müsste.“

„Willst du denn...?“ Light brach ab und haderte mit sich selbst, ob er es tatsächlich wagen sollte, das Wort gegen seinen Vater zu erheben. Nach einigen Sekunden überwand er sich jedoch. „Geht es dir bloß darum, diese Last auf deine Schultern zu nehmen? Ist das dein Hauptgedanke? Wir leben doch nicht mehr im alten Japan, Vater, wo die Ehre des Mannes sein ganzer Stolz ist und er sich lieber selbst aufgibt und opfert, um dem Weg des Kriegers zu entsprechen.“

„Light!“ Es kam selten vor, dass die Stimme des Polizeichefs so schneidend klang wie in jenem Moment. Betreten senkte Light den Kopf und schaute zur Erde, obwohl der Drang, sich auszusprechen, stärker war als das unangenehme Gefühl in seiner Magengegend. Schließlich fuhr er angespannt fort.

„Ich dachte, du wolltest Mutter nur keinen Anlass zur Sorge geben, damit sie nicht denkt, dass neben dir nun auch noch ich... dass wir beide in Lebensgefahr schweben. Dann sollte sie doch besser annehmen, es handelte sich bloß um einen harmlosen Streit zwischen uns.“

Anhaltende Stille erfüllte nach dieser Aussage den Raum, ein paar Minuten des Schweigens, die L völlig unbeteiligt dazu nutzte, den kalten Kaffee über die Kirschen und das Vanilleeis zu schütten.

Unwillkürlich wurde der Inspektor durch den Disput mit seinem Sohn an die erste Zeit in der Kriminalbehörde der Polizei erinnert, als er mit seinem damaligen Kollegen einen Entführer vernommen hatte. Es ging um ein kleines Mädchen, dessen Aufenthaltsort sie herauszufinden versuchten. Der Delinquent hatte sich partout geweigert das Versteck preiszugeben. Herr Yagami konnte sich noch gut entsinnen, welche Sorgen er und sein Kollege sich um das Mädchen gemacht hatten, weil ihr Leben von dieser Befragung abhing. Die beiden Polizisten waren völlig allein gewesen. Herr Yagami hatte in dem abgedunkelten Raum hinter dem Venezianischen Spiegel beobachtet, wie seinem Kollegen der Geduldsfaden riss und er handgreiflich wurde. Zuerst blieben die Übergriffe subtil, bis sie sich zu offensichtlicher Gewaltanwendung wandelten. Doch Herr Yagami, der zu dieser Zeit noch keinen hohen Rang bekleidete, war nicht eingeschritten und hatte stattdessen einfach abgewartet, erfüllt von Reue und der Hoffnung auf das Überleben des jungen Mädchens. Wenigstens war er nicht enttäuscht worden. Sie schafften es, ihren Verbleib in Erfahrung zu bringen und die Kleine zu retten.

Es war das einzige Mal, dass Herr Yagami für die Richtigkeit seines Handelns das Gesetz beugte. Er hätte nicht selbst die Hand erhoben, dessen war er sich sicher. Doch er hatte es zugelassen und gab sich dafür noch heute die Schuld. Aus diesem Grund hatte er damals weder blind noch stumm bleiben können.

In aller Deutlichkeit erinnerte er sich an den Blick seines Kollegen, als er ihm offen gestand, trotz des Erfolges wäre dessen Handeln falsch gewesen und somit könne kein Polizist darüber Stillschweigen bewahren. Als man von ihm eine Aussage verlangte, hatte Herr Yagami nicht gelogen. Gerechtigkeit war keine Auslegungssache, die man sich nach eigenem Ermessen zurechtbiegen durfte, sondern ein absoluter Wert. Was letztendlich richtig war, wusste er jedoch bis heute nicht.

„Du vergisst schon wieder etwas, Junge.“ Die Augen des Älteren waren nun ungewohnt durchdringend. „Auch wenn ich dir Vertrauen schenke, kann ich nicht dafür bürgen, die Wahrheit zu kennen. Deine Mutter mag davon ausgehen, dass ich dich wegen Misa verstoßen habe und es mir deshalb an Mitgefühl mangelt, obwohl man als Eltern immer hinter seinen Kindern stehen sollte, egal in wen sie sich verlieben. Aber das ist nicht der Grund, weshalb wir um ihretwillen nichts erzählen dürfen.“ Herr Yagami stellte sich seinem Sohn direkt gegenüber und legte eine Hand schwer auf dessen rechte Schulter. „Vergiss nicht, Light, was man dir vorwirft, auch wenn du es für Unsinn hältst. Was ist wohl schlimmer? Etwa die Idee, du wärst mit einem Mädchen durchgebrannt, du würdest dich gegen dein Elternhaus auflehnen, du hättest dich womöglich waghalsig in Ermittlungsarbeit gestürzt? Das alles liefert überhaupt keinen Grund. Eine wirkliche Last ist nur die Vorstellung, du könntest vielleicht der gefürchtetste Mörder der Welt sein.“

Eine eiskalte Welle des Schreckens wütete für einen Moment durch Lights Körper, während das Braun seiner Augen erstarrte. Mit einem Seufzen drehte sich Herr Yagami um. Er konnte kein weiteres Wort hierzu verlieren, ohne sich selbst Vorwürfe zu machen. Darum verließ er schweigend und mit schweren Schritten den Raum.

Nachdenklich sah Light seinem Vater hinterher.
 

„Light-kun hat nicht gezögert, als es um die weitere Mitarbeit im Kira-Fall ging.“

Der junge Student löste den Blick von seiner Schüssel Sunomono. Geraume Zeit hatte er in dem Salat aus Garnelen und Gurken nur lustlos mit den Essstäbchen herumgestochert. L war währenddessen damit beschäftigt, das Gebäck auf seinem Teller mit einer Gabel in so viele kleine Stücke zu zerteilen, dass man nicht mehr erkennen konnte, was es einst gewesen war. Light tippte auf Anpan oder Imagawayaki, aber sicher war er sich nicht.

„Ich danke dir dafür“, fügte L seinen Worten hinzu, ohne seinen Partner dabei anzusehen.

„Das musst du nicht.“ Light schüttelte seufzend den Kopf. „Erstens bin ich kein Polizist, weshalb sich für mich in der jetzige Situation auch nichts ändert. Und zweitens bin ich durch die Handschellen und den Verdacht ohnehin an dich gebunden. Ich hatte kaum eine andere Wahl und das weißt du.“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass ich wegen Light-kuns Entscheidung dankbar bin.“ L spießte ein Stück des weichen Gebäcks mit der Gabel auf und schob es sich in den Mund. „Ich danke dir für deine Entschlossenheit, weil du nicht gezögert hast. Oder hättest du anders gehandelt, wenn es die Handschellen nicht gäbe?“

„Nein“, antwortete Light sofort. Über Ls Lippen huschte ein Lächeln. „Ich weiß nicht, ob du meine Hilfe wirklich benötigst, Ryuzaki. Das ändert jedoch nichts an meinem Willen. Im Moment habe ich keine anderen Verpflichtungen, trotzdem kann ich Aizawa-san verstehen. Keine Ahnung, wie ich in seiner Lage entschieden hätte. Genauso betrachte ich die Zweifel meines Vaters zwiespältig, da ich mir nicht im Klaren darüber bin, was wichtiger ist, die Rolle als Vater oder als Polizist?“

„Manche Menschen sehen es als ihre Pflicht an, zu handeln, wenn es in ihrer Macht steht. Das hat nicht zwangsläufig etwas mit der eigenen Position zu tun.“

„Du meinst damit den Stellenwert in einer Familie im Verhältnis zu den persönlichen Fähigkeiten, oder? Matsuda hat niemanden, um den er sich kümmern muss, allerdings halten sich seine Möglichkeiten, uns zu helfen, eher in Grenzen.“

Mit einem Nicken ergänzte L:

„Die eigene Wahl hängt letztlich nicht davon ab, ob man das Zeug dazu hat, die Welt zu verbessern, sondern welche Prioritäten man für sich festlegt.“

„Genau diese Tatsache verunsichert mich.“ Light legte die Stäbchen beiseite und stützte das Kinn auf seine Hand, wobei er aus dem Fenster starrte. „Egal, wofür man sich entscheiden mag, aber irgendjemand wird dabei immer vernachlässigt. Das Wohl der Menschheit wird gegen das Wohl der Einzelpersonen gerechnet und zum Schluss muss man sogar selbst hinter den eigenen Prioritäten zurückstehen.“

„Das ist der Grund“, meinte L leise und legte genau wie Light sein Besteck zur Seite, „warum man manchmal bereits im Voraus keine Beziehungen zulässt.“

„Um niemanden zu verletzen“, fragte Light tonlos, ohne eine Antwort zu erwarten, „außer sich selbst? Weil Verantwortung wichtiger ist als die eigene Person und man nur in Einsamkeit unabhängig ist? Oder auch gerade deshalb... um selbst nicht verletzt zu werden?“

Light richtete die Augen auf seinen Partner, doch L erwiderte den Blick nicht und schaute stattdessen hinab auf das zerteilte Gebäck, als wäre ihm die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, unangenehm. Um die Stille zu durchbrechen, sprach Light deshalb bedacht weiter.

„Mir ist klar, dass man nicht pauschalisieren kann, was richtig ist. Doch ich bin mir sicher, dass es nicht ausschließlich vom Alter abhängt. Nur weil ich jünger bin, bedeutet das nicht, ich verstünde die Verantwortung der Eltern ihren Kindern gegenüber nicht. Prioritäten können sich ändern, aber grundlegende Charaktereigenschaften werden doch nicht vom Alter bestimmt, selbst wenn sie sich unterschiedlich stark in ihrer Ausprägung zeigen.“

L war aufgestanden. Erst jetzt wurde Light bewusst, wie sehr ihm die Auseinandersetzung missfiel, die der Detektiv zwischen ihm und seinem Vater mitbekommen hatte. Die Zurechtweisung Herrn Yagamis musste Light vor dem Anderen so dargestellt haben, als sei er noch ein Kind. L ließ sich jedoch nichts dergleichen anmerken, als er mit schlurfenden Schritten am Tisch vorbeiging und neben Light stehen blieb.

„Jeder Mensch ist anders“, meinte L ruhig, „unabhängig vom Alter. Damit hast du Recht, Light-kun. Jede Generation besitzt andere Erlebnisse, auf die sie sich berufen kann, genauso kann der Jüngere seine eigenen Erfahrungen als Vorteil gegenüber dem Älteren nutzen und umgekehrt. Das Empfinden ist immer anders. Jeder Mensch kann nur aus der ihm eigenen Situation reflektieren.“

„Was nicht bedeutet, dass nur die jeweilige Lage für den Charakter verantwortlich ist“, fügte Light hinzu, „und genau deshalb bin ich der Meinung, dass man das Handeln des Menschen nicht pauschalisieren kann, indem man nur von der Situation ausgeht, in der er sich befindet. Es heißt zwar, in den Dingen, die wir selbst nicht erfahren können, müssen wir der Erfahrung anderer folgen. Aber der Mensch lässt sich nicht belehren. Die Fehler der Väter sind für die Kinder verloren. Jeder muss seine eigenen Fehler begehen, um aus ihnen zu lernen. Der Rest sind nur tote Gewohnheiten.“ Der Detektiv nickte zustimmend.

„Die eigene Situation ist also nicht die alleinige Ursache für das Pflichtbewusstsein, beispielsweise den eigenen Kindern gegenüber“, machte L noch einmal mit Bestimmtheit deutlich und legte dabei die Hand auf die Schulter des Jüngeren. Light stellte fest, dass sie genauso schwer wog wie die seines Vaters. „Es gibt Menschen, die besitzen eine Blockade, sobald andere unterdrückt, vernachlässigt oder ungerecht behandelt werden, eine Art Verantwortungsgefühl, durch das sie sich sogar unwohl fühlen, wenn sie gar nicht für das Unglück zuständig sein können. Im Grunde genommen besitzt jeder Mensch die Fähigkeit, so zu fühlen.“

Ls Aussage wirkte, als würde ihr etwas fehlen, als müsste noch etwas hinzugefügt werden. Doch nachdem er die Hand wieder von Lights Schulter gelöst hatte, verlor keiner von beiden noch ein weiteres Wort dazu.
 

Ein leichter Regen schlug am nächsten Morgen sanft gegen die Fensterscheiben. L lag am Rande des Bettes und starrte hinaus auf die tief hängenden Wolken, die kein Sonnenlicht durchließen und einen dunklen, grauen Tag ankündigten. Kaum hörbar nahm er hinter sich Lights schlaftrunkenen Atem wahr.

L drehte sich vorsichtig um. Auf der Seite liegend betrachtete er das ihm zugewandte Gesicht, die geschlossenen Lider und das darüber fallende, hellbraune Haar. Konnte ein Dämon so friedlich die Maske der Unschuld tragen? Oder erlag der weltbeste Detektiv zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich einem Irrtum, den er sich selbst nur nicht eingestand?

Eines jedoch war L mittlerweile klar geworden. Zwei Monate hatten gereicht, um ihm nicht nur die Angst zu rauben, die ihm beständig im Nacken gesessen hatte, sondern auch die stete misanthropische Abneigung. Er hatte sich, ohne es recht zu bemerken, längst an die Nähe dieses jungen, intelligenten Mannes gewöhnt. Nein, es war keine Gewöhnung. Du wirst nicht allein sein, Ryuzaki. Vorher war er immer allein gewesen, seine Verantwortung hatte ihm keine Schwächen erlaubt. Ich bleibe an deiner Seite. Nun jedoch verspürte er eine unbekannte Sehnsucht, gegen die er machtlos war. Das ist ein Versprechen.

Hoffnung war nur ein unkalkulierbares, sinnloses Hirngespinst, wodurch die nachträgliche Enttäuschung sogar zusätzlich verstärkt wurde, wenn sich die Erwartungen nicht erfüllten. Diese rationale Anschauung bedeutete dummerweise nicht, dass L ein solches Gefühl der Hoffnung gänzlich unbekannt war. Was ihn jetzt am meisten verwirrte, war die Tatsache, dass er selbst nicht mehr wusste, worin seine Hoffnung eigentlich bestand. Sollte er falsch liegen, konnte er nie wieder seiner Intuition und Berechnung vertrauen. Noch dazu hätte er dann die ganze Zeit ein Bild verfolgt, das es nicht gab. Wenn seine Vermutungen und Vorstellungen zu Kira nicht stimmen sollten, wäre L nicht nur enttäuscht von sich selbst, sondern in erster Linie enttäuscht von Light.

Auf der anderen Seite, wenn er Recht behielt, würde er mit seinem Gewinn auch gleichzeitig den einzigen Menschen verlieren, den er je als Freund bezeichnet hatte.

Der Morgen schritt voran. Langsam erwachte Light aus seinem Schlaf. Als er die Augen öffnete, hatte L ihm bereits wieder den Rücken zugewandt.

Light war einen Moment irritiert. Er hatte kurz zuvor im halbwachen Zustand noch geglaubt, den Druck einer Hand zu spüren, die ihn im Schlaf festhielt. Aber das war vermutlich nur Einbildung gewesen.

Homo Faber

Homo Faber
 

Seitdem die Ermittlungen wieder mit Erfolg voranschritten, war es in der Zentrale geschäftig geworden. Die Mitglieder der Sonderkommission gingen mit neuem Mut an ihre Aufgaben, obwohl Aizawa sie erst kürzlich verlassen hatte.

Nun, da der Abend anbrach, ließ das Treiben allmählich nach. Der Arbeits- und Überwachungsraum wurde leerer, bis nur noch L und Light übrig blieben, um sich auf die geöffneten Dateien ihrer jeweiligen Computerbildschirme zu konzentrieren. Lange Zeit sprach keiner ein Wort, während die Minuten unbemerkt verstrichen.

Endlich lehnte sich Light in seinem Stuhl zurück und spannte die schmerzenden Glieder an. Erst jetzt bemerkte er, dass er leicht fror. Seine Finger waren eiskalt, als er sein Gesicht auf die Handfläche stützte und zu L hinüberschaute. Dessen Aufmerksamkeit war noch immer von dem Monitor in Beschlag genommen, welcher den starren Gesichtsausdruck des Detektivs mit einem unnatürlichen Licht erhellte. Während L manchmal, dem Anschein nach wahllos, eine Taste des Keyboards anschlug, biss er gedankenversunken auf einem Fingernagel herum oder strich sich mit dem Daumen über den Mund. Unbewusst folgte Light der Bewegung und heftete den Blick auf die blassen Lippen.

„Was ist, Light-kun?“

Der Detektiv hatte den Kopf zur Seite gewandt und richtete seine großen, schwarzen Augen auf ihn. Ohne Umschweife stellte Light die Frage:

„Was wird eigentlich passieren, wenn das hier alles vorbei ist?“ L verschränkte die Arme über seinen angezogenen Knien und bettete den Kopf darauf, wobei er den Anderen weiterhin interessiert betrachtete. „Ich meine damit“, erklärte Light, „wenn wir diesen Fall erfolgreich abschließen und ich mich wieder frei bewegen kann, wird dann alles wieder so sein wie zuvor? Werden wir dann nicht mehr als Team zusammenarbeiten?“ Zuerst wollte Light seine Frage anders formulieren. Er hatte wissen wollen, ob sie beide später keine Freunde mehr sein würden, nicht einmal zum Schein, weil der Meisterdetektiv dann vermutlich keine Notwendigkeit mehr für eine solche Beziehung sah oder sie für seine Unabhängigkeit als hinderlich einschätzte. Im Moment befand sich Light auf der Innenseite der Barriere, die L um sich errichtet hatte. Trotz der damit einhergehenden Gefangenschaft verursachte die Gewissheit, diesen Grenzwall irgendwann wieder verlassen zu müssen, ein unangenehmes Gefühl in Lights Magengegend.

Nach einer ganzen Weile reagierte L mit einer Gegenfrage, ohne dass sich in seiner ausdruckslosen Miene eine Regung zeigte.

„Warum sollten wir nicht?“

„Weil ich deine Sicherheit gefährde“, antwortete Light sogleich. „Man wird angreifbarer, wenn man sich nicht nur um sich selbst kümmern muss. Das hast du selbst zugegeben.“ Angesichts der Tatsache, dass dahingehend nie eine derart explizite Äußerung gefallen war, nahm L die korrekte Deutung verblüfft auf und meinte lediglich:

„Man wird durch die Hilfe anderer doch auch stärker, nicht wahr?“ Light bezweifelte, dass L jene Aussage wirklich ernst meinte. Seufzend gab er zu bedenken:

„Und wie sieht es mit dem kontroversen Aspekt aus, Ryuzaki? Da du mich unentwegt im Verdacht hast, Kira zu sein, scheint sich jede vergleichbare Anschuldigung genauso im Bereich des Möglichen zu bewegen. Vielleicht wirst du mir niemals vertrauen können, solange du mich nicht vollständig unter Kontrolle halten kannst.“

„Bist du etwa der Meinung, ich hätte dich durch meinen Verdacht für die Zukunft gebrandmarkt? Soll ich dir erst Absolution erteilen, damit du dich besser fühlen kannst?“ Der Sarkasmus in Ls Stimme war emotionslos und trocken, doch Light ließ sich davon nicht beirren. Während der Meisterdetektiv scheinbar unbeteiligt eine der Schachteln nahm, die nicht weit von ihm entfernt neben der Tastatur aufgestapelt waren, bohrte Light nach:

„Wenn ich deine Worte nicht auf die Goldwaage legen müsste, dann könnte ich jetzt davon ausgehen, dass ich dich auch in Zukunft unterstützen darf. Es spricht ja offenbar nichts dagegen, oder?“

„Erstickungsgefahr“, las L den Hinweis auf der Verpackung der Mochis vor, die er mit spitzen Fingern in der Luft hielt. „Bitte das Lebensmittel vor dem Hinunterschlucken gründlich zerkauen.“

„Ryuzaki“, drang Light ein wenig ungehalten auf seinen Partner ein und zog an der Metallkette der Handschellen, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wieso weichst du ständig meinen Fragen aus?“ Nur für einen kurzen Moment wurde L aus dem Konzept gebracht und erwiderte Lights Blickkontakt, doch kurz darauf beschäftigte er sich erneut mit dem Packungsverschluss seiner Süßigkeiten.

„Du siehst noch immer Kira in mir“, fuhr Light ernst fort, „und berufst dich dabei in unseren Diskussionen stets auf meine gutmütige, idealistische Natur. Aber was ist mit meiner Grausamkeit?“ Bei diesen Worten langte Light nach der Schachtel in Ls Händen und entwand sie seinem Griff. Dieser schaute ihn zuerst schockiert, dann vorwurfsvoll an. Light seufzte. „Mal ehrlich, Ryuzaki, hast du Angst vor mir? Du traust dich in meiner Gegenwart ja noch nicht einmal zu schlafen.“

„Das liegt nur daran“, gab L beleidigt zurück, wobei er den Arm nach den Mochis ausstreckte, „dass du viel zu viel schläfst. Ich dagegen brauche keinen Schlaf.“

„Ach, bist du ein Perpetuum Mobile?“

„Nein, ich laufe mit Zucker.“ Mit einer Hand stützte sich L auf Lights Knie ab und beugte sich vor, um die Packung zu erreichen, die dieser angestrengt außer Reichweite hielt.

„Nimm dir doch einfach eine andere Schachtel“, meinte Light lachend.

„Die hier sind mit Taropaste“, erklärte L unbeeindruckt, während er beharrlich die Mochis zurückzuerlangen versuchte. „Die anderen Sorten dagegen sind mit Matcha, roten Bohnen, Erdnussbutter...“ Als er sein Gewicht weiter nach vorn verlagerte, mit einem Fuß noch halb auf dem eigenen Stuhl balancierend, ein Knie zwischen Lights Beinen abgestützt, legte dieser überrascht eine Hand an die Rückseite von Ls Oberschenkel, um ihn festzuhalten, damit sie nicht beide mitsamt Stuhl umfielen. Für einen Moment hatte Light tatsächlich das Gefühl, er befinde sich im freien Fall.

Ihre Blicke trafen sich, ohne Absicht, in flüchtigem Erstaunen. Light suchte verwirrt nach seinem Atem und schüttelte leicht den Kopf, bevor er nachgab und L die Mochis reichte. Dieser hockte sich damit umgehend zurück auf seinen Stuhl und nahm eine introvertierte Haltung ein. Wortlos öffnete er die Packung und angelte sich einen der kleinen Reisbälle, um dann mit den Fingern in der weichen Masse herumzudrücken. Währenddessen sank Light resignierend mit verschränkten Armen gegen die Rückenlehne seines Stuhls.

Vielleicht machte er sich nur etwas vor, vielleicht gab es zwischen den beiden Männern wirklich keine Freundschaft, die über eine Zusammenarbeit hinausging. Doch sollte Light lediglich von dem Meisterdetektiv instrumentalisiert werden, änderte das nichts an seinem Willen, ihm auch in Zukunft helfend zur Seite zu stehen.

Wie oft er auch subtil oder eindeutig eine Stellungnahme von L provozierte, eine Antwort auf seine Frage sollte Light vermutlich niemals erhalten.
 

„Ein Betrüger und eine Diebin?“, fragte Herr Yagami am darauf folgenden Tag ungläubig und starrte von dem großgewachsenen Mann in Anzug zu der gutaussehenden Blondine.

„So ist es“, antwortete L mit ruhiger Selbstverständlichkeit und stellte dem Team die beiden neuen Mitglieder Aiber und Wedy vor.

„Wir sollen mit Kriminellen zusammenarbeiten?“ Skeptisch richtete Herr Yagami den Blick auf den Detektiv, der seinerseits völlig gelassen blieb.

„Sie mögen Verbrecher sein“, gab L zu, „aber sie unterscheiden sich doch von denen, die Kira hinrichten würde.“

Für einen Moment ließ sich Light diese Aussage durch den Kopf gehen, da sie in seinen Ohren so klang, als würde L mit einer differenzierenden Anschauung konform gehen, die dem jungen Studenten verdächtig bekannt vorkam. Nur schwerwiegende Gesetzeswidrigkeiten, die sich durch Menschenverachtung und Grausamkeit auszeichneten, wurden normalerweise von Kira mit dem Tode bestraft, sodass sich hieran eine individuelle Unterscheidung zwischen einzelnen Verbrechern erkennen ließ. Nun wies L mit seinen Worten einerseits darauf hin, dass für Aiber und Wedy keine Gefahr bestand, von Kira gerichtet zu werden, wodurch sie für das Team von entscheidendem Nutzen sein konnten. Andererseits offenbarte sich hiermit auch, dass L eine Abstufung in seiner eigenen Rechtsvorstellung vornahm, die es ihm erlaubte, für die Durchsetzung seiner Gerechtigkeit auch auf ungerechte Mittel zurückzugreifen. Möglicherweise war dieses Vorgehen sogar erschreckend kommensurabel mit dem von Kira.

Dass die Sonderkommission auf solcherlei Mittel nicht verzichten konnte, schien für Light jedoch außer Frage zu stehen. Nach einem kurzen Zögern reichte er deshalb diesen Spezialisten der Unterwelt, wie L sie nannte, die Hand und hieß sie willkommen.
 

Später zogen sich die beiden jungen Männer schweigend in ihre gemeinsamen Räumlichkeiten zurück. L hatte sich in der Nähe des Bettes auf den Boden gesetzt, den Körper zum Fenster gewandt, die Beine in einer meditierenden Haltung übereinandergeschlagen. Nur äußerst selten kam es vor, dass sich der Detektiv derart vorbehaltlos seinen Gedanken hingab. Im Grunde genommen zeigte er sich nur Light gegenüber so offen, fast schon angreifbar.

Light setzte sich hinter L auf das Bett und hoffte, diesen nicht in seinen Überlegungen zu stören, als er mit gedämpfter Stimme zu sprechen begann.

„Manchmal habe ich das Gefühl, wir würden uns auf einem sehr zerbrechlichen Fundament bewegen.“ L zeigte während der Worte seines Partners keinerlei Regung. Obzwar Light den Blick nur auf dessen Rücken und den schwarzen Haarschopf gerichtet hatte, meinte er doch zu wissen, dass jener ihm zuhörte. Aus diesem Grund fuhr er leise fort. „Die meisten Schritte, die uns im Kira-Fall überhaupt voranbringen, sind solche, mit denen wir anderen auf die Füße treten oder uns zumindest auf Wegen im Zwielicht befinden. Um Gerechtigkeit zu erlangen, suchen wir uns die Hilfe von Verbrechern, als würde der Zweck die Mittel heiligen. Ist es nicht so, Ryuzaki?“

„Ein Schmied, der Zangen hat, wird das glühende Eisen nicht mit seinen Händen aus dem Feuer nehmen“, entgegnete der Detektiv schlicht, ohne sich zu rühren.

Zustimmend nickte Light, obwohl L diese Geste nicht sehen konnte, und fügte dann hinzu:

„Die Frage ist nur, entscheidet das Ziel darüber, was richtig ist, oder entscheidet der Weg?“

„Das liegt im Ermessen jedes Einzelnen“, antwortete L. „Unsere Gesetze regeln zwar das Recht, aber sie können nicht über unser persönliches Gefühl von Gerechtigkeit bestimmen. Demgemäß entwickeln wir oftmals ein doppeltes Rechtsempfinden und müssen in manchen Fällen abwägen, ob wir unrechte Mittel verwenden wollen oder nur stur Regeln befolgen.“

Beiden Männern war klar, dass L hiermit Tatsachen aussprach, die seinem Partner durchaus bewusst waren. Gerade die Erkenntnis und Gewissheit dieses Dilemmas machte es für Light so schwer, das alles zu akzeptieren. Sein mutloses Schweigen veranlasste L dazu, in ruhigem Tonfall und um Analytik bemüht fortzufahren.

„Wir haben es hier nicht mit einem exklusiven Phänomen unseres sozialen Zusammenlebens zu tun. Sogar die Naturwissenschaften, die durch Logik zu eindeutigen Schlüssen zu kommen versuchen, offenbaren uns eine derartige Widersprüchlichkeit. Seit Einstein wissen wir zum Beispiel, dass die Verwendung einiger Newtonscher Gesetze eigentlich falsch ist. Zeit ist keine feste Konstante mehr, sie ist veränderlich. Der Raum, in dem wir uns befinden, hat nicht mehr drei, sondern vier oder noch mehr Dimensionen. Im Moment ist die Relativitätstheorie experimentell bestätigt, lässt sich aber nicht mit der Quantentheorie vereinbaren, während wir uns bei allen anderen Dingen in der Welt, die wir noch nicht begreifen können, von einer Erklärung zur nächsten retten und damit im wahrsten Sinne des Wortes Dunkle Materie erschaffen. Und trotzdem verwenden wir, nachdem wir auf die Erde und damit auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt sind, noch immer die alten Berechnungen, ohne auf die Abweichungen zu achten, die schließlich so minimal sind, dass sie uns nicht tangieren. Das bedeutet, die Gesetze sind zwar wissentlich falsch, aber am Ende bleibt das Ergebnis richtig.“

In solchen Momenten, wenn L mit logischen Vergleichen an ein komplexes Problem heranging, stellte sich Light die Frage, ob der Detektiv damit den emotionalen Schwierigkeiten seiner eigenen Thesen aus dem Weg gehen wollte. Oder ob er zwanghaft eine Distanz zwischen ihnen aufzubauen versuchte, um ihre Beziehung auf den Bereich des Verstandes zu reduzieren, jene begrenzte Region, die kalkulierbar und erträglich war.

Seufzend beugte sich Light nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf auf die Hände. Während er aus dem Fenster sah, formulierte er seine folgenden Gedanken mit einer unterschwelligen Melancholie in der Stimme.

„Früher war das alles nie so kompliziert. Als ich noch ein Kind war, schien es so einfach zu sein, gerecht zu handeln. Wenn andere Menschen mit Taten oder Worten verletzt wurden, wenn jemand sich etwas genommen hat, das ihm nicht gehörte, dann war das eben böse. Es waren nur schlichte, wenn auch ziemlich pathetische Kleinigkeiten, die einem in der Kindheit sagten, dass man immer wissen kann, was richtig ist. Irgendwann, das habe ich mir damals fest vorgenommen, irgendwann wollte ich genauso Hilfe leisten wie mein Vater und selbst zum Helden werden. Dabei habe ich anfangs selten darüber nachgedacht, welche Motive und welche Konsequenzen das Handeln von Menschen haben kann. Ich glaubte früher immer zu wissen, was Gerechtigkeit bedeutet. Heute bedaure ich es manchmal, dass mir diese Naivität verloren ging. Aber das gehört vermutlich zum Erwachsenwerden dazu.“

„Alles, was du bisher getan hast“, meinte L daraufhin leise, „hat im Prinzip funktioniert. Aber immer musstest du dich entscheiden, immer musstest du einen Weg wählen und einen anderen dafür verlieren. Sobald du dich fragst, welchen Preis du dafür bezahlt hast, jetzt hier zu sein, fragst du dich im nächsten Augenblick auch, ob der Preis geringer hätte sein können.“

„Solange man hinter seinen Entscheidungen steht, hat man doch keinen Grund, sie zu bereuen. Wichtig ist demnach nur, dass man sie mit seinem Herzen gefällt hat.“

„Das Herz ist nur ein Muskel“, erklärte L monoton, „zuständig für die Zirkulation des Blutes, um die Zellen mit Sauerstoff zu versorgen. Es besitzt keine nachweislich neuronale Aktivität oder hormonelle Regulation, die für Handlungsentscheidungen ausschlaggebend...“

„Du weißt genau, was ich meine“, unterbrach ihn Light. Ohne darauf einzugehen, da diese Bemerkung ohnehin unerheblich war, knüpfte L an das vorige Thema an.

„So oder so, nicht die Entscheidung, sondern die Gewohnheit lässt uns die meiste Zeit handeln. Das läuft im Prinzip ab wie eine Programmierung, nur dass wir in diesem Fall nicht von Optimierung, sondern von Konditionierung sprechen.“

„Du meinst“, fragte Light, „dass eine bewusste Wahl nur dann erforderlich ist, wenn gewohnte Handlungsabläufe zusammenbrechen?“

„Oder wenn so viel auf dem Spiel steht, dass es sich lohnt, die Mühen des Denkens auf sich zu nehmen.“

„Entscheidungen sind also nicht die Regel, sondern die Ausnahme“, fasste Light die Ansicht seines Partners zusammen.

„Es gibt sogar Menschen, die niemals Entscheidungen treffen.“ Light konnte zwar Ls Gesichtsausdruck nicht sehen, um möglicherweise ein abwertendes Mienenspiel darin zu erkennen, doch deutete die Selbstverständlichkeit in dessen Worten auf den Schluss hin, dass sich der Detektiv diesbezüglich nichts vormachte. Er erhoffte sich von niemandem etwas und verließ sich darum auch auf niemanden. Light versetzte es einen Stich, obwohl das pulsierende Organ in seinem Brustkorb, analytisch betrachtet, doch eigentlich nichts fühlen sollte.

Mit abwesendem Tonfall fügte L noch hinzu:

„Die meisten lassen sich nur von einer Handlung zur nächsten treiben. Das bedeutet nicht, dass Entscheidungen keine Rolle spielen würden, aber sie werden sehr viel seltener gefällt, als uns das Bild vom Menschen als Entscheidungsträger weismachen will.“

„Das trifft bestimmt nicht auf dich zu, Ryuzaki. Ich glaube schon, dass du dir sehr genau überlegst, welchen Weg und welche Mittel du wählst. Darum vertraue ich auch auf Aiber und Wedy. Nichtsdestotrotz, selbst wenn es sich nicht um dubiose Hilfskräfte handeln würde, kommt es mir oftmals während unserer Ermittlungen so vor, als...“

Light schwieg und ließ den Blick nachdenklich in ein unbestimmtes Nichts entgleiten. Bevor er vergessen konnte, dass er seine Aussage noch nicht zu einem Ende gebracht hatte, übernahm L diese Aufgabe und sagte:

„...als würden wir andere Menschen nur benutzen? Ich leugne nicht, dass es so ist.“

„Nein, das tust du in der Tat nicht“, ging Light mit milder Stimme darauf ein. „Ganz im Gegenteil, du bist schon fast absichtlich darauf bedacht, dich nicht in einem guten Licht darzustellen. Aber das kaufe ich dir nicht ab, Ryuzaki. Menschen werden nur dadurch benutzt, indem man sie lediglich als Mittel und nicht selbst als Zweck ansieht.“ Light stand kurzerhand auf und ließ sich ebenfalls auf dem Boden nieder, einen Meter von seinem Freund entfernt. Er lehnte sich gegen den Fensterrahmen und schaute hinaus. Nach einer Weile schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als würdest du Menschen instrumentalisieren. Wenn das allerdings zuträfe, dann würdest du nicht die Verantwortung für deine Entscheidungen übernehmen und sie stattdessen anderen auf die Schultern laden. Dabei achtest du jedoch ganz genau auf die Person jedes Einzelnen.“

„Bist du dahingehend nicht ein wenig zu blauäugig, Light-kun? Deine Gutmütigkeit vernebelt dir die Sicht auf die Realität.“

„Und deine hindert dich daran, dich selbst zu sehen“, erwiderte Light mit einem Lächeln. „Was ist zum Beispiel mit Aizawa-san? Natürlich ist er wütend und enttäuscht, aber auf der anderen Seite ist sein Ausschluss aus dem Team das Beste für ihn und seine Familie. Darum wird er sicher erleichtert darüber sein. Was du getan hast, Ryuzaki... das war keine Heuchelei, sondern Dankbarkeit.“

Offenbar fand L hierauf keine passende Entgegnung. Während er stumm blieb, sprach Light weiter.

„Sei mal ehrlich, du bist doch froh, dass Aizawa deinen kleinen Test nicht bestanden hat, oder? Somit schwebt er nicht mehr in Gefahr und muss sich selbst weniger Vorwürfe machen. Die Schuld dafür kann er dir zuschieben, da es dir ohnehin nicht wichtig ist, Anerkennung für dein Tun zu erhalten.“

„Womöglich habe ich dich unterschätzt und du bist überhaupt nicht blauäugig, Light-kun. Aber ich rate dir, versuch nicht, dich bei mir einzuschleimen. Das bringt dir rein gar nichts und erhöht nur meinen Verdacht gegen dich.“ Light nahm diesen Hinweis mit Irritation entgegen. Als er jedoch in Ls schwarze Augen blickte und dessen unzufrieden verzogenen Mund sah, musste er schmunzeln.

Anstelle eines verbalen Konters erhielt der Detektiv ein gutmütiges Grinsen, bevor Light ihm kurz durch das Haar strich und ohne ein weiteres Wort aufstand.

Deus ex Machina

Deus ex Machina
 

„Wahrscheinlich hat es noch keiner bemerkt“, hatte sie zu Light gesagt, während ihr der Wind das schwarze Haar in das von Entschlossenheit und Trauer gezeichnete Gesicht wehte. „Aber ich denke, wenn man diese Prämisse zugrunde legt, wird Kira gefasst.“

Light war dieser Frau, von der er bald darauf wissen sollte, dass es sich um Misora Naomi handelte, mit Skepsis entgegengetreten. Ihr Auftauchen in der Zentrale und die Forderung an der Rezeption, ein Mitglied der Sonderkommission sprechen zu dürfen, waren Light von Anfang an suspekt erschienen. Dennoch hatte er die Vorsicht bewundert, mit der Misora vorgegangen war, obwohl diese Tatsache ihre Vertrauenswürdigkeit eher gehemmt als unterstützt hatte.

„Herzversagen ist nicht der einzige Weg, wie Kira töten kann“, hatte Light die These wiederholt, die er wenige Sekunden zuvor von ihr gehört hatte.

Warum war er diesem Hinweis nicht weiter gefolgt?
 

Light starrte auf den Computerbildschirm und nahm doch nicht wahr, was er sah.

In letzter Zeit schien das Surren der Monitore immer lauter zu werden, das monotone Geräusch brauste in seinen Ohren. Manchmal war die Zentrale erfüllt von den Gesprächen der Mitarbeiter, die Bericht erstatteten, Aufgaben verteilten und über irgendwelche Entdeckungen und Sachverhalte diskutierten. All die Worte, die dem kalten Überwachungsraum Leben schenken sollten, verwandelten sich in Lights Ohren zu einem dröhnenden Rauschen, sodass er nichts mehr hören konnte. Keine Worte mehr, nur noch Schweigen.

In solchen Momenten fühlte sich Light, trotz der Anwesenheit vieler Leute um ihn herum, seltsam unbeteiligt und allein. Vielleicht war es eine Ahnung dessen, was L schon seit Jahren in seiner unpersönlichen Arbeit empfand.

Sobald Lights Gedanken seiner Kontrolle entglitten, begann er sich an vergangene Ereignisse zu erinnern und traf immer wieder auf Dinge, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Wenn Kira tatsächlich jede beliebige Todesart verursachen konnte und auch darüber hinaus das Verhalten seiner Opfer vor dem Tod zu steuern in der Lage war, dann standen ihm ungeahnte Möglichkeiten offen. Er hätte morden können, ohne jemals entdeckt zu werden. Doch das wollte Kira nicht. Anstatt seine eigenen Motive zu verwirklichen, jagte er einem übermenschlichen Ideal hinterher.

Der FBI-Agent Raye Penber und seine Verlobte Misora Naomi spukten in Lights Kopf umher, während er über die bisherigen Erkenntnisse nachdachte, die man in der Sonderkommission über Kira erlangt hatte. Noch bevor Light selbst in Ls Team aufgenommen worden war, hatte man ihn schon längst ohne sein Wissen in den Fall involviert, indem man ihn durch Raye Penber beschatten ließ. Angestrengt versuchte sich Light daran zu erinnern, was er mit der Verlobten des FBI-Agenten am Neujahrstag besprochen hatte. Einzelheiten fielen ihm nicht mehr ein, doch er wusste, dass es um Kira gegangen war und dass Misora den Verdacht geäußert hatte, Kira könne nicht nur durch Herzversagen töten. Etliche Monate mussten vergehen, bevor diese Vermutung erneut aufgegriffen wurde. Warum nur hatte Light diesen Hinweis als so unwichtig abgetan? Konnte L Recht haben? War er vielleicht tatsächlich...?

Alles in Light sträubte sich gegen diese Überlegungen.

Seit seiner Kindheit besaß er allein schon wegen der Erziehung seines Vaters einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatte er nicht selten gedacht, dass einige Menschen durch nichts in ihrer Lebensführung ihre Existenz rechtfertigten. Die Welt wäre zweifelsfrei ohne manche dieser Menschen ein Stück gerechter. Sollte Light wirklich die Fähigkeit besitzen, Menschen so einfach zu töten, würde er Verbrecher hinrichten?

Nein, er glaubte nicht daran, dass er die Welt verändern konnte, indem er Selbstjustiz übte; darüber hatte er oft genug mit L diskutiert.

Es war sogar denkbar, dass Light nur deshalb so viel über all das nachdachte, weil er immer und immer wieder damit konfrontiert wurde. Möglicherweise musste er sich eingestehen, dass er mit der Zeit den Wunsch des Meisterdetektivs auf sich selbst übertragen hatte. Der Wunsch, Kira zu sein. Um für L eine Bedeutung zu haben.

Sollte Light seinem Partner von Penber und Misora erzählen?

„Light-kun.“

„Hm?“ Aus seinen Gedanken gerissen löste er den Blick vom Computermonitor und wandte sich L zu, der ihn besorgt musterte.

„Alles in Ordnung? Du wirkst so nachdenklich.“

„Nein, ich habe nur zu lange auf den Bildschirm geschaut“, beruhigte Light ihn mit einem Lächeln und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf seine Arbeit, nicht zuletzt aus dem Grund, weil er damit von seinen düsteren Überlegungen ablenken konnte. „Ich habe es geschafft, mich in das System der Yotsuba Group einzuhacken, fand dort aber keinerlei Hinweise auf Kira. Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn ich gleich auf Anhieb etwas gefunden hätte.“

„Zu einfach?“ Gespielt erstaunt beugte sich L nah zu ihm hinüber, um auf die Daten eine bessere Sicht zu erlangen, womit er sie für Light fast völlig mit seinem schwarzen Haarschopf versperrte. „Deine Fähigkeiten sind wirklich beeindruckend, Light-kun. Dann dürfte das Polizeisystem für dich ja auch kein Problem darstellen, oder?“

L hatte Recht. Mit Hilfe des Computers von Herrn Yagami hatte sich der Sohn des ehemaligen Inspektors tatsächlich in das System der Polizei eingehackt, aber nur wegen der Informationen, die er für seine eigenständige Ermittlung gegen Kira benötigte, und nicht deshalb, weil er selbst Kira war. Light war klar, warum L diese nebensächliche Bemerkung fallen ließ. Eigentlich hatte der Detektiv ein Recht darauf, all das zu erfahren, was Light in letzter Zeit durch den Kopf ging. Allerdings würde sich die ganze Situation dadurch nur unnötig verkomplizieren. Für einen Moment fragte er sich, wie er von seinem Partner Vertrauen verlangen konnte, wenn er selbst so viele Dinge ungesagt ließ.

„Ryuzaki!“, drang plötzlich eine Stimme aus einem der Lautsprecher.

„Watari, was ist los?“, fragte L, während sich Herr Yagami und Mogi, die ebenfalls anwesend waren, rasch zu ihnen gesellten. Matsuda war nicht zugegen, da er Misa bei ihren Dreharbeiten begleitete.

„Der Privatdetektiv Erald Coil wurde beauftragt, Ls wahre Identität zu offenbaren. Der Auftraggeber hat sich zwar um Anonymität bemüht, wir haben aber herausgefunden, dass es sich um einen Abteilungsleiter der Yotsuba Group handelt.“

„Also doch Yotsuba...“, ließ Herr Yagami ernst verlauten.
 

Es dauerte nicht lang, bis L sich einen Plan zurechtgelegt und Aiber und Wedy zu einer Besprechung in die Zentrale beordert hatte. Die erste Befürchtung Herrn Yagamis, dass sie sich nun auch noch vor Erald Coil in Acht nehmen müssten, der neben L einer der drei berühmtesten Detektive der Welt war, wurde schnell zerschlagen. Erald Coil war nur ein Pseudonym unter vielen, das sich L zugelegt hatte, um über diejenigen informiert zu werden, die L auf die Schliche kommen wollten, indem sie sich an jenen erfundenen Detektiv wandten. In diesem Fall handelte es sich also nicht um eine Bedrohung, sondern um ein wirksames Mittel zur Überführung Yotsubas.

„Es ist höchste Diskretion bei allen Aktivitäten geboten“, verdeutlichte L den Anwesenden mit Nachdruck, während er ihnen ihre Aufgaben erklärte. „Suchen Sie nach Beweisen, aber achten Sie darauf, nicht entdeckt zu werden. Überstürztes und eigenmächtiges Handeln ist kontraproduktiv. Deshalb ist es wichtig, dass zunächst Aiber und Wedy mit der Recherche beginnen...“

„Ryuzaki“, drang erneut die Stimme Wataris aus dem Lautsprecher, dieses Mal jedoch eher zögerlich. „Matsuda-san hat über seinen Gürtel ein Notrufsignal geschickt.“

„...Woher?“, fragte L, dem bereits Übles schwante.

„Offenbar aus dem Hauptgebäude der Yotsuba Group.“

„W...was?!“, rief Herr Yagami aufgebracht. „Dort könnte er doch entdeckt werden!“

„Das wurde er wohl schon“, bemerkte Light sofort, „sonst hätte er keinen Notruf gesendet.“

Genervt griff sich L an den Kopf und meinte:

„Vergessen Sie bitte alles, was ich gesagt habe. Wir brauchen eine neue Taktik.“
 

Matsuda schien auf eigene Faust bei Yotsuba eingedrungen zu sein, um an Informationen heranzukommen. Dabei war er, seinem Charakter entsprechend, alles andere als diskret vorgegangen und wurde von der Geschäftsleitung entdeckt. Sobald die Gelegenheit günstig war, würde Kira mit Sicherheit kurzen Prozess mit ihm machen. Um Matsuda zu retten, gab es nur eine Möglichkeit: sein Tod musste als Täuschung inszeniert werden. Dafür sollte er weiter die Rolle des Managers spielen, indem Misa im Firmengebäude auftauchte und sich als Model für Werbekampagnen der Yotsuba Group vorschlug. Durch ihr schauspielerisches Talent schaffte sie es, die Mitglieder der Geschäftsleitung zu einem Privatempfang mit anderen Models der Agentur in die Ermittlungszentrale einzuladen.

Während die Gesellschaft auf der vorgetäuschten Party immer ausgelassener wurde, konnte sich Matsuda unbemerkt ins Bad schleichen, um sich mit L in Verbindung zu setzen, welcher ihm nun knapp den Plan darlegte.

„Hören Sie gut zu! Auf der Westseite, wo keine Leute passieren, befindet sich der Balkon des Apartments. Sie müssen vor den Augen der Anwesenden sterben, wenn man uns die Geschichte von ihrem Tod abkaufen soll. Yagami-san und Mogi-san haben in der Wohnung unter Ihnen Stellung bezogen und werden Sie abfangen.“

„Ich soll mich da runterstürzen?“, fragte Matsuda ungläubig.

„Lassen Sie sich etwas einfallen, damit es wie ein Unfall wirkt.“

„Das ist doch Irrsinn!“

Doch L legte bereits auf und wandte sich im Hinausgehen an Light.

„Zum Glück bin ich immer auf alle Eventualitäten vorbereitet. Für solche Fälle ließ ich eine spezielle Matratze anfertigen, die wesentlich größer und stabiler ist als normale Modelle und sich außerdem bei Krafteinwirkung nicht verbiegt, weil sie innen mit einer Stahlplatte verstärkt ist, wozu ich auch eine Vorrichtung anfertigen ließ, mit der man die Stahlplattenmatratze an Balkonen befestigen kann, weil dein Vater und Mogi vermutlich die Hebelwirkung eines herabstürzenden Körpers von der Schwere eines ausgewachsenen Mannes nicht werden halten können, natürlich nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass Matsuda überhaupt vom oberen auf den unteren Balkon die Stahlmatratze treffen sollte, ohne dabei abzurutschen oder sich irgendetwas zu brechen, während Aiber bereits vor dem Gebäude positioniert ist, um einen toten Matsuda zu mimen. Und wir werden je nachdem Aibers oder Matsudas Leiche mit einem meiner Krankenwagen abholen.“

Light schwieg einen Moment und meinte dann:

„Das klingt, als hättest du nicht nur ein Arsenal an Matratzen.“

Die beiden Männer fuhren mit dem Aufzug die vielen Stockwerke hinab in die Tiefgarage.

„Man kann das durchaus als solches bezeichnen“, antwortete L und starrte dabei auf die Etagenanzeige des Fahrstuhls. „Ich besitze tatsächlich ein Arsenal an Geräten, Verkleidungen und speziell umgebauten Einsatzfahrzeugen.“ Als sie die Tiefgarage erreicht hatten, verstand Light, wovon sein Partner sprach. Hier im Untergrund befand sich eine Reihe an unterschiedlichen Transportern in der Aufmachung von Feuerwehr, Polizei oder Notfallambulanzen. Darunter entdeckte Light zu seinem Erstaunen auch einige fahrbare Imbissbuden.

L stieg in den Laderaum eines Krankenwagens ein und warf Light den Helm und die Schutzbekleidung eines japanischen Sanitäters entgegen. Dann schloss er hinter ihnen die Autotür, bevor er die Handschellen löste.

„Dieser Idiot!“, zischte L mürrisch, während er sich sein Oberteil über den Kopf zog. „Wir können nur hoffen, dass Matsuda nicht zu blöd ist, um die Matratze unter sich zu treffen. Bei seinem Glück würde er dann vermutlich noch Aiber erschlagen.“

Light biss sich auf die Unterlippe. Er konnte der Wut seines Freundes kaum etwas entgegensetzen, um Matsuda in Schutz zu nehmen. Ganz im Gegenteil, dachte und fühlte Light im Moment doch sehr ähnlich.

„Nicht genug, dass er sich selbst unnötig in Gefahr bringt“, wetterte L ungehalten weiter und kämpfte dabei mit dem Gürtel der Sanitätskleidung, „die kompletten Ermittlungen geraten damit ins Wanken.“ Light hielt es vorerst für besser, zu schweigen, und knöpfte sich kommentarlos das Hemd zu.

Endlich nahmen die beiden Männer Platz, wobei sich L in seiner üblichen Haltung hinter das Lenkrad setzte. Zunächst wunderte sich Light, wie der Andere auf diese Weise fahren wollte, doch im nächsten Augenblick rollte der Wagen bereits vom Parkplatz zur Ausfahrt. L bemerkte den fragenden Gesichtsausdruck seines Partners und erklärte:

„Ich sagte ja, ich besitze ein paar spezielle Einsatzfahrzeuge. Sie alle weisen eine durch Informationsterminals gespeiste Steuerung auf. Das Auto fährt praktisch von allein.“

„Aha...“ Ein Grinsen huschte über Lights Lippen. „Kann es auch sprechen?“

„Nein“, entgegnete L nüchtern, „dafür sind die Verhaltensmuster nicht komplex genug.“

Der Wagen legte nur eine kurze Strecke zurück und blieb einige Blocks von der Ermittlungszentrale entfernt stehen. Kaum war der Motor verstummt, da klingelte bereits Ls Mobiltelefon. Mit fahrigen Handgriffen holte der Detektiv das Gerät hervor und hielt es sich zwischen Daumen und Zeigefinger ans Ohr.

„Verstanden“, sprach er nach wenigen Sekunden in den Hörer, legte auf und wandte sich an Light. „Das war Wedy. Alles verlief nach Plan, Matsuda ist in Sicherheit und Aiber wartet auf seinen Leichenwagen. Fünf Minuten, dann machen wir uns auf den Weg.“

Erleichtert atmete Light aus und lehnte sich zurück. Draußen waren nur wenige Menschen unterwegs. Ein paar Nachtfalter flatterten um die Straßenlaternen. Es war ein ruhiger Abend.

„Ryuzaki... du hast mal gemeint, Matsuda wäre ein schwer berechenbarer Faktor.“ L nickte nur und kaute dabei nervös an seinem Fingernagel herum. Nach einer Pause sprach Light vorsichtig weiter. „Du beschreibst oft den Menschen als eine organisch funktionierende Maschine. Zwar verstehe ich das alles, aber du weißt schon, dass du es dir damit ziemlich einfach machst, oder? Du kannst Menschen nicht so reduzieren.“

„Kann ich nicht?“

Etwas an Ls Reaktion, seiner Stimme oder seinem Blick, ließ Light nachsichtig lächeln. Unwillkürlich meinte er:

„Solche Antworten machen dich mir immer sympathisch.“ Verwundert durchdrang L ihn daraufhin mit seinen schwarzen Augen, sodass sich jener räusperte. Anstatt weiter darauf einzugehen, kam Light zu seinem eigentlichen Thema zurück. „Matsuda wollte uns helfen. Zugegeben, was er getan hat, war äußert unüberlegt. Aber er gehört schließlich zum Team der Ermittler und wollte deshalb sicher auch als solcher wahrgenommen werden. Das war keine rationale, sondern eine emotionale Entscheidung von ihm.“

„Weil er sich nicht unter Kontrolle hat“, warf L zynisch ein und fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum. Dann allerdings ließ er den Arm schlaff fallen. „Light-kun... mir ist das doch klar. Die wenigsten können durch Vernunft alle ihre Handlungen kontrollieren.“

„Oder ihre Gefühle“, fügte Light leise hinzu.

„Manchmal denke ich“, gab L mit gesenktem Kopf zu, „ein kontrollierter Automatismus wäre vorzuziehen. Man legt einfach einen Schalter um, es macht klick und danach fühlt und tut man nichts mehr, was man nicht möchte. So etwas kann man sich antrainieren.“

Ein unbestimmter Schmerz durchbrach für eine Sekunde Lights Blick. Er konnte den Ausdruck im Gesicht seines Partners nicht erkennen, da dieser sich mittlerweile dem Fenster zugewandt hatte, als gäbe es draußen Interessanteres zu sehen als verlassene Parks und leere Straßen. Etwas bitter meinte Light:

„Wenn jeder so einen Bewusstseinsschalter hätte, dann würde es auf der Erde von Zombies nur so wimmeln.“

„Vielleicht tut es das ja jetzt schon.“

Light griff nach dem Oberarm seines Freundes, um ihn zu sich herumzudrehen und ihm endlich ins Gesicht schauen zu können.

„Ist das so erstrebenswert, Ryuzaki? Ist es wirklich besser, sich immer unter Kontrolle zu halten, damit nie jemand etwas über einen erfährt?“

Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Ls Miene war völlig ausdruckslos, als er schließlich sagte:

„Die fünf Minuten sind um. Fahren wir los.“
 

Die Aufregung dieses Abends hatte das gesamte Team unter Hochspannung gesetzt. Doch als die Gefahr vorerst überwunden war, verfiel zumindest Matsuda nach mehrfachen Entschuldigungen wieder einer euphorischen Stimmung. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte, aber dass er mit seiner halsbrecherischen Aktion sogar einen entscheidenden Vorteil gegen Yotsuba erwirkt hatte, schien nahezu unglaublich. Obwohl das Glück in diesem Fall mit menschlicher Einfalt Hand in Hand gegangen war, hätte man Ls Meinung zufolge auf diese Art der Herangehensweise verzichten können. Wenn Aizawa noch bei ihnen gewesen wäre, hätte er Matsuda vermutlich die Leviten gelesen.

Nachdem die abschließende Besprechung vorüber war, gingen L und Light in ihr gemeinsames Zimmer. Beide spürten, dass der jeweils andere mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war. Deshalb wechselten sie kein einziges Wort, bevor sie das Licht löschten, um zu Bett zu gehen.

Lange Zeit lagen sie daraufhin nebeneinander in der nächtlichen Finsternis. Dieses Mal allerdings wollte Light nicht die Stille über all seine ungewissen Fragen siegen lassen. Ihm war überdies klar, dass L noch nicht schlief.

„Ryuzaki... was meintest du vorhin eigentlich? Du weißt schon, die Sache mit dem kontrollierten Automatismus.“

L seufzte und drehte sich um. Im Liegen schaute er zu Light empor, der sich mit einem Arm aufgestützt hatte, um im Halbdunkel den Blick seines Ermittlungspartners zu erhaschen. Nur der schwache Schein des Mondes erhellte ein wenig ihre Gesichtszüge.

„Damit meinte ich Matsuda“, erklärte L gleichmütig, „weil er seine schwachsinnigen Anwandlungen nicht unter Kontrolle bringen kann. Ich war nur wütend.“

Ganz langsam schüttelte Light den Kopf.

„Nein, das ist es nicht“, entgegnete er nachdenklich. „Du hast etwas anderes gemeint.“

L gab einen abwehrenden Laut von sich und drehte sich wieder zum Fenster. Dann jedoch hörte Light ihn sagen:

„Den Menschen geht es heutzutage gut, nicht wahr, Light-kun? Sie können sich zu sehr mit sich selbst beschäftigen und haben in unserer zivilisierten Gesellschaft kaum mehr Angst vor dem täglichen Tod, sondern eher vor dem Leben. Anstatt Hunger und Schmerz fühlen sie mittlerweile nur noch ein emotionales Chaos oder eine verzweifelte Leere.“

„Oder beides“, ergänzte Light tonlos.

„Wenn man sich innerlich so fühlt“, folgerte L knapp, „wenn man sich gegen inakzeptable Schwächen nicht wehren kann, dann wünscht man sich eine Möglichkeit, mit der man das alles einfach abschaltet.“

„Tust du das, Ryuzaki? Fühlst du dich so? Darf man denn niemals Schwäche zeigen?“

„Schlaf jetzt.“

Die Endgültigkeit in Ls Stimme schien den Anderen entschieden daran hindern zu wollen, weiter darauf einzugehen. Doch Light hatte diesmal nicht vor, so schnell aufzugeben.

„Ich verstehe nicht, warum du mir manchmal keine Antwort gibst. Glaubst du etwa, ich könnte jedes Wort gegen dich verwenden?“

„Ich lüge schon oft genug. Ich will dir nicht etwas sagen müssen, von dem wir beide wissen, dass es nicht stimmt.“

„Soll das etwa heißen, du möchtest mich vor deinen Lügen bewahren, weil nur die Stummen die Wahrheit sagen können? Willst du das wirklich behaupten?“ Verärgert stieß Light die Luft zwischen seinen Zähnen aus und starrte auf Ls Rücken in der Dunkelheit. „Das glaube ich nicht. Du sagst also, du möchtest mir nichts Falsches erzählen, ja? Aber ich denke nicht, dass du bloß Angst davor hast, mir etwas Richtiges zu offenbaren. Die Tatsache, dass ich nicht zu viel über dich erfahren darf, ist vermutlich gar nicht das Problem.“ Allmählich beruhigte sich Light, während er überlegte. „Ein kontrollierter Automatismus... Ryuzaki, das bedeutet doch auch eine automatisierte Kontrolle, oder? Man kann sich so etwas antrainieren, das hast du selbst zugegeben. Und ich dachte immer, du gibst mir keine Antwort, weil du es einfach nicht willst. Doch langsam glaube ich, dass du nicht antwortest, weil du es überhaupt nicht kannst. Weil du die Wahrheit selbst nicht kennst.“

Wie so oft schwieg L. Eine Weile betrachtete Light das Mondlicht auf den reglosen Schultern seines vermeintlichen Freundes. Dann ließ er sich zurück in die Kissen sinken und schloss resignierend die Augen. Hatte L ihm überhaupt zugehört? Warum hatte Light eigentlich damit angefangen? Jetzt bereute er seine Worte.

Doch plötzlich sprach L nur einen einzigen Satz, kaum vernehmlich, sodass Light es fast nicht hörte.

„Reicht es denn nicht, dir zu sagen, dass du mein Freund bist?“

Die Frage verhallte in der Schwärze des Raumes. Und Light wurde klar, dass er darauf keine Antwort hatte. Er wusste es wirklich nicht. Darum sagte er nichts dazu und tat, als würde er bereits schlafen.

Achtung

Achtung
 

Die morgendliche Sonne erhellte bereits ganz Tokyo, doch drang ihr Licht nicht bis in das Herz der Ermittlungszentrale. Der Hauptüberwachungsraum besaß keinerlei Fenster, sodass sich nur die Computerbildschirme in den Augen der Anwesenden widerspiegelten. Light reckte seine Arme in die Luft, um seinen Nacken zu entspannen. Manches Mal hallte noch die Frage in seinem Inneren nach, die ihm L am Abend zuvor mit leiser Stimme gestellt hatte. Warum diese Worte eher aufwühlend als beruhigend auf Light gewirkt hatten, konnte er sich selbst noch nicht erklären.

„Die Zeitung“, sagte Mogi knapp, der soeben hereintrat und die Nachrichten des Tages auf den Tisch legte. Light griff danach und überflog die Anzeigen, während er sich neben L auf einen Drehstuhl setzte. Als er fündig geworden war, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hielt L die Zeitung entgegen.

„Für den Text bist du verantwortlich, nehme ich an?“

Desinteressiert warf L einen Blick auf den Artikel, infolgedessen er gleichzeitig nickte und mit den Schultern zuckte.

„Ich wette“, mutmaßte Light schmunzelnd, „wenn Matsuda das sieht, wird er die Meldung viel zu unscheinbar finden.“

Mogi kam erneut zu ihnen und stellte ein kleines Tablett zwischen die Tastaturen, bevor er sich schweigend an einen der Rechner setzte.

„Er hat nicht begriffen, warum er hier ist“, meinte L in gelangweiltem Ton. Verwundert schaute Light zu seinem Partner hinüber und versuchte den Inhalt von dessen Aussage richtig zu interpretieren.

„Sprichst du von Matsuda? Er kann uns sicher noch immer eine Hilfe sein, auch wenn er als Misas Manager am besten geeignet war.“

„Eben das hat er nicht begriffen.“ L tippte mit etwas ungelenken, aber verblüffend schnellen Bewegungen auf den Tasten seines Computers herum, während er weitersprach. „Er macht seine Leistung vom Vergleich mit den anderen Sonderermittlern abhängig, obwohl jede Rolle ihre Bewandtnis und Wichtigkeit hat. Selbst wenn er für keine einzige Arbeit geeignet wäre, würde allein seine damals getroffene Entscheidung ihn zu einem Mitglied dieses Teams machen.“

Light hörte der Erklärung des Detektivs zu und stellte in der Zwischenzeit die beiden Tassen Kaffee von dem Tablett herunter, bevor er Ls Gedankengang präzisierte.

„Was du eigentlich damit sagen willst, Ryuzaki, ist doch die Tatsache, dass Matsuda nicht geringer geschätzt wird, nur weil er seiner Meinung nach weniger gebraucht wird oder weniger Leistung bringt.“ Light öffnete eine der Kondensmilchpackungen und kippte ihren Inhalt in jene Kaffeetasse, die nur halb gefüllt war. „Schließlich sollte jeder Mensch gleichermaßen anerkannt werden.“

L starrte weiterhin konzentriert auf den Computerbildschirm, doch seine Mimik nahm einen leicht genervten Ausdruck an.

„Nichtsdestotrotz gehen viele davon aus“, sagte er monoton, während Light noch zwei weitere Milchpackungen in den Kaffee kippte, „dass es festgelegte Eigenschaften des Menschen gäbe, für die er geachtet werden müsste. Zum Beispiel seine Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, sich selbst Gesetze vorzugeben, oder die Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung, zur Vernunft, zum moralischen Handeln. Es zeugt schon fast von absichtlicher Blindheit, wie viele Menschen ständig vergessen, dass all diese Eigenschaften jedem in unterschiedlichem Grade zukommen.“

„Wenn man sich auf solche positiven Aspekte beruft, um die Anerkennung des Einzelnen zu rechtfertigen“, griff Light den Faden auf, „dann macht man den Einzelnen abstufbar, nicht wahr? Derart orientierte Theorien begründen also nicht, warum alle die gleiche Achtung verdienen, weil allein das Menschsein im Mittelpunkt stehen sollte.“ Mit einer Zuckerzange warf Light langsam und in seine Überlegungen vertieft Würfelzucker in den Kaffee. „Das ist vergleichbar mit der Strafmilderung bei Reue“, fügte er dann hinzu. „Ein Verbrecher erhält nicht deshalb ein Recht auf basale Anerkennung, da er die Fähigkeit besitzt, sich zu bessern. In diesem Fall würden wir einen Verbrecher nämlich nur deshalb nicht verachten, weil wir davon ausgehen müssten, dass er vielleicht seine Taten bereut und in Zukunft nichts Schlechtes mehr tut. So wäre ein richterlicher Beschluss und dessen Unumstößlichkeit aber völlig sinnlos.“

„Du hast Recht, damit könnte man das Ganze nämlich auch herumdrehen und anfangen, Menschen wegen ihrer Eigenschaften oder Möglichkeiten zu verurteilen. Überall lassen sich kriminelle Potenziale finden. Oft genug sind die Zeichen schon überdeutlich, bevor tatsächlich etwas passiert.“ Nachdem Light fünf Zuckerstücke in den Milchkaffee fallen gelassen hatte, schob er die Tasse wie stets zu L hinüber. „Danke, Light-kun. Gehen wir also davon aus, dass ein Mensch nicht wegen seiner Fähigkeiten geachtet werden soll, führt uns das ja nicht zwangsläufig zu einer nihilistischen Konklusion. Menschen haben einen Wert an sich, für den wir sie anerkennen, nicht aufgrund irgendwelcher Eigenschaften.“

„Das ist wie mit dem Geld“, klinkte sich plötzlich Aiber, der neben ihnen aufgetaucht war, in das Gespräch ein. „Es handelt sich nur um läppisches, unbedeutendes Papier oder Metall. Und dennoch ist es für den Menschen von unschätzbarem Wert.“ Der großgewachsene Mann lehnte sich grinsend gegen das Überwachungspult.

„Das liegt aber nur an der nahezu uneingeschränkten Tauschbarkeit“, erwiderte Light. „Deshalb ist es kein passender Vergleich für das menschliche Individuum, gerade wegen der Unverrechenbarkeit des Einzelnen.“

„Sie denken mal wieder zu materialistisch“, setzte L ebenfalls dagegen. „So gesehen hat Geld nämlich gar keinen Wert an sich.“

„Es ist nur ein Schuldschein, den wir immer und immer wieder eintauschen können.“

„Darum kann es auch so schnell an Gehalt verlieren.“

„Weil Geld nur so viel Wert hat, wie wir ihm zuschreiben.“

„Schon gut, schon gut!“, unterbrach Aiber den Wortwechsel der beiden jungen Männer. Beschwichtigend hob er die Hände, wobei er charmant lächelte. „Gleich von zwei Seiten angegriffen zu werden, klärt die Fronten zwar schneller, löst den Konflikt aber nicht so ehrenvoll, ist es nicht so?“

Daraufhin trank L gleichgültig seinen Kaffee und überließ Light die Diskussion.

„Ursprünglich entstand Papiergeld als Tauschschein für Gold“, richtete sich dieser nun mit seiner Ausführung an Aiber. „Doch heutzutage ließe sich das ganze Geld nicht mehr durch Gold tauschen, weil die Ressourcen dafür fehlen. Das geht sogar noch weiter. Wir könnten die Zahlen des angeblich verfügbaren Geldes niemals mit dem tatsächlich vorhandenen Geld in Einklang bringen.“

„Tja, es ist eben alles nur eine große, gut durchdachte Lüge“, meinte Aiber belustigt. „Wenn jeder Mensch zu seiner Bank laufen würde, um einzufordern, was ihm gebührt, dann stünden wir vor einem echten Problem.“

„Das ist leider wahr. Womit wir handeln, sind nur Zahlen und Daten und unterschriebene Absprachen“, fasste Light mit einem Nicken zusammen. „Wirtschaft funktioniert allein durch gegenseitiges Vertrauen und die Unterstützung, die wir anderen aufgrund unserer eigenen Sorge ums Überleben zukommen lassen. So merkwürdig das auch klingt, aber wir haben unsere Wirklichkeit längst der materiellen Welt enthoben. Der tatsächliche Wert, die echte Bedeutung ist nicht greifbar.“

„Ist das nicht auch eine Art von Magie?“, fragte L rhetorisch und stellte hierbei seine geleerte Tasse zurück auf den Tisch. „Sich von etwas kontrollieren zu lassen, das eigentlich gar nicht existiert?“

Die ganze Zeit, in der Light mit Aiber gesprochen hatte, war Ls Blick nicht von seinem jungen Ermittlungspartner gewichen. Stets folgte er dessen Worten aufmerksam, häufig sogar mit bewusster Offensichtlichkeit. Es war L egal, ob Light seine Beobachtungen bemerkte. Er hatte es nicht nötig, sein Interesse an einem Verdächtigen zu verbergen, auch jetzt nicht, als dieser sich ihm zuwandte und ihn unbefangen musterte. L glaubte zu erkennen, welche Frage in den klaren braunen Augen lag: Was willst du wirklich mit deinen Worten und Taten andeuten?

Zum Teil hatte der Meisterdetektiv mit dieser Vermutung Recht, da Light stets den doppelten Boden hinter Ls Aussagen erkannte. Allerdings lag er dieses Mal nicht zu hundert Prozent richtig. Was Light stattdessen durch den Kopf ging, war eine Frage, die er L nicht stellen konnte: Merkst du nicht, dass du vielleicht mehr sagst, als dir selbst bewusst ist?

Nach einem einvernehmlichen Schweigen erkundigte sich Light schließlich unvermittelt:

„Worüber sprachen wir eigentlich am Anfang?“

In diesem Moment kam Matsuda in den Überwachungsraum, begrüßte alle Anwesenden und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Mogi deutete auf die Zeitung, die noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Sofort griff Matsuda danach und starrte verblüfft auf die Meldung.

„Die ist ja winzig.“
 

Nach der Profilaufstellung aller wichtigen Mitglieder der Yotsuba Group wusste man in der Sonderkommission nun, mit wem man es im weiteren Verlauf des Falles zu tun haben würde. Aiber sollte unter dem Deckmantel von Ls Pseudonym als Erald Coil mit einem Vertreter des Konzerns Kontakt aufnehmen. Derweil konnte Wedy die nächsten Tage nutzen, um das Firmengebäude unbemerkt zu infiltrieren. Der kommende Freitag würde ihnen Klarheit bringen.

Light konnte kaum glauben, wie schnell die Entwicklungen zum jetzigen Zeitpunkt voranschritten, nachdem zuvor zwei Monate der Ziellosigkeit vorübergegangen waren. Während L gerade die Handschellen löste, damit sie sich für die Nacht fertig machen konnten, überlegte Light, ob ihr bisheriges systematisches und umsichtiges Vorgehen möglicherweise zu wenig Initiative für einen raschen Erfolg geboten hatte. Die waghalsige Aktion Matsudas hatte bewiesen, dass es auch anders ging. Allerdings war dessen Motivation nicht korrekt gewesen, sonst hätte er nicht riskiert, das gesamte Ermittlungsteam in Gefahr zu bringen.

„Ich frage mich“, sagte Light langsam, während er sich umzog, „ob Matsuda die Anerkennung im Team wichtiger war als die Aussicht auf Erfolg oder Misserfolg seiner Handlung.“

„Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Antwort deine These bejahen, Light-kun.“

„Dann sind wir wohl selbst daran schuld, dass das passiert ist.“ Nachdenklich setzte sich Light an den Rand des Bettes und massierte sich mit einer Hand seine Schultern, wobei er hinzufügte: „Anerkennung ist reziprok. Wenn Matsuda sich gewünscht hat, eine größere Rolle bei den Ermittlungen zu spielen, dann sicherlich nur deshalb, weil wir ihm bisher nicht die Beachtung zukommen ließen, die er eigentlich verdient.“

„Für solche Kindereien haben wir keine Zeit“, meinte L knapp und stieg hinter ihm ins Bett. Ohne sich umzuwenden sprach Light weiter.

„Aber Anerkennung ist etwas, wonach ein Mensch strebt, weil er eine Berechtigung und einen Sinn für sein Leben erhalten will. Dabei geht es nicht bloß um die grundlegende Anerkennung als Person, über die wir vorhin geredet haben, sondern um eine Achtung, die durch Leistungen erwirkt wird. Werden diese Anstrengungen ignoriert, kann das eine größere Belastung darstellen als offensive Abwertung. Einen anderen zu verleugnen setzt voraus, dass man ihn vorher wahrgenommen hat.“

Plötzlich spürte Light die Hände seines Partners an seinen Schultern und erschrak leicht. L hatte sich hinter ihn gehockt und begann nun damit, dessen Nacken zu massieren. Seine Handgriffe waren geübt, als würde er das nicht zum ersten Mal tun. Indes entgegnete er gleichgültig:

„Wir hätten es kommen sehen müssen. Gerade wegen Matsudas Charakter hätte ich ihn nicht aus den Augen verlieren dürfen. Er hat oft mehr Glück als Verstand, was diesmal unser Vorteil war.“ L fuhr mit einigem Druck über Lights Schulterblätter, sodass dieser seinen Rücken straffte.

„Er fühlt sich von uns vermutlich einfach übersehen, Ryuzaki.“

„Unsinn. Wenn er mal ein bisschen nachgedacht hätte, wäre ihm bewusst geworden, dass wir ihn gar nicht übersehen können. Er ist ein Mensch und als solchen nehmen wir ihn auch wahr. Das ist keine Entscheidung unseres Willens, sonst hätte ich ihm nicht die Aufgabe zugeteilt, die er letztendlich so ungehemmt ignoriert hat.“

„Eben das ist das Problem. Da Matsuda davon ausgehen muss, dass wir ihn als Mitglied des Teams anerkennen, wird er glauben, seine vermeintlich untergeordnete Rolle wäre von unserer Seite aus beabsichtigt.“

„Warum interessiert dich das überhaupt?“ Ls Stimme wurde ein wenig missmutig. Mit seinem festen Griff schaffte er es, genau die Stellen in Lights Nacken zu treffen, die diesem am meisten wehtaten. Seine Hände waren unnachgiebig, aber dennoch nicht grob, sondern agierten vielmehr in gefühlvoller Gewalt. Light fragte sich, ob L wütend war. „Aus Höflichkeit willst du zum Beispiel Amane Misa nicht für unsere Zwecke missbrauchen, ist es nicht so? Trotzdem fällt es dir nicht schwer, sie die meiste Zeit schlichtweg links liegen zu lassen.“

„Das ist doch etwas völlig anderes.“

„Wenn du meinst... Entspann dich, Light-kun. Du bist viel zu verkrampft.“

Der Angesprochene atmete hörbar aus und konzentrierte sich darauf, den Schmerz oder das Gefühl von Ls Händen auf seinen Schultern auszublenden oder deutlicher wahrzunehmen, vielleicht auch beides gleichzeitig. Er fühlte sich unwohl, obgleich er die Berührungen mochte und die Gefälligkeit trotz seiner Anspannung genoss.

„Es ist bloß so...“, versuchte Light zu erklären, „ich habe mich gefragt, wenn die meisten Menschen nach Anerkennung streben, die nicht basal, sondern individuell ist... wonach strebst du dann? Welchen Sinn verfolgt das Leben von L, dem weltbesten Detektiv, der seine wahre Persönlichkeit im Verborgenen hält und darum kaum die Anerkennung erhalten wird, die ihm eigentlich zusteht?“

Ls Hände kamen zur Ruhe. Eine Antwort blieb er seinem Partner allerdings schuldig. Stattdessen spürte Light, wie L kurzentschlossen nach dem Saum seines Hemdes griff und es ihm über den Kopf streifte. Bevor Light dazu kam, seiner Überraschung Ausdruck zu verleihen, wurde er bereits an den Schultern gepackt und fand sich auf dem Bett liegend wieder. Für einen Moment wurde ihm schwindlig. Atem und Herzschlag beschleunigten sich.

„Solange du dich nicht entspannst, bringt das gar nichts“, wies L ihn zurecht und schaute von oben auf ihn herab. Seine nächste Forderung klang, angesichts der Lage seines jungen Partners, eher paradox. „Leg dich bitte hin, Light-kun.“

„Du musst das nicht tun.“

„Leg dich hin“, wiederholte L ungerührt.

Seufzend kam Light der Bitte nach, die eher wie ein Befehl geklungen hatte. Er drehte sich um und bettete den Kopf auf das Kissen, woraufhin L mit geschickten Fingern Lights Rückgrat hinabfuhr. Auf der nackten Haut fühlten sich seine Hände eiskalt an, was vielleicht der Grund dafür war, dass Light kurz erschauderte. Mit dem Druck seiner Fingerspitzen zeichnete L die einzelnen Rippenbögen nach und räumte dabei emotionslos ein:

„Ich verstehe, was du mir sagen willst.“

Das bezweifelte Light. Zumindest war es eindeutig, dass L nicht darauf eingehen wollte, falls er tatsächlich begriff, worum es hier ging; nämlich nicht um irgendjemanden, sondern um ihn selbst. L würde es mit Sicherheit verleugnen. Und die folgenden Worte gaben Light in dieser Vermutung Recht, da L lediglich sagte:

„Es stimmt, Matsuda kann durchaus von uns erwarten, trotz seiner unbedachten Vorgehensweise, für das Mitwirken im Team respektiert zu werden. Seine Andersartigkeit ist manchmal sogar von Vorteil.“

„Das war es nicht, was ich meinte.“ Lights Stimme war so leise, dass er kaum glauben konnte, verstanden worden zu sein. Etwas lauter fügte er hinzu: „Ich wollte dir keinen Vorwurf machen und auch nicht dein Verhalten verurteilen, immerhin habe ich mich als Urheber nicht ausgeschlossen. Wir alle hätten mehr aufpassen müssen.“

„Damit wir die Gefahr sehen und uns in Acht nehmen?“, fragte L zynisch. „Damit wir bemerken, was in Matsuda vorgeht?“

„Um ihn geht es doch gar nicht!“ Auf die Ellenbogen gestützt hatte sich Light halb aufgerichtet und den Kopf zur Seite gewandt. „Die ganze Zeit sprichst du von Matsuda, dabei weißt du genau, dass ich das nicht meine.“

„Du tust es selbst“, erwiderte L trocken und begegnete dem ernsten Blick aus den braunen Augen mit Kühle. „Ich habe nur auf deine Aussagen reagiert. Also halte mir das nicht vor, wenn du solche Beispiele als Vorwand benutzt, obwohl du auf etwas völlig anderes hinauswillst.“

„Weil du, sobald ich direkt bin, sowieso ausweichst!“

„Dann lass es sein.“ Mit der Handkante schlug L auf einen Punkt im Rücken seines Partners, sodass jener für einen Moment das Gefühl hatte, sämtliche Luft würde aus seinen Lungen gepresst werden. Light sackte zusammen und ließ zu, dass L die Massage schweigend fortsetzte.

Zuerst war Light wütend. Doch langsam verblasste die Wut und Einsicht trat an ihre Stelle. Warum war ihm eine Klarheit über die tatsächlichen Beweggründe mittlerweile so wichtig, obwohl er diesen Fragen vor einiger Zeit noch mit Gleichmut begegnet war, ihnen später sogar selbst auswich und sie unter einem Mantel aus analytischen Begriffen versteckte? Wozu versuchte er Antworten zu erzwingen, wenn er sich nicht einmal sicher war, was er überhaupt wissen wollte? Am Rande registrierte Light, wie sich Ls Hände, die mit Bedacht über seine Haut fuhren, an seine eigene Temperatur angeglichen hatten und nicht mehr kalt waren.

„Wenn man dich noch nicht kennt, Ryuzaki, könnte man dein Verhalten leicht missverstehen“, meinte Light und bemühte sich, in seinen Worten Mut zu fassen. „Darf ich offen sprechen?“

„Bitte.“ Mit sanftem Druck rieb L über die Partien zwischen Schulterblättern und Wirbelsäule, bevor er beide Handflächen vollständig auflegte und über Lights Nacken strich. Seufzend schloss dieser die Augen, löste die Spannung in seinen Gliedern und hoffte, L würde seine Erläuterung wenigstens anhören.

„Du drückst dich oft höflich aus, Ryuzaki, aber im Widerspruch dazu auch sehr resolut und direkt, woran man leicht Anstoß nehmen könnte. Zumindest verstößt es mitunter gegen die japanische Etikette. Dein ganzes Verhalten ist nicht an Akzeptanz und Konformität orientiert, du wirkst abweisend, manchmal verletzend oder gar überheblich. Doch jede Überheblichkeit stellt an den Menschen die Frage, ob er denn selbst mehr wert ist als ein anderer. Niemand ist fehlerfrei. Kann man über den Schmutz an den Händen anderer Menschen urteilen, weil man glaubt, dass die eigenen Hände unbefleckt wären? Wer kann das schon von sich behaupten? Wir tragen doch alle einen dunklen Fleck in unserem Inneren.“

„Nur weil deine Hände rein sind“, wiederholte L monoton, „nimmst du dir heraus, über jemanden zu urteilen, dessen Hände, vom Graben im tiefsten Dreck, schmutzig sind?“ Irritiert nahm Light einen Tonfall in der Stimme seines Freundes wahr, den dieser selten an den Tag legte. Um L nicht in seinem Gedankengang zu unterbrechen, schwieg Light. Es klang bitter, als dieser schließlich meinte: „Wir sollten dankbar für den Unterschied zwischen den Menschen sein, sonst gäbe es am Ende niemanden mehr, den wir als schlechter im Vergleich mit uns selbst bezeichnen könnten. Nur die Gegenüberstellung bringt uns die Illusion, dass wir etwas Besseres wären.“

„Das ist es wahrscheinlich, was du von dir nach außen hin zeigen willst, aber nicht, was du wirklich denkst. Überheblichkeit ist ein Mittel zur Abgrenzung und Selbstdarstellung. Doch diese Grenze hast du nicht gezogen, um Achtung für deine Person zu erwirtschaften. Dein Auftreten verlangt nicht nach Anerkennung. Ich weiß das, weil ich mich, ehrlich gesagt, auf diesem Gebiet ziemlich gut auskenne.“

Verhalten gab L ein tiefes ruhiges Lachen von sich, das Light lächeln ließ.

Es stimmte, dass sie manches nur vorschoben und als Ersatz benutzten, als Tauschmittel gegen eine verschwiegene Wahrheit. Gern wäre Light ehrlicher gewesen und hätte egoistisch zugegeben, dass er selbst es war, der über seine aufgezwungenen Rollen hinaus von seinem Freund nicht missachtet werden wollte. Und er wollte, dass L sich selbst nicht missachtete. Wenngleich sie diese Wahrheit vermutlich beide kannten, war mit ihrer Offenbarung eine unaussprechliche Gefahr verbunden.

L löste die Hände von Lights Rücken, nachdem er ein letztes Mal ohne jeglichen Druck über dessen Haut geglitten war. Dann griff er nach den Handschellen und sagte:

„Zieh dich an. Es ist schon spät.“

Erbe und Beweis

Erbe und Beweis
 

„Alle anwesend?“, fragte Namikawa Reiji und blickte in die Runde. „Dann eröffne ich hiermit die Konferenz.“

Die Ermittler der Sonderkommission standen vor dem zentralen Überwachungsbildschirm und besaßen vollständigen Einblick auf den Konferenzraum der Yotsuba Group, deren Mitglieder sich zu der freitäglichen Sitzung zusammengefunden hatten. Anstatt acht waren es nur noch sieben Männer; einen von ihnen hatte Kira vermutlich zum Schweigen gebracht. Mit Wedys Hilfe war der Raum komplett audiovisuell verkabelt. Laut Matsuda sollte nun in einer Absprache über die geplanten Morde entschieden werden. Der ehemalige Polizist ließ es sich indes nicht nehmen, erstaunt einzuwerfen:

„Ohne mich wären wir nie hinter diese Geheimkonferenzen gekommen.“

„Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln“, entgegnete L sarkastisch, woraufhin Matsuda konsterniert schwieg.

Gebannt verfolgten die Ermittler, wie die Führungskräfte von Yotsuba über den Bericht sprachen, den ihnen der gefälschte Erald Coil hatte zukommen lassen. Bedauerlicherweise offenbarte sich darin, dass der Detektiv mehr über die Belange der Firma und ihre Verbindung zu Kira herausgefunden zu haben schien, als dass er Informationen zu L liefern konnte. Diese Tatsache verdeutlichte den Abteilungsleitern die Dringlichkeit, ihr Vorgehen subtiler gestalten zu müssen. Die Morde sollten fortan in größeren und unregelmäßigeren Abständen vollzogen werden. Nachdem dieses Problem besprochen worden war, gingen die Männer zum nächsten Tagesordnungspunkt über.

„Wen sollen wir töten?“

Völlig ungerührt stellte Ooi Takeshi die Frage in den Raum, was Light und seinem Vater vor dem Bildschirm den Atem stocken ließ. Sofort gingen die restlichen Abteilungsleiter darauf ein und diskutierten über lukrative Vorschläge zur Ermordung ihrer Konkurrenz.

„Gut, dann werden die betreffenden Personen einen Unfall erleiden“, verkündete Ooi im Geschäftston und fügte fragend hinzu: „Einverstanden?“

„Keine Einwände“, antworteten die anderen einstimmig.

„W...was?“, rief Light schockiert. „Das beschließen sie so einfach?“ Auch seinem Vater stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Alles deutete bis zum letzten Detail darauf hin, dass die Sonderkommission mit jeglichen Annahmen im Verdacht gegen Yotsuba richtig gelegen hatte. Doch erinnerte L sie nun daran, wie aussichtslos eine Verurteilung zum jetzigen Zeitpunkt sein würde.

„Leider“, begann der Detektiv und löffelte dabei gelangweilt sein Anmitsu, eine Art Gelee mit süßen Bohnen und Sirup, gekrönt von einer Kirsche, „besteht erst dann kein Zweifel mehr, sobald die eben genannten Personen sterben. Wenn wir die Observation bis zu diesem Punkt fortsetzen und alles Gesagte mit den Tatsachen in Einklang bringen, können wir Kira fassen.“

„Ryuzaki!“, riefen Light und Herr Yagami wie aus einem Mund. „Du kannst Kira nicht stellen, indem du ihn weiter morden lässt.“ L hatte nicht behauptet, dass er etwas Derartiges vorhatte, doch bei der momentanen Beweislage konnte eine Überführung unmöglich durchgesetzt werden. Sie mussten sich etwas einfallen lassen.

„Die Menschen, die dieses Mal umgebracht werden sollen“, drang Light weiter auf ihn ein, „sind nicht einmal Verbrecher, sondern völlig unschuldige Menschen. Wir können kein Unwissen vorschützen, um Yotsuba aufzuhalten.“

„Du fändest...“, fragte L langsam, „es also in Ordnung, sie umbringen zu lassen, wenn es Verbrecher wären?“

„Das habe ich nicht gesagt. Verdreh meine Worte nicht!“

„Schon gut“, räumte L missmutig ein. „Wichtiger als die Zuordnung, wer sich hinter Kira verbirgt, sind natürlich die Menschenleben. Das ist doch selbstverständlich.“ Trotz dieses Zugeständnisses bettete L frustriert den Kopf auf seine angezogenen Knie und starrte grübelnd geradeaus. Light schaute nachdenklich zu seinem Partner hinüber. Gab es denn keine Möglichkeit, die Ermittlungen voranzutreiben und zugleich niemanden dafür zu opfern?

Eine szenenartige Erinnerung flackerte durch Lights Gedanken. Die Aufnahmefeier der Universität. Seine erste Begegnung mit diesem merkwürdigen Mann mit der wirren schwarzen Mähne und dem eindringlichem Blick, der in der Prüfung die gleichen Leistungen gebracht hatte wie er selbst. Dem jungen Studenten fielen die ersten Worte ein, die L zu ihm gesprochen hatte. Jene Offenbarung, dass Light es mit dem besten Detektiv der Welt zu tun hatte.

In diesem Moment fiel es ihm ein.

„Ryuzaki“, sagte Light mit einem ernsten Blick auf den Bildschirm, „ich leihe mir mal dein L aus.“
 

„Fabelhafte Leistung, Light-kun“, lobte der Detektiv seinen jungen Kollegen. Light hatte es durch ein Telefongespräch mit Namikawa geschafft, die weiteren Morde Yotsubas aufzuschieben, indem er sich als L ausgegeben und den Abteilungsleiter unter Druck gesetzt hatte. „Dein Vorgehen ist fast identisch mit meinem. Ich hätte ganz ähnlich gehandelt, aber du bist einfach schneller darauf gekommen“, gab L ungeniert zu. „Eventuell könntest du, wenn ich sterben sollte, meinen Namen und somit meine Stelle übernehmen.“

„Beschwör nicht solche düsteren Vorzeichen!“, wies Light entschieden ab.

„Aber du warst es doch auch, der zuerst auf Yotsuba kam, nicht wahr? Du bist wahrscheinlich wirklich besser als ich.“ Die Gleichgültigkeit, mit der L diese These aufstellte, irritierte Light, da der Detektiv normalerweise genügend Selbstvertrauen in Bezug auf seine eigenen Fähigkeiten an den Tag legte. In Gedanken versunken fügte L hinzu: „Ich nehme an, Yagami Light könnte das tun...“

„Was meinst du?“, unterbrach ihn Light fragend. „Dein Nachfolger werden?“

„Nein, darüber habe ich gerade nicht nachgedacht, aber wenn wir schon dabei sind, würdest du es denn tun?“ Aus dem Augenwinkel schaute L in Lights Richtung. „Wenn ich sterben sollte, würdest du dann mein Nachfolger werden?“

„Was sagst du da, Ryuzaki?!“ Ungläubig schüttelte Light den Kopf und hob den Arm mit der Handschelle, an deren Gewicht er sich längst gewöhnt hatte, sodass er sie mittlerweile oftmals vergaß. „Solange wir aneinander gekettet sind, werden wir doch ohnehin zusammen sterben.“

Noch während Light es aussprach und hierbei seine Aufmerksamkeit auf den ihm zugewandten Rücken des anderen Mannes geheftet hatte, begann er plötzlich zu begreifen. Kraftlos sanken seine Arme hinab, doch nicht Resignation breitete sich in seinem Inneren aus, sondern lediglich Kälte, der er nur mit Analytik zu begegnen wusste.

„Ich verstehe...“, setzte Light langsam an. „Es tut mir leid, Ryuzaki, aber ich werde jetzt allen hier sagen, was genau du gerade denkst.“

In den letzten Minuten waren die restlichen Ermittler still geworden, da niemandem die bedrückende Stimmung entgangen war. Mogi redete ohnehin nie viel, aber selbst Matsuda hielt sich angespannt zurück und lauschte Lights Erklärung.

„Falls ich Kira bin, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten; entweder bin ich mir darüber im Klaren und spiele euch das alles nur vor oder ich habe sowohl meine Macht als auch mein Bewusstsein von Kira weitergegeben. Sollte der erste Fall zutreffen, Ryuzaki, dann kannst du mir niemals diese Handschellen abnehmen. Du könntest mich niemals freilassen. Doch selbst wenn der zweite Fall zuträfe und ich nicht bewusst Kira wäre, würdest du vermutlich genauso handeln. Du wirst mich trotzdem festhalten, weil du der Meinung bist, dass ich irgendwie einen Weg gefunden haben muss, wie diese Kraft wieder zu mir zurückkehren kann. Das bedeutet, du gehst überhaupt nicht davon aus, dass ich manipuliert wurde. Mehr noch, deines Erachtens habe ich diese Macht abgegeben, um vorsätzlich meine Unschuld zu beweisen und anschließend ein mächtiges Erbe antreten zu können.“ Light war sich seiner Worte so sicher, dass völlige Ruhe ihn zu beherrschen schien, als wäre ein Stillstand eingetreten. Er merkte nicht einmal, dass er mit seinen abschließenden Worten auf eine Weise sprach, wie es normalerweise nur L tat. „Yagami Light wird erneut zu Kira werden, nachdem er die Position von L eingenommen hat. Mit meinen Fähigkeiten könnte... nein, würde ich das tun. Das ist es, was Ryuzaki denkt.“

„Korrekt“, antwortete L scheinbar ungerührt. Innerlich war er jedoch fasziniert davon, wie unglaublich präzise Light seine Gedanken zu lesen vermochte.

„Zumindest dürfte dir diese Offenlegung bewiesen haben, dass ich niemandem etwas vorspiele.“

„In der Tat“, bestätigte L, „Kira würde einen solchen Plan nicht erläutern, wenn er ihn bewusst umzusetzen gedenkt.“

„Was für dich wiederum nur heißen kann“, folgerte Light bitter, „dass der zweite Fall zutrifft und ich mein Gedächtnis verloren habe.“

„Ja, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.“

Sofort griff Light nach Ls Schulter und drehte ihn auf dem Stuhl zu sich herum. Mit beiden Händen hielt er ihn fest, um ihm direkt in die Augen sehen zu können.

„Ryuzaki, denkst du denn wirklich, nachdem wir den jetzigen Kira gefangen haben... ich würde zu Kira werden, zu einem Mörder? Siehst du wirklich so einen Menschen vor dir?“

Mit weit geöffneten Augen erwiderte L den Blick. Er spürte den Druck von Lights Händen auf seinen Schultern. Was er vor sich sah, war ein ehrgeiziger und gutmütiger junger Mann, der L im Denken so sehr glich wie noch nie ein Mensch zuvor. Mit absoluter Sicherheit antwortete der Detektiv:

„Ja, das denke ich und genau das sehe ich in dir.“
 

Light rieb über seinen Wangenknochen, der noch immer von dem Tritt schmerzte, den er von L einkassiert hatte. Bei jenem war allerdings anhand einer leichten Rötung ebenfalls zu erkennen, wo er einen Schlag von Light hatte einstecken müssen. Es lief immer auf dasselbe hinaus, sobald die beiden Männer es nicht mehr schafften, ihre Konflikte verbal zu lösen. Natürlich konnte in Wirklichkeit gar nichts damit gelöst werden, aber Light merkte stets, dass er anders nicht mit den zurückgehaltenen Emotionen, der Wut und Hilflosigkeit, umgehen konnte. L ließ sich davon zwar weniger beeindrucken, dennoch glaubte Light, dass diesem die körperlichen Auseinandersetzungen gleichfalls ganz recht waren.

Nun, da die Nacht hereingebrochen war, kehrten all die Gedanken und Erinnerungen zurück, die zuvor von den Ermittlungen verdrängt worden waren. Während Light in ihren Privaträumen vor der Fensterfront stand, dachte er an die vergangenen Geschehnisse. Was war eine Freundschaft schon wert, wenn mit jedem Schritt, der die Distanz zwischen zwei Menschen verringern sollte, nur weitere Barrieren erschaffen wurden? Im Grunde genommen war das doch alles sinnlos.

Eine Hand streifte über Lights Arm und griff mit kalten Fingern nach seinem Handgelenk. Bevor L, der von hinten an ihn herangetreten war, die Fesseln lösen konnte, entzog der Andere sich ihm. Noch immer schaute Light hinaus in die Dunkelheit, doch spürte er jetzt auch den Blick des Meisterdetektivs auf sich lasten.

„War das, was ich heute sagte, etwa eine Überraschung für dich?“, fragte L mit monotoner Stimme. Light wandte sich ihm weder zu noch gab er ihm eine Antwort. „Die Handschellen sind der beste Beweis für meinen Verdacht gegen dich. Darüber habe ich dich nie belogen, Light-kun. Schon von Anfang an nicht. Warum regst du dich also jedes Mal so sehr darüber auf?“

Seufzend senkte Light den Kopf. Er verstand selbst nicht, warum er hin- und hergerissen war zwischen dem Widerwillen gegen diese Anschuldigung und dem Wissen über die damit einhergehende Folge, womit er erst durch jenen Verdacht für L von Bedeutung geworden war. Beiden Männern war nicht bewusst, dass sie sich sogar in Bezug auf diesen Zwiespalt ähnelten.

„Was verlangst du eigentlich von mir?“, fragte L leise.

„Es geht nicht darum, dass du mich für Kira hältst“, erwiderte Light und fuhr sich dabei nervös durch das braune Haar. „Ich will einfach nur...“ Dass du mir vertraust, beendete er den Satz gedanklich, schreckte jedoch wie so oft davor zurück, seine Worte auszusprechen.

L wartete noch eine Weile, in welcher er sich gleichgültig am Kopf kratzte und dann die Hände in die Hosentaschen schob. Schließlich meinte er in kühlem Tonfall:

„Ich kann dir sagen, warum es dich so fertigmacht.“ Irritiert wandte Light sich ihm zu und begegnete den schwarzen, leeren Augen seines Partners, der sogleich ungerührt fortfuhr. „Du hast Angst, Light-kun. Und du zweifelst, weil du im Grunde weißt, dass ich Recht habe.“

Verächtlich stieß Light die Luft zwischen seinen Zähnen aus und schüttelte abwehrend den Kopf.

„Glaubst du wirklich, dass ich wieder zu Kira werden könnte, als wäre nie etwas gewesen?“

„Angst und Stolz sind eine gefährliche Mischung, darum wehrst du dich so sehr“, entgegnete L achselzuckend.

„Ich weiß es, ich bin nicht Kira!“, setzte Light aufgebracht dagegen, obwohl er wusste, wie grundlos eine solche Behauptung war. Er schaffte es nicht, seine nächsten Worte zurückzuhalten. „Und selbst wenn es so wäre, es würde sich nichts ändern, verdammt!“

„Nichts ändern?“ In Ls Stimme lagen auf einmal Wut und Unverständnis, als würde er seinen eigenen Ohren nicht trauen. „Du meinst allen Ernstes, es würde sich nichts ändern, wenn du Kira wärst? Mach dich nicht lächerlich.“

Trotz seines Zorns hatte Light die Kontrolle über sein Handeln noch nicht verloren und versuchte deshalb, die Situation vor einer Eskalation zu bewahren, bevor es wieder zu einem Gewaltausbruch kommen konnte. Es musste einen Weg geben, um an L heranzukommen. Beschwichtigend legte Light beide Hände auf die Schultern seines Ermittlungspartners, wie er es schon ein paar Stunden zuvor getan hatte. Diesmal fasste er allerdings fester zu, als er es eigentlich wollte, und sagte mit Nachdruck:

„Versteh doch, selbst wenn ich Kira wäre, würde ich wohl ähnlich über dich denken. Auch wenn ich Kira wäre, wärst du schon längst auf welche Weise auch immer wichtig für mich geworden. Ich könnte dich nicht einfach übergehen, als ginge es nur um Sieg oder Niederlage. Ob Freund oder Feind, ganz gleich, du spielst eine zu entscheidende Rolle in meinem Leben. Warum glaubst du mir das nicht?“

„Das ist nicht dein Ernst.“ Abrupt machte sich L von ihm los. Was Light sagte, ergab keinen Sinn. Konnte er nicht begreifen, dass es um viel mehr ging? Dass sich das ganze Problem unmöglich lösen ließ? Da L nicht verstand, was sein Freund damit bezweckte, da er sich auf frustrierende Weise ja selbst nicht verstand, nahm seine Wut beständig zu. Mehrfach stieß er Light mit der flachen Hand vor die Brust, während er verärgert entgegensetzte:

„Wie soll ich dir denn glauben, wie soll ich dir vertrauen? Schließlich könntest du mir das alles vorspielen, um mein Vertrauen zu gewinnen, mich unvorsichtig zu machen, mir vielleicht meinen Namen zu entlocken. Du kannst mir nicht erzählen, dass du dir über diese Möglichkeiten nicht im Klaren bist. Entweder vergisst du völlig, logisch zu denken, oder es ist wiederum nur Taktik.“

„Logisch denken?“ Light entkam ein freudloses Lachen. Eigentlich war ihm ohnehin bewusst, dass L nicht mit sich reden lassen würde. Doch genauso, wie die Wut des Meisterdetektivs dessen sonstige teilnahmslose Haltung verdrängt hatte, so steigerte sich in Light das Gefühl der Machtlosigkeit und ließ damit jede Art von kalter Analytik in den Hintergrund treten. Er hatte sich nicht zur Wehr gesetzt und war von L, der nun dicht vor ihm stand, zurückgedrängt worden. „Hörst du dir überhaupt mal selbst zu, Ryuzaki? Ich habe versucht, mir einzureden, du könntest einfach nicht anders, aber langsam kotzt mich dein distanziertes Verhalten echt an! Funktioniert bei dir alles nur mit Logik, niemals anders?“ In Lights wütende Stimme hatte sich ein milder Unterton gemischt, der jedoch hinter der kaum zurückgehaltenen Eindringlichkeit seiner Worte fast verschwand. Als Light kurzentschlossen eine Hand auf Ls Brustkorb legte und dessen unkontrollierten Herzschlag unter seinen Fingerspitzen spüren konnte, wagte er schließlich zu sagen: „Vertrau mir doch einfach. Das ist alles, was ich will.“

„Finde dich damit ab, dass das nicht möglich ist“, erwiderte L gleichgültig. „Ich mag dich, das stimmt“, sprach er die nächste Tatsache aus, als wäre es nur eine kühle Betrachtung, die keinerlei Emotionen benötigte. Während er seine Ausführungen fortsetzte, wurde er wieder zunehmend lauter und ungehaltener. „Aber diese Aussage muss dir vorerst reichen. Denn das ist nichts, was die Ermittlungen zu sehr behindert.“

„Was die Ermittlungen behindert?! Mehr gibt es für dich wohl nicht?“, setzte Light aufgebracht dagegen. „Ist das alles, was du in menschlichen Gefühlen und Vertrauen sehen kannst? Ein Hindernis für die Ermittlungen, eine Unzulänglichkeit des Menschen, nur eine bedeutungslose und erbärmliche Schwäche?!“ L wollte diese ganzen Unsinnigkeiten nicht hören und stieß den Jüngeren wiederum von sich.

„Du hast es erfasst, Light. In meiner Position kann ich mir keine Schwächen erlauben, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Es darf keine Rolle spielen, was ich für dich empfinde. Solange wir Kira nicht zweifelsfrei gefangen haben, gibt es keine Gewissheit für mich, dass ich dir vertrauen kann. Wie willst du mir auch einen Beweis für so etwas Schwammiges wie deine Zuneigung zu mir liefern? Sag mir das! Wie willst du mir das beweisen, wenn du...“

Weiter kam L nicht, denn in diesem Moment verlor Light die Geduld. Er packte L am Kragen, zog ihn zu sich und küsste ihn, noch bevor er sich über sein eigenes Tun richtig im Klaren war. Für einen kurzen Augenblick schmeckte Light etwas Süßes auf den unerwartet weichen Lippen seines Partners. Doch nachdem L seine Überraschung überwunden hatte, drückte er Light von sich.

„Was tust du da?“, fragte er misstrauisch. Da Light keine Antwort darauf hatte, stieß er L kurzerhand gegen die Wand in dessen Rücken und meinte bitter:

„Es ist doch sowieso nicht von Belang.“ Ohne darüber nachzudenken, hob er Ls Kinn an und zwang ihm einen erneuten Kuss auf. Dieses Mal fuhr Light mit seiner Zunge über dessen Unterlippe, doch der Andere ließ den Mund resolut geschlossen. Währenddessen ignorierte Light die Hände, die sich gegen seine Schultern drückten.

„Du kannst ni...“ Light nutzte die Gelegenheit, in der L seine Lippen zum Protest geöffnet hatte, und drang mit der Zunge in dessen Mund ein. Es war kein sanfter Kuss. Er schmeckte eher nach Verzweiflung.

Da sich für L noch kein logisches Konzept für die Gesamtsituation ergab, ließ er sich vorerst darauf ein, wenn auch zurückhaltend. Seine vormals abwehrenden Hände gruben sich in den gerippten Stoff des Oberteils. Er drängte Lights Zunge zurück, nahm dessen Geschmack wahr und erwiderte die sanfteren Küsse zwischen ihren kurzen Atemzügen. Es war im Moment der beste, vielleicht der einzige Weg, um mit dem rätselhaften Zorn umzugehen. Etwas zuzulassen, um zu sehen, was sich daraus entwickelte, das war eine der Devisen zur Erlangung von Erkenntnis. Fieberhaft überlegte L, welche Ambitionen sich hinter diesem merkwürdigen Verhalten versteckten. Glaubte Light ernsthaft, mit diesen Mitteln könnte er L von jener erwähnten Zuneigung überzeugen? Sollte das zutreffen, dann verbarg sich dahinter eine äußerst naive Hoffnung, die nicht zu der bisherigen Vorgehensweise Kiras passte. Doch vielleicht war genau dieses unpassende Verhalten die Antwort. Wollte Light durch sein Handeln Verwirrung in L stiften, um ihn von seiner wahren Identität abzulenken? Oder glaubte er, ihn auf diese ungewöhnliche Weise für sich zu gewinnen?

Wieder berührten sich ihre Zungen, bevor Light fordernd, aber nicht schmerzhaft in Ls Unterlippe biss und die Hand in dem schwarzen Haar vergrub.

Möglicherweise hatte Light aus der offensichtlich geringen Sozialkompetenz seines Partners auf dessen sexuelle Unerfahrenheit geschlossen und versuchte ihn mit dieser Tatsache zu verunsichern. Emotional war der Meisterdetektiv jedoch resistent gegen triebhaftes Verhalten, welches bisher nur äußerst bedingt seine Aufmerksamkeit erregt hatte, obwohl er keineswegs völlig unerfahren war, wie Light womöglich vermutete. Vielleicht bot sich hiermit für ihn eine Möglichkeit, die momentane Situation zu nutzen und seinen Verdächtigen mit dessen eigenen Waffen gegen sich selbst auszuspielen.

Doch diese Idee verflüchtigte sich, als Light unerwartet sein Knie zwischen Ls Beine schob. Der Druck gegen seinen Schritt ließ L für einen Moment scharf Luft holen, sodass er den Kuss unterbrechen musste. Eine Sekunde lang glaubte er, ein verschmitztes Lächeln auf Lights Gesicht zu sehen, bevor dieser sein Ohrläppchen zwischen die Zähne nahm und sanft daran knabberte.

Irritiert registrierte L, dass er angespannt war. Während er mit seinen Überlegungen beschäftigt gewesen war, hatte er die Reaktionen seines eigenen Körpers völlig außer Acht gelassen. Sein Herz schlug noch immer unkontrolliert, doch anstatt sich langsam zu beruhigen, verursachte das drückende Gefühl in seinem Brustkorb, dass sich seine Atmung beschleunigte. Er spürte eine Zunge an seinem Ohr und kurz darauf am Hals, weshalb er zurückweichen wollte, aber die Wand in seinem Rücken, gegen die Light ihn mit seinem eigenen Körper presste, verhinderte jegliches Entkommen.

„Hör auf“, verlangte L, noch bevor er die Worte zurückhalten konnte. Er war froh, dass man ihm in keiner Weise die Panik anhörte, die sich seiner zu bemächtigen begann und die er sich nicht erklären konnte.

Light jedoch ging nicht auf die Forderung ein, sondern fuhr mit seinen Fingern durch die schwarzen Haarspitzen, über Ls Hals, Schlüsselbein und Schultern, bis er mit den Handflächen über dessen Brustkorb strich, nur durch den Stoff des weißen Oberteils von der nackten Haut getrennt. Ein kalter Schauer lief durch Ls Körper, welcher sich verstärkte, als die fremden Finger flüchtig seine Brustwarzen streiften. Im Kontrast dazu breitete sich zunehmend eine Hitze in ihm aus, je fordernder Light seinen Oberschenkel zwischen seinen Beinen bewegte. Das entsprach weder Ls Erfahrungen noch seinen Berechnungen. Wäre es nicht Light gewesen, nicht dieser clevere junge Mann, der vom ersten Moment an sein Interesse geweckt hatte, mit dem er mental auf einer Wellenlänge war, sodass L oft wie am heutigen Tag glaubte, er könnte seine Gedanken lesen; wäre es nicht Light gewesen, den er in den letzten Wochen und Monaten gefährlich nah an sich herangelassen hatte, ein Partner, für den der Detektiv über seine Funktion hinaus eine Bedeutung hatte, sein erster und einziger Freund, der unbarmherzig genug war, ihn festzuhalten, niederzuringen und permanent mit sich selbst zu konfrontieren, und der ihn dennoch akzeptierte; wäre es nicht Light, seine Hände, seine Lippen, sein Atem, dann hätte sich L sicherlich besser im Griff, dann würde er jetzt nicht derart ungünstig reagieren, sein Herz und Verstand würden ihn nicht verraten.

Als L seine Gefühle zu analysieren versuchte, wurde ihm bewusst, dass seine Gedanken konfuse Richtungen einschlugen, die er nicht mehr zu steuern in der Lage war. Er konnte kaum klar denken.

„Hör auf damit!“

Mit aller Kraft stieß er Light von sich, die dunkel umschatteten Augen in Verwirrung geweitet, jeder einzelne Muskel noch immer verkrampft. Warum? Was war hier los? Hatte er das wirklich aus Kalkül zugelassen?

Auch Lights Körper bebte. Seine Atmung ging schwer, während er seinen Partner mit einem Blick festhielt, der tiefsten Ernst und eine Mischung aus Erkenntnis und Entsetzen in sich barg. Er biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe. Das Schweigen zwischen ihnen wurde nahezu unerträglich.

Endlich schlich sich ein kaum sichtbares, bitteres Lächeln auf Lights Gesicht.

„Würde Kira das tun?“, sagte er mit schwacher Stimme. „Das ist es doch, was du eben gedacht hast, nicht wahr?“

„Ja“, log L sofort. Der Detektiv konnte nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen, dass er in Wirklichkeit einen Moment zuvor absolut nichts mehr gedacht, sondern nur noch gefühlt hatte. Doch eines war ihm klar: etwas Schlimmeres hätte nicht passieren können.

Blind vor Sicht

Blind vor Sicht
 

Die aggressive Hitze, die vor wenigen Minuten noch durch Lights Körper zu wüten schien, hatte sich binnen kurzer Zeit in ebenso unangenehme Kälte verwandelt. Er hielt dem durchdringenden Blick des Meisterdetektivs stand, da Resignation und Zorn nach und nach die einzigen Quellen waren, aus denen sich Lights Sicherheit speiste. Was war geschehen? Warum erkannte er seine eigene Person, seine Gutmütigkeit und Selbstbeherrschung, nicht mehr in dem besitzergreifenden Wesen wieder, das er auf einmal geworden war?

Mit fester Stimme richtete Light seine folgenden Worte an seinen Partner.

„Es ist vermutlich völlig egal, was ich tue. Wenn du lange genug darüber nachdenkst, wird mein Verhalten immer irgendwie in das Bild passen, das du dir von mir als Kira gemacht hast.“

„Dafür gibt es in der Tat einige Erklärungsmöglichkeiten“, entgegnete L gleichmütig, „aber bei eingehender Betrachtung muss das alles in keiner Weise deiner Kalkulation Rechnung tragen. Wir haben schließlich bereits ermittelt, dass du dir jener Position aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bewusst bist.“

„Wir haben das ermittelt?“, fragte Light bitter. „Meine Mithilfe besteht für dich also in erster Linie darin, mich selbst als Fallstudie zu betrachten.“

„Ich habe nie etwas anderes behauptet.“

Anstatt sich erneut provozieren zu lassen, musterte Light seinen Partner eingehend. L machte mittlerweile den Eindruck, als sei er so gelassen und emotionslos wie immer. Es war noch nie leicht ersichtlich gewesen, ob L mit seinem Auftreten gezielt seine Umgebung zu täuschen versuchte oder ob er gar nicht in der Lage war, sich angemessen auszudrücken. Als Light jedoch seine Irritation und Aufgelöstheit beiseite schob und sich stattdessen ins Gedächtnis rief, wie der Andere auf seinen Übergriff reagiert hatte, gewann er mit der damit einhergehenden Erkenntnis auch ein Stück Zuversicht zurück. Ruhig, fast schon Ls Gelassenheit nachahmend, bemerkte Light:

„Wenigstens habe ich mal für kurze Zeit gesehen, dass auch du nur ein Mensch bist.“

„Wenn du das so interpretieren möchtest, dann habe ich dir ebenso als Fallstudie gedient, nicht wahr?“

Light antwortete mit einem Schulterzucken: „Insofern deine Reaktion als Beweis dienen kann.“

„Und um das herauszufinden“, fragte L abschätzig, „greifst du zu solchen Mitteln?“

„Sollte das zutreffen, dann habe ich mir wohl einiges von dir abgeschaut. Zumindest in Hinblick auf die Radikalität deiner Methoden.“

Nachdenklich kaute L auf einem seiner Fingernägel herum. Das Schweigen half beiden Männern, sich wieder vollständig zu akklimatisieren, bis Light schließlich offenbarte:

„Was viel eindeutiger ist, betrifft einen ganz anderen Beweis, Ryuzaki. Nämlich, dass ich gleichfalls nur ein Mensch bin.“

„Überraschenderweise“, fügte L trocken hinzu.

„Vielleicht haben mich die bisherigen Ereignisse mehr mitgenommen, als ich dachte. Die ganzen Anschuldigungen gegen mich, die Inhaftierung, meine permanente Überwachung und der Umstand, dass ich keine Sekunde allein sein kann“, beendete Light seine erklärende Aufzählung. Während er gesprochen hatte, war L auf ihn zugekommen, um nach der Fessel an dessen Handgelenk zu greifen, wobei er sich verhielt, als sei er noch immer auf der Hut. Dieses Mal hinderte Light ihn nicht daran, die Handschellen zu lösen. Seine Vorsicht missachtend blieb L vor seinem Partner stehen und starrte ihm direkt ins Gesicht.

„Dir sollte bewusst sein, Light-kun, indem du mich auf deine psychischen Belastungen hinweist, muss ich davon ausgehen, dass du womöglich doch von einem kalkulierten Handeln deinerseits ablenken willst.“

„Gilt das für dich nicht genauso?“, konterte Light sofort. „Du kannst mich mit menschlichem Verhalten täuschen. Aber damit kannst du nicht die Tatsache verschleiern, dass du dich gegen mich gleich von Anfang an zur Wehr hättest setzen können.“

„Selbstverständlich“, entgegnete L und verzog dabei sein Gesicht zu einem Lächeln, das merkwürdig, aber doch typisch für ihn war. „Und was sagt dir das über mein Motiv?“

„Dass du mich ausnutzt“, gab Light ohne Zögern zur Antwort und fügte dann nachdenklich hinzu: „Unabhängig von allen weiteren Beweggründen, die dahinter stehen, zeigt es mir, wie wenig dich die Mittel interessieren, wenn du ein Ziel erreichen willst. Ich bin noch immer dein Hauptverdächtiger. Du hast mir schon einmal gestanden, dass du jede Situation nutzt, die sich dir bietet, weil du sehen willst, was sich daraus ergibt.“

Ls Lächeln wurde breiter, während er gebannt lauschte und anschließend fragte:

„Welche Schlussfolgerung soll ich in diesem Fall also ziehen können? Was erfahre ich?“

„Gar nichts“, sagte Light entschieden und schüttelte dabei entschuldigend den Kopf. „Zugegeben, es ist mir peinlich, dass ich dir keinen tieferen Sinn für meine Aktion nennen kann, weil ich ehrlich gesagt nur aus Trotz gehandelt habe. Ich würde dir gern eine zufriedenstellendere Antwort geben, aber Fakt ist, dass ich einfach nur wütend war. Es hatte nichts zu bedeuten. Zumindest nichts, worüber sich eine Diskussion während der Ermittlungen lohnen würde.“ Light erschrak ein wenig darüber, wie leicht es ihm fiel, glaubhaft zu lügen.

„Deine Worte wirken entwaffnend“, stellte L fest. „Das passt zu deinem Charakter. Aber normalerweise offenbart man sich nur vorbehaltlos, wenn man jemanden dazu bewegen will, einen Angriff einzustellen, oder um ihn, womöglich sogar fälschlicherweise, in Sicherheit zu wiegen.“

„Übertreibst du nicht ein bisschen?“ Light verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte, stand allerdings der Situation mittlerweile ausgeglichen gegenüber. „Nicht jeder um dich herum ist dein Feind und versucht dich hinters Licht zu führen. Dir ist doch klar, dass du dich auch auf Andere verlassen können musst.“

„Light-kun...“ L legte den Kopf schief und einen Finger an die Lippen. „Du verwechselst Vertrauen mit Blindheit.“

„Und du bist durch deine Vorsicht schon fast blind für alles andere geworden, vielleicht sogar für dich selbst.“ Anstatt darauf einzugehen, zuckte L nur gleichgültig mit den Schultern. Er hatte bemerkt, dass Light seit seiner selbstgewählten Bloßstellung kurz zuvor das Thema beenden wollte. Es würde deshalb nichts Erhellendes mehr aus dem jungen Mann herauszubekommen sein. Das kam L sogar entgegen, weil er nicht gewillt war, noch weiter darüber zu diskutieren.

In einvernehmlichem Schweigen zogen sich beide um, machten sich für die Nacht bereit und blickten einander kein einziges Mal in die Augen, bis das Licht gelöscht wurde.

Aber die niemals schlafende Stadt Tokyo erhellte den Raum mit dem unnatürlichen Licht des ruhelosen Lebens draußen. Light schaute vom Bett aus auf die graugelben Schatten in der Dunkelheit, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte und darüber nachsann, wie viel und gleichzeitig wenig Menschen einander mitteilen konnten.

Es gibt Dinge, über die man besser nicht spricht, die man stumm versiegelt. Nicht aus Angst. Nicht, weil der Mut zum Sprechen fehlte. Manches Wort versteht man erst, wenn man es von den eigenen Lippen gehört hat. Solange es im Inneren verschlossen bleibt, besitzt es keine Gegenwart, keine Wirklichkeit. Erwachsene schweigen oft über Dinge, die zwischen ihnen stehen, weil sie sich ihrer bewusst sind. Das ist keine Ignoranz. Worte können manchmal nichts ändern, sie können nur verletzen und schmerzen und täuschen. Dagegen legt sich das Schweigen wie ein zwar trauriger, aber doch beruhigender Schleier über die Wahrheit. Das ist der Grund für jedes stumme und falsche Lächeln.

Light wusste, dass Reden sinnlos war, solange die Gespräche mit L ein Schlagabtausch blieben. Doch die Fragen in seinem Kopf verstummten nicht. Leise richtete er sich auf und sah zu L hinüber, der reglos und mit dem Gesicht zur Decke gewandt neben ihm lag.

„Wie viele Lügen würdest du zulassen?“, hörte Light sich flüstern, als L auf ihn aufmerksam geworden war. „Wie viel würdest du zulassen, Ryuzaki? Wie sehr würdest du dich selbst missachten? Wie weit würdest du gehen?“ Deutlich waren Ls schwarze Pupillen in dem blassen Gesicht zu erkennen. Light registrierte seine eigene sich hebende Hand in der Dunkelheit, wollte sie zurückhalten, wollte verhindern, dass sie das Haar des Detektivs berührte oder dessen ausdrucksloses Mienenspiel nachzeichnete. Light entglitt die Kontrolle über seinen Körper, im Schutz des schwachen Lichtes. Was tust du da? Im Schutz des schwachen Lichtes spürte er, dass er sich hinabbeugte. Es ist doch sowieso nicht von Belang. Dass er sich zu seinem Partner hinabbeugte, um ihm jede Flucht zu nehmen. Hör auf damit! Jede Flucht zu nehmen und ein Stück Menschlichkeit zu finden. Warum? Um ein Stück Menschlichkeit auf Ls Lippen zu finden.

„Wie viel wärst du bereit zu verlieren, um zu gewinnen?“

Abrupt und mit rasendem Herzschlag schreckte Light aus leichtem Schlaf hoch und kam langsam wieder zu sich. Er beruhigte seinen Atem, während er mit schweißnassen Händen über seine Stirn fuhr. Leise richtete er sich auf und sah zu L hinüber, der reglos und mit dem Gesicht zur Decke gewandt neben ihm lag.
 

„Ich schätze, sie merken selbst, wie ernst es langsam wird.“ Aiber setzte ein amüsiertes Lächeln auf und schob nonchalant eine Hand in die Tasche seiner Bügelfaltenhose. „Sonst hätten mich die Herren von Yotsuba nicht so eilig ins Boot geholt. Sie denken vermutlich, indem sie mich involvieren, würde ich mich ebenso belasten. Dabei hegen sie keinerlei Verdacht gegen mich. Ihre einzige Sorge, wenn überhaupt, gilt im Moment nur der Authentizität von Yoshida Productions. Es wird ein Leichtes sein, sie mit unserer kleinen Inszenierung in die Irre zu führen.“

„Ich bin froh, das von Ihnen zu hören“, gab L zurück, während er sich auf einen Teller voller Sata Andagi konzentrierte. In jeder Hand ein Essstäbchen beschäftigte er sich damit, die Pfannkuchenbällchen umständlich in ihre Einzelteile zu zerlegen.

„Mir ist wichtig, noch einmal zu betonen“, mischte sich Herr Yagami ein, „dass ich mit dem jetzigen Vorgehen nicht einverstanden bin. Zwar habe ich noch keine Alternative für die Ermittlung gefunden, aber es scheint mir nicht richtig zu sein, dass wir trotz unseres derzeitigen Wissensstands in Kauf nehmen, dass Kira weiter mordet, auch wenn es sich dabei um Verbrecher und nicht um Unschuldige handelt. Falls wir jetzt eingreifen, könnten wir das vielleicht verhindern! Ist das nicht eigentlich unsere Pflicht?“

„Es steht außer Frage, dass ich Sie für dieses Pflichtbewusstsein achte, Yagami-san.“ L spießte einen Pfannkuchen mit dem Essstäbchen auf und starrte ihn an. „Aber im Gegensatz zu Ihnen kann ich nicht meine logischen Fähigkeiten hintergehen und mir vormachen, dass ein sofortiger Zugriff die beste Lösung wäre. Auf diesem Weg würden wir es nicht schaffen, Kira festzunehmen. Weitere Menschen müssten sterben, wahrscheinlich sogar viel mehr, als wenn wir jetzt ein paar Opfer zulassen.“

„Das ist doch völlig kalkuliertes Denken!“, entgegnete Herr Yagami aufgebracht. „Ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“

„Aus diesem Grund arbeiten wir ja auch in unterschiedlichen Teams.“ Vorsichtig schob L mit dem zweiten Essstäbchen den Teigball vom ersten herunter, ohne dabei ein weiteres Loch hineinzubohren. „Sie müssen sich nicht mit etwas belasten, das in meiner Verantwortlichkeit liegt.“ Der Detektiv nahm die beiden Stäbchen unerwartet geschickt in die rechte Hand und beförderte mit schnellen Bewegungen die zerlegten Stücke der Sata Andagi in seinen Mund. Herr Yagami warf einen Blick zu seinem Sohn, der schon geraume Zeit reglos neben L auf einem Stuhl gesessen hatte, eine Tasse Kaffee festhaltend und mit einem Ausdruck im Gesicht, der nichts über seine Gedanken verriet. Seufzend wandte sich der ehemalige Polizeichef ab.

Auch wenn sich Light einer weiteren Diskussion fernhielt, verstand er die Zweifel seines Vaters sehr gut. Niemand konnte leugnen, unter welchen Gesichtspunkten die Sonderkommission häufig arbeitete: indem Menschenleben verrechnet wurden, als wären es nur bedeutungslose Zahlen. Aber Light war zugleich bewusst, dass sie eingeschränkt vom engen Rahmen ihrer Moralvorstellungen nicht vorankommen konnten, sobald sie sich in einer Situation wie der jetzigen befanden. Nur L war in der Lage, auf diese fast kaltblütige Weise zu agieren. Darum konnte im Moment auch nur L ein Gegner für Kira sein.

Light beobachtete den Detektiv dabei, wie er seinen leeren Teller beiseite schob und stattdessen den Verschluss zweier großer, bunt gefüllter Bonbongläser abschraubte, die vor ein paar Minuten noch nicht dort gestanden hatten und von denen Light nicht wusste, woher sie stammten. Mit Hilfe der Essstäbchen holte L einen roten Bonbon aus dem einen Glas und warf ihn in das andere. Im Gegenzug wanderte ein grüner Bonbon von dort zurück in das erste Glas. Konnte wirklich nur L ein Gegner für Kira sein? Light merkte, dass er diese Frage aufgrund ihrer Unsinnigkeit stets unterdrückte. Es war lächerlich, sich darüber Gedanken zu machen, schließlich hatte er als jüngstes Teammitglied bereits bewiesen, wie wichtig seine Mitarbeit war. Allerdings erinnerte sich Light zugleich daran, warum er vor seiner Inhaftierung überhaupt erst mit eigenen Ermittlungen begonnen hatte, denn die Motive dafür wiesen so viele Facetten auf wie sein Standpunkt zu der jetzigen Partnerschaft. Kiras Widerpart trug nun einmal den Namen L und nicht Light.

Mittlerweile füllte sich das linke Glas zunehmend mit gelben und grünen Bonbons, wohingegen im rechten Glas die Anzahl an roten und orangefarbenen Süßigkeiten stieg. Einige Male schloss L die Gläser wieder und schüttelte sie, um die unteren Bonbons mit den Stäbchen besser zu erreichen. Light hob den Blick und ließ ihn kurz durch den Raum schweifen, um festzustellen, dass niemand der noch Anwesenden die Aufmerksamkeit auf die beiden jungen Männer richtete, bevor er zu dem Detektiv leise sagte:

„Du versuchst es mir leicht zu machen, nicht wahr?“ L schaute nicht zu ihm auf, während er weiterhin die Bonbons nach Farben sortierte und mit tonloser Stimme wissen wollte:

„Was meinst du, Light-kun?“

„Das weißt du ganz genau, Ryuzaki. Deine Erpressung. Du zwingst mich, in deinem Team mitzuarbeiten, weil ich Misa gegenüber eine Verantwortung trage. Ich habe zwar gestern gesagt, das wäre hinterhältig von dir, aber ich muss zugeben, dass es kaum einen anderen Weg gibt. Allein hätte ich mich nie für diesen Plan entschieden.“ Nachdenklich starrte Light in das Schwarz seiner Kaffeetasse und die darin reflektierten Neonröhren, die in der Flüssigkeit wie verzerrte Irrlichter wirkten. „Du behandelst mich wie meinen Vater. Er wird von dir in ein anderes Team abgeschoben und auf mich übst du Druck aus, sodass ich gar nicht anders kann, als deinem Plan zu folgen. Doch in beiden Fällen verschaffst du uns damit eine Entschuldigung.“

„Soll das ein Vorwurf sein?“

„Nein“, antwortete Light sofort und legte dabei umsichtig eine Hand an Ls Arm, da der Detektiv ihn nach wie vor nicht ansehen wollte. Nun endlich wandte dieser sich dem Jüngeren zu. Light wollte verhindern, dass er durch zu langes Überlegen wieder nur inkonsequent schwieg, und fuhr deshalb gleich mit Nachdruck fort: „Ganz im Gegenteil. Du gibst uns mit deinem dem Anschein nach egoistischen Vorgehen schließlich die Möglichkeit, nicht willentlich gegen unsere Moral verstoßen zu müssen. Immer, wenn ich genug Zeit habe, mir deine Handlungsweisen durch den Kopf gehen zu lassen, Ryuzaki, dann merke ich schnell, dass du ständig die Schuld auf dich nimmst. Sobald mir das auffällt, kommt es mir dumm vor, dir Vorhaltungen gemacht zu haben, und ich wünschte, du würdest deine eigene Person nicht so nachlässig benutzen, ohne auf dich Acht zu geben.“

„Pass auf, dass du mich nicht idealisierst“, warnte L kühl.

„Ich glaube, du solltest besser aufpassen, dich nicht selbst so unvorsichtig ins Feld zu führen. Sonst kommt man noch auf die Idee, deine Grenzen auszutesten.“

„Ist das eine Drohung?“

Seinen Griff lösend schüttelte Light den Kopf und meinte:

„Du weißt, dass ich dir das als Freund sage.“

Einen langen Moment starrte L in die Augen des Anderen und schien ihn zwingen zu wollen, den Blick zu senken. Doch Light wartete ruhig ab, bis L schließlich eines der Bonbongläser zu sich heranzog, mit den Stäbchen einen gelben Bonbon hervorholte und ihn vor den Jüngeren auf den Tisch legte. Während dieser Prozedur sprach L in gelassenem Tonfall:

„Ein echter Spieler spielt nicht in erster Linie für den Gewinn, sondern für das Spiel. Ein Schachbrett beispielsweise ist wie ein Schlachtfeld. Der Spieler weiß, welche Figuren er beschützen und welche er opfern muss. Der unbedeutende Bauer versteht nichts vom Ziel des Krieges. Er denkt sogar, der König habe die Kontrolle über den Kampf. Aber ist es wirklich der König, der lenkt und entscheidet?“

Light betrachtete den Bonbon, der ihm von L offenbar geschenkt worden war. Er umfasste weiterhin reglos seine Kaffeetasse, während er nicht auf die gestellte rhetorische Frage einging, sondern lediglich zuhörte.

„Der König ist nur der Beweis dafür, wer gewinnt und wer verliert. Obwohl seine Handlungen derart eingeschränkt sind, hat er doch eine essenzielle Aufgabe im Spiel: er dient als Köder. Auf ihn richten sich alle Angriffe. Weil mit dem König alles steigt und fällt, ist er die Darstellung des Spielers auf dem Schlachtfeld, welcher sich quasi selbst ohne Rücksicht benutzt. Wird der König gestürzt, bedeutet das nur eine Niederlage unter vielen. Es werden neue Spiele kommen und neue Spieler. Der einzelne Sieg hat darunter keine Bedeutung. Solange es Menschen gibt, werden immer Kriege geführt.“

Nach langem Schweigen hob Light abwesend seine Tasse an die Lippen. Doch der Kaffee war längst kalt geworden. Aus diesem Grund nahm der junge Ermittler die gelbe Süßigkeit vom Tisch und schob sie sich in den Mund, um den bitteren Geschmack zu überdecken.

Opfer

Opfer

 

Seit dem Vorfall zwischen dem Detektiv und seinem sowohl Hauptverdächtigen als auch wichtigsten Mitstreiter hatten die beiden jungen Männer das Thema ihrer unerwarteten Konfrontation lediglich flüchtig, niemals direkt angesprochen. Sie hatten nicht darüber gesprochen, warum Light seinen Partner derart bedrängt und warum dieser wiederum sich nicht gewehrt hatte. Solange keiner ein Wort darüber verlor, herrschte Gleichstand. Solange sie schwiegen, war niemand im Vorteil und niemand bereits Verlierer. Entgegen aller Erwartungen war jenes Stillschweigen nicht erzwungen. Auch sonst schien sich nichts geändert zu haben.

Light wusste nicht, ob L überhaupt Gedanken daran verschwendete. Wenn der Detektiv die Situation tatsächlich für seine Ermittlungsarbeit ausnutzen wollte, dann ergriff er zumindest nicht selbst die Initiative, sondern wartete die weitere Entwicklung ab. Derweil musste sich Light darüber im Klaren werden, wo die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verlief und welche seiner Emotionen lediglich aus Unzufriedenheit und Anspannung entsprungen waren. Immerhin sollte ihm eine Reflexion darüber, wie er, zurückgekehrt in die Normalität, handeln würde, zurzeit nicht möglich sein. Allerdings blieb es genauso fragwürdig, ob Light den Abschluss der Ermittlungen abwarten konnte. Ebenjene Ermittlungen hatten ihm schließlich erst derart zugesetzt, dass er im Umkehrschluss durch emotionale Instabilität seine Arbeit gefährden konnte.

Ein fremder Finger legte sich plötzlich an seine Stirn und fuhr mehrmals mit leichtem Druck bis zum Haaransatz, als sollte damit etwas weggewischt werden. Light war nur innerlich, in seiner Selbstbeherrschung nach außen nicht sichtbar, erschrocken und wandte seine Aufmerksamkeit von der Stadtkulisse ab und seinem Partner zu. Geraume Zeit hatte der junge Student in gerader Haltung, mit den Händen in den Taschen seiner Stoffhose, vor dem Fenster verharrt und gedankenversunken hinaus gestarrt, bis sich L dazugesellt und ihn aus ebenjenen Gedanken gerissen hatte. Jetzt stand der Detektiv mit gekrümmtem Rücken und erhobenem Arm vor ihm, um die Falten auf Lights Stirn zu glätten.

Stets zwischen Naivität und Allwissenheit schwankte der Ausdruck in Ls Gesicht, wenn er seine Mitmenschen mit leer wirkenden Augen untersuchte, um mehr deduzieren zu können, als man aus seiner eigenen Person zu lesen imstande war.

„Hast du Lust“, fragte L, „auf ein Spiel?“

Er hielt mit spitzen Fingern für einen kurzen Moment eine Spielfigur in die Luft, eine Schachfigur, wie Light zu erfassen meinte. Bevor er es allerdings genau erkennen konnte, hatte sich L bereits abgewandt und ging voran, ohne auf eine Antwort zu warten.

Nach wenigen Sekunden der Irritation folgte ihm Light. Obwohl er mittlerweile zu wissen glaubte, dass es sich vermutlich in der Tat um eine Schachfigur handelte, wusste Light nicht mit Sicherheit, welche Figur L in der Hand hielt. Vielleicht war es ein König. Vielleicht aber auch nur ein Bauer.

 

Leise raschelten die Dokumente, als der einstige Oberinspektor Yagami sie niederlegte, nachdem er das bedruckte Papier eine geraume Zeit nur noch angestarrt hatte, ohne die Informationen ein weiteres der bereits zahllosen Male zu lesen. Er wusste um den Inhalt Bescheid. Er kannte alle Fakten zum jetzigen Stand des Falles, genauso wie ihm das unwegsame Terrain klar war, auf dem sich die Sonderkommission bewegte, sodass es vor kurzem sogar zu einer Spaltung des Teams gekommen war.

„Wie kommst du voran, Vater?“ Light schaute besorgt zu ihm hinüber und vergaß dabei für einen Moment die Partie Schach, die zwischen ihm und L auf dem Tisch aufgebaut war.

Herr Yagami begegnete dem Blick seines Sohnes nur für einen kurzen Moment. Dann seufzte er verhalten, nahm seine Brille ab und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die angespannte Nasenwurzel. Anstatt verbal eine Antwort zu geben, machte er nur eine unbestimmte, wegwerfende Handbewegung. Um ihn nicht weiter unangenehm zu bedrängen, betrachtete Light seinen Vater schweigend und mit einem fast hilflosen, obzwar aufbauend gemeinten Lächeln, bevor er sich wieder dem Spiel zuwandte.

Die beiden jungen Ermittler führten ihre Schachzüge sehr rasch aus, als wollten sie kaum Überlegungen investieren. Dennoch waren die Paraden brillant. Herr Yagami lehnte sich im Sessel zurück und folgte der Partie mit halber Aufmerksamkeit. Jemand hatte im Raum eine Musikanlage eingeschaltet, aus welcher die improvisierte Melodie einer einzelnen Gitarre erklang, um das penetrante Surren der elektronischen Geräte zu übertönen.

„Noch habe ich mich nicht für eine Verhaftung entschieden“, gab plötzlich Herr Yagami nachdenklich zu. Als er sich der Formulierung seiner Aussage bewusst wurde, senkte er betreten die Lider und lockerte ein wenig den Knoten seiner Krawatte, bevor er sich korrigierte: „Das heißt, derzeitig bin ich selbstverständlich kein Polizist mehr.“ Light versuchte den Schmerz in den Worten seines Vaters nicht an sich heranzulassen. Dennoch hörte er ihm aufmerksam zu. „Es fällt mir schwer, dieses Denken abzulegen. Gewohnte Bahnen zu verlassen ist wohl besonders schwierig, wenn man die eigene Arbeit nicht nur als Beruf, sondern vor allen Dingen als Berufung auffasst. Aber immerhin habe ich noch die Möglichkeit, auf indirektem Weg die sieben Verdächtigen festnehmen zu lassen.“

„Werden Sie es tun?“, fragte L und hielt mitten in der Bewegung inne, sodass der Läufer zwischen seinen Fingern einige Sekunden lang über dem Schlachtfeld schwebte. „Ich werde Sie nicht davon abhalten, Yagami-san, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie das Richtige tun. Aber ich habe nicht vor, die Verantwortung dafür zu übernehmen.“

„Und was ist mit der Verantwortung den Gefängnisinsassen gegenüber, die jetzt in Gefahr schweben?“, konterte der Ältere. „Sie sind nicht anonym. Können wir uns von der Schuld freisprechen, wenn einer von ihnen aufgrund unserer Vorgehensweise im nächsten Monat stirbt?“

L tauschte mit einer Hand seinen Läufer gegen einen von Lights Türmen und stellte die gegnerische Spielfigur an den Rand des Feldes. Gleichgültig ließ er verlauten:

„Ist es etwa richtig, sich in ethischen Normen zeitnah zu orientieren? Müssen wir uns nur auf den nächsten Schritt konzentrieren, wobei wir vor dem Rest des Weges die Augen verschließen? Mit der Festlegung unserer Grundsätze ist Ethik zwar sowieso auf die Zukunft ausgerichtet, aber was ist, wenn wir damit, dass wir jetzt ein paar Personen schützen, weit mehr Menschen opfern, die später folgen werden? Verstehe ich das also korrekt, wir sollen uns nicht schuldig machen für die nächstliegenden Opfer, denn wer danach stirbt, fällt nicht mehr in unseren Verantwortungsbereich?“

„So habe ich das nicht gemeint!“ Die Empörung des einstigen Polizeibeamten wurde nur von seinem Schrecken über jene gefühllosen Worte gedämpft. „Vielleicht hört es mit der Verhaftung der sieben ja auf und es gibt gar keine weiteren Opfer, an denen wir schuld sein könnten.“

„Glaubst du das denn, Vater?“, mischte sich nun Light ein. „Bei unseren bisherigen Erfahrungen mit Kira, glaubst du, dass es durch eine Inhaftierung einfach aufhören würde? Wir haben nicht einmal stichhaltige Beweise, um die Leute von Yotsuba lange festzuhalten.“

Herr Yagami beugte sich nach vorn und stützte in sitzender Haltung die Ellbogen auf seine Knie, während er die Hände ineinander verschränkte.

„Natürlich hoffe ich einfach nur auf das Beste“, räumte er ein, „obwohl mir mein Verstand sagt, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen wird. Trotzdem kann ich nicht anders, als ein Vorgehen kategorisch abzulehnen, bei dem Menschen geopfert werden, die bereits ziemlich real sind.“

„Ah, so ist das“, warf L in gespielt unschuldigem Verstehen ein. „Wir haben es jetzt mit Individuen zu tun, nicht mit unbekannten zukünftigen Menschen. Das sind bewusste und bekannte Größen, logisch. Wenn ein Mensch stirbt, ist es tragisch, nicht wahr? Aber wenn Tausende sterben, ist es bloß Statistik.“

„Ryuzaki!“ Light stieß mit dem Pferd einen von Ls Bauern unbeabsichtigt heftig von der Kante des Schachbretts. Schnell stellte er ihn wieder auf, um ihn bei den anderen gestürzten Figuren einzureihen. „Du weißt genau, dass man das nicht pauschalisieren kann. Sogar Grundsätze lassen sich im derzeitigen Fall nicht problemlos festmachen. Wenn du anders denken würdest, hättest du nicht zugelassen, dass sich zwei Teams bilden, dann würdest du all dem Einhalt gebieten. Aber dir ist klar, dass niemand hier im Recht sein kann. Eigentlich vertrittst du doch dieselbe Meinung wie mein Vater, bloß unsere Prioritäten sind verschieden, weil wir ein späteres Ziel verfolgen.“

L starrte, während sein Kollege sprach, mit weit aufgerissenen Augen nachdenklich durch die gegenüberliegende Sessellehne hindurch. Ohne seinen fixierten Blick zu lösen antwortete er nach kurzer Stille monoton:

„Das ist die Schwierigkeit beim Wechsel vom theoretischen Grundsatz zur Praxis. Von dem Punkt, wie etwas ist, darauf zu schließen, wie es sein sollte.“

„Quasi ein naturalistischer Fehlschluss“, fügte Light nickend hinzu. „Kira tötet mit unserem Wissen weiterhin Menschen, darum müssen wir ihn jetzt daran hindern; das ist es, was uns die Moral scheinbar vorgibt. Unsere erste Prämisse hat aber keinen moralischen Wert, weshalb daraus eigentlich keine Norm abgeleitet werden kann. In Japan gibt es die Todesstrafe, wir finden es demnach nicht per se moralisch verwerflich, Verbrecher zu töten. Was wir hingegen nicht akzeptieren können, ist eine vom Staat unabhängige Exekutive. Die meisten Bürger fällen kein Urteil aufgrund komplizierter syllogistischer Gleichungen, sondern lediglich nach Gefühl. Böse Menschen dürfe man nicht töten, das wäre aus der kommunizierten Norm heraus die richtige Ansicht. Nur aufgrund dessen, dass bestimmte Abläufe in der Welt aus der Natur der Sache heraus und somit auch in unserem eigenen Handeln stets gleich ablaufen, bedeutet das nicht, dass es auch in Zukunft so sein wird.“

„In den meisten Bereichen denken wir aber nicht anders“, ergänzte L. „Wir sondieren, was wir stetig beobachten, und meinen, daraus Regeln ableiten zu können, als würde alles ausnahmslos seinen Bestimmungen folgen. Darum kommt es umgekehrt in Argumentationen oftmals zu der Verwirrung von positivem Recht und ethischer Norm, weil Grundsätze nicht leicht zum starren Gesetz formuliert werden können und einige nicht zwischen dem unterscheiden, was sie für richtig halten, und dem, was Recht ist. Trotz einer emotional eingestellten Moral brauchen wir die Theorie, die dem Gerechtigkeitsgefühl einen klaren begrifflichen Rahmen gibt.“

„Ich würde es eher“, meinte Herr Yagami mit einem Anflug von ungewohntem Sarkasmus in der Stimme, „intellektuelle Schizophrenie nennen.“

Wieder nickte Light und stimmte mit dieser Geste seinem Vater zu, bevor er sagte:

„Es ist nun einmal leichter, an die Konsequenzen dessen zu denken, was wir tun, als an die Konsequenzen dessen, was wir nicht tun.“

In dem daraufhin entstehenden einvernehmlichen Schweigen streckte L die Hand aus, um seinen König in Bewegung zu setzen.

 

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Kira als Instanz über all den bisher aufgetretenen Verdächtigen schwebte? Light versuchte sich auf die Frage zu konzentrieren, während sein Ermittlungspartner halbnackt neben ihm stand. Mit unbedecktem Oberkörper hatte sich L vor dem Schrank positioniert und hielt in seinen ausgestreckten Armen zwei weiße T-Shirts. Es war spät am Abend. Light hatte sich schon für die Nacht fertig gemacht. Normalerweise benötigte auch L nie so viel Zeit zum Umziehen.

Vielleicht kontrollierte Kira uneingeschränkt fremde Menschen ohne ihr Wissen, sowohl Light und Misa als auch die Mitglieder von Yotsuba. Dann wäre der Mörder selbst noch nie in Erscheinung getreten. Angestrengt starrte Light auf den Boden vor seinen Füßen, um den Gedanken nicht zu verlieren, wobei er im Augenwinkel zugleich bemerkte, wie L den Verschluss seiner Jeans öffnete, die ihm nur locker auf der Hüfte saß.

Es war nicht einmal nötig, dass Kira einen Einfluss auf Yotsuba ausübte. Wenn er in der Lage war, die Sitzungen der Geschäftsleitung mitzuverfolgen, dann hätte er die Morde ohne deren Zutun durchführen können, um zum Beispiel das Ermittlungsteam in die Irre zu führen. Passte dieses Vorgehen zu Kira? Seine ungesunde Haltung gab dem Meisterdetektiv L stets etwas Geisterhaftes, Spinnenartiges, aber auch Unbedarftes. Dieser Eindruck wurde von seinem geringen Gewicht verstärkt, obwohl seine körperliche Konstitution keineswegs schwach oder zerbrechlich wirkte.

Light seufzte still. Er nahm sich vor, am nächsten Tag, wenn Misa und Aiber ihre Vorführung bei Yotsuba gaben, noch einmal die Morde zu überprüfen, die vor und nach seiner Inhaftierung verübt worden waren. Sofort nach dem Aufwachen würde er sich mit dieser Angelegenheit beschäftigen. Vorausgesetzt, er konnte in dieser Nacht endlich wieder durchschlafen.

 

Light öffnete die Augen. Die Bilder des eben erlebten Traumes waren bereits verblasst. Trotzdem befand er sich in jenem Stadium des halben Deliriums, das ebenso dem Schlaf zugehören konnte. In liegender Position sah er eine Zimmerdecke, die ihm im ersten Moment fremd erschien, doch gleich darauf vertrauter vorkam als viele andere Umgebungen, die er in seinem bisherigen Leben als Zuhause bezeichnet hatte. Ein heißer, dann kalter Schauer glitt von seinem Nacken aus über seinen gesamten Körper und verbreitete in ihm ein merkwürdiges Gefühl, das er anfangs nicht einzuordnen vermochte. Bruchstückhaft kehrten die Illusionen und Wahrheiten seines Traumes zurück. Noch im Bewusstwerdungsprozess wanderte Lights Blick ziellos hinab.

„Verdammt!“, zischte er erschrocken, richtete sich sofort auf, um sich zu erheben und zu gehen, ohne Klarheit darüber, wohin dieses Weggehen ihn bringen sollte. Da wurde die Bewegung abrupt von der Kette an seinem Handgelenk aufgehalten. In seinem Vorhaben erstarrt blieb Light reglos auf dem Bettrand sitzen, bis die Erkenntnis, dass er nicht einfach entkommen konnte, sich langsam mit seiner Vernunft vereinbaren ließ.

Jeder weggetretene Zustand, der dem Schlaf ähnelte oder sich ihm näherte, stahl dem Menschen die Kontrolle über sich selbst. Es war ein Zustand der Enthemmung, bei dem Imaginationen viel zu leicht in der Lage waren, Einfluss auf den Verstand zu nehmen. Und auf den Körper.

Während Light diesen Gedanken verdrängte, versuchte er sich daran zu erinnern, ob der Ruck in den Handschellen von einer entgegensetzten Kraft herrührte oder nur von dem durch die Reichweite der Kette hervorgerufenen Widerstand. Er fragte sich, ob L hinter ihm hockte, die Metallfessel mit der Faust umschlossen und erwartungsvoll seinen Rücken anstarrend, um auf eine Reaktion zu warten. Konnte L es vielleicht nicht bemerkt haben?

Langsam atmete Light aus. Er entspannte seine Schultern. Weder mit Überlegungen noch mit abgekehrter Regungslosigkeit ließ sich die Situation lösen, die ohnehin nur für ihn aufgrund seiner eigenen Aufgewühltheit zum Problem geworden war. In nunmehr ausgeglichener Verfassung drehte sich Light um und begegnete sogleich dem tiefschwarzen Augenpaar des Detektivs. Dieser saß, das eine Bein angewinkelt, das andere locker gestreckt, ruhig auf dem Bett und schaute stumm zurück. Nach einem kurzen Moment lehnte sich L gegen die Wand in seinem Rücken. Anstatt seinen jungen Partner musterte er nun unaufdringlich seine nackten Füße.

„Ich habe schlecht geschlafen“, meinte Light mit relativ ausdrucksloser Stimme, ohne von L zum Reden animiert worden zu sein.

„Ich weiß“, antwortete dieser in sanfter Geduld. Dabei fing er an, abwesend mit dem Daumen über seine Unterlippe zu streichen. Light wandte den Blick ab. Die Digitalanzeige seines Weckers zeigte an, dass es kurz nach vier Uhr war. In letzter Zeit wachte er häufig zu dieser Stunde auf, obwohl er nicht behaupten konnte, ständig von Alpträumen geplagt zu werden. Es waren keine Alpträume.

Als könnte er die Gedanken des jungen Mannes lesen, sagte L in die Stille der Nacht hinein:

„Nicht nur Menschen, sondern auch viele andere Tiere verarbeiten im Schlaf die Erlebnisse des Tages, den gesamten Input des Gehirns. Hierfür werden die seichten Schlafphasen, besonders die REM-Phase benötigt, ebenso wie der Tiefschlaf, welcher der Regeneration des Körpers dient. Unter den Träumen ist ein gewisser Prozentsatz zu verzeichnen, der von den meisten Leuten als schlecht und weniger erholsam beschrieben wird. Die Anzahl von Alpträumen liegt bei dir, Light-kun, soweit ich das beobachten konnte, im normalen Bereich, wenn nicht sogar unter dem Durchschnitt. Bereits während der Überwachung in deinem Elternhaus habe ich feststellen können, dass du einen normalen und gesunden Schlaf hast.“

Im Laufe seiner Ausführung wirkte L kein einziges Mal so, als würde er Light mit seiner Aufmerksamkeit bedrängen. Es schien eher, als hielte er sich diskret zurück. Light wiederum hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht, während er zuhörte. Müdigkeit ließ seine Augenlider schwer werden, lastete auf seinen Schultern, wirkte jedoch auch, ähnlich wie die tiefe Stimme seines Freundes, besänftigend auf seinen Geist.

„Du hast mich im Schlaf beobachtet?“, wollte Light zur Hälfte rhetorisch wissen, da er zwar an einer Antwort interessiert war, allerdings ohne noch länger emotional geplagt zu sein.

„Habe ich das nicht eben gesagt?“, fragte L und sah dabei endlich auf.

„Entschuldige, es ließe sich so auslegen, als könnte auch ein anderer Ermittler die Observation übernommen haben.“

„Nein, die meiste Zeit habe ich die Überwachung durchgeführt, obwohl dein Vater und Watari ebenfalls beteiligt waren“, erklärte L und rutschte tiefer in die Laken hinein, bevor er sich im Liegen zur Seite drehte. Ein paar wirre Haarsträhnen fielen ihm dadurch über die Augen und legten eines seiner Ohren frei. L strich das Haar zurück, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass sein Ohr vollständig bedeckt war. Mehrmals überprüfte er, ob auch kein Stück seiner Ohrmuschel hervorlugte. „Watari hat durchaus einen Hang zur Perfektion“, räumte L ein. „Er kann sehr penibel sein. Aber ein Perfektionist zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er perfekt ist, sondern dass er perfekt sein will. Wataris Aufnahmefähigkeit ist nicht mit der meinen vergleichbar. Mir fallen Abweichungen möglicherweise eher auf als ihm.“

„Und du hofftest, diese Abweichungen bei mir zu finden, weil ich mich im Schlaf weniger kontrollieren und somit leichter verraten könnte“, folgerte Light nüchtern, als ginge es um eine fremde Person. „Schließlich ist es nahezu unvorstellbar, wenn jemand dermaßen viele Opfer zu verzeichnen hat wie Kira, dass man ihm dann keinerlei Mitleid, Reue oder ähnliches anmerkt, und sei es bloß durch einen unruhigen Schlaf.“

„Außer, er kann perfekt schauspielern“, fügte L nickend hinzu, „oder er ist ein Soziopath.“

Lights Augenbrauen zuckten kurz bei diesen Worten. Er starrte vor sich auf die Bettdecke, wollte den Kopf nicht heben, wollte nicht dem eindringlichen Blick des Meisterdetektivs begegnen, den er konzentriert auf sich spürte oder zumindest zu spüren glaubte, um auch noch die geringste verdächtige Abweichung in seinem Verhalten zu erkennen. Light war bewusst, wie deutlich seine Mimik verraten musste, dass er durch Ls Aussage verletzt worden war, obwohl es dafür keinen Grund gab und er sich mit diesem Gefühl seine Schuldigkeit eingestanden hätte. Gleichermaßen wusste er, dass L diesem Gesichtsausdruck nicht glauben würde. Er würde es für Täuschung halten. Aus jedem Schweigen glaubte Light die Zweifel seines Freundes zu vernehmen: Spielst du mir nur etwas vor? Versuchst du mich hinters Licht zu führen? Würdest du mich verraten?

Light konnte diese Vorhaltungen nicht entkräften. Niemand konnte einen misstrauischen Menschen vom Gegenteil überzeugen. Außerdem ließ eine weitere Gewissheit Schuldgefühle in Light aufsteigen, für die es eigentlich keinerlei Notwendigkeit gab. Der einstig erfolgreiche Schüler, nun angesehene Student aus gutem Haus, der stets in allen Bereichen herausragende Leistungen zu bringen pflegte, zeigte seine momentane Gefühlslage nur deshalb so offensichtlich, weil er seinem Freund gegenüber ehrlich sein wollte. Das änderte jedoch, wenn er ehrlich war, nichts an der Tatsache, dass er seine Emotionen genauso einfach hätte verbergen können.

Light heftete seinen Blick auf die vom schwachen Licht der Nachttischlampe beleuchteten Wände, während er sich auf seiner Seite des Bettes auf den Rücken legte, daraufhin die Arme hinter dem Kopf verschränkte und an die Decke starrte.

„Zu den möglichen Erklärungen, warum du nicht einmal zum Schlafen deine Barrikade außer Acht lässt“, mutmaßte er dann, „gehört also neben der Angst vor einem potenziellen Soziopathen mit Gedächtnisverlust auch die Chance auf eine fortlaufende Beobachtung eines Mörders, der sich durch irgendein Verhalten verraten könnte. Anfangs kam es mir noch so vor, als kollidierte deine vermeintliche Sorge um deine eigene Sicherheit mit deiner Selbstaufopferung. Wenn ich dagegen jetzt darüber nachdenke, ergibt plötzlich vieles einen Sinn.“

„Tut es das?“, fragte L und gähnte desinteressiert. Unter den inneren Frieden, den Light oftmals durch die beruhigende Art seines Freundes verspürte, mischte sich das Verlangen, auf Konfrontationskurs zu gehen. War er unbewusst in einer gereizten Verfassung? Wollte er sich mit seinem Freund messen? War das, was unterschwellig in ihm aufstieg, eine Form ungewisser Rivalität?

Light erinnerte sich daran, dass L ihn erst vor kurzer Zeit gefragt hatte, ob er mit seinen Aussagen zugleich Drohungen aussprechen wollte. Zwar konnte Light nicht einmal sich selbst gegenüber eine Antwort darauf geben, doch stand für ihn derweil die Frage im Mittelpunkt, ob L ihn seinerseits herausforderte. Seinen Mut zusammennehmend richtete sich Light auf, um aus dem abgewandten Profil seines Partners zumindest einen Bruchteil von dessen emotionaler Verfassung erahnen zu können, und ging in die Offensive.

„Ist das ein Vabanquespiel, Ryuzaki, bei dem du dich selbst aufs Spiel setzt, indem du das Opfer oder zumindest den Köder mimst?“

„Die Mittel sind doch völlig gleich, auch wenn man selbst zu diesen Mitteln gehört, ob Bauer oder König, bloß eine Figur auf dem Schachbrett zwischen Schwarz und Weiß, eine Marionette des eigenen Plans, solange das Ziel erreicht werden kann, spielt das alles keine Rolle...“

„Ryuzaki!“ Light versuchte, die merkwürdig abwesend gesprochenen Worte des Detektivs zu unterbrechen, der offenbar mit seinen Gedanken an einem weit entfernten Ort war. Ungerührt beendete L seine Aussage:

„Was auf dem Spiel steht, wissen wir erst, wenn wir erkennen, dass es auf dem Spiel steht.“

Einsatz

Einsatz

 

„Erst in direkter Konfrontation erkennt man die Gefahr“, hörte sich Light sagen. Er merkte, dass seine Stimme an Emotionalität verloren hatte, doch konnte er nicht erkennen, ob es daran lag, dass er ungewollt die Art des Meisterdetektivs nachahmte, oder ob diese Teilnahmslosigkeit seinem eigenen Charakter entsprang. Light prüfte seine eben gesprochenen Worte auf ihren Wahrheitsgehalt. Sein Blick wanderte über den Körper seines Freundes, dessen drahtige Statur, die selbst unter den Sachen noch zu erahnen war, die ganze abgewandte Haltung, die ihm gleichsam zu suggerieren schien, dass sich Light als Tatverdächtiger nicht entfernen durfte, dass er sich jedoch als Partner auch keinen einzigen Schritt nähern durfte. Ls Profil und somit dessen Mimik, über welche er ohnehin nur in geringem Maß verfügte, waren kaum auszumachen. Nicht allein das schwache Licht, sondern auch die schwarzen Haare verdeckten alles, was man als Beobachter hätte erkennen können, während L reglos auf dem Bett lag und seinem Freund den Rücken zukehrte.

Um Gewissheit zu erlangen, legte Light ohne Zögern die Hand an Ls Schulter, wie schon zahlreiche Male zuvor, und fragte:

„Willst du mir das damit sagen, Ryuzaki? Meinst du, man müsse sich bei jedem Spiel nur darum kümmern, den richtigen Einsatz zu bieten, um zu gewinnen? Und erst mit der Niederlage soll man sich Gedanken darüber machen, welchen Preis man zu zahlen hat?“

„Bezahlen muss man immer“, antwortete L leise. Er schien keine Notiz von der Berührung seines Freundes zu nehmen. „Nichts im Leben ist umsonst. Wir können uns nicht aussuchen, ob wir etwas aufs Spiel setzen wollen. Wir können nur entscheiden, wie viel. Doch wie hoch der Einsatz schließlich sein wird, hängt davon ab, was man erreichen will und wie groß die Entfernung zum angestrebten Ziel ist.“

„Und wie hoch ist dein Einsatz, L? Wie weit würdest du gehen?“ Endlich sprach Light die Frage aus, die ihm schon länger nicht mehr aus dem Sinn ging. In Gedanken hatte er sie schon so oft gestellt, dass er jetzt das Gefühl hatte, er würde lediglich etwas häufig Gesagtes wiederholen. „Was würdest du aufs Spiel setzen?“

„Alles“, antwortete L sofort. Kein Zittern, keine unsichere Bewegung, keine merklichen Anzeichen von Unruhe gingen von seinem Körper aus; Light hätte es unter seiner Hand spüren müssen. Ls weit aufgerissene Augen blickten starr geradeaus, als er sagte: „Ich würde alles dafür geben. Ich würde mein Leben dafür geben. Ohne das ist es nichts wert.“

„Dein Leben also...“, wiederholte Light konsterniert und fragte dann bitter: „Auch noch mehr?“

Er konnte sehen, wie Ls Augenlider zuckten. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Doch es reichte.

Lights Hand verkrampfte auf der Schulter des Detektivs und entspannte sich sogleich wieder. Einem Impuls folgend, als hätte er nur auf eine Bestätigung gewartet, strich Light den Arm seines Partners entlang, von der Schulter hinab zum Ellenbogen.

„Es ist nichts wert, meinst du.“ Light wägte seine Worte genau ab, während er näher an L heranrückte und sich mit dem Unterarm neben dessen Kopf abstützte, sodass seine Finger das schwarze Haar über der Stirn berührten. „Was ist nichts wert?“, fragte er und umfasste kurz Ls Handgelenk. „Dein Leben? Siehst du etwa keinen Sinn mehr darin, wenn du es nicht dafür aufs Spiel setzt, der beste Detektiv der Welt zu sein? Das ist wohl dein einziger Lebensinhalt?“ Im Reden glitten Lights Finger über den zweiten, angewinkelten Arm seines Freundes, bis sie schließlich hinauf zum Kopf gelangten und das dichte Haar beiseite strichen. Light legte ein wenig jenes emotionslose, vielleicht abweisende Gesicht frei. „Wenn es so ist, dann kennen wir beide den Grund dafür, nicht wahr, L? Weil das unter deinen vielen Rollen die einzige ist, die du wirklich beherrschst. Weil du nicht Ryuzaki sein kannst oder Ryuga oder wer auch immer. Du kannst nur L sein.“

Ungeachtet dessen, dass er derart bedrängt wurde, sowohl verbal als auch körperlich, versuchte L nicht sich aus der Situation zu befreien. Es wäre für ihn vermutlich ein Leichtes gewesen, von Light loszukommen. Doch stattdessen blieb er stumm und ohne Regung.

„Oder sprichst du von der Ermittlung um Kira“, fragte Light dicht an seinem Ohr, „von deiner ganzen Arbeit, der unermüdlichen Suche nach Wahrheit? Meinst du, dass das alles sinnlos wäre, wenn du nicht bereit wärst, zumindest dein Leben dafür zu geben?“

Mit dem Handrücken, den Knöcheln seiner Finger strich Light über Ls Wange, zeichnete die Konturen des scharf geschnittenen Gesichts nach und spürte die Anspannung von dessen Kiefer, da L, vermutlich unbewusst, die Zähne aufeinanderbiss. Sanft legte Light die Hand an den Hals seines Partners und drückte leicht mit dem Daumen gegen die Erhebung von dessen Kehle, spürte die Bewegung unter seinen Fingerspitzen, als L reflexartig schluckte. Nichts Fremdes lag in diesen Berührungen. Denn zahllose Male schon hatte Light ähnlichen Fantasien im Traum nachgeben müssen. Doch diesmal war es kein Traum. Diesmal war es todernst.

Wankelmut und Aufregung legten sich wie ein heißkalter Film über Lights Haut. Ein Stein schien pochend zwischen seinen Lungenflügeln zu hausen und erschwerte ihm das Atmen. Fast wäre ihm davon schlecht geworden, wenn es sich nicht so gut angefühlt hätte. Was er hier tat, konnte er nicht wiedergutmachen. Allerdings wäre es genauso unwiderruflich gewesen, seine Vorstellungen zu ignorieren. Sonst hätte er L niemals die Lektion erteilen können, die dieser längst verdiente.

„Ich weiß, dass du mir keine Antwort geben wirst“, meinte Light bestimmt, während seine Hand mittlerweile hinab über den vom weißen Stoff bedeckten Brustkorb wanderte, der sich unter Ls Atmung schwerfällig hob und senkte. „Damit will ich dir nur den Grund dafür nennen, warum ich gefragt habe, ob du noch mehr bieten würdest. Du hast es selbst zugegeben. Um zu erfahren, wie die Dinge sich entwickeln, lässt du ihnen freien Lauf, ist es nicht so? Ich will wissen, wann für dich der Punkt gekommen ist, an dem du dich nicht mehr für die Belange von L aufgibst, sondern anfängst, dich selbst zu schützen.“ Als Light den flachen Bauch erreichte und sich anschickte, noch tiefer zu gehen, beendete L plötzlich seine Teilnahmslosigkeit, packte blitzschnell hart zu und hielt ihn auf.

„Ach“, sagte Light und lächelte bitter, „etwa jetzt? Ist jetzt der Moment gekommen, in dem Prinzipien und Verstand den Kampf gegen deinen eigenen Willen verlieren?“ In seinen Worten lag keine Wut, weder Abscheu noch Verzweiflung. Vielleicht klang es nach Traurigkeit. Light wusste selbst nicht, welchen Namen er seinem Gefühl geben sollte. Er wusste nur, dass es sich anfühlte, als wollte L ihm seine Knochen brechen, so fest umklammerte dieser sein Handgelenk.

„Nichts im Leben ist umsonst, ja?“ Wortwörtlich warf Light die vor wenigen Minuten gesprochenen Worte seines Partners zurück in den Raum, als handelte es sich dabei um Gift. Er merkte, dass sein Herz zwar nicht schnell, aber unangenehm hart gegen seine Brust schlug. „Ich glaube dir nicht, L. Es ist das genaue Gegenteil. Alles im Leben ist umsonst. Was auch immer man tut, es ist umsonst.“

„Soll ich solche Wortklaubereien lustig finden, Yagami-kun?“ Endlich gab L mit abweisender Stimme eine Antwort, während er seine Fingernägel in den Arm seines Partners bohrte. Seine Hand war ungewohnt warm, sein ganzer Körper schien in der Umarmung eine befremdlich hohe Temperatur auszustrahlen. Oder war es vielmehr die wechselseitige Resonanz ihrer Nähe? All das übergehend, als hätte er es nicht wahrgenommen, fuhr Light fort:

„Es zählt nur, dass man im Hier und Jetzt hinter seiner Wahl steht, denn auf lange Sicht macht es keinen Unterschied, wie man sich entscheidet. Das ist der wahre Grund, warum du alles aufs Spiel setzt, nicht wahr? Weil du nicht mehr oder weniger zu verlieren hast als jeder andere auch. Wozu also nicht das Ganze, was man noch sein Selbst nennt, auf eine Karte setzen? Darum geht es doch in Wirklichkeit! Entweder alles oder nichts.“

L ließ Lights Hand los.

Er nahm mit zusammengebissenen Zähnen und starrem Blick die Herausforderung an. Alles zuzulassen. Sich selbst aufzugeben. Was gab es Leichteres als das, wenn man nichts zu verlieren hatte?

Aus Irritation blieb Light einen Augenblick lang handlungsunfähig. Dann stieß er ein ungläubiges Lachen aus.

„Ich fasse es nicht. Das kann doch nicht dein Ernst sein, Ryuzaki.“ Light löste vollständig seinen Kontakt zu L, den nur noch die Kette zwischen ihnen halten konnte. Auf seinem Unterarm zeichneten sich schmerzhaft die Abdrücke von Ls Griff ab. Diesen Abdruck spürte Light auch in seiner Brust, obwohl er dort nicht berührt worden war.

„Ich verstehe dich nicht“, meinte er kopfschüttelnd. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass du dir ständig selbst widersprichst?“

„Ist das denn bei dir anders?“ L drehte sich im Liegen halb zu ihm um. Seine Augen erzählten, unerwarteterweise, von milder Zuneigung. „Auch ohne sich je wirklich festzulegen, wird man es oft genug schaffen, sich selbst zu widersprechen, Light-kun. Dafür muss man nicht einmal lügen. Es gibt niemals Gewissheit, niemals endgültige Wahrheiten.“

„Ist das der Grund, warum du dich selbst als Opfer benutzt, obwohl du nicht einmal neben mir schläfst, wenn ich wach bin?“

„Nein, das sind unterschiedliche Motive.“

„Das war eine rhetorische Frage.“

„Beim ersten ist es Kalkül“, ignorierte L den Einwurf, „also ein ganz anderes Ziel und ein von mir provoziertes Ergebnis. Die zweite Angelegenheit hat dagegen nur etwas mit Naivität zu tun.“

„Man könnte es auch Vertrauen nennen“, ergänzte Light trocken. L stieß fast verächtlich die Luft aus. Es vergingen einige Sekunden, bis er rational einlenkte:

„Natürlich muss man sich zwangsläufig auf manche Menschen im Umfeld verlassen. Trotzdem, und das kann ich dir mit absoluter Gewissheit versichern, Light-kun, ist ein Grundsatz im Leben eindeutig von Vorteil, den man sich immer wieder vor Augen halten sollte: Erwarte von niemandem irgendetwas, außer das Schlechteste. Wenn du so denkst, dann wirst du auch nicht enttäuscht.“

„Geht das denn?“ Light erwiderte den Blick seines Partners, ernst und nachdenklich, dann senkte er die Augenlider und schaute abwesend auf die Schatten in den Falten der Bettdecke. Seine Stimme klang dumpf, als er sprach: „Kann man sich so unabhängig machen, dass man niemals etwas erwartet? Keinem einzigen vertraut? Selbst wenn man sich unentwegt einredet, allem und jedem misstrauen zu müssen, wird man im Fall einer Enttäuschung wirklich so unerschütterlich bleiben können?“

„Vertrauen hat nichts mit einer Erwartungshaltung zu tun“, sagte L müde. „Auch wenn man jemandem vertraut, sollte man immer mit Enttäuschungen rechnen. Weißt du, warum das so ist, Light-kun?“ Der Angesprochene hörte zu, obwohl er nicht reagierte. Er spürte ein Stechen in seiner Brust und Erschöpfung hinter der Stirn. Es kam Light vor, als spiegelten sich seine eigenen Emotionen im Tonfall von Ls Worten wider. „Weil Vertrauen nur ein Gefühl, keine verstandgestützte Erwartung ist. Durch Vertrauen bringt man einem anderen Menschen beispielsweise Wertschätzung entgegen. Aber indem man sich auf jemanden verlässt, idealisiert man ihn nur. Ohne es zu merken, übt man damit Druck aus.“

Light merkte, dass Ls Blick weiterhin auf ihm ruhte. Der Detektiv schien nicht auf ihn eindringen, ihn nicht herausfordern zu wollen. Ganz im Gegenteil, seine Erklärung wirkte beinahe wie eine Entschuldigung. Selten genug kam es vor, dass L so viel über ein zwischenmenschliches Thema sprach. Vielleicht war das der Grund, warum Light schwieg.

Schwerfällig richtete sich L in eine sitzende Position auf, als würden unsichtbare Fäden seinen Leib umspinnen, um ihn niederzudrücken, ihn festzuhalten und zu beschützen.

„Entscheidend ist, von wem die entsprechende Haltung ausgeht, Light-kun. Es mögen vielleicht nur Worte sein, aber sie haben in jeder Aussage eine spezielle Wirkung und gestalten damit die Realität.“ Während des Redens hob L sehr langsam den Arm. „Ich sage, ich verlasse mich auf dich, und du spürst unwillkürlich, wie deine Schultern schwerer werden.“ Seine Hand senkte sich auf die Schulter seines jungen Partners; unter der Kleidung konnte Light spüren, wie warm sie noch immer war. „Umgekehrt ist es genauso. Die Worte, du kannst dich auf mich verlassen, ringen vielen nur ein freundliches Lächeln ab. Fühlt man sich dadurch besser? Klingt es nicht vielmehr so, als wollte man sagen...“ L machte eine winzige Pause, in welcher er den Druck seiner Berührung kaum merklich intensivierte. „...du bist zu schwach, um es allein zu schaffen? In Wirklichkeit spendet so eine Versicherung nur demjenigen Kraft, der sie ausspricht. Nur er allein kann sich danach stark fühlen.“

„Stattdessen sollte man also lieber von Vertrauen sprechen“, fragte Light, ohne dass es nach einer Frage klang.

„Ich vertraue dir“, sagte L und starrte ungebrochen in die abgewandten Augen seines Freundes. „Ein solcher Satz belastet nicht. Er vermittelt demjenigen, der ihn hört, normalerweise ein gutes Gefühl und Zuversicht. Denn Vertrauen belastet einen Menschen nur, wenn er etwas zu verbergen hat oder wenn er sich selbst nicht trauen kann.“

Light schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Berührung seines Freundes. Seit wann kam sie ihm nicht mehr so kalt vor?

Es ging nicht um Wortklauberei, wie L es vorhin genannt hatte. Jeder Satz entfaltete im Kontext und von Person zu Person verschieden seine jeweilige Wirkung. Es war ein Sprachspiel, das jeder anders verstand. Doch L ging es um mehr als das. Er konfrontierte Light nicht nur mit seinem Verdacht, sondern auch mit der unumgänglichen Konsequenz.

„Gibt es denn“, wollte Light ganz leise wissen, „keinen Weg?“

„Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, was du tun kannst, Light-kun“, antwortete L sanft. „Was auch passiert, es spielt keine Rolle, ob du Kira bist oder nicht, meine Reaktion wird dieselbe sein. Egal, was du tust, du wirst mich auf jeden Fall enttäuschen.“

Light öffnete die Augen. Er hob den Kopf und suchte nach der Schwärze im trostlosen Blick seines Freundes. Es tat weh.

Es tat weh, dass L sich erneut selbst widersprach.

 

Mogi und Misa verabschiedeten sich. Man merkte dem robust gebauten Polizisten deutlich die Anspannung hinter seiner Motivation an. Die Rolle als neuer Manager Misas wollte ihm nicht so recht passen, doch aus Verantwortungsbewusstsein hätte Mogi jede Aufgabe übernommen, der er sich gewachsen fühlte. Misa dagegen machte nicht den Eindruck, als wäre sie in irgendeiner Weise nervös. Sie genoss die Möglichkeit, für Light eine Hilfe zu sein. Die Gefahr war ihr völlig egal.

„Passt auf euch auf“, waren die letzten Worte, die Light ihnen besorgt mit auf den Weg gab, bevor sie mit dem Wagen, einem silberfarbenen Mercedes, zum Vorstellungsgespräch bei Yotsuba fuhren. Dort würden nicht nur die Mitglieder des Konzerns auf sie warten, unter denen sich aller Wahrscheinlichkeit nach Kira befand, sondern auch Aiber, hinter der Maskierung von Erald Coil. Endlich hatte der Einsatz begonnen.

Jetzt saß Light im zentralen Überwachungsraum und lauschte dem beständigen Surren seines Computers, begleitet von den aufgeregten Schritten Matsudas, der in der Mitte des Raumes unentwegt im Kreis lief und nicht zur Ruhe kommen konnte. L hatte sich eben erst vor die Monitore auf einen Stuhl gehockt und kämpfte gegen dessen Drehbewegung an, während er sich näher an den Tisch heranzog.

Alles war eingeschlossen in eine schweigsame Phase des Wartens.

Datenpakete flimmerten über Lights Bildschirm. Wie er es sich vorgenommen hatte, überprüfte er die Morde, die nach der bei seiner Inhaftierung aufgetretenen Pause verübt worden waren. Im Zuge der Ermittlungen sprachen L und er einerseits von Kira als jener Person, die zuerst mit all dem begonnen hatte, andererseits war Kira eine Art Kraft, die jeden weiteren in seinen Fußstapfen auszeichnete. Es war die reine Macht des Tötens.

Mittlerweile gingen sie davon aus, es müsste mindestens drei Menschen mit dieser Kraft geben. Nacheinander waren der erste und zweite Kira aufgetaucht, doch unterschied sich der jetzige Kira wiederum von den beiden ersten, die seit seinem Auftauchen spurlos verschwunden waren. Es war nicht bloß eine Reduzierung, sondern vielmehr ein Wechsel oder ein Schlagabtausch. Unverändert war allein die Macht geblieben.

Je mehr Daten Light miteinander verglich, desto deutlicher kristallisierte sich diese Dissonanz heraus. Er sah einen Familienvater, der einen vorbestraften Triebtäter erschossen hatte, weil seine minderjährige Tochter von diesem vergewaltigt worden war. Er sah einen frisch verheirateten Mann, der noch nicht lange seinen Führerschein besaß und wegen einer Unachtsamkeit im Straßenverkehr einen Menschen getötet hatte. Er sah eine Ehefrau, die jahrelang von ihrem Mann geschlagen worden war und ihm deshalb Gift ins Essen gemischt hatte. Sie alle waren tot, gerichtet durch den dritten Kira.

Es war unmenschlich. Kein Gerechtigkeitsempfinden war in diesem Vorgehen zu entdecken. Der erste, der wahre Kira hätte solche Morde niemals begangen. Eine idealistische Einstellung und die Berücksichtigung mildernder Umstände fehlten völlig beim neuen Kira. Er setzte sich nicht für das ein, wofür Kira eigentlich stand.

Betrachtete Light hingegen die Ermordungen der Anfangszeit, waren die Bemühungen um Gerechtigkeit deutlich zu spüren.

Vertieft in seine unheilvollen Überlegungen nahm Light einen toten Namen nach dem anderen in sich auf und hatte doch schon längst begriffen, womit er konfrontiert war: Wenn er selbst Kira wäre, würde er ganz ähnlich richten. Er würde bedacht entscheiden. Gerecht.

Aber das war Unsinn. Um welchen Kira es sich auch handeln mochte, sie waren ohne Ausnahme Massenmörder. Hier existierte keine Frage nach Gerechtigkeit. Darum waren auch solche Gedanken völlig fehl am Platz. Trotzdem... die Grundlagen, auf denen der vorherige Kira seine Urteile gefällt hatte, waren Light auf unheimliche Weise äußerst vertraut.

Es war verrückt. Er musste endlich damit aufhören. Er durfte Kira nicht auf sich selbst projizieren. Nicht noch mehr.

Aber L hätte diesen Unterschied ebenso bemerken müssen. Warum hatte er nichts zu ihm gesagt? Oder war es vielleicht doch nur etwas, das einzig Light sehen konnte, weil er es so gut verstand?

Selbst bewusst sein

Selbst bewusst sein

 

Ein unangenehmer Druck lag auf Lights Ohren, möglicherweise verursacht vom vertraut gewordenen Geräusch der arbeitenden Prozessoren, die mit ihrem gleichbleibenden Ton dem Gehör vorgaukelten, es könne in dem stets wiederkehrenden Rhythmus lebloser Technik eine bekannte Melodie erahnen. Wahrscheinlich scheiterte Lights Kopf unbewusst daran, sich ebendieser Melodie genau zu erinnern. Anders konnte er sich die Anspannung und den Zwang in seinem Inneren nicht erklären.

Er hasste es, warten zu müssen.

Obwohl Mogi und Misa tatsächlich beunruhigend lang fortblieben, konnte das allein doch keine Erklärung für seine wachsende Nervosität sein. Was geschah mit ihm? War es die Entdeckung über die erschreckend gute Nachvollziehbarkeit in der Vorgehensweise des alten Kira, die Light aufgefallen war? Diese Tatsache hätte ihm doch längst bewusst sein müssen, als er noch seine eigenen Ermittlungen anstellte, damals, vor einer schier ewig zurückliegenden Zeit, in der er noch ein ganz normaler Schüler gewesen war. Er glaubte sich selbst nicht mehr vertrauen zu können. Als wäre er sich zunehmend fremd geworden.

„Ryuzaki“, setzte Light schließlich an, nachdem er einem kurzen Wortwechsel zwischen L und Matsuda zugehört hatte, die über das Ausbleiben von Mogi und Misa sprachen. Jetzt schaute L seinen Partner über den Rand der Kaffeetasse an, die er bereits seit einer Viertelstunde in der Hand hielt, ohne auch nur einen einzigen Schluck getrunken zu haben. „Wenn wir Misa bei Yotsuba einschleusen“, meinte Light ernst, „dann sollten wir in Zukunft alles daran setzen, ihre Verbindung zum zweiten Kira zu leugnen.“

„Das tun wir doch“, entgegnete L verdutzt, „indem wir erzählen, sie wäre freigelassen worden.“

„Ich meine damit generell ihre Gefangennahme“, versuchte Light zu erklären. „Es ist gefährlich für sie, wenn wir sagen, dass sie von L gefangen genommen wurde.“

„Aber Misa hat doch schon mit dieser Taktik begonnen...“

Light war sich im Klaren darüber, dass sein Einwand nicht fruchten konnte. Erstens waren ihnen im Moment die Hände gebunden, da sie nicht in die aktuelle Situation eingreifen konnten, und zweitens war Light nicht imstande, eine Alternative zu bieten. Er wusste nicht, warum er plötzlich eine Planänderung verlangte. Wahrscheinlich lag es an seiner Nervosität oder der Unsicherheit. Oder auch an den Zweifeln, die ihn überkamen, seitdem er eines erkannt hatte: Sein Mitwirken bei diesem berechnenden Plan ließ Light nicht nur L ähnlicher werden, sondern auch Kira.

„Mach dir keine Sorgen, Light“, mischte sich nun Herr Yagami ein, der hinter seinen Sohn getreten war. „Ich werde an die Öffentlichkeit gehen und die Umstände meiner Entlassung schildern, außerdem die Tatsache, dass Yotsuba sich für eigene Zwecke Kira zunutze macht. Damit werden vielleicht die Morde an Straftätern nicht aufhören, aber zumindest die Unfallmorde zugunsten des Konzerns.“

„Die meisten Leute werden einfach denken, dass du Unsinn redest, Vater“, entgegnete Light unverblümt. „Und vor allen Dingen würde dich Kira umbringen!“ Trotz der Sorge, die in Lights Reaktion mitschwang, war Herr Yagami überrascht, wie direkt sein Sohn ihm antwortete. Entweder hatten die Erfahrungen und Erlebnisse seit dem Kira-Fall die Zurückhaltung Lights verringert, die er seinen Eltern eigentlich in geziemender Weise entgegenbringen sollte, oder der Inspektor hatte seinerseits so viel Zeit mit seinen Ermittlungen verbracht, dass ihm nicht aufgefallen war, wie sein eigener Sohn erwachsen wurde.

„Ich weiß...“, lenkte Herr Yagami ein, setzte dann jedoch lauter hinzu: „Aber was auch immer die Leute denken, wenigstens die Yotsuba-Morde würden damit aufhören. Wie viele Menschenleben ich mit meinem eigenen retten könnte...“

„Vater! Was ist mit Mutter? Und mit Sayu?“

„Yagami-san...“ Der Angesprochene blickte zu L hinüber, welcher nachdenklich auf seinem Stuhl hockte und die Tasse Kaffee nach wie vor weder aus der Hand gestellt noch aus ihr getrunken hatte. „Könnten Sie bitte einen Monat warten?“

Light hörte schweigend zu, welchen Vorschlag L dem ehemaligen Inspektor unterbreitete, damit dieser nicht sofort mit seiner Geschichte im Fernsehen auftrat. Denn immerhin war es ihnen gelungen, die Morde einen Monat aufzuschieben. Das gewährte ihnen bis dahin die Möglichkeit, eine Lösung zu finden, ohne dass jemand zu solch radikalen und im Grunde nutzlosen Methoden greifen musste. Herr Yagami war noch nicht vollständig überzeugt und wandte sich deshalb ratsuchend an seinen Sohn.

„Was meinst du, Light?“

Nach einem kurzen Zögern bekannte sich der junge Ermittler zu Ls Seite und sagte:

„Es tut mir leid, Vater, aber ich muss Ryuzaki beipflichten. Wenn wir Kira nicht fassen, werden die Verbrechermorde nicht aufhören. Könnten wir alle sieben Mitglieder von Yotsuba hochgehen lassen, dann wäre es immerhin möglich, aber das funktioniert nicht auf die von dir vorgeschlagene Weise. Würdest du mit ihren Namen an die Öffentlichkeit gehen, gäbe es allenfalls Chaos. Außerdem setzt du damit das Leben derjenigen Konzernmitglieder aufs Spiel, die nur an den Konferenzen teilnehmen, weil sie Angst haben, von Kira getötet zu werden.“

Überrumpelt von Lights Argumentation fand Herr Yagami keine passenden Widerworte. Gleichsam war er erstaunt, beinahe bestürzt über den Abstand, der zwischen seiner eigenen Kompetenz und der seines Sohnes lag.

Sie einigten sich darauf, Misa nicht weiterhin einer erhöhten Gefahr auszusetzen, dafür sollte Herr Yagami innerhalb eines Monats keine Preisgabe an die Öffentlichkeit starten. Als auf diese Weise die beiden Teams wieder zueinandergefunden hatten, kündigte sich auf den Bildschirmen die Rückkehr von Misa und Mogi an.

Das blonde Mädchen schien voller Elan zu sein, sich nun im weiteren Verlauf, da sie als Werbestar bei Yotsuba angenommen worden war, näher mit den einzelnen Mitgliedern bekannt zu machen. Allerdings erklärte ihr Light sogleich, man sei von diesem gefährlichen Unterfangen abgekommen.

„Wenn du das bestimmst, Light, mache ich es so“, meinte Misa einverstanden, nachdem sie ihre anfängliche Irritation überwunden hatte und sich anschließend verabschiedete, um früh zu Bett zu gehen. Erstaunt vernahm L, wie bereitwillig sich das Mädchen zum Stillhalten überreden ließ. Dieser Umstand erschien ihm durchaus suspekt, er sagte jedoch nichts dazu.

„Wollen wir nicht zusammen schlafen, Light?“ Misa schaute noch einmal um den Rahmen der Tür und lächelte ihren selbst auserkorenen Geliebten verschmitzt an.

„Du weißt, dass das nicht geht, Misa...“, wies Light sie schlicht, aber höflich ab.

„Schon klar“, hörte man das Mädchen noch sagen, wobei sie schon aus dem Blickfeld entschwunden war, „das geht erst, wenn wir Kira haben. Du musst nicht rot werden, Light.“

„Du musst doch nicht rot werden, Light-kun“, wiederholte L die Aussage beiläufig, während er endlich die Kaffeetasse zum Trinken ansetzte.

„Ich werde gar nicht rot.“

„Warum antwortest du denn so ernst, Light-kun...“

Der Jüngere machte eine wegwerfende Handbewegung, um anzudeuten, dass er sich von dem Scherz nicht ärgern ließ. Zuerst schien L es damit auf sich beruhen zu lassen, doch dann erkundigte er sich genauer:

„Misa-san bleibt weiterhin hartnäckig. Offenbar gibt Light-kun ihr bis zu einem gewissen Grade nach. Was mag der Grund dafür sein?“

„Vielleicht Höflichkeit?“ Etwas, wovon du keinen Gebrauch machst, sagte Lights Blick. Er schaute zu den anderen Anwesenden hinüber und senkte die Stimme. „Ich will Misa nicht unnötig wehtun, zumal ich ihr bereits meinen Standpunkt mitgeteilt habe und sie also nur durch mein Verhalten enttäuschen kann. Schließlich mache ich ihr, bloß weil ich ihr ein Stück weit entgegenkomme, nicht gleich Hoffnungen.“

„Du meinst, du kannst dich wenigstens ein bisschen auf ihre Forderungen einlassen, weil dir dadurch ja kein Zacken aus der Krone bricht“, entgegnete L teilnahmslos. Bevor Light etwas erwidern konnte, fuhr der Andere bereits fort: „Warum ist dir ihre Meinung denn so wichtig? Wenn sie für dich nicht in Frage kommt, kann es dir doch egal sein, was sie über dich denkt. Vermutlich würde sie dich trotzdem lieben.“

„Bist du etwa immer noch beleidigt, dass ich Misa nicht für unsere Zwecke benutzen wollte? Mittlerweile hast du doch deinen Willen bekommen.“

„Eben nicht. Meinen Plan konntest du schließlich im Pakt mit deinem Vater wieder vereiteln.“

L verzog den Mund, sodass Light unwillkürlich schmunzeln musste.

„Was ist es nur“, fragte der Meisterdetektiv plötzlich eindringlich und starrte seinen Ermittlungspartner unverwandt an, „was L und Amane Misa verbindet, wodurch Yagami Light sie in einem Punkt auf ähnliche Weise behandelt, ohne es selbst erklären zu können?“ Jegliche Farbe wich aus Lights Gesicht. Er wusste genau, was mit dieser Aussage gemeint war.

Warum hatte er zu oft in letzter Zeit jemanden unter seine Gewalt gezwungen? War es Aggressivität oder kalte Berechnung oder bloß Menschlichkeit, die er unbewusst unterdrückte? Es kam ihm vor, als würde das Chaos in seinen Gedanken seinen Schädel bald zum Platzen bringen.

„Ist dir aufgefallen“, fragte L weiter, „dass sich Misa-san vorhin merkwürdig verhalten hat?“ Übersättigt von Fragen, auf die offenbar keine Antworten erwartet wurden, verfiel Light in verschlossenes Schweigen. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken müssen.

L wirkte unbekümmert und desinteressiert, während sein junger Partner die Fülle der auf ihn eindringenden Emotionen zuließ und ihretwegen in eine fast ebenso gleichgültige Haltung abglitt.

Nach einer langen Pause sagte Light monoton:

„Sie ist unschuldig.“

L sah zu ihm hinüber, doch erwiderte sein Freund den Blick nicht, sondern schaute abwesend auf die leere Arbeitsfläche vor sich.

„Auf ihre eigene Art“, meinte Light nachdenklich, „hat sich Misa ihre unschuldige Denkweise bewahrt. Der Grund, warum sie Kira unterstützt... weil sie noch immer an eine bessere Welt glaubt.“

„Es wird sie nicht geben“, entgegnete L ohne Zögern. „Es wird keine bessere Welt geben.“

„Meinst du denn, Ryuzaki, dass die Menschen, die an Kira glauben, größtenteils blind und bösartig sind?“, fragte Light und schaute dem Detektiv nun in die Augen. „Muss man erst all die Diskussionen über Moral, Wert und Würde des Menschen kennen, um sich ein Urteil darüber erlauben zu dürfen, was richtig ist? Wer glaubt denn wirklich an Kira, wer ist auf seiner Seite? Was sind das für Leute? Doch nicht diejenigen, die in der Öffentlichkeit wegschauen, wenn jemandem etwas passiert. Oder diejenigen, die bloß auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, oder etwa doch?“

Ernst neigte Light den Kopf und starrte in das künstliche Licht der flackernden Monitore, während er fortfuhr.

„Schuld daran ist doch unsere Gesellschaft, die so viele Leute glauben lässt, die Lösung bestünde darin, die Ursache des Unglücks zu eliminieren. Dabei existiert diese Ursache gar nicht. Die Welt kann nicht auf irgendeine bestimmte Art und Weise sein, damit alles gut wird. Es geht um etwas ganz anderes. Um mehr sogar, um das Vermitteln von Hoffnung, wie es die Religionen versuchen, der Glaube an Gott, an Gerechtigkeit, an das Jenseits, damit den Menschen die Zuversicht gegeben werden kann, dass am Ende alles gut wird, dass eben doch jeder bekommt, was er verdient.“

L beobachtete aufmerksam das Mienenspiel des jungen Mannes, welcher nach einem tiefen Seufzen mit fast resignierender Stimme weitersprach.

„Heutzutage gibt es so etwas kaum mehr, nicht wahr, Ryuzaki? Diese Hoffnung auf den nächsten Tag, fernab aller Klischees, die uns durch die Medien eingeflößt werden und uns weismachen wollen, worin das Glück unserer Gesellschaft besteht. Eine gute Ausbildung, ein guter Beruf, einen Beitrag für die Allgemeinheit leisten, Ansehen, Geld, Besitztümer und dazwischen eine angemessene Portion Mitgefühl. Zu Weihnachten wird stets die Nächstenliebe gepredigt, aber was ist mit dem Rest des Jahres? Ist das nicht eigentlich Heuchelei, erst dann das Bedürfnis zum Helfen zu empfinden, obwohl die Menschen das ganze Jahr über Hilfe brauchen? Das ist nur Balsam für die Seele des reich und sorgenfrei geborenen Konsumenten im Industriestaat. Es geht heutzutage nicht mehr um das tägliche Überleben, sondern darum, ein Teil dieser Gesamtheit zu sein. Kann man wirklich an das Gute im Menschen glauben, daran, dass jeder den Frieden erreichen möchte?“

Light schaute hinab auf seine locker geballte Faust. Er erinnerte sich in diesem Augenblick daran, wie ihm einst jemand gesagt hatte, wenn er seine Hand fest schließen würde, besäße er rein gar nichts zwischen seinen Fingern. Aber mit ausgebreiteten Armen und weit geöffneten Handflächen könnte er die ganze Welt in Händen halten.

„Ganz unabhängig von der Logik brauchen wir vielleicht etwas, das uns Halt gibt“, meinte er mit neuer Sicherheit in der Stimme. „Wenn wir sehen, dass Gesetze oft machtlos sind und dass das Leben am Ende einfach unfair bleibt, dann kann es eine große Rolle spielen, wenn...“

„Wenn plötzlich jemand wie Kira auftaucht und einem den Glauben zurückgibt“, ergänzte L ohne Sarkasmus. „Jemand, der einem sagt...“

„Es ist nicht egal, was man tut“, setzte Light den Gedanken fort.

„Es gibt noch immer Gerechtigkeit.“

„Kira hat sich nicht selbst erschaffen.“ Diesen Schluss hatte Light schon einmal gezogen, doch waren ihm zu der Zeit nicht die Wichtigkeit und Konsequenz dieser Tatsachen bewusst gewesen. „Die Menschen haben ihn sich erschaffen, weil sie an etwas glauben wollen, das ihnen die Hoffnung zurückbringt. Darum muss man ihnen zeigen, dass dies trotz der guten Motive nicht der richtige Weg ist. Man muss ersetzen, was Kira in den Augen seiner Befürworter darstellt. Denn jeder braucht irgendein Licht, um in seiner eigenen Welt nicht zugrunde zu gehen.“

Kurz zuckte Ls gefesselte Hand in die Richtung seines Partners, als wollte er nach ihm greifen. Doch fügte der Meisterdetektiv dessen Worten lediglich hinzu:

„Alle Menschen suchen nach derselben Sache, Light-kun.“

„Nach dem Glück, nicht wahr?“

„Was auch immer das sein mag“, bestätigte L, „nur etwas, wonach man strebt und das einen erfüllt. Ein blauer Vogel, dem wir nachjagen und der sich immer wieder als nicht echt herausstellt. Viele wissen nicht, was es sein könnte, wonach sie suchen...“

„Und manche fragen sich ihr Leben lang, warum sie nicht glücklich sind.“

 

Die Nacht hatte sich über die Großstadt gelegt und sie stiller werden lassen, selbst wenn sie niemals vollends schweigen konnte. Ähnlich wortkarg verhielt sich L den Rest des Abends. Es schien derweil, als würde er jeden Moment den Mund öffnen, um etwas zu sagen. Doch stattdessen schwebten tausend unausgesprochene Worte im Raum.

Jetzt, da sich L zusammen mit Light in ihrem gemeinsamen Zimmer befand, erreichte dieser Eindruck seinen Höhepunkt. Light erkannte die Notwendigkeit, abwarten zu müssen, obwohl es ihm schwerfiel, den Älteren nicht zum Reden zwingen zu wollen.

Eine Weile stand L unbeweglich mitten im Zimmer, bis er sich langsam regte und zu Light hinüberging, der seinerseits auf dem Bett Platz genommen hatte.

„Man muss es ersetzen“, sagte L leise, als spräche er zu sich selbst. Halb im Schneidersitz ließ er sich neben seinem Partner nieder. „Man muss ersetzen, was Kira für die Menschen darstellt, hast du gemeint, Light-kun. Weil die Menschen etwas brauchen, an das sie glauben können.“ Kurz wandte sich L dem Anderen zu und fing mit seinen schwarzen Augen dessen Blick ein, scheinbar, um lediglich sicherzugehen, dass dieser ihm zuhörte, bevor er den Kopf wieder senkte. Dann hob er träge eine Hand und legte sie an Lights Oberarm, als sollte auch diese Geste Aufmerksamkeit erwirken. Überrascht betrachtete Light das nach vorn gerichtete Profil seines Freundes.

„Ich weiß“, sprach L weiter, ohne die Hand von Lights Arm zu lösen, „du magst es nicht, wenn ich zu analytisch an alles herangehe. Doch so ist es nur dem Anschein nach. Ich lege es weder darauf an, weltfremd und abweisend aufgefasst zu werden, noch darauf, es anderen ständig recht zu machen. Das bedeutet nicht, dass ich kaltherzig bin.“

„Nein, das bist du nicht.“ Light nickte lächelnd. „Du bist kindisch, leicht reizbar, ehrgeizig und manchmal auf extreme Weise zu demotivieren. Außerdem besitzt du ein hohes Maß an Empathie. Man muss bei dir nur genauer hinschauen, um all das zu erkennen.“

„Ich möchte dir etwas erklären, Light-kun... zu deiner Aussage über die heutigen oder damaligen Verhältnisse in unserer Gesellschaft. Hierbei laufe ich Gefahr, mich wie so oft umständlicher Formulierungen zu bedienen, was ich gleich von Anfang an unterlassen würde, wenn ein anderer außer dir mein Gesprächspartner wäre.“ Seine nackten Zehen fingen an sich unruhig zu bewegen. Stumm gab Light ihm zu verstehen, dass er ungehindert fortfahren sollte. „Wer weiß schon, ob es damals anders war als heute. Sicherlich sind die Veränderungen größer und gefährlicher, aber hat denn auch die Menschheit sich verändert? Wie sehr haben wir im Griff, was wir erschufen? Oder hat nicht vielmehr die Welt uns in ihrer Gewalt? Die Natur des Menschen hat sich geändert, weil das menschliche Handeln die Natur verändert. Jeder Eingriff in die Welt veranlasst wiederum durch ihr Reagieren eine Anpassung zwischen Subjekt und Objekt. Keine Kalkulation kann vollständig den Fortschritt der Realität umfassen. Sobald wir schaffend auftreten und Änderungen herbeiführen, dürfen wir uns nicht einbilden, von den Auswirkungen verschont zu bleiben. Obwohl der Mensch die Macht hat, als Ursache aufzutreten, entgleitet ihm schnell die Kontrolle über die kumulative Wirksamkeit seines eigenen Verhaltens. Oftmals begnügt er sich damit, Augen und Ohren zu verschließen. Dabei bemerkt er nicht, dass er seine Hände nicht in Unschuld waschen kann, sondern allenfalls in Unwissenheit. Einen Ausweg hieraus gibt es nur, wenn man die Schuldfrage umformuliert. Dann trägt nicht derjenige die Verantwortung, der den Schaden verursacht hat, sondern derjenige, der zum Handeln befähigt ist. Verstehst du, was ich damit sagen will, Light-kun?“

L schaute dem jungen Mann ins Gesicht. Dieser wirkte sehr ernst, hatte mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem bitteren Zug um die Mundwinkel zugehört und geschwiegen. In seiner Mimik sah L jene erwartete Erkenntnis. Deshalb redete er weiter, ohne einer Antwort zu harren.

„Kira ist eine arme, kranke Seele. Ein Mensch, der sich all dieser Dinge bewusst ist und eine radikale, einfache und doch komplizierte Lösung gefunden zu haben meint. Er fühlt sich verantwortlich und glaubt, dass er im Recht ist, darum wird er nicht aufhören und immer weitermachen. Von sich aus wird er sein Handeln niemals als Unrecht begreifen. Sollte er gewinnen, wird er irgendwann sich selbst verlieren. Wenn die Morde andauern, Light-kun... dann trägt nicht Kira die Schuld daran, sondern L. Weil er es zugelassen hat.“

Nach einer kurzen Pause wiederholte L leise:

„Weil ich es zugelassen hätte.“

Surrogat

Surrogat

 

Stille hatte sich wie ein samtener Vorhang niedergelegt, ein schweres, erstickendes Stück Stoff, das jedem unausgesprochenen Wort, das in der Luft hing, den Sinn zu rauben schien. Light konnte nicht sagen, wie lange das Schweigen zwischen ihm und L schon herrschte. Mindestens eine halbe Stunde. Mit Sicherheit weitaus länger. Dennoch hatte sich keiner von beiden der Situation entzogen. Was war es nur, das zwischen ihnen noch ungesagt geblieben war? Woher kam die unsichtbare, sich langsam aufbauende Mauer? Diese Mauer, die schon seit längerer Zeit beide Männer umgab und sie vom Rest der Menschen im Umfeld abschottete.

Mit niemandem sonst hätte Light ein solches Schweigen ertragen. Es war nicht angenehm, aber doch notwendig und unumgänglich. Light betrachtete die knochigen, langen Fingergelenke von Ls Hand, die sich unruhig bewegten und die Sehnen auf dem Handrücken hervortreten ließen, während der Detektiv sich nervös über die Lippen fuhr.

„Hoffnung, Zuversicht, Vertrauen...“, murmelte L schließlich, ohne seinen Partner dabei anzusehen. „Das sind so große Worte, aufgeblasene Begriffe wie riesige Ballons, mit einer Luft gefüllt, die uns das Atmen erleichtern und uns in die Höhe heben soll. Dabei ist der eigentliche Inhalt leer. Denn womit fliegt so ein Fesselballon? Doch nur mit heißer Luft. Da ist nichts, worauf man bauen könnte.“

„Und doch klammern wir uns an dieses Nichts“, meinte Light schwermütig und starrte vor sich auf den Boden, „weil der Mensch gerade das am meisten fürchtet. Er hat Angst vor der Leere.“

„Also muss es etwas geben, das ihm seine Zuversicht zurückbringt. Was könnte das denn sein, Light-kun? Wenn man sich einmal etwas gesucht hat, an das man glauben, an dem man festhalten kann, wie soll man es dann so leicht ersetzen können? Es müsste etwas mindestens Gleichwertiges sein.“

Lights Blick verdunkelte sich. Was hatte er nur wieder mit einem einzigen Satz losgetreten? Er hätte sich dafür ohrfeigen können, nicht einfach seinen Mund gehalten zu haben. Vielen Aussagen merkte man vorher nicht an, wie schwer sie wiegen konnten, wenn man sie einmal ausgesprochen hatte. Doch vielleicht war es gut so. Wie sonst, wenn nicht in Diskussionen und Auseinandersetzungen, konnte man einen anderen Menschen kennen lernen und ihm näher kommen? Keine enge Beziehung konnte ohne Streit und Gegensatz bestehen. Sonst war das zwischenmenschliche Verhältnis keinen Heller wert.

„Wer religiös ist, hat es einfach“, stellte L teilnahmslos fest. „Er kann an Gott glauben, an das Jenseits, er kann seine Hoffnung im Propheten seines Dogmas sehen. Verlangt es dem Menschen, wider seine Vernunft, nach einem Mysterium? Oder würde er sich auch ohne das Übernatürliche lieber an das Schicksal als an den Zufall klammern? Damit sein eigenes Leben nicht zu einer willkürlichen Aneinanderreihung von Ereignissen verkommt. Damit man so tun kann, als hätte alles einen Sinn. Was sehen Kiras Anhänger in ihm? Einen Menschen, einen Propheten, einen Gott?“

Light beugte sich nach vorn, stützte die Unterarme auf seine Knie und verschränkte die Hände ineinander.

„Wie soll man einen Gott so leicht ersetzen können?“, fragte L nachdenklich.

„In jeder Religion oder Ideologie werden neue Propheten und Führer erschaffen“, antwortete Light. „Ein alter Gott wird durch den nächsten im Kampf besiegt und ersetzt. Fortan wird der einstige Gott als der ursprünglich böse Widerpart hingestellt. Und sein Ersatz ist plötzlich das Gute an sich, als wäre es nie anders gewesen. Die Liebe und Hingabe eines Menschen ins Gegenteil zu verkehren, ist viel einfacher, als man annehmen mag. Es ist sogar erschreckend leichter, je größer die Liebe vorher war.“ Light versuchte nicht mehr, seine Worte genau abzuwägen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, nichts Falsches zu sagen. Es war ohnehin unmöglich, vollständig die Konsequenzen abzuschätzen. Der Meisterdetektiv würde immer bloß das in Light sehen, was er sehen wollte, und er würde überall Indizien finden, um seine Theorie bestätigt zu wissen. Wenn Light tatsächlich den einen Freund gefunden haben sollte, den er wiederum in L zu sehen glaubte, dann war es unsinnig, sich zu verstellen.

„Ein Wechsel vollzieht sich aber nicht ohne weiteres und erst recht nicht von jetzt auf gleich“, meinte L und ließ seine Arme schlaff neben seinem Körper herabhängen, während er die Wange auf sein angezogenes Knie bettete. „In den großen Weltreligionen wurde scheinbar Unmögliches vollbracht und Gegenleistungen wurden dafür eingefordert. Ein Prophet wird nicht einfach so zum Gott. Es reicht nicht, dass ein Mensch Gutes tut. Damit er angebetet wird, muss er schon Wunder vollbringen.“

„Du meinst beispielsweise das Meer teilen, Blinde heilen oder wie durch Zauberhand Verbrecher hinrichten?“

„Ja, Light-kun, so etwas in der Art. Aber Unmögliches bewerkstelligen, meinetwegen einem Menschen das ewige Leben zu schenken, das können den Mythen zufolge nicht nur die von Gott Gesegneten, sondern auch Teufel und Dämonen. Was als gut oder böse gilt, beurteilt jeder nach eigenem Ermessen und nicht selten hängt es vom Motiv des Handelnden ab. Was sind seine Beweggründe, handelt er nur für sich selbst oder für andere, wozu ist er bereit, was würde er geben...?“

„Mal abgesehen davon, dass die meisten Propheten wahrscheinlich irgendwelche Spinner waren“, warf Light ein wenig spöttisch ein, „sie handelten augenscheinlich für ihren Glauben, für ihre Gemeinde und opferten sich dafür selbst.“

„Es verlangt einiges, um einen vergöttlichten Menschen ersetzen zu können. Und es verlangt auch einiges, um vom Propheten zum Gott aufzusteigen. Jesus Christus, als Vertreter einer der heutzutage größten Weltreligionen, hat diesen Sprung geschafft. Doch was musste er tun, um Hoffnung und einen neuen Glauben in die Welt zu bringen? Was hat er hierfür getan, Light-kun?“

Der Angesprochene antwortete leise:

„Er starb dafür.“

„Richtig.“

 

Das Atmen fiel ihm schwer. Light lag wie versteinert im Bett, starrte in die Dunkelheit und versuchte das Gefühl seiner zugeschnürten Kehle zu ignorieren. Seit der letzten Antwort seines Freundes hatte der Jüngere kein Wort mehr über die Lippen gebracht, obgleich ihm eine Frage auf der Zunge brannte. Diese Frage kreiste durch seine Gedanken, wiederholte sich ein ums andere Mal im stets gleichen Wortlaut und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Zugleich erschöpfte ihn die Anspannung, von der er nicht wusste, ob sie daher rührte, dass er diese Frage mit aller Kraft zurückhalten wollte, oder ob er im Gegenteil sogar nach der Überwindung suchte, um sie endlich auszusprechen.

Light konnte nicht schlafen. Er spürte sowohl den Druck in seinem Inneren als auch den leichten Druck von Ls Körper, welcher ihn kaum von hinten berührte. Vor ein paar Minuten hatte sich der Detektiv unruhig bewegt und war Light dabei näher gekommen. Näher, als es diesem lieb war. Dadurch lagen sie jetzt Rücken an Rücken. Keiner wusste vom Anderen, ob er noch wachte oder bereits schlief.

Light hielt die Luft an und atmete dann langsam aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er während seiner Erstarrung versucht hatte, tiefe und gleichmäßige Atemzüge zu tun, als ob er schlafen würde. Wenn er demzufolge L etwas vorspielen wollte, dann musste er davon ausgehen, dass dieser genauso wach lag wie er selbst.

„Na los, Light-kun. Stell sie mir schon.“

„Wie bitte?“ Erschrocken löste sich Light von seinem Partner, der plötzlich zu sprechen begonnen hatte, und richtete sich ein wenig im Bett auf, um sich umzudrehen und zu ihm hinüberschauen zu können. Es überraschte ihn, wie leicht es auf einmal war, seine starre Haltung aufzugeben.

„Deine Frage“, antwortete L völlig reglos. Er wandte sich seinem Freund nicht zu.

„Warum hast du...“, begann Light. „Was bezweckst du damit, wenn du mich... wenn du mir...“

„Das ist nicht deine Frage.“

Light öffnete den Mund, anstatt jedoch erneut zum Reden anzusetzen, versuchte er lediglich besser Luft zu bekommen. Er kannte von sich nicht, dass er um Atem oder Worte ringen musste. Normalerweise zitterten auch seine Lippen nicht so schnell. Aber jetzt griffen seine rastlosen Gedanken ins Leere und seine Brust zog sich zusammen, als würde ein Vakuum in seiner Körpermitte hausen.

„Ryuzaki“, sagte Light und merkte, wie falsch es in seinen Ohren klang. Er beugte sich nach vorn, hob einen Arm über Ls liegenden Körper, um sich auf der anderen Seite abzustützen, und schaute angespannt auf seinen Freund hinab, den er trotz seiner Haltung nicht berührte. Erst dann schaffte er es, erneut zu sprechen. „L, willst du etwa...?“

Wieder stockte Light. Es war nicht möglich. Er konnte es nicht.

„Nein.“ L drehte leicht den Kopf und schaute in der Dunkelheit zu ihm hinauf. Nur seine Pupillen waren noch schwärzer als die Nacht. „Ich denke, so müsste die Antwort auf deine Frage lauten, Light-kun: Nein.“ Der Jüngere starrte in Ls Gesicht. Im Zwielicht konnte er kaum etwas von dessen Mimik erkennen, die sich unentwegt unter der unzureichenden Sehfähigkeit menschlicher Augen zu wandeln schien. Der Mund dieses kaum erkennbaren Gesichtes bewegte sich in der Finsternis wie ein unwirklicher Schemen. Einzig die folgenden Worte des Detektivs zeichneten sich für Lights Sinne messerscharf ab. „Wenn es allerdings unumgänglich ist, dann will ich wenigstens...“

L stockte. Hatte die schwere samtene Stille auch ihm die Stimme geraubt?

Einige Sekunden lang blickte er noch hinauf zu Light, der ihn, wenn er es richtig erkannte, schmerzlich musterte. Dann ließ L den Kopf wieder zur Seite sinken.

„Genauso wenig wie du deine Frage aussprechen kannst, Light-kun, genauso wenig kann ich dir im Moment eine Antwort geben.“

Daraufhin atmete Light geräuschvoll aus und warf sich zurück auf das Bett. Er hatte ohnehin nichts anderes erwartet. Mit dem Gesicht zur Decke meinte er in amüsierter Hilflosigkeit:

„In letzter Zeit habe ich wirklich Schwierigkeiten, dich zu verstehen, Ryuzaki.“

„Mach dir keinen Kopf deswegen“, sagte L gleichmütig, „mir geht es ganz ähnlich.“

 

„Sie ist entkommen!“ Mogi klang sogar durch die telefonische Übertragung ungewohnt reumütig und panisch. „Misa ist mir durch einen Trick entwischt. Sie hat auf der Toilette mit einer Freundin die Kleider getauscht und diese danach als täuschenden Ersatz zu mir geschickt. Es fiel mir zwar sofort auf, aber da war Misa schon längst in ihrer Verkleidung unbemerkt an mir vorbeigelaufen. Ich bin darauf hereingefallen. Es tut mir leid.“

In der Zentrale vernahmen die Mitglieder der Sonderkommission diese Nachricht mit Sorge. Misa hatte ihr Mobiltelefon ausgeschaltet, sodass Light sie nicht erreichen konnte. Schon allein dieser Umstand ließ L stutzig werden. Am vorigen Tag war ihm sofort aufgefallen, wie wenig Widerstand Misa geleistet hatte, als Light sie darum bat, sich nicht weiter einzumischen. Normalerweise tat das blonde Mädchen alles für ihre große Liebe und dann sollte sie so rasch nachgeben, nur weil es um ihre eigene Sicherheit ging? L hegte einen bedrohlichen Verdacht. Möglicherweise...

„Ist Misa auf eigene Faust losgezogen, weil sie irgendeinen Plan verfolgt, mit dem sie glaubt, uns nützlich zu sein?“ Verblüfft hörte L, wie Light exakt das aussprach, was er selbst gerade dachte. Die beiden Männer tauschten einen unheilvollen Blick.

 

„Higuchi ist Kira!“ Freudig erregt und mit ausgebreiteten Armen platzte die Neuigkeit sofort aus Misa heraus, als sie von ihrem Alleingang zurückgekehrt in der Ermittlungszentrale eintraf. Aus ihrem Mobiltelefon, das sie den anderen Anwesenden entgegenstreckte, erklang die aufgenommene Stimme von Higuchi Kyosuke, dem Bereichsleiter für die Entwicklung neuer Technologien bei Yotsuba:

„Da ich Kira bin, werde ich die Tötung von Verbrechern aussetzen, damit du mir vertraust. Und wenn du mir dann glaubst, werden wir heiraten.“

L schwieg verbittert. Selbst wenn Higuchi tatsächlich Kira sein sollte, war es unter diesen Umständen schwierig, ihn nur aufgrund eines unzulässigen Geständnisses festzunehmen. Wenn sowohl die firmenrelevanten Morde als auch die Exekutionen von Verbrechern plötzlich aufhörten, war dies erstens kein Beweis für Higuchis Täterschaft und zweitens, was sich als weitaus ungünstiger herausstellte, war es dadurch nicht möglich, seiner Tötungsmethode auf die Schliche zu kommen.

Misa erklärte Light gerade, dass sie Higuchi zum Reden gebracht hatte, indem sie behauptete, der zweite Kira zu sein. Da der alleinstehende Firmenmitarbeiter ein reges Interesse an dem jungen Popidol hegte, war er sofort darauf angesprungen.

„Verdammt, ich habe dir doch gesagt, dass du genau das dementieren sollst!“ Light verbarg seine Beunruhigung in keiner Weise. Wie konnte sich das Mädchen so unbedarft in solche Gefahr begeben?

„A...aber jetzt wissen wir, dass Higuchi Kira ist“, verteidigte sich Misa kleinlaut, „und wir müssen ihn jetzt nur noch verhaften.“

„Eben nicht! Er muss doch nur mit den anderen Konzernmitgliedern sprechen und darum bitten, die Morde auszusetzen, um dich als zweiten Kira auf ihre Seite zu ziehen. Damit haben wir rein gar nichts gewonnen, weil wir noch immer nicht wissen, wer wirklich Kira ist... aber warte!“ Light wandte sich an L, der sich bislang herausgehalten hatte. „Wir brauchen ja später nur Namikawa zu fragen, ob diese Sache überhaupt unter den Sieben erörtert wurde, bevor die Morde aufhörten.“

„Das stimmt...“, bestätigte L, während er konzentriert mit ein paar Zuckerwürfeln einen Turm zwischen Henkel und Tassenrand aufbaute. Einstimmig berieten die Ermittler nun über den möglichen weiteren Verlauf der Ereignisse. Zwar kamen sie zu dem Schluss, dass sie sich, sollten die Morde demnächst tatsächlich aufhören, der Schuldigkeit Higuchis sicher sein konnten, doch relativierte Light diesen Gewinn mit den Worten:

„Auf diese Weise werden wir nichts über die Methode des Tötens herausfinden. Wenn die Morde aufhören, werden wir die Methode auch nicht mehr beobachten können.“ Zum wiederholten Mal sprach Light die Gedanken seines Partners aus und nahm damit in Kauf, dass weitere Todesopfer für die Lösung des Falles vonnöten sein würden. Beiden Ermittlern war klar, dass sie Kira nur ergreifen konnten, wenn sie ihn auf frischer Tat ertappten. Misas Erklärungen, wie sie auf Higuchi gekommen war und ihn von sich überzeugen konnte, waren zwar äußerst fadenscheinig, doch im Augenblick mussten sie sich mit der Situation arrangieren.

„Es ist zu spät, um sich noch über seine Tötungsmethode zu unterhalten. Wir müssen Higuchi hochnehmen“, verlangte Light eindringlich.

„Meinst du, um die Gefahr für Misa abzuwenden?“

„Ja, genau!“ Light wollte nicht riskieren, dass noch mehr unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten, selbst wenn das Mädchen aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht so unschuldig war. Er fühlte sich für Misa verantwortlich, die nur seinetwegen jedes Wagnis einging. Gleichzeitig hatte Light das Bedürfnis, die Einkalkulierung aller weiteren Opfer wiedergutzumachen und durch einen raschen Erfolg zu rechtfertigen. „Misa hat das alles getan, weil sie dachte, wir könnten so Higuchi erwischen. Wir haben keine Wahl. Vielleicht finden wir die Methode noch heraus, nachdem wir ihn geschnappt haben.“

L hatte die beiden Blöcke seines Yokan, eine aus Bohnenmus gefertigte, geleeartig erstarrte Süßigkeit, mit einem Zahnstocher ineinander gesteckt und war mittlerweile damit beschäftigt, einen zweiten Zuckerwürfelturm darauf zu errichten. Lights Einwand war durchaus berechtigt. In den meisten Fällen dachten die zwei Männer ohnehin annähernd dasselbe. Einen entscheidenden Unterschied gab es dennoch: Lights Ziel war Higuchi, das von L hingegen...

„Wir müssen sowieso mit der Verhaftung warten, bis wir feststellen, dass keine Verbrecher mehr sterben“, legte L dar, wobei er sich einen Zuckerwürfel in den Mund schob, „lasst mich solange noch überlegen.“ Er kontaktierte Wedy und erkundigte sich nach dem Stand der Überwachungsmöglichkeiten im Firmengebäude des japanischen Konzerns. Den Angaben der Agentin zufolge waren sie mittlerweile in der Lage, siebzig Prozent der Aktivitäten dort zu verfolgen. L wies sie daraufhin an, das Hauptaugenmerk auf Higuchi zu lenken und im Speziellen all seine teuren Autos zu verkabeln.

„Wir sollten Higuchi...“, meinte L und hielt einen Moment inne, „...wir sollten Kira in eine Situation bringen, in der er draußen, vor unseren Augen, jemanden tötet.“

„Hast du etwa eine Idee?“, fragte Light nichtsahnend.

„Ich hätte da vielleicht eine, aber vorher gibt es noch etwas, das ich klären muss...“ Wieder zögerte L und dachte nach, bevor er mit beinahe schwerer Stimme weitersprach. „Light-kun, tut mir leid, dass ich noch einmal auf das Thema zurückkomme und dich direkt fragen muss...“

„Was ist denn?“

„Erinnerst du dich ans Töten?“

Lights Augen weiteten sich und ein Stich fuhr durch seine Brust, an den er sich eigentlich längst hätte gewöhnen müssen.

„Reitest du immer noch darauf herum...? Wie oft soll ich noch sagen, dass ich nicht Kira bin!“

„Bitte beantworte meine Frage!“ Ls Stimme klang nachdrücklich und ernst, als würde er sich selbst mit seinen Worten angreifen. Er wirkte aufgewühlt und angespannt. „Erinnerst du dich?“

„Nein, ich erinnere mich nicht...“

Misa verneinte die Frage ebenfalls. Im Gegensatz zu dem fast gleichaltrigen jungen Mann allerdings schien sie nicht allzu stark davon verletzt zu sein. Light wollte es nicht mehr hören. Er wollte nicht fortwährend seine eigenen Gedanken aus den Worten des Meisterdetektivs hören, der ihm damit nur immer wieder seine eigenen Zweifel vor Augen führte. Er wollte es nicht wahrhaben.

„Light-kun, bitte analysiere ernsthaft, was ich jetzt sagen werde, und ziehe deine Schlüsse. Von deiner Antwort wird meine Entscheidung abhängen, ob wir Kira festnehmen.“ L legte Vertrauen und Zuversicht in seine Stimme, was angesichts seiner Forderung völlig unpassend erschien. Er fing Lights Blick ein, starrte durch die perfekte Fassade bis auf den Grund von dessen Seele und war sich sicher, dass dieser ihm nicht ausweichen würde. „Yagami Light war Kira. Dann sind seine Fähigkeiten auf einen Anderen übergegangen und Yagami Light vergisst, dass er Kira gewesen ist. Ich brauche eine Analyse basierend auf dieser Hypothese. Kannst du dich da hineinversetzen?“

„...Ja, ich kann es versuchen.“ Der Angesprochene erwiderte den Blick seines Freundes unverwandt und ließ schließlich dessen Gedankenspiel zu.

„Yagami Light war Kira“, wiederholte L langsam. „Dann sind seine Fähigkeiten auf einen Anderen übergegangen. War es Yagami Lights Absicht, dass seine Fähigkeiten übertragen wurden? Oder gab es jemanden im Hintergrund, der ihn zu Kira gemacht hat und die entsprechenden Fähigkeiten schließlich auf eine andere Person übertrug? Was ist richtig?“

Lange Zeit schwieg Light. Er schloss die Augen und versuchte so tief in sein Inneres zu schauen, wie es normalerweise nur L tat. Dabei kannte er die Antwort schon längst.

„Unter diesen Voraussetzungen wäre es mit Yagami Lights Absicht geschehen“, entgegnete er und atmete auf.

Der kleine Tod

Der kleine Tod

 

Es konnte keinen Gott geben, keinen Teufel, keinen Demiurg oder ein ähnliches allmächtiges Wesen, das die Fäden im Hintergrund in der Hand hielt. Wäre es so gewesen, hätte sich die Sonderkommission damit abfinden müssen, einen Kampf gegen Windmühlen zu führen. Der Krieg zwischen Kira und L würde niemals enden. Oder L würde irgendwann zwangsläufig verlieren. Doch die beiden Hauptermittler waren sich einig, dass Kira menschlich sein musste. Er durfte einfach nichts anderes sein als ein Mensch.

Um ebenjenen menschlichen Serienkiller mit göttlicher Kraft aufzuhalten, mussten sie zuerst Higuchi festnehmen. Zumindest L sah den momentanen Stand der Ermittlungen auf diese Weise. Higuchi Kyosuke, dieser Ersatzmörder, das Surrogat des echten Kiras, musste endlich aus dem Weg geräumt werden.

Nervös saß Light am Schreibtisch in ihren Privaträumen und schrieb an dem Drehbuch für die Sondersendung, die sie auf Sakura TV ausstrahlen wollten. Darin würde der vermeintlich verstorbene Matsuda die Identität von Kira enthüllen und Higuchi damit in die Enge treiben. Innerhalb kürzester Zeit waren sie der Lösung des Falles so nahe gekommen. Trotzdem empfand Light eine unangenehme Ruhelosigkeit. Er fragte sich, ob es daran lag, dass Misa erst ihren eigensinnigen Kopf hatte durchsetzen müssen, bevor die Stagnation beendet werden konnte. Mit seiner moralischen Einstellung kam es Light manchmal so vor, als würde er seinen Partner unnötig behindern. Doch daran lag es nicht, dass er sich jetzt so ruhelos fühlte. Immerhin hatte Light bewiesen, dass er auch allein Erfolg haben konnte, wenn L durch unerklärliche Tatenlosigkeit gelähmt war.

Zwar war der Sohn des ehemaligen Polizeichefs noch jung und nur ein Student, doch konnte er durchaus nützlich sein und bei den Ermittlungen helfen. Andererseits war er der Hauptverdächtige. L hielt ihn ohnehin für Kira. Wahrscheinlich war Light in erster Linie deshalb im Team und nicht wegen seines detektivischen Gespürs oder weil L ihn vielleicht gern an seiner Seite wissen wollte oder sogar in irgendeiner Weise seine Nähe schätzte. Eigentlich war Light das bewusst. Der Meisterdetektiv hatte ihn mehrmals als Freund bezeichnet, ihn aber genauso oft darauf hingewiesen, wie wenig man auf seine Worte vertrauen konnte, wie viel er lediglich aus Kalkül sagte.

Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Light merkte genau, dass es keinen Sinn hatte, ständig darüber nachzugrübeln. Dennoch konnte er seine Überlegungen nicht einfach abstellen. Es wäre leichter gewesen, wenn L ihm überhaupt nichts bedeutet hätte.

„Bist du schon wieder beleidigt, weil ich von dir verlangt habe, dich in Kira hineinzuversetzen, Light-kun?“

„Ich bin nicht beleidigt“, wischte Light die Bemerkung genervt beiseite. Er drehte sich nicht zu L herum, der ihm vermutlich schon seit einiger Zeit über die Schulter geschaut und bemerkt hatte, dass Light gar nichts aufschrieb, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Das weiße Blatt vor ihm auf dem Tisch blieb leer.

„Inspektor Yagami hat allzu oft deutlich gemacht, dass es ihm missfällt, wenn sein Sohn sich in Kira hineinversetzt.“ Light spürte, wie sich L mit dem Rücken gegen seine Lehne stützte. Wahrscheinlich vergrub er dabei die Hände in den Hosentaschen und starrte gelangweilt an die Zimmerdecke. So, wie er es immer tat. „Doch Light-kun rechtfertigte sich damals, er würde wohl kaum erzählen, wie er als Kira handeln würde, wenn er wirklich Kira wäre, nicht wahr?“ Der Jüngere brauchte einen Moment, um zu verstehen, was L meinte und auf welche Situation er ansprach. „Light-kun scheint seine Meinung geändert zu haben. Hat es ihm früher weniger ausgemacht als jetzt?“

Unruhig ließ Light den Stift zwischen seinen Fingern wirbeln.

„Yagami-san mag das Rollenspiel mit Kira womöglich deshalb nicht“, fuhr L fort, „weil ihm bewusst zu sein scheint, wozu sein eigener Sohn fähig ist. Er sagt, er würde nicht zweifeln, weil er weiß, dass Yagami Light nicht Kira ist. Doch das ist kein Wissen oder Gewissheit, sondern nur Vertrauen. Wenn Yagami-san es wirklich wüsste, wenn er nicht zweifeln würde, dann würde er Light-kun...“

„Hör auf damit.“ Den Stift kurzerhand beiseite legend verschränkte Light die Hände ineinander und lehnte sich zurück. L rührte sich keinen Millimeter. Stumm wartete er ab. „Ich bin kein Diktiergerät, Ryuzaki. Du redest doch gerade mit mir, oder nicht? Dann verhalte dich auch so. Sprich mich direkt an und lass diese Umschreibungen, als wäre ich nur eben zufällig im selben Raum.“

„Bist du wütend?“

„Nein“, antwortete Light sofort. Dann korrigierte er sich. „Doch... ich weiß nicht. Normalerweise stört es mich nicht, aber im Moment stoße ich mich an deinen Formulierungen. Wenn du andere Menschen anredest, all diese Floskeln, das ist keine Höflichkeit, weißt du? Nein, du distanzierst dich damit. Du distanzierst dich, indem du Namen verwendest, anstatt mich oder dich direkt anzusprechen. Ich fange schon selbst an, von mir in der dritten Person zu reden.“

„Light-kun...“

„Nenn mich nicht so!“, unterbrach Light den Anderen unwirsch. Er machte eine abrupte Bewegung mit der Hand, blieb allerdings sitzen. „Das ist doch alles nur Mittel zum Zweck, um den Schein einer Freundschaft zu wahren. Kira ist der Name für dein Ideal von einem Feind. Yagami Light ist der Name für deinen Hauptverdächtigen. Und Light-kun ist...“ Jählings riss sein wütendes Aufbegehren ab. Light konnte nicht weitersprechen. Er versuchte den unangenehmen Knoten in seinem Hals herunterzuschlucken, doch es gelang ihm nicht.

„Light-kun ist...“, begann L vorsichtig, „mein Freund?“

„Nein, er versucht nur ständig es zu sein.“ Light schaute zur Seite und antwortete sehr leise, damit seine Stimme nicht brach. Eine Distanz aufzubauen war tatsächlich einfacher. Es war einfacher, von sich selbst so zu sprechen, als spräche man von einem Anderen. Darum fuhr Light in der dritten Person fort. „Light-kun versucht etwas zu sein, das nie irgendjemand sein kann. Etwas, das auch niemand für ihn sein kann.“

„Außer L“, warf der Meisterdetektiv ein. Die Worte klangen ungewohnt für ihn. Unsicher und zurückhaltend. Wie kalt erstarrte Hoffnung. „Er kann das doch, nicht wahr? L kann der eine Freund sein.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, entgegnete Light bitter. „Ich kenne L nicht.“

Der Detektiv seufzte und stieß sich von der Stuhllehne ab, sodass die Metallkette leise klirrte.

„Du verhältst dich wie ein Kind“, meinte er geduldig. „Ich verstehe nicht, was du eigentlich von mir willst. Du weißt es wahrscheinlich selbst nicht. Soll ich nun dein Freund sein oder nicht?“

„Versuch es nicht auf der Schiene!“, entgegnete Light harsch und drehte sich im Aufstehen herum. Dass L ihn ein Kind genannt hatte, machte ihn nur noch wütender. „Du siehst mich in Wirklichkeit gar nicht als deinen Freund. Kannst du so etwas wie Freundschaft überhaupt empfinden?“ Er griff L am Kragen und schüttelte ihn heftig, als könnte er damit seiner Wut Einhalt gebieten. „Was soll dieser ständige Wechsel zwischen Freund und Feind? Wenn du der Überzeugung bist, dass ich Kira bin, dann ergibt es doch keinen Sinn, auf unsere Freundschaft zu bestehen und sogar Misa mit ins Boot zu holen. Zwei Freunde meinst du nun angeblich zu haben, deine einzigen Freunde, obwohl wir beide deine Hauptverdächtigen sind. Suchst du dir denn wirklich deine Freunde aus deinen Feinden aus? Wir bedrohen quasi dein Leben! Also warum tust du das? Ich habe das Gefühl, du würdest jeden um dich herum verarschen, um deine Ziele zu verwirklichen. Du lässt niemanden an dich heran, stößt andere vor den Kopf und...“ Light ließ den anderen Mann los und holte Luft. „Am Ende ist dir doch alles völlig egal. Du lügst und schreckst auch nicht davor zurück, Menschen zu opfern und Verbrechen zu begehen, um deine eigene Gerechtigkeit zu vertreten. Eigentlich bist du auch nicht anders als Kira!“

Mit einer ruckartigen Bewegung wandte Light den Kopf zur Seite. Sein braunes Haar verdeckte zum Teil seine Augen, doch konnte L deutlich sehen, wie sein Partner die Zähne aufeinanderbiss und seine Wut niederzukämpfen versuchte.

„Das mag sein“, sagte L scheinbar ungerührt. Er war fasziniert von der Emotionalität des Anderen und spürte in sich das Verlangen, ihn noch weiter zu provozieren. „Aber nur wer am Ende gewinnt, Light-kun, bestimmt darüber, was wirklich gerecht ist. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Wer verliert, der war schon von Anfang an im Unrecht.“

„Verdammt, Ryuzaki! Meinst du das ernst?“ Wieder langte Light nach ihm, sodass L ein paar Schritte zurückwich und gegen den Rand des Bettes stolperte. „Oder ist dein kühles Auftreten nur gespielt?“ Light hielt ihn fest und sprach eindringlich weiter. „Manchmal wünschte ich, du würdest dich mehr wie ein Mensch verhalten, nicht wie eine leblose Puppe.“

„Dito“, sagte L nur und dehnte das Wort in die Länge, als wollte er sich zusätzlich über Lights Aussagen lustig machen. Dessen Blick verdüsterte sich. Er griff nach Ls Schultern und stieß ihn rücklings auf das Bett. Der Detektiv gab einen überraschten Laut von sich. Einen Wimpernschlag später zerrte Light ihn mit der linken Hand am Kragen zu sich herauf. Dabei hob er mit der anderen Hand die Kette über Ls Kopf, um sie hinter dessen Körper fallen zu lassen. Dann verlagerte Light sein gesamtes Gewicht nach vorn, sodass er seinen Partner an den Schultern zurück auf das Bett drücken konnte.

„Was zum Teufel...?“, setzte L soeben an.

„Da fragst du den Falschen“, entgegnete Light und hielt die Metallkette fest, die straff unter dessen Rücken verlief und ihm somit den rechten Arm nahezu bewegungsunfähig an die Seite presste. Während Light seine Knie auf Ls Beinen positionierte, wehrte er die Angriffe ab, die dieser mit dem noch freien Arm gegen ihn ausführte. Ls Faust traf ihn hart im Gesicht. Endlich schaffte Light es, nach dem linken Handgelenk des Anderen zu greifen.

Für L standen die Emotionen, die nun durch seinen Körper wüteten, im heftigen Streit miteinander. Sein Verstand wollte die Situation verstehen und ausnutzen. Sein Trotz wollte sich nicht unterwerfen lassen. Doch da war noch ein letztes kleines Gefühl, das ihm einflüsterte, er sollte seine Gegenwehr besser aufgeben und sich fallen lassen.

Während L hin- und hergerissen war zwischen der Frage, wie ernst oder halbherzig er sich zur Wehr setzen sollte, hatte Light bereits den Rest der Kette um dessen Handgelenk gelegt und es mit einem unnachgiebigen Griff umschlossen, um dem unter ihm liegenden Mann auch die letzte Möglichkeit zur Bewegung zu rauben.

„Was soll das werden?“, fragte L unheilvoll.

„Nonverbale Kommunikation“, antwortete Light, „wenn ich dich schon nicht mit meiner Eloquenz überzeugen kann...“

„Humor ist ein seltenes Phänomen bei dir, Yagami-kun“, meinte L und bemühte sich um Distanziertheit, während er Lights Finger zu ignorieren versuchte, die unter sein weißes Oberteil glitten, „das zeugt von Unsicherheit. Also kann ich davon ausgehen, dass du selbst nicht weißt, was du tust.“

„Wer ist hier unsicher?“

Light strich mit seiner Hand über die nackte Haut seines Freundes, zeichnete die feinen Muskeln und Rippen nach, berührte beinahe unbeabsichtigt dessen Brustwarzen, erkundete mit seinen Fingern jeden Zentimeter, den er erreichen konnte. Und dabei spürte er deutlich Ls rasenden Herzschlag, der Lights eigenen beschleunigten Puls widerzuspiegeln schien.

Light beugte sich hinab und berührte mit bebenden Lippen den blassen Hals des Detektivs, wobei er seine Hand tiefer wandern ließ und rasch die Knöpfe von Ls Jeanshose öffnete, die diesem eigentlich zu groß war.

Trotz unkontrollierter Atmung kämpfte L darum, seine Stimme im nächsten Satz ruhig klingen zu lassen.

„Ich würde es begrüßen, wenn du jetzt bitte aufhören und deine Aufmerksamkeit von meiner taktilen Wahrnehmung auf wichtigere Dinge richten könntest.“

„Wichtigere Dinge?“, flüsterte Light unschuldig in sein Ohr und schob dabei die rechte Hand in dessen Boxershorts.

„Nicht das...!“, keuchte L überrascht. „Das meinte ich nicht.“ Jetzt, da sein eines Handgelenk nicht mehr von Light festgehalten wurde, konnte er zumindest seinen linken Arm benutzen, um den Jüngeren von sich zu drücken. Seine rechte Hand verkrampfte, das Metall der Fessel schnitt schmerzhaft in seine Haut, nicht aus Widerstand gegen seinen Partner, sondern gegen die Unkontrollierbarkeit seiner eigenen Schwäche. L versuchte, seine Beine unter dem Gewicht des Anderen zu bewegen. Das gelang jedoch nur bedingt. Der Abstand zwischen ihnen blieb gering.

„Ich würde sagen, jeder setzt seine Prioritäten anders“, meinte Light selbstbewusst und versuchte damit, seine Zweifel zu überspielen, die Unsicherheit, die er tatsächlich empfand. Zwar hatte er keinerlei Erfahrungen mit Männern, doch konnte man kaum über einen anderen Körper besser Bescheid wissen als über den des gleichen Geschlechts. Am Ende funktionierte jeder Mensch auf ähnliche Weise. Auch L.

Was hatte Light außerdem zu verlieren? Der Detektiv würde die Handschellen nicht aus persönlichen Gründen lösen, weil Rationalität und die Lösung des Falles für ihn an oberster Stelle standen. Nur Unehrlichkeit konnte die Bindung zwischen den beiden Männern zerstören. Doch ihn erreichen, die Distanz überwinden, das schien nur Kira zu schaffen. Um an L heranzukommen, musste Light vielleicht noch ein bisschen mehr wie Kira sein.

Darum ließ er sich von seinen Emotionen leiten. Er schob Ls Jeanshose und die Boxershorts ein weiteres Stück nach unten und riskierte es, seine Bewegungen zielgerichtet zu intensivieren.

„Ich meine es ernst“, stieß L zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor, „hör auf damit.“

„Kalt lässt dich das aber auch nicht, oder?“

Light spürte unter seinen Fingern, wie der andere Körper auf ihn reagierte, hörte Ls stockendes Atmen, das dieser zu unterdrücken versuchte, nahm dessen Nähe intensiver wahr als je zuvor.

Doch dem Meisterdetektiv wurde es nun zu viel. In seinen schwarzen Augen lagen Wut und Verwirrung, während er sich ernsthaft zur Wehr zu setzen begann. Mit aller Kraft versuchte er sich aufzurichten und schaffte es, trotz der Metallkette genügend Spielraum zu erlangen, damit er seine Hände gegen Lights Brustkorb drücken konnte. Dieser sah sich gezwungen, L an den Handgelenken festzuhalten und sein gesamtes Gewicht dafür einzusetzen, dessen Widerstand zu unterbinden. So blieb jedoch keinem von beiden die Möglichkeit, weiter zu agieren.

Light ignorierte die auf ihn gerichteten, stechend schwarzen Augen. Langsam und nachdenklich ließ er den Blick Ls Körper hinabwandern.

„Wag es nicht...“, klang plötzlich dessen tiefe Stimme rau und bedrohlich an sein Ohr. Doch lag noch eine andere Emotion in diesen Worten. Eine Emotion, die Light sanft lächeln ließ.

Aus diesem Grund beugte er sich hinab.

„Wir dürfen ni...“, protestierte L, konnte dabei aber kaum ein Keuchen unterdrücken, als er Lights Lippen und dessen Zunge spürte, genau dort, wo er normalerweise keine Berührungen duldete.

Warum? Was passierte hier? Was versprach sich Light davon? Würde Kira das tun?

Ein Chaos an Gedanken brach in Ls Kopf los, keinen konnte er wirklich greifen, keinen ordentlich durchdenken und analysieren, keinen einzigen konnte er beantworten.

Seine Hände verkrampften sich. Wo er Light zu erreichen vermochte, bohrte L seine Fingernägel in dessen Arm und kratzte über dessen Haut. Doch Lights Griff blieb unerbittlich. Ein Stöhnen entfloh Ls Kehle. Er schluckte hart und öffnete unwillkürlich die Lippen, um besser Luft zu bekommen, während sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug schmerzhaft hob und senkte.

Normalerweise hätte er die Kontrolle nicht verloren. Er durfte nicht daran denken, wem die Hände gehörten, die ihn festhielten, wessen Lippen und Zunge er spürte. Sacht streifte braunes Haar seine Haut. L konnte einfach nicht vergessen, dass es Light war, der ihm diese Nähe aufzwang.

Die Gegenwehr des Detektivs ließ nach. Er krallte sich im Stoff der Bettdecke fest, sodass Light seinen Griff um dessen linkes Handgelenk lockerte. L nutzte die Gelegenheit und vergrub seine Finger in dem braunen Haarschopf, versuchte diesen jedoch nur halbherzig von sich zu schieben. Nichtsdestotrotz ließ Light rechtzeitig von seinem Partner ab, bevor jener Rückhalt und Selbstbeherrschung verlor.

Erleichtert atmete L auf, doch das Herz hämmerte noch immer gegen seine Brust. Als er merkte, dass sich Light über ihn beugte, drehte er sofort den Kopf zur Seite. Er wollte ihm nicht in die Augen schauen müssen und starrte deshalb stur aus dem Fenster.

Light wunderte sich über dieses untypische Verhalten, da der Detektiv bisher noch keinem Blick ausgewichen war. Doch in Anbetracht der Situation geschah soeben einiges, was für beide Männer ungewöhnlich war.

Während Light die Stirn auf Ls Schlüsselbein sinken ließ, das unter dem hochgeschobenen Shirt hervortrat, glitt seine Hand wieder dessen Körper hinab.

„Light-kun, du weißt nicht, was du tust“, raunte L mit annähernd vorwurfsvoller Stimme.

„Spielt das denn eine Rolle?“, flüsterte dieser verärgert. „Außerdem weißt du es doch selbst nicht.“

Ls Atmung ging nur noch stoßweise, als er wieder den festen Griff spürte, diesmal weniger sanft, sondern eindeutig in voller Konsequenz. Er versuchte nicht mehr ernsthaft, den Anderen an seinem Tun zu hindern. Dafür war es längst zu spät.

Light hob den Kopf und sah zum ersten Mal die geschlossenen Augen des Meisterdetektivs. Die dunklen, von Schlafmangel umschatteten Lider zuckten, während Ls Keuchen ungehemmt über seine leicht geöffneten, blassen Lippen drang. Nichts Lebloses lag mehr in diesem Gesicht. War das jene Emotionalität und Menschlichkeit, die Light schon so oft in seinem Freund gesucht hatte? Mit den Hitzewellen, die sein eigenes Inneres durchfluteten, verflüchtigten sich diese Überlegungen allerdings rasch. Die leise Stimme der Vernunft schrie ungehört in Lights Kopf und versuchte ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es falsch war, was er tat. Dass er sein Handeln bald bereuen würde.

Obwohl die Nähe und Wärme des Anderen ihm fast den Verstand raubten, versuchte Light die Distanz zwischen ihnen auf ein Minimum zu reduzieren und berührte den Körper des fremden Mannes, als wäre es sein eigener.

Er konnte nur noch daran denken, dass es L war, den er unter seine Gewalt zwang.

Den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, jeden Ton erstickend setzte die Atmung des Detektivs für eine Sekunde aus. L warf den Kopf in den Nacken, während sich sein Körper anspannte. Ohne Rücksicht klammerte er sich an den Armen seines Partners fest. Light betrachtete jede Regung in dem sonst so gleichgültigen Gesicht und sah darin seinen eigenen Widerstreit aus Gegenwehr und Verlangen.

Unbewusst schob L sein mittlerweile vom Gewicht befreites Knie ein wenig hinauf zwischen Lights Beine, welcher daraufhin leise überrascht keuchte. Light merkte, wie auch sein eigener Körper auf die Situation reagierte. Doch was sollte er jetzt tun? Die Erkenntnis ließ ihn abrupt zurückweichen. Zugleich spürte er einen Fuß gegen seine Brust stoßen. Der Tritt warf ihn rückwärts vom Bett, sodass er über seine eigenen Beine stolperte und beinahe gefallen wäre. Als er sich noch rechtzeitig gefangen hatte, begegnete er Ls Blick. Und zum ersten Mal glaubte Light vollständig zu verstehen, was sich in diesen schwarzen Augen widerspiegelte.

Persona

Persona

 

Obwohl Light derjenige war, den der Blick aus den durchdringend schwarzen Augen derart schmerzte, dass seine Kehle zu brennen schien, war es L, der sich zuerst abwandte. In Windeseile hatte er seine Blöße bedeckt, seine Jeanshose wieder hinaufgezogen und die von den Metallfesseln zerschundene Hand in dem weißen Shirt vergraben. Er sprang vom Bett und schien davoneilen zu wollen, als hätte er vergessen, dass er selbstverschuldet mit dem anderen Mann verbunden war und gar nicht fliehen konnte. Doch sobald er einen Fuß auf den Boden setzte, verließ ihn sämtliche Kraft und er knickte ein. Die verkrampfte Lage auf dem Bett, das zuvor auf ihn ausgeübte Gewicht hatte die Blutzufuhr in seinen Beinen gehemmt, sodass er sie nun kaum zu spüren und erst recht nicht zu belasten vermochte. Seine Gliedmaßen kamen ihm bleiern und taub vor. Nicht zuletzt klang jenes unerträgliche Gefühl in seinem Körper nach.

L keuchte wütend. Seine Haltung verkörperte die Möglichkeit, jeden Moment hochschnellen und davonlaufen zu können, doch rührte er sich nicht. Die Möglichkeit war nur eine Illusion. Er konnte nicht mehr davonlaufen.

Mit einem Knie auf dem Boden, das andere Bein dagegen zum nächsten Schritt bereit, ließ L die Stirn auf sein angewinkeltes Bein sinken, während er neben dem Bett hockte und seinen schweren Atem zu beruhigen versuchte. Den Kontrollverlust spürte er bis in die Fingerspitzen. Er klammerte sich fester in den Stoff seines Shirts und merkte, wie es darunter unangenehm an seinem Bauch klebte. Das schwarze Haar verdeckte seine Augen.

Light konnte den Gesichtsausdruck seines Freundes lediglich erahnen. Wahrscheinlich hielt dieser den Kopf absichtlich gesenkt und versteckte sich hinter dem Vorhang seiner wirren Haare, um nicht zeigen zu müssen, wie gedemütigt er sich fühlte.

Wie erstarrt öffnete Light den Mund, sprach jedoch kein Wort, weil es nichts gab, was er hätte sagen, was sein Verhalten hätte rechtfertigen können. Seine geöffnete Handinnenfläche war feucht. Der Schock über sein unrechtes Handeln saß tief in seiner Brust, als hätte er sich in einen Fremden verwandelt, vielleicht in denjenigen, den L unentwegt aus ihm heraus ans Licht zerren wollte. Bereute Light seine Tat? Er konnte es nicht.

Endlich regte sich L. Er umklammerte sein linkes Bein und hob den Kopf, um Light direkt in die Augen zu starren. Es lag kein offensichtlicher Zorn mehr in seinem Blick, welcher so unergründlich war, dass es Light schwerfiel, Ls momentanen emotionalen Zustand zu erraten. Wenigstens war es keine Gleichgültigkeit.

Vorsichtig erhob sich L und verlagerte probeweise sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als wollte er Zeit gewinnen. Dann überwand er ruhig die kurze Distanz, die durch die Kette zwischen ihm und Light festgelegt war, und schlug dem Jüngeren präzise mit dem Handrücken ins Gesicht. Light war nicht überrascht und ließ es geschehen, doch die Art und Weise dieser Zurechtweisung schmerzte ihn sichtlich. Normalerweise benutzte L seine Füße zum Kämpfen, selten schlug er mit der Faust zu, und normalerweise handelte er bei körperlichen Auseinandersetzungen auch ähnlich wie Light im Affekt. Da er diesmal absichtsvoll und zielgerichtet mit dem Handrücken zugeschlagen hatte, wollte er Light offenbar degradieren und ihn gleichfalls demütigen.

„Erwarte nicht von mir, dass ich mich entschuldige“, sagte Light leise, aber mit Bestimmtheit. Was er getan hatte, konnte er mit Worten ohnehin nicht wieder auslöschen. L packte ihn an den Schultern und schaute ihm eindringlich in die Augen.

„Ich gebe nichts auf Entschuldigungen“, antwortete er mit ungewohnt rauer Stimme. „Sie können nichts rückgängig machen und nichts erklären.“

Nachdenklich musterte Light seinen Partner. Er überdachte dessen festen, jedoch nicht aggressiven Griff und die weiten Pupillen, die stumm nach Antworten suchten. Wenn L den Jüngeren von sich fernhalten wollte, dann war sein jetziges Verhalten eher kontraproduktiv. Innerlich wehrte sich Light gegen die körperliche Reaktion auf Ls Nähe, denn sobald er aus dessen Mimik las, was soeben zwischen ihnen geschehen war, schweiften seine Gedanken ab und die Kontrolle drohte ihm erneut zu entweichen. Mit trockener Kehle fragte Light, wobei er den Kopf zur Seite wandte:

„Du willst es also ungeschehen machen?“

„Das habe ich nicht gesagt, Light-kun. Ich will es nur verstehen.“ Ls Hände glitten herab. Er drückte mit der Geste einer merkwürdig sanften Entschiedenheit Light von sich, sodass dieser schwankend ein paar Schritte bis zur Wand zurückwich und tonlos sagte:

„Das will ich auch.“

Hoffentlich ging es bald vorüber. Light registrierte seine eigenen Aussagen nur flüchtig und schenkte ihnen kaum Aufmerksamkeit, weil er dafür keine Konzentration aufbringen konnte. Er spürte das Prickeln von der Ohrfeige auf seiner Wange und spürte es doch nicht, weil sein Schmerzempfinden im Augenblick gedämpft war. Und obwohl sich das Herz in seiner Brust verkrampfte, konnte Light das dumpf nachhallende Gefühl der Erregung nicht ignorieren.

„Kannst du die Handschellen bitte öffnen?“, fragte er aufschauend.

L schüttelte den Kopf.

„Ich bitte dich.“

„Nein“, antwortete der Meisterdetektiv entschieden.

„Verflucht!“ Light atmete schwer ein und wieder aus, stützte sich mit dem linken Arm an der Wand ab und wandte dem Anderen den Rücken zu. Als er plötzlich Ls Hand auf seiner Schulter fühlte, senkte er resignierend den Kopf.

„L...“, sagte er mit schwacher Stimme. Mehr musste er nicht erklären. Ihm war bewusst, dass der Detektiv seine Lage längst erkannt hatte. Als L beobachtete, wie Light mit sich rang, lächelte er leicht und sagte:

„Warum nennst du mich so? Du hast gesagt, jeder Name, den ich für dich verwende, entspräche der Rolle, die ich dir im jeweiligen Moment gerade zuschreibe, oder? Das ist soweit nichts Außergewöhnliches, schließlich macht das jeder Mensch. Darum frage ich dich nun meinerseits, wen siehst du in mir, wenn du mich, was selten genug vorkommt, L nennst?“

„Was weiß ich...“ Unwirsch wollte Light die Frage abtun, doch dann dachte er darüber nach und entschied sich anders. „Wahrscheinlich mache ich das immer dann, wenn es mir so vorkommt, als würdest du dich verhalten, wie du wirklich bist. Aber eigentlich ist das Verstehen zwischen uns nur eine Momentaufnahme. Oft erkenne ich dich gar nicht. Ich meine damit, dass ich dich nicht greifen kann. Es ist, als wärst du mir völlig fremd.“

„Wie ich wirklich bin, Light-kun? Du weißt, dass es das nicht gibt, dieses wirkliche Selbst. Allenfalls in absoluter Einsamkeit auf einer Art Hinterbühne, doch selbst dort wird es so etwas vermutlich nicht geben. Jedem Menschen gegenüber nimmt man eine bestimmte Rolle ein und verhält sich dementsprechend. Diese Rollen und Masken gehören genauso zum eigenen Ich wie der ganze Rest der Persönlichkeit.“

„Willst du damit sagen, du erscheinst mir nicht nur wegen deiner vielen Lügen so diffus und schwer greifbar, sondern auch deshalb, weil du mir gegenüber gleich mehrere Rollen abwechselnd spielst? Als Ankläger und Rivale, aber auch als Partner und Freund?“

„Wer weiß...“, meinte L leichthin. Seine Stimme klang dumpf, seine Worte erschienen wie abwesend gesprochen. „Vielleicht ist das die Antwort, vielleicht aber auch nicht.“

Light seufzte bitter und sagte:

„Mit dir sind manche Sachen viel komplizierter als mit anderen Menschen. Aber gleichzeitig sind andere Dinge so viel einfacher. Du machst es mir leicht und du machst es mir auch unglaublich schwer.“

„Lass uns ins Bad gehen.“ L nahm die Hand von Lights Schulter. „Ich muss mich sauber machen. Glaub nicht, dass du der Einzige bist, der sich der Demütigung aussetzen muss, wenn ich die Handschellen nicht öffne. Vergiss das nicht, Light-kun.“

Warum hörte es nicht auf? Nervös folgte ihm Light in das Badezimmer und ärgerte sich darüber, dass er die Kontrolle nicht zurückerlangen konnte. Lag es an der langen Zeit der Abstinenz? An ihm selbst, seiner mangelnden Selbstdisziplin? An L und einem emotional falsch interpretierten Verlangen nach Anerkennung?

Der Detektiv stellte sich vor das Waschbecken, entledigte sich des weißen Shirts und warf es verächtlich in eine Ecke des Badezimmers, wo bereits die Handschellen lagen, die er kurz zuvor geöffnet hatte. Light wandte sich ab und versuchte so rasch wie möglich, und doch mit linkischen Bewegungen, sich zu entkleiden. Danach stieg er in die Duschkabine, unentwegt darauf bedacht, L den Rücken zuzukehren.

Er starrte auf die hellen Fliesen an der Wand und sah wieder die mangels Schlaf dunkel umschatteten, geschlossenen Augen. Wollte er die Kontrolle überhaupt behalten?

„Tu dir keinen Zwang an“, sagte L hinter ihm und berührte Light scheinbar flüchtig an den Lenden. Sofort griff dieser nach vorn, um das kalte Wasser aufzudrehen, sodass der Andere von ihm abließ.

„Du findest das wohl amüsant?“, fragte er dann.

L antwortete nur:

„Auge um Auge.“

 

Im nüchternen und wachen Zustand gab es nur eine einzige Welt. Trotz verschiedener Gefühle, trotz des Anspruchs jedes Einzelnen, allein um die eigenen Emotionen zu wissen, mussten Individuen für den Erhalt der Gesellschaft das Zugeständnis machen, dass sie einander verstehen konnten. Wie konnte man von jemandem verlangen, Rücksicht zu nehmen, wenn man ihm nicht zubilligte, dass er alle Gefühle aus eigener Erfahrung kannte?

Die Hinterbühne lag in Einsamkeit. Der Traum war vielleicht der einzige Ort für diese Hinterbühne.

Light suchte vergeblich nach Schlaf, während er reglos im Bett lag. Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, dachte er und starrte hinauf in die Dunkelheit. Schlafen wir aber, so hat ein jeder seine eigene. Er wusste, dass ihm dieser Ort längst genommen worden war.

Es war schwer, jede Sekunde des Tages mit einer anderen Person teilen zu müssen, ohne Privatsphäre, ohne einen Moment des Innehaltens und Luftholens. Was es so schwer machte, war die permanente Konfrontation mit sich selbst.

 

Der nächste Tag brach an. Light warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die ihm sein Vater zur bestandenen Aufnahmeprüfung an der Universität geschenkt hatte. Dann schaute er auf die Datumsanzeige seines Computers. Morgen war der achtundzwanzigste Oktober. Der Tag, an dem ihr Plan in die Tat umgesetzt werden würde.

Derweil saß L in seiner üblichen Haltung auf dem Sofa. Vor ihm auf dem Glastisch war ein Teegedeck ausgebreitet. Verteilt auf mehreren Tellern waren zur Jahreszeit passende Nerikiri angerichtet, ein marzipanähnlicher Teig, der zierlich zu kleinen Kunstwerken geformt worden war. Die Süßigkeiten sahen aus wie buntes Herbstlaub. L nippte an seinem weißen Tee und warf noch ein weiteres Stück Zucker hinein.

Ihm gegenüber saß Herr Yagami im Sessel, trank seinen Kaffee mit etwas Milch und ohne Zucker, während er ernst in den Seiten der aktuellen Zeitung blätterte.

Selten war Light so sehr wie in diesem Moment bewusst, dass sich die öffentlichen Situationen stark von denen im Privaten unterschieden. Weder L noch ihm war anzumerken, dass sich etwas verändert hatte oder dass die beiden Ermittler sich anders zueinander verhalten würden. Es war, als wäre nie etwas geschehen, als würde sich nie etwas zwischen ihnen im Auge eines Außenstehenden verändern. Waren ihnen die Rollen, die sie im Team spielten, schon in Fleisch und Blut übergegangen? Light kam es eher so vor, als würde es ihn mehr Anstrengung kosten, sich nicht zu verstellen. War es denn überhaupt Verstellung oder Lüge, wenn jede seiner Masken zu ihm gehörte und ein Abbild seiner wahren Persönlichkeit darstellte?

„Das ist unfassbar!“, rief Herr Yagami empört aus. „Jetzt werden in der Zeitung schon statistische Erhebungen zu den vermutlichen Kira-Morden abgedruckt, um, wie es heißt, eine prozentuale Verteilung herauszustellen.“

Interessiert stand Light auf und ging zu seinem Vater hinüber. Dieser fuhr fort:

„Dabei wird noch nicht einmal berücksichtigt, wie stark zum Beispiel die Verbrecher aus den jeweiligen Milieus überhaupt im Gefängnis vertreten sind. Man stellt sich offenbar die Frage, ob Kira rassistische Tendenzen aufweist oder ähnliches.“

„Wie gerecht sind seine Urteile wirklich?“, las Light ungläubig vor, während er seinem Vater über die Schulter schaute.

„Wie kann man da überhaupt von Gerechtigkeit sprechen?“, fügte der ehemalige Polizeiinspektor hinzu. „Die Menschheit brauchte Jahrhunderte, um ein funktionierendes Rechtssystem aufzubauen, nur damit irgendjemand ohne jede Justizgewalt dahergelaufen kommt und mit seinen vermeintlichen Idealen alles über den Haufen wirft.“

„Es wäre zumindest nicht das erste Mal“, kommentierte L leise. „Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten, aber alle Professoren der Welt können keinen erschaffen.“

„Ich glaube nicht, dass Kira alles über den Haufen wirft“, meinte Light nachdenklich. „Die Polizei mag uns im Stich gelassen haben, aber die Instanz an sich wurde deshalb nicht abgeschafft. Sie wird zwar gerade unter Druck gesetzt, aber die Vergangenheit hat oft genug gezeigt, dass sich ständig ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht, der nach Extremsituationen trotzdem zu den Wurzeln zurückfindet. Es ist nahezu lächerlich, zu behaupten, die Demokratie zöge sich wie eine roter Faden von der griechischen Antike durch die Geschichte bis zur heutigen Zeit, weil jeder Staat sein einzigartiges System mit sich bringt. Kira führt momentan ein tyrannisches Regiment über die ganze Welt, doch Staaten werden sich in Unabhängigkeit immer an ihre Traditionen halten, die sie lediglich im System institutionalisiert haben, um ihnen den Anschein eines durchdachten Komplexes zu geben.“

„Aber wenn Kira nun seine Herrschaft behält...?“ Herr Yagami stellte diese Spekulation nur ungern in den Raum. Er würde alles Erdenkliche tun, um das zu verhindern.

„Früher oder später wird diese Schreckensherrschaft zusammenbrechen.“ L sprach seine Mutmaßung derart selbstsicher aus, als hätte er sie zuvor hinreichend belegt. „Kiras Weltanschauung ist zu melioristisch, um Bestand zu haben. Die Erschaffung einer Utopie ist das Eine. Jeder ist sich darüber im Klaren, dass es sich nur um eine Illusion handelt. Doch der Irrglaube, dass wir in der Zukunft einen vollständig guten Zustand erreichen, wird im Sande verlaufen. Es scheitert schon daran, einen genügend charismatischen Führer zu finden, der die Ideologie auf angebrachte Weise fortsetzt. Außerdem wird es, genauso wie es Menschen gibt, die Kira beipflichten, auch immer Menschen geben, die sich von ihm unterdrückt fühlen werden. Der Schrei nach Freiheit führt irgendwann fast immer zu Reformation oder Revolution.“

„Aber werden die Bürger nicht zu große Angst haben, sich jemals aufzulehnen?“, fragte Herr Yagami stirnrunzelnd. „Gewaltsam getötet zu werden hat die Menschen in den vorigen Epochen nicht davon abgehalten, die Machtinhaber anzugreifen. Schließlich geschah das für die Ehre. An die Namen derjenigen kann man sich noch heute erinnern. Aber Kira tötet auf unentdeckte Weise. Man würde sang- und klanglos untergehen, ohne etwas erreicht zu haben oder einen Märtyrertod gestorben zu sein, dem die Nachfolger gedenken.“

„Macht durch Furcht aufzubauen ist keine Neuheit, Vater.“ Light stützte seine Arme auf die Rückenlehne des Sessels. „Natürlich nutzen viele Staaten, besonders diktatorische, das Streben nach einem Ziel, um das Gemeinschaftsgefüge zu stärken. Doch das Fürchten steht vor dem Wünschen. Man wird schneller aktiv, wenn man befürchtet, es könnte noch schlechter werden, als dass man sich erhebt, damit ein bereits akzeptabler Zustand noch besser wird. Meistens gewöhnen sich die Bürger nach und nach an ihre Situation. Sie lehnen sich erst dann auf, wenn es nicht mehr anders möglich ist, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben, weil jede Konsequenz ihres Aufstands besser wäre als das Leben, das sie führen müssen.“

„Darüber hinaus“, schloss sich L der Aussage seines Partners an, „folgt das Volk nur seinem vorbestimmten Weg, denn selbst ein Aufstand wird meist von einem Anführer angezettelt, der nicht weniger charismatisch ist als das Oberhaupt selbst. Überhaupt unterscheidet sich der Bürger vom Sklaven nur in der Art der ihn antreibenden Stimuli. Ein Sklave wird bestraft, wenn er etwas falsch macht, Bürger dagegen werden belohnt, wenn ihre Handlungen Erfolg mit sich bringen. Eine Lenkung funktioniert aber von beiden Seiten gut. Die Strafe kann weit effektiver sein als der Lohn, aber sie ist auch ungleich gefährlicher. Zu harte Strafen können sich ins Gegenteil verkehren und zum Aufstand führen. Darum muss man die Einflussnahme sehr bedacht setzen, Zuckerbrot und Peitsche in dezenter Ausprägung, mit Sanktionen, die positiv wie negativ sind, aber stets sehr mild und vorsichtig, damit die Masse von der Lenkung nichts merkt.“

„Das klingt, als sei das Volk nur eine Herde aus dummen Schafen“, kritisierte Herr Yagami die Darstellung des Meisterdetektivs. Der ältere Mann wusste, dass die Masse leicht zu beeinflussen war, aber dennoch wollte er an das Gute in ihnen glauben, an ihre Aufrichtigkeit und Selbstbehauptung. Sein Sohn, der hinter ihm stand, pflichtete ihm bei.

„Nur weil sich die Bürger lenken lassen, geben sie deshalb nicht gleich vollständig ihr Denken und ihre Verantwortung ab. Freier Wille bedeutet nicht die Freiheit des Willens, sondern die Freiheit des Wollenden, denn frei ist in diesem Fall niemand und doch jeder gezwungenermaßen.“

L zuckte mit den Schultern und meinte:

„Dann besteht ihre Freiheit wohl nur noch darin, sich auszusuchen, wovon sie sich lenken lassen. Früher war Unwissen ein gefährlicher Faktor, doch heutzutage sind die Menschen weltweit miteinander vernetzt, sodass die ungezähmte Preisgabe von allem zur neuen Hydra geworden ist, ein Netzwerk, das um sich greift, egal wie viele Köpfe man ihm abzuschlagen versucht. Ein ständiger Informationsaustausch findet statt, der ein Segen, aber auch ein Fluch sein kann. Öffentlichkeit ist global und unkontrollierbar geworden.“

„Ob Flugblatt oder Weblog, ein öffentlicher Aufruhr der Masse war noch nie leicht unter Kontrolle zu bringen“, gab Light zu bedenken, „und es hat meistens dazu geführt, dass neue Ideen sich einen Weg bahnten, neue Ausdrucksformen der Meinungsäußerung oder Kunst und Kultur. Jeder ausgeübte Druck findet irgendwo auch ein Ventil.“

„Ist Fortschritt und Kultur dann nur das krankhafte Resultat unserer eigenen Unterdrückung?“, fragte L rhetorisch und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger ein Nerikiri hoch, das geformt war wie ein roter Apfel. „Die Motivation unserer technisch weiten Entwicklung hieße demnach Kapitalismus und somit oftmals auch Krieg.“

„Das ist doch nur eine Behauptung!“, widersprach Herr Yagami und faltete die Zeitung zusammen.

„Stimmt“, gab L scheinbar bereitwillig zu, „nur eine Behauptung, die sich schwer belegen lässt.“

Alles weitere, was es noch zu sagen gab, hob sich der Detektiv für später auf, wenn er mit Light allein sein würde. Es ergab schließlich mehr Sinn, mit jemandem darüber zu sprechen, der in realistischeren Bahnen dachte.

Überfluss

Überfluss

 

„Denkst du wirklich, es scheitert an dem Blick in die Zukunft?“

L schaute verwundert zu seinem jungen Partner auf, der sich vor einem der Computermonitore sitzend herumgedreht und die Arme ineinander verschränkt hatte. Der Meisterdetektiv wusste, was mit dessen Frage gemeint war, doch einen Moment lang amüsierte es ihn, dass Light tatsächlich gewartet hatte, bis sein Vater gegangen war. Herr Yagami hatte den Raum erst vor einer Minute verlassen, um seine Frau und seine Tochter zu besuchen. Vielleicht befürchtete der zweifache Familienvater nun, da die Untersuchungen in eine kritische Phase gelangt waren, dass ihm etwas zustoßen könnte. Es war vielleicht die letzte Gelegenheit, um alles zu sagen, was es noch zu sagen gab.

„Darüber haben wir schon einmal gesprochen“, fuhr Light erklärend fort. „Erinnerst du dich? Es erscheint manchmal so, als gäbe es nur zwei Arten von Staatstheorien. Bei der einen handelt es sich eigenartigerweise bloß um eine Krisenintervention, um die ganze Schlechtigkeit des Menschen in Schach zu halten, und bei der anderen ist man scheinbar mit einer kopflosen Utopie konfrontiert, die niemals verwirklicht werden kann. Du hast gesagt, Kiras Welt wäre zu melioristisch, um Bestand zu haben. Das mag in extremer Auslegung der Fall sein. Ich stimme dir zu, dass es einen starken charismatischen Führer braucht, um die Idee fortzusetzen, aber... ist nicht jeder Staat auf Verbesserung ausgerichtet? Alle Ideale, die als Orientierung dienen, heißen ja gerade so, weil sie nicht verwirklicht, sondern angestrebt werden sollen. Dass man sie nicht erreichen kann, ist kein Argument für ihre Widerlegung, sondern gerade ein Zeichen dessen, was sie sind.“

Ein Lächeln umspielte die blassen Lippen des Detektivs, als dieser sich erhob.

„Idealbilder sind die Voraussetzung für jedes System“, lenkte L ein, während er die linke Hand in seine Hosentasche schob und mit der rechten lässig ein imaginäres Tablett zu halten schien, auf welchem er Lights Argumente in der Luft balancierte. „So sollte es sein, sagt das jeweilige System, auch wenn es gar nicht so sein kann. Jeder weiß, dass es die perfekte Welt nicht gibt. Darum stellt das System eine ideale Theorie in den Raum und legt fest, dass es so und nicht anders funktioniert, und wenn es damit fertig ist, schickt es Suchtrupps los, um die Fehler zu finden, die einen Weg entdeckt haben, wie es doch anders geht.“

Mit einem Schmunzeln löste Light seine ineinander verschränkten Arme. L seinerseits schloss die geöffnete Handfläche wieder und zeigte mit dem Daumen hinter sich, wobei sein Kopf kurz in die gleiche Richtung ruckte. Light verstand und erhob sich ebenfalls, um seinem Partner zu folgen.

„In der Tat war dein Vater ein wenig ungehalten“, fuhr L fort. „Das Thema gefällt ihm nicht. Allerdings glaube ich nicht, dass es um die Sache mit dem angestrebten Ideal ging, sondern eher um das Gegenteil.“

„Du hast gemerkt, dass ich gewartet habe?“, fragte Light.

„Ja, ich wollte nicht unnötig Konflikte zwischen euch provozieren“, erklärte L und trottete einen schmucklosen Gang entlang, ohne sich zu dem Anderen umzudrehen. „Oft seid ihr einer Meinung, was eure moralische Einstellung anbelangt. Oft, aber eben nicht immer.“

„Was meinem Vater nicht gefiel“, griff Light den Faden wieder auf, „waren die Vermutungen über die menschliche Entwicklung. Er will nun mal glauben, dass wir voranschreiten, weil wir nach dem Besseren streben. Er will nicht hören, dass wir vielleicht nur vor dem Schlimmsten davonlaufen.“ Es fiel Light schwer, sich negativ über denjenigen zu äußern, dem er in jeder Hinsicht Respekt hätte zollen müssen, seinem Vater und Vorbild. Fast schämte er sich dafür, dass er diesem ernsthaften Mann, dem er von Kindesbeinen an seine Liebe zur Gerechtigkeit verdankte, in der normativen Begründung dieser Ideale so wenig zutraute. Immer öfter ertappte er sich, wie er seinen Vater im Ausmaß des Erkenntnisvermögens sogar unter sich selbst stellte. Bereits als Schüler hatte er sich unwillkürlich an das Niveau seiner Altersgenossen angepasst. Wie konnte er so anmaßend und abwertend über die Menschen in seiner Umgebung denken? Hatte er es jahrelang nicht bemerkt, es ignoriert? Oder war es ihm erst durch die Zeit mit L bewusst geworden?

Nachdenklich betrachtete Light den gebeugten Rücken des Mannes vor sich, der sich nicht darum scherte, was andere Leute über ihn dachten, der sie bisweilen mit seiner Ehrlichkeit und Direktheit verletzte. Die meisten hielten ihn deshalb wahrscheinlich für unfreundlich oder taktlos. Und dabei merkten sie nicht die schützende Hand, die L über die Menschen zu halten versuchte, die er erreichen konnte.

„Ich mag deinen Vater“, sagte L plötzlich, nachdem eine lange Pause verstrichen war, in der die beiden Männer den Bereich in der Nähe der Konferenzräume erreicht hatten, wo sie normalerweise allein zu zweit ihr Essen zu sich nahmen. „Sicher kann ich ihm häufig nicht zustimmen, aber ich mag seine Aufopferungsbereitschaft, seine Hingabe, seinen unerschütterlichen Glauben an das Gute.“ L drehte sich zu dem Jüngeren herum und schaute ihm offen ins Gesicht. „All das, was ich auch an dir mag, Light-kun. Wie viel besser wäre die Welt, wenn es mehr solche Menschen gäbe.“

Wäre sie denn besser? Lebenswerter? Light hatte in seinem letzten Jahr an der Oberschule immer stärker erkannt, wie verdorben, selbstgerecht und niederträchtig die meisten Menschen wirklich waren. Was hatte er damals gedacht? Dass die Welt schlecht war? Dass sie hätte besser sein müssen? Oder einfach nur, dass sie langweilig war?

Erst die Bekanntschaft mit L und der Fall um Kira hatten Light aus dieser Ödnis herausgeholt. Vielleicht war er nicht so gutmütig, wie L ihn einschätzte. Doch wahrscheinlich belog dieser ihn ohnehin und dachte gar nicht so von ihm.

„Du glaubst mir nicht“, stellte L mit einem Blick in Lights Gesicht fest.

„Das sowieso“, entgegnete jener unverblümt, „aber ich frage mich viel eher, was du damit bezweckst, mir das zu sagen.“

„Ich mag dich.“ L merkte, dass sein Freund ihn verstört ansah. „Das ist alles, was ich sagen will, Light-kun, auch wenn du das schon einmal von mir gehört hast.“

„Wozu...?“

„Möchtest du noch einen Kaffee trinken?“, unterbrach ihn der Detektiv teilnahmslos.

„Ja, bitte. Wozu sagst du mir das?“

„Er meint es gut“, murmelte L, in seinen Gedanken abdriftend, vor sich hin. „Er will nur das Beste. Er will die Welt besser machen, als sie ist. Jeder Mensch ist gleich und würde die gleiche Bedeutung haben, wenn wir als unbeteiligter Gott von außen auf die Gesellschaft herabschauen könnten. Doch das ist nicht der Fall. Wir können uns aus dieser Rechnung nicht herausnehmen. Und darum hat jeder Einzelne eben doch von unserem eigenen Standpunkt aus eine unterschiedliche Wichtigkeit. Eine Rolle, die wir ihm selbst geben und die ihn für uns unentbehrlich macht. Wie könnte man auch alle Menschen gleichermaßen lieben? Wem jeder nahe steht, dem steht niemand nahe.“

Reglos stand Light neben seinem Freund. Er sah ihn verwirrt an, ohne etwas zu sagen. Es kam ihm vor, als würde er L nur unbeweglich hinterherschauen, weil er ihm zwar in seinen Erklärungen folgen konnte, doch konnte er ihm nicht in dessen Abwesenheit folgen. Es schien, als befände sich L bereits in weiter Ferne, unerreichbar für eine ausgestreckte Hand. Die Metallkette war das Einzige, das ihn noch festhielt.

An ebendieser Kette zog Light nun.

L machte einen unbeholfenen Schritt und kehrte in die Realität zurück. Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf seinen Partner, der schon oft genug, vielleicht zu oft, seine Gedanken geteilt hatte, sobald L sich nicht mehr Einhalt gebot. Fragend schaute er in Lights angespanntes Gesicht.

„Du verlangst von mir Vertrauen“, stellte L mit emotionsloser Stimme fest, „aber du selbst kannst mir dieses Vertrauen genauso wenig schenken. Permanent erwartest du, dass ich dich hinters Licht führe. Das Misstrauen ist eine der Eigenschaften, die uns miteinander verbindet, nicht wahr?“ L lächelte, als hätte er Light soeben ein Kompliment gemacht. „Was möchtest du zu Abend essen?“

„Reis. Ryuzaki, um noch einmal auf das anzusprechen, worüber wir vorhin geredet haben; ich weiß nicht, ob mein Vater seiner eigenen oder irgendeiner anderen Gesellschaft den Vorzug gibt, aber ich persönlich denke, dass es keine sogenannte beste Lösung gibt, wie ein Staat zu funktionieren hat. Es gibt nur Ideen, die besser, und welche, die schlechter funktionieren.“

„Ja, der Treffer ist bloß eine von unzähligen Alternativen, die alle sonst mehr oder weniger weite Fehlschlüsse sind. Was möchtest du zu dem Reis dazu haben? Ich bezweifle, dass dein Vater tatsächlich Überlegungen zu diesen sperrigen und unergiebigen Fragen anstellt.“

„Huhn, Gemüse und Sojasauce, mehr erst mal nicht. Ich finde das beneidenswert. Vielleicht bin ich schon mitunter offen und direkt in meiner Gerechtigkeitsvorstellung, aber trotzdem zweifle ich an dem, wofür ich eigentlich ohne Skepsis einstehen sollte. In den letzten Wochen bekamen wir immer wieder zu spüren, dass unsere Diskussionen bei anderen eher auf Unverständnis stoßen. Kann sein, dass es überheblich klingt. Kann sein, dass wir uns wirklich immer nur im Kreis drehen. Aber wir sind uns durchaus darüber im Klaren. Eine Kritik sollte sich nicht auf das richten, was wir sagen, sondern auf das, was wir trotz der vielen Gespräche nicht zu lösen imstande sind.“ Mit einem Seufzen setzte sich Light an den Tisch und blickte hinaus in die Dämmerung, während er nachdenklich die Kette um seine Hand wickelte. „Selbst hier in diesen Räumen, eingesperrt in einem Käfig aus Glas, Metall und Stein, selbst hier befinden wir uns im Zentrum eines Netzwerks, überflutet von Eindrücken und Zusammenhängen. Draußen schwimmt man mit der Flut der Menschen. Wohin man auch geht, überall ist alles und jeder ist überall. Die Läden sind voll mit Artikeln, die keiner braucht und jeder will. Der Glaube an eine gerechte Umverteilung ist ein weiteres unrealistisches Ideal, weil unser Wohlstand darauf fußt, dass andere Länder in der Welt die neue Unterschicht in unserer globalen Klassengesellschaft bilden. Es ist schön, Ideale zu haben, an Gerechtigkeit für alle zu glauben und an den Weltfrieden. Aber es ist naiv, fast schon dumm. Nichtsdestotrotz kommt die Gegenseite mit ihren Argumenten genauso wenig voran. An den Theorien des Naturalismus und Pragmatismus Kritik zu üben, kann man sich ersparen. Entweder wird der außernützliche Sinn kultureller Ziele und damit das Eigengewicht der geistigen Sphäre nicht begreiflich gemacht oder man verfällt in das gegenteilige Extrem, weil das Element des Nutzens und der sachlich objektiven Bedeutung jeder kulturellen Betätigung aus den Augen verloren wird, sodass man sich in reinem Psychologismus verspinnt. Wir werden trotzdem nicht müde, darüber zu reden. Wir führen das Menschliche auf das Allzumenschliche, den Sexualtrieb oder Ernährungstrieb oder Machttrieb, zurück. Oder wir konstruieren einen Erlösungstrieb, eine Eschatologie oder irgendein ähnliches teleologisches Konzept. Dann wiederum sehen wir alles unter dem Aspekt der Intelligenz und Berechnung. So bewegen wir uns ständig in Zirkeln und kommen aus dem Empirismus biologischer oder psychologischer Symptome nicht heraus... und jetzt mache ich es schon wieder.“ Light lachte traurig. Er ließ die Kette fallen und umfasste stattdessen sacht Ls Handgelenk, ohne ihm jedoch den Blick zuzuwenden. Seine Augen starrten ziellos in den grauen Abendhimmel hinter der Glasscheibe. „Ich rede mich um Kopf und Kragen und komme doch zu keinem Ergebnis. Meinungen können leicht gefasst werden, wenn man nicht selbst denken muss, wenn einem die Öffentlichkeit das Denken abnimmt. Dann erscheinen auch die Lösungen viel einfacher. Man kann sich über die Politik im eigenen Land aufregen und salopp sagen, es wäre besser, würde man es so oder so machen. Aber man steckt nicht in den Schuhen der Inhaber von Macht und Verantwortung. Je mehr man zu wissen glaubt, desto deutlicher sieht man, was man nicht weiß, und desto schwieriger werden die Lösungsvorschläge.“

„Das Essen bitte wie immer“, sprach L in den Telefonhörer, nachdem er die Kurzwahltaste betätigt hatte. Schweigend hörte Light den nebensächlichen Anweisungen seines Kollegen zu, doch eine Sekunde später hob er überrascht den Kopf, als er spürte, dass L die Hand im Griff seines Freundes drehte und gleichfalls dessen Handgelenk umschloss, um die Geste zu erwidern. Hierbei bewahrte sich der Detektiv seine selbstverständliche Haltung, während er die Aufzählung dessen, was sie zu Abend essen wollten, zu einem Abschluss brachte und auflegte.

„Wenn wir heute“, knüpfte L wieder an das Gespräch an, „vor lauter Einsicht in die ökologische, psychologische und biologische Bedingtheit kultureller Arbeit das Vertrauen zu ihr verlieren, dann ist das die Schuld unserer komplexen Aufklärung, weil uns nicht mehr die Grundlagen gelehrt werden, auf denen dieses System wechselseitiger Bedingtheit ruht. Wir wissen zu viel, um uns eine naive Gutmütigkeit zu bewahren.“

Einen Moment zögerte Light noch. Dann lehnte er sich mit der Stirn an den festgehaltenen Arm seines Freundes.

„Ich möchte daran glauben. Ich möchte die gleiche Zuversicht haben wie mein Vater. Er spricht von Frieden, doch ich frage mich, was ist das eigentlich? Warum gibt es das Wort Frieden überhaupt? Weil es Krieg gibt und Unterdrückung und Tyrannei. Frieden kann nur durch die Abwesenheit von Krieg erklärt werden. Wenn sich die Menschheit nicht in einem ständigen Kampf befände, gäbe es die Vorstellung vom Frieden nicht. Dann würden wir nicht einmal das Wort benötigen. Es ist nur ein weiteres idealistisches Konstrukt. Wenn überhaupt, dann gibt es Frieden in der Realität nur als Mitte aus Angreifen und Angegriffen-Werden. Der Mensch denkt sich so etwas schließlich nicht aus, weil er an das Gute glaubt, sondern weil er das Böse kennen gelernt hat.“

„Light-kun...“ Langsam hob L den Arm, jenen, an den der Jüngere sich nicht aus Erschöpfung lehnte und den er nicht mit sanfter Bestimmtheit umklammerte. Ebenso langsam ließ L seine Hand auf den braunen Haarschopf sinken. Da er sich ansonsten nicht rührte, wirkte die Geste zuerst leblos. Dann jedoch begann er vorsichtig durch die weichen Haarspitzen zu streichen. Vergebens versuchte L sich einzureden, dass sein Handeln nicht lächerlich und überflüssig war. Light hatte Recht. Es war längst angebracht, sich zu fragen, was er mit seinem Verhalten eigentlich bezweckte. L schob diese Frage dennoch beiseite und konzentrierte sich stattdessen auf die bisherigen Aussagen. „Ich habe zwar gemeint, dass Kiras ideale Welt nicht kommen wird und nicht Bestand haben kann, aber seit seinem Auftreten steht nicht nur fest, dass sein Ideal wieder untergehen muss, sondern auch, dass es nicht mehr ausgelöscht werden kann.“ Ls Hand glitt hinab über die Wange des Anderen und wanderte tiefer, bis sie auf dessen Schulter zur Ruhe kam. Hier übte er für einen kurzen Moment mit den Fingerspitzen einen kaum merklichen Druck aus. Vielleicht war es Zuversicht, vielleicht Niedergeschlagenheit, die er Light damit vermitteln wollte. „Wenn ein Gedanke einmal gefasst und öffentlich gemacht wurde, wird er wie ein Krebs immer wieder auftauchen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwo werden Kiras Anhänger überleben, da bin ich mir sicher.“

„Später werden andere an unserer Stelle kämpfen“, erklärte Light. „Das ist dann nicht mehr unser Kampf.“

„Ja“, stimmte L monoton zu, „nicht unser Kampf.“

Light holte tief Luft und atmete anschließend geräuschvoll aus. Die einsetzende Dunkelheit hatte sich noch einmal verzogen. Unter der grauen Wolkendecke brach blassgelb die Sonne hervor und erhellte schwach die kalten Räumlichkeiten, bevor das letzte Licht des Abends erlosch. Der junge Ermittler löste sich von seinem Partner und sagte:

„Nachdem ich dich kennen gelernt habe, hat es mich begeistert, dass wir uns über so vieles unterhalten konnten. Ich möchte meine ehemaligen Mitschüler und Kommilitonen nicht abwerten, denn auch mit ihnen konnte ich gute Gespräche führen. Aber mit dir war ich gleich auf einer Wellenlänge. Doch ich hätte nicht gedacht, dass ein derart interessanter Austausch meine Erkenntnis so wenig präzisiert, sondern sie eher noch weiter verwirrt. Ganz im Gegenteil, manchmal fühle ich mich, als würde mir der Schädel platzen, wenn wir vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Wir reden und reden und reden und es führt zu rein gar nichts. Die ganzen schönen Worte sind überhaupt nichts wert. Es ist absolut sinnlos. Es ist einfach überflüssig. Außerdem...“

Light wandte das Gesicht ab und ließ einige Sekunden stumm verstreichen, bevor er kühl hinzufügte:

„Ich frage mich, ob ich dir durch die vielen Worte wirklich näher komme oder ob ich mich nicht eher von dir entferne.“

„Wenn nicht du, wer dann?“

„Wie bitte?“ Verwirrt hob Light den Kopf und erhaschte einen Blick auf das wissende Lächeln des Detektivs, das nur für einen kurzen Moment aufblitzte. Dann drehte L sich um, vergrub eine Hand in seiner Hosentasche, die andere in seinem schwarzen Haar und meinte:

„Wer sollte mir hier näher sein? Hier sind nur wir. Abgeschottet von allen anderen. Hier sind nur wir allein.“

Nur wir allein sind hier, wiederholte Light die Worte in seinen Gedanken. Nur wir sind hier allein, wandelte sich die Aussagen in seinem Kopf zu einer Gewissheit, die seine Vernunft leicht widerlegen, aber sein Gefühl nicht anders begreifen konnte.

Allein sind hier nur wir.

Kein Weg zurück

Kein Weg zurück

 

Beinahe jeden Abend hatten sie einander gegenüber gesessen. Manchmal war Misa anwesend. Manchmal leistete ihnen Herr Yagami Gesellschaft. Doch oft genug waren Light und L nur zu zweit in dem langgestreckten Raum mit der kargen Einrichtung und der ganzseitigen Fensterfront. Sogar jetzt noch, nach zahllosen vergangenen Tagen und Wochen der Gefangenschaft, vermittelte die atemberaubende Aussicht über die Großstadt Light das Gefühl, er befände sich auf der Spitze eines Elfenbeinturms. Unberührbar. Unerreichbar.

Meistens lief im Hintergrund das Radio, irgendein Sender, der alle zehn Minuten Kurznachrichten zwischen den Liedern brachte. L saß in seiner typisch ungewöhnlichen Haltung am Tisch und nahm auch zum Abendessen nur Süßigkeiten zu sich, während Light eine normale Mahlzeit aß. Sie unterhielten sich angeregt oder schwiegen einvernehmlich. Doch in ihrer Zweisamkeit, sobald niemand sonst mehr zugegen war, wurde das widersprüchliche Empfinden aus Vertrautheit und Distanz fast unerträglich.

Manchmal kam es Light tatsächlich so vor, als wären er und L die einzigen Menschen an diesem Ort. Zu zweit allein.

Light legte seine Stäbchen beiseite. Das heutige Abendessen war schweigend vonstattengegangen. Draußen kleidete sich das Firmament in sternlose Schwärze, sodass die Beleuchtung der Stadt wie ein umgekehrter Sternenhimmel aussah. Alle Mitglieder der Sonderkommission hatten sich an diesem Abend überraschend schnell verabschiedet. Wahrscheinlich handelte es sich gemäß den Erwartungen um eine Reaktion auf den bevorstehenden Frontalangriff gegen Kira durch die Sendung bei Sakura TV. Selbst Misa hatte sich vor einiger Zeit zurückgezogen. Wenn Light es recht bedachte, dann verhielt sich das blonde Mädchen allerdings schon seit ihrem Vorstellungsgespräch bei Yotsuba merkwürdig. Sie schien den Kontakt zu scheuen und wahrte stets einen gewissen Abstand zu Light.

Im Gegensatz dazu hatte sich an Ls Verhalten rein gar nichts geändert, obwohl dieser allen Grund dazu gehabt hätte. Zu Beginn war Light darüber froh gewesen. Er hatte gehofft, die ganze Angelegenheit beiseiteschieben zu können. Dem Anschein nach wollte der Detektiv ihm hierfür sogar den Weg ebnen, es ihm beinahe leicht machen. Am Ende musste Light dennoch akzeptieren, dass es so nicht funktionierte. Und leider scheiterte es, wie er sich eingestehen musste, nicht daran, dass er das Geschehen nicht hätte verdrängen können. Das Problem war vielmehr, dass er es nicht verdrängen wollte.

„Was machen wir hier eigentlich, L?“, hörte sich Light sagen. Während des Essens hatte er unentwegt nach der Überwindung gesucht, jene Frage auszusprechen. Er konnte nicht glauben, dass alles so weitergehen sollte wie bisher. Doch andererseits wusste er ebenso wenig, was sich hätte ändern sollen, wie es sich überhaupt hätte ändern sollen und warum. Sein Kopf war ein einziges Chaos. Erst jetzt, da er es aufgab, seine Gedanken zu ordnen oder den Mut dafür aufzubringen, um gegenüber L seine eigene Verwirrung anzusprechen, erst jetzt kamen die Worte  wie von selbst. Der Detektiv musterte Light jedoch nur verwundert, als hätte er diesen nicht verstanden.

„Wir sitzen hier“, versuchte Light mit einer hilflosen Geste zu erklären, „und spielen Normalität, als wäre alles noch wie früher.“

„Wie früher...“, wiederholte L fragend. „Wie war es denn früher, Light-kun? Wann war dieses Früher?“

„Ich weiß es nicht.“ Light griff sich an die Stirn und schüttelte ratlos den Kopf. „Ich weiß es doch auch nicht. Vielleicht die Zeit an der Uni, zusammen in den Vorlesungen oder beim Tennismatch oder bei den Unterhaltungen im Café... Ich weiß nicht genau, wann dieses Früher war, an das ich jetzt zurückdenken möchte. Wahrscheinlich war es eine Zeit ohne Handschellen, bevor du mich verhaftet hast.“

„Bevor du dich gestellt hast, meinst du wohl.“

„Ja, von mir aus.“ Light schob die Bemerkung unwirsch beiseite. Wut lag nicht in seiner Stimme. Allenfalls mit unbeteiligter Akzeptanz nahm er mittlerweile Ls Aussagen hin, wie auch immer sie ihn hätten treffen sollen. Wenn die Worte ihn denn überhaupt hätten verletzen sollen. Es war wohl wahrscheinlicher, dass der Meisterdetektiv seinen eigenen Aussagen in ihrer Aggressivität nicht mehr Bedeutung beimaß, als Light ihnen nun zu schenken beabsichtigte.

„Manchmal würde ich gern zurück“, sagte Light kaum hörbar und erhob sich schwerfällig. „Zurück zu dieser Zeit.“

Er wandte sich ab, um zu gehen. Nach einem Schritt fiel ihm ein, dass er durch die Metallkette gebunden und in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt war. Er hatte die Handschellen nicht zum ersten Mal vergessen. Obzwar er eben noch über sie gesprochen hatte, war ihm dabei ihre solide Existenz in der Realität nicht zu Bewusstsein gekommen. Light ignorierte diesen Umstand und hoffte einfach, dass sein Partner ihm schon folgen würde. Er wollte nicht warten. Er wollte nicht riskieren, dass L ihm vorausging, sodass Light hätte nachkommen müssen, ohne eine Alternative zu haben. Glücklicherweise schloss sich L widerstandslos an.

„Wieso sollte es jetzt nicht mehr wie früher sein, Light-kun?“

Es erstaunte den Angesprochenen, dass L auf seine Aussagen einging. Er hatte ihn anders eingeschätzt und eher erwartet, dieser würde das Gesagte desinteressiert übergehen. Trotzdem drehte sich Light nicht noch einmal um und gab keine Antwort. Stattdessen ging er stur den Gang entlang zu ihrem Schlafzimmer.

„Wieso sollte sich etwas geändert haben?“, fuhr L mit seinen Fragen fort. „Bist du noch wütend? Oder glaubst du, dass ich es bin? Wegen des Vergleichs, der Konsequenzen daraus, wegen der beidseitigen Anschuldigungen?“

„Weißt du wirklich nicht, wovon ich spreche?“ Genervt reagierte Light auf die endlose Fragerei. „Das heißt...“, sprach er gedankenversunken weiter und achtete dabei kaum auf das, was er sagte, „nein, darum geht es eigentlich nicht, Ryuzaki. Ich würde die Zeit von damals gern zurückholen, aber was mir jetzt zu schaffen macht, betrifft eher diese eingetretene Stagnation, weil sich seit den letzten Ereignissen nichts geändert hat.“

„Das ist aber das genaue Gegenteil von dem, was du eben noch gesagt hast.“

„Was für einen Vergleich meinst du?“ Light überging seine eigenen Worte und die seines Freundes nicht absichtlich. Er merkte lediglich, dass es im Moment Wichtigeres zu erörtern gab. Da sie in der Zwischenzeit während des Gespräches ihre Räumlichkeiten erreicht, die Tür hinter sich verschlossen und damit den letzten Kontakt zur Außenwelt scheinbar unterbrochen hatten, wandte sich Light seinem Partner endlich wieder zu.

„Weißt du wirklich nicht, wovon ich spreche?“, äffte L ihn belustigt nach. Als er jedoch bemerkte, wie Light den Mund verzog und ihn durchdringend musterte, zuckte er mit den Schultern und meinte: „Das leidige Thema um den Vergleich mit Kira, davon rede ich, Light-kun. Mal bist du wütend, wenn ich dich mit ihm vergleiche, mal bist du beleidigt, wenn ich an Kiras Verstand zweifle, obwohl es dir egal sein könnte. Ich sehe ein, dass ich diesen Widerspruch selbst zu verschulden habe, weil ich dich ständig in diese Ecke dränge. Aber habe ich nicht auch eine Berechtigung, beleidigt zu sein? Schließlich beruht dieses Phänomen doch wohl auf Gegenseitigkeit.“

Unter gesenkten Augenbrauen starrte Light seinen Partner ernst an, als er dessen Einwand zu begreifen begann. Nachdenklich löste er schließlich seinen Blick und ließ ihn ziellos über den Boden des Raumes irren. Er hatte das Gefühl, sich bei L entschuldigen zu müssen.

„Man lebt in einer Gesellschaft, um sich zu schützen“, versuchte Light zu erklären, „man schränkt sich mit Regeln und Gesetzen ein, um auch andere einzuschränken. Weißt du, Ryuzaki, ich wollte dich nicht beleidigen, als ich dir das letztens vorwarf, aber wenn du... wenn L unabhängig von unserer Rechtsinstanz arbeitet, geht er doch davon aus, dass sie unzureichend ist. Und genau das macht Kira ebenfalls. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass sich das Statement im Grunde nicht unterscheidet.“

L stieß zischend die Luft zwischen seinen Zähnen aus. Es war ein knapper, abwertender Laut, der nicht zu seiner sonstigen Teilnahmslosigkeit passte. Verlor er die Geduld? Hatten die Unterhaltungen, die Auseinandersetzungen, die Nähe zu Light oder der bevorstehende Wandel im Kira-Fall seine Nerven mehr strapaziert, als man von dem unnahbaren Meisterdetektiv erwarten würde? Seine Stimme blieb allerdings vorerst reserviert, als er entgegnete:

„Daran gibt es nichts Verwerfliches. Wir sind nicht vollkommen und wir sind nicht unantastbar. Die meisten Menschen wissen das, auch wenn sie ihre Verantwortung abgeben, auch wenn sie ihr Vertrauen der Rechtsinstanz schenken und zuletzt auch oder erst recht dann, wenn sie Verstöße gegen die Ordnung als unfair empfinden. Wenn jemand seine Türen verschließt, klagt er doch alle anderen Bürger an, einen schlechten Charakter zu haben, weil er ihnen unterstellt oder zumindest zutraut, dass sie in sein Eigentum eindringen, wenn er sich nicht selbst schützt. Ist dieser Bürger deshalb wegen seines Misstrauens zu verurteilen? Wem das Auto ausgeraubt wird, weil er es offen stehen ließ, der wird selten bemitleidet, sondern allenfalls für dumm und naiv gehalten. Manchmal muss man eben ein bisschen nachhelfen, damit die Sache mit der Gerechtigkeit auch wirklich funktioniert.“ Während L sprach, hatte Light wieder den Blick auf ihn geheftet und konnte nun nicht mehr wegschauen. Etwas hatte sich in seinem Inneren eingenistet, das seine Grundfesten zu erschüttern drohte. Unbarmherzig fuhr L mit seinem Schauspiel fort: „Dass mich dieser Vergleich nicht juckt, müsste dir doch anhand meiner Reaktion klar gewesen sein. Oder hattest du das Gefühl, ich sei wütend gewesen? Der einzig Wütende warst du, weil ich es mit meinen Worten darauf angelegt habe, dich aus der Reserve zu locken. Sag mir ruhig klipp und klar, was dir nicht passt. Zeig wenigstens mir, was du fühlst, wenn du dich allen anderen gegenüber schon verstellst. Zeig mir deine Wut, ich kann damit umgehen.“ Jetzt lächelte L. Er ließ das gutmütige Monster in sich die Zähne zeigen und fügte ironisch hinzu: „Wir sind doch Freunde.“

Auf einmal kam Light der Altersunterschied zwischen ihm und seinem Partner enorm vor. Oder war es der Abstand zwischen ihren bisherigen Erfahrungen, ihrer Position, ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft? Light wusste es nicht. Er wusste nicht einmal mehr, wen er vor sich hatte. Es erschien ihm, als würde nicht L, sondern Kira vor ihm stehen und ihn auslachen.

Light schaffte es nicht, dem Angriff etwas entgegenzusetzen. Sein Einspruch blieb ihm im Hals stecken und ließ ihn hart schlucken. Die Barrikaden waren zusammengebrochen. Mit Entsetzen musste er feststellen, dass zwischen den Trümmern nicht nur die Überreste seines eigenen Schutzwalls lagen, sondern auch die seines Gegners und Mitstreiters. Denn L hatte sich entschlossen, alle übrigen Grenzen einzureißen.

„Du willst wieder zurück“, setzte der Detektiv nach und trat an Light heran, „und doch willst du Veränderung. Du suchst nach einem Früher, das es nie gegeben hat, Light-kun. Eine Zeit ohne Handschellen...“ L holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor und hielt ihn hoch. Bisher hatte Light noch nie gesehen, wo der Andere ihn verbarg. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Er dachte, er hätte absichtlich seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt, um keinen verdächtigen Eindruck zu hinterlassen. Dennoch hatte er sich oft gefragt, ob L ein paar Fertigkeiten des Taschendiebstahls beherrschte und damit einhergehend einige Kniffe der Ablenkung und Täuschung.

Kurzerhand öffnete L die Fesseln, sowohl die an Lights Handgelenk als auch seine eigenen. Mit spitzen Fingern ließ er sie neben sich auf den Boden fallen.

„Jetzt ist es wieder wie früher“, stellte er dann zufrieden fest. „Die Handschellen sind weg, jedenfalls für den Moment. Du bist frei.“

„Ryuzaki, was ist denn mit dir?“

„Du musst nichts mehr vermissen.“

Verwirrt beobachtete Light das Geschehen und fragte sich, ob L überhaupt noch Herr seiner Sinne war. Womöglich spielte er ein Spiel mit ihm, dessen Regeln Light noch nicht kannte.

„Erinnerst du dich“, fuhr L in ruhigem Tonfall fort, „wie ich dir zum ersten Mal die Handschellen wieder abgenommen habe? Dein Hemd war offen und du hast mich darauf hingewiesen, dass du dich so nicht umziehen kannst.“ Wie selbstverständlich hob er die Hände an Lights Kragen und öffnete dort den obersten Knopf. Light unterdrückte den Drang, ihn daran zu hindern, die blassen Hände wegzuschlagen und zurückzuweichen. Er ermahnte sich zum Ausharren, obwohl er langsam gar nichts mehr verstand. Währenddessen war bereits der zweite Knopf geöffnet worden. Sicherlich ergab das alles einen Sinn, wenn er nur die Ruhe bewahrte. Weiter hätte L ohnehin nicht gehen können, denn das Oberteil, das Light trug, war ein Polohemd. Er konnte, er durfte ihn nicht noch weiter entblößen, als er es bis zu diesem Punkt schon getan hatte.

Doch L ging weiter und Light machte einen Schritt zurück. Lange dünne Finger, weiße Hände griffen nach dem Stoffsaum des Oberteils und zerrten daran, resolut, fast routiniert, ohne aggressiv zu sein. Light spürte den Luftzug auf der nackten Haut. Von seiner angespannten Bauchmuskulatur breitete sich über den gesamten Körper eine Gänsehaut aus, die nicht allein von der Kälte kam. Solange er nicht wusste, was hier vor sich ging, wollte er das Spiel aber nicht mitspielen.

„Läufst du jetzt davon?“, fragte L kühl, da Light ihn aufgehalten und verhindert hatte, dass ihm das Hemd ausgezogen wurde.

„Was willst du denn machen, Ryuzaki?“

„Das ist doch gar nicht von Belang.“ Die Antwort kam so schnell über Ls Lippen geschossen, als hätte er nur darauf gewartet, sie auszusprechen. Plötzlich waren die Rollen vertauscht und Light hatte das Gefühl, L wollte sich auf kindische Weise an ihm für das Geschehen vor einigen Tagen rächen, indem er die Aussagen jener Situation umkehrte. Mit bedachten Bewegungen schob L die Hände beiseite, die ihn von seinem Vorhaben abbringen wollten, und versuchte wiederholt das Oberteil nach oben zu ziehen, bevor ihm erneut Einhalt geboten wurde. Es war kein rechtes Handgemenge, das zwischen den beiden Männern entstand. Dafür waren Ls Übergriffe zu träge und nicht ausreichend gewaltsam.

„Warte, hör mir zu.“ Light hielt seinen Freund an den Handgelenken fest und wollte ihn mit seinen Worten zur Vernunft bringen, obwohl er gar nicht wusste, was er hätte sagen sollen, um dies zu bewerkstelligen. Hinter sich spürte er bereits den Rand des Bettes an seinen Waden, zu welchem L ihn nach und nach dirigiert hatte. Wenn Light ehrlich zu sich selbst war, dann erkannte er in seiner verbalen, bislang noch inhaltslosen Verteidigung eine Reaktion auf die Defensive, in die L ihn drängte. Es war nichts anderes als ein Indiz für die dadurch ausgelöste Panik und Erregung, die er sich nicht eingestehen konnte. Lieber hätte er sich weiter belogen.

„Kommt jetzt noch was?“, fragte L spöttisch, als Light nach einigen verstrichenen Sekunden noch immer nicht weitersprach. Tausend neue Lügen fielen ihm ein, aber keine war erträglicher als die Wahrheit.

„Du willst, dass sich etwas ändert.“ Ls Stimme wirkte so emotionslos wie zuvor. Er machte Anstalten, seine Hände aus der Umklammerung zu lösen, doch Light lockerte seinen Griff nicht, weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen. „Da du mich ohne ersichtlichen Grund bedrängt hast, erwartest du nun von mir, dass ich mich irgendwie anders verhalten müsste, dass ich mich dir gegenüber zumindest befangen zeige. Ist es das?“

L stellte seine Versuche, sich zu befreien, ein, starrte Light ungerührt ins Gesicht und wartete einen Moment, bevor er sagte:

„Lass mich los.“

Sofort kam Light der Aufforderung nach. Er verstand selbst nicht, warum er sich so schnell ergab. Seine Unsicherheit machte ihn gefügig.

„Was meinst du, was eine angemessene Reaktion auf deine körperlichen Übergriffe wäre, Light-kun? Hätte ich mich zurückziehen sollen? Oder soll ich lieber darauf eingehen?“ Ohne Eile legte L wieder Hand an den Hemdsaum und ohne Gegenwehr, wenn auch nicht bereitwillig, hob Light die Arme, während ihm das Oberteil über den Kopf gestreift wurde. „Du hast mich gefragt, wie weit ich gehen würde, um mein Ziel zu erreichen. Wollen wir es austesten?“ L legte seine Hände auf die nackten Schultern seines Freundes und drückte ihn unnachgiebig, nicht hastig, hinab. Auch wenn Light einen geringen Widerstand aufrechterhielt, fand er sich wenig später sitzend auf dem Bett wieder. „Du hast gezögert und wusstest wahrscheinlich selbst nicht, was du willst.“ Ein Knie auf dem Bettrand beugte sich L zu ihm herunter und folgte dem Jüngeren, der seinerseits rückwärts wegzurutschen versuchte. „Wir Menschen toben und schreien, wenn wir nicht verstehen können, egal ob es dabei um uns selbst oder um andere geht.“ Sowohl in seinem Redefluss als auch in seinen Berührungen wahrte L eine ungebrochene Gelassenheit. Er hielt Light fest, senkte die andere Handfläche auf dessen Schlüsselbein und drückte ihn hinunter auf die Matratze, sodass Lights Arme, mit denen er sich eben noch aufgestützt hatte, unter dem Gewicht nachgaben. „Wir versuchen uns verständlich zu machen oder zu begreifen. Irgendwann jedoch geben wir es auf und resignieren. Darum...“ L seufzte, als er den auf ihn gerichteten Blick bemerkte, die fassungslos geweiteten braunen Augen. Sanft strich er über Lights Wange, seinen Hals, seinen Brustkorb. Und ebenso sanft sagte L schließlich:

„Ich bin einverstanden, Light-kun. Lass uns sehen, wie weit du gehen würdest.“

Induzierte Erinnerung

Induzierte Erinnerung

 

„Nein!“ Lights rechte Hand schoss über seinen Oberkörper hinweg und packte L rabiat am Arm. Dieser hielt inne, obwohl er darüber hinaus nicht weggestoßen wurde. Bedrohlich blickte Light ihm an seinem ausgestreckten Arm vorbei in die Augen und schüttelte unheilvoll den Kopf. „Nein, du bist nicht du selbst, Ryuzaki.“ Es war eine Warnung, doch der Ältere ließ sich davon nicht einschüchtern.

„Ist das so?“, fragte er unbeeindruckt. „Was ist, wenn ich so wäre, wie L deiner Meinung nach zu sein hat? Wäre es dann in Ordnung, weiterzumachen?“

„Nein!“ Die entschieden abweisende Antwort des jungen Mannes bewirkte, dass sich Ls Blick zusehends verdunkelte. Seine Stimme war daher eisig, als er weitersprach:

„Was meinst du, wer ich bin, Light-kun? Wer ist L? Wie kannst du behaupten, ich würde nicht ich selbst sein, wenn ich lediglich nicht dem Bild entspreche, das du dir von mir machst?“ L klammerte sich an der Hand seines Freundes fest, mit der dieser seinen rechten Arm nach wie vor schmerzhaft gepackt hatte. Ein paar Sekunden lang bohrte L seine Finger in den Handrücken des Anderen, ohne damit bezwecken zu wollen, dass er losgelassen wurde, bevor die Spannung aus seinen Gliedern wich und sich die knochigen Finger entkräftet lösten. Indem er die Hände an Lights Wangen legte, umfasste er dessen Kopf, um ihn daran zu hindern, wegzuschauen. Er beugte sich hinab und kam Lights Gesicht dabei so nahe, dass er fast dessen Nasenspitze mit der eigenen berührte.

„Siehst du mich?“, fragte L mit weit aufgerissenen, starr blickenden, tiefschwarzen Augen. „Ich dachte, du seiest der Einzige, der versteht, wer ich bin, Light-kun. Kannst du mich sehen?“

Erschüttert fixierte Light die auf ihn gerichteten leeren Pupillen, keiner Bewegung fähig, nur sein Brustkorb hob und senkte sich schwer unter einer unsichtbaren Last.

„Ryuzaki, beruhige dich bitte.“ Leise und beschwichtigend versuchte Light seinen Partner aus der vermeintlichen Umnachtung herauszuholen. Während er seinen Griff von dessen Arm löste und ihm zögernd ein paar Strähnen des schwarzen Haares aus dem Gesicht strich, gab L ihn seinerseits ebenso frei. „Ich behaupte nicht, dass ich dich vollends verstehen könnte, Ryuzaki. Das würde ich von niemandem behaupten, weil es gar nicht möglich ist, einen Menschen wirklich zu kennen. Man kann ihn nur immer wieder aufs Neue kennen lernen und jedes Mal ein bisschen besser verstehen oder sich zumindest daran gewöhnen, die eigenen Handlungen an dessen Verhalten anzugleichen. Keine Sorge, du bist mir nicht mehr fremd und ich verlange von dir keineswegs, dass du dich so verhältst, wie ich es von dir zu erwarten scheine, wenn ich dir im Affekt deine Handlungen vorwerfe. Es ist nur so, dass ich es im Moment wirklich nicht begreifen kann. Was soll das alles? Was willst du erreichen?“

„Das fragst du mich? Was wolltest du denn deinerseits erreichen?“, gab L bissig zurück, obgleich man seiner monotonen Stimme keine offensichtliche Gefühlsregung anhören konnte. Er richtete sich wieder auf, lehnte sich ein wenig zurück und blieb halb hockend auf Lights Oberschenkeln sitzen. „Mittlerweile ist genügend Zeit verstrichen, genügend Gelegenheiten kamen und gingen, aber dein Plan hat sich mir noch immer nicht erschlossen. Und jetzt fragst du mich allen Ernstes nach meinem? Ich habe dich oft genug gewähren lassen, Light-kun, aber es hat trotzdem nicht gereicht. Es nervt mich, dass du mir ein zweites Rätsel aufgeben willst, das komplizierter zu lösen ist als die Frage nach deiner Schuld.“

In der jetzigen Situation fühlte sich Light in doppelter Hinsicht entblößt. Dennoch verspürte er nicht das uneingeschränkte Bedürfnis, sich aus seiner Lage befreien zu wollen.

„Ich glaube“, begann er, „oder ich dachte zumindest, du wolltest dich rächen. Weil du kindisch bist und nicht gern unterliegst, nahm ich an, du wolltest es mir mit gleicher Münze heimzahlen.“

„So viel Menschlichkeit traust du mir also zu?“, fragte L zynisch. „Und du denkst nicht, dass alles nur Berechnung ist?“

„Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.“

„Okay, wenn du es selbst nicht weißt...“ L beugte sich wieder nach vorn und strich mit den Fingerspitzen erschreckend behutsam über Lights Oberkörper. „Dann ist es doch in Ordnung, wenn ich nachhelfe und wir es herausfinden. Lass uns doch sehen, wo das endet.“

„Nein, Unsinn!“, wehrte Light panisch ab. „Nicht jetzt, solange wir uns in diesem Ausnahmezustand befinden.“ Seine Atmung gehorchte ihm nicht, während die Berührungen schmerzten, als wären es keine Fingerkuppen, sondern Rasierklingen, die über seine Haut fuhren. Vielleicht war es auch kein Schmerz, den er empfand.

Erneut waren Ls Bewegungen beunruhigend langsam und selbstbewusst. Light wollte ihm ohne Gewalt Einhalt gebieten, doch es fiel ihm nicht leicht, seine Nervosität zu unterdrücken und nicht einfach nachzugeben. Normalerweise schenkte ihm stets sein analytischer Verstand genügend Sicherheit. Auch diesmal versuchte er sich daran festzuklammern, aber der daraufhin losbrechende Wortschwall kam ihm lediglich unausgereift und übereilt vor.

„Ich versichere dir, dass ich nichts beabsichtige, Ryuzaki, darum will ich ab jetzt versuchen, nichts derart Unüberlegtes mehr zu tun, bis der Fall gelöst ist und du nichts mehr hinter meinem Handeln vermuten musst. Dann wird sich sicher alles klären und vielleicht verschwindet dann auch das, was ich im Moment noch will.“

„Was du willst, Light-kun?“

„Wir können später noch darüber reden“, lenkte der Jüngere rasch ab, um weder L noch sich selbst Gelegenheit zu geben, zu viel über das eben Gesagte nachzudenken, „sobald wir Kira gefangen haben.“

L gab einen abgehackten Laut von sich, woraufhin Light einen Moment brauchte, um zu erkennen, dass es ein Lachen war. Ein unerträglich kaltes Lachen. Mit herablassender Stimme entgegnete L:

„Diskutieren wir besser nicht, ob du damit Recht behältst und wir noch darüber reden können, wenn Kira verschwunden ist. Du weißt schließlich, wie ich in dieser Sache denke und wie aussichtslos ich deine Hoffnung finde. Offenbar hältst du nur dein eigenes Handeln für impulsiv. Darum sollte ich wohl die Aussage von vorhin zurücknehmen.“

Ohne Skrupel machte sich L an dem Gürtel seines Partners zu schaffen, zog die Schlaufe aus der Schnalle, den Haken aus der Öse, sodass es Light vorkam, als würde ein Messerschnitt seinen Unterleib vom Rest des Körpers trennen. Eigentlich kannte er den Grund dafür, warum er sich so fühlte. Er griff nach dem Bund seiner Hose, von welcher bereits Knopf und Reißverschluss geöffnet wurde, und stemmte die andere Hand, soweit er es vermochte, gegen Ls Arme.

Ungerührt fuhr dieser fort:

„Für dich bin ich anscheinend doch nur kaltblütig und berechnend. Wie wenig bin ich in deinen Augen überhaupt noch ein Mensch?“

„Das ist nicht wahr und das weißt du!“ Light winkelte ein Bein an, um sein Knie zwischen sich und Ls Oberkörper zu schieben, damit er ihn von sich drücken konnte. Er entschied sich jedoch dagegen, ihn vollends wegzustoßen. „Ich... ich finde dich sehr menschlich. Das ist zum Teil auch das Problem. Du tust so, als wärst du aus Angst übervorsichtig und würdest dich immer nur verstecken, aber trotz deines Verdachtes gegen mich hast du dich mir in der Uni offen gezeigt und mich damit konfrontiert, wer du wirklich bist, ungeachtet der Gefahr. Du behauptest ständig, du gingest kein Risiko ein, aber in Wirklichkeit... das wurde mir klar, als du mir bei unserem letzten Schachspiel anhand von Metaphern deine Gedanken erklärt hast. In Wirklichkeit köderst du Kira mit deiner eigenen Person. Du führst dich selbst ins Feld, opferst dich für dein Streben nach Gerechtigkeit genauso wie Kira. Es ärgert mich, dass es dir egal zu sein scheint, was am Ende aus dir wird, was mit dir passiert!“ Light zwang sich, langsamer zu atmen, und rang den Schmerz in seiner Brust nieder. Er durfte nicht riskieren, die Beherrschung zu verlieren. Nicht noch einmal. „Da du mich für Kira hältst, ist deine Aufopferungsbereitschaft eigentlich ein Angriff, nicht wahr? Du hast dich nicht einmal richtig gegen mich gewehrt, als ich... Was hättest du denn zugelassen, wenn ich es nicht von mir aus rechtzeitig gestoppt hätte? Und danach...“

„Rechtzeitig gestoppt?“ Voller Hohn griff L die Worte auf. „Das nennst du rechtzeitig?“

„Geht es dir etwa um Vergeltung? Ist es das?! Nur weil ich... weil du...“ Abrupt brach Light ab. Er atmete tief durch und schluckte erneut hart. Der Schmerz in seiner Kehle wollte nicht verschwinden. In seinem Inneren herrschte Krieg. Wut, Verzweiflung, Begehren, Zuneigung, es fühlte sich alles falsch an und doch war alles real und richtig. Nur weil er von L etwas verlangt hatte, das dieser nicht zu geben bereit war, nur weil L mehr geben konnte, als er eigentlich wollte, deshalb war es zu dieser Katastrophe gekommen.

„Du erzählst mir von Bereitschaft und Märtyrertum, vom Opfer für eine größere Sache“, spie Light zornig aus und unterließ es, die Hände des Anderen weiterhin wegzuschieben. Stattdessen zog er L am Shirt zu sich herunter, wobei er im Widerspruch dazu sein Knie noch stärker gegen dessen Bauchdecke drückte. „Du wusstest doch genau, was ich von dir wissen wollte, oder?“

L hielt inne. Seine Schultern und Hände erschlafften. Der Ausdruck in seinem Gesicht wirkte auf genervte Weise einsichtig, doch konnte Light darin auch eine unbestimmbare Traurigkeit entdecken. Die Worte hatten dem Meisterdetektiv den Wind aus den Segeln genommen. Durch seine Erinnerungen wurde er in die Lage vor einigen Tagen zurückversetzt, als weder er noch Light aussprechen konnten oder wollten, was sie eigentlich dachten.

„Ich weiß es“, sagte L dumpf. „Und ich weiß auch noch, wie du angefangen hast. Willst du etwa...“

„Sterben?“ Dieses Mal fiel es Light ungemein leicht, es auszusprechen. „Ich wollte wissen, ob du sterben würdest, um dein Ziel zu erreichen, und ob du erwartest, dass es bald so weit kommen muss.“

Seufzend ließ sich L zurückfallen, sodass der Andere seinen Kragen loslassen musste. Er blieb seitlich neben Light sitzen, eines seiner Beine noch immer angewinkelt über dem halb entkleideten Körper des Jüngeren ruhend, und spielte nachdenklich an der Naht von dessen Hose herum. Nach einiger Zeit erhob sich L schließlich schwerfällig vom Bett.

„Ryuzaki?“

„Keine Sorge“, erwiderte dieser, „ich mache nichts.“

In Lights Ohren klang es so, als würde L jene Aussage häufig formulieren, um den Menschen in seiner Umgebung eine kleine Sicherheit zu geben oder ihre Sorgen ohne Umstände abzuwimmeln. Im nächsten Moment allerdings erkannte Light, dass er die Worte falsch verstanden hatte, da L hinzufügte:

„Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich wüsste, wie das geht?“

Perplex schaute Light ihn an und blieb reglos auf dem Bett sitzen, bis die Erkenntnis über den Inhalt des eben Gesagten endlich in seinem Kopf angelangt war. Hastig bemühte er sich darum, seine Hose wieder zu schließen. Dabei fragte er verwirrt:

„Wieso...?“ Light konnte die Situation noch immer nicht begreifen. Während er sich ebenfalls erhob, stand L lässig mit in die Hosentaschen geschobenen Händen vor ihm und meinte gleichmütig:

„Enttäuscht?“

Abschätzend hob Light eine Augenbraue. Er verzog den Mund zu einem Grinsen, eine absichtsvolle Veränderung seiner Mimik, die sich für ihn falsch anfühlte, obwohl es ihm normalerweise leichtfiel, angemessene Reaktionen zu schauspielern. Die erwartete Verlegenheit blieb aus. Nichts wollte in der jetzigen Situation zueinander passen, weder L noch er selbst, keiner gehörte hierher, an diesen Ort, in diesen Moment. Alles wirkte unwirklich und verkehrt.

Nachdem Light nicht auf den Scherz eingegangen war und einige Sekunden in schweigsamer Erstarrung zugebracht hatte, ließ L es darauf beruhen. Er holte eine Hand aus der Hosentasche und wedelte damit gelangweilt in Lights Richtung, um ihm zu bedeuten, dass er ihm folgen sollte. Dann wandte er sich ab und ging auf das Badezimmer zu.

„Ich will es nicht hören“, sagte L unvermittelt. Er drehte sich nicht um, als er vor dem Spiegel angekommen war, der über dem Waschbecken hing. Während er sprach, betrachtete er die Gesichtszüge seines Freundes hinter dem Glas. „Ich will nicht hören, dass du irgendein diffuses Früher vermisst oder dass du zurückwillst zu einer anderen Zeit mit einem angeblich anderen L. Deine Erinnerungen an damals müssen nicht der Wahrheit entsprechen. Mich jetzt damit zu konfrontieren ist unfair, weil ich nichts daran ändern kann, wenn du etwas für wahr hältst, das vielleicht nicht so gewesen ist. Die Vergangenheit entzieht sich jedem Zugriff. Erinnerungen, die man für wahr hält, sind nicht angreifbar, nicht für die Zukunft und auch nicht für die Gegenwart. Um Erinnerungen zu ändern, muss zuerst das Denken eines Menschen geändert werden. Ansonsten ist jeder gegen die Vergangenheit im Kopf eines anderen machtlos.“

Light hätte widersprechen können, doch er wollte es nicht. Es spielte keine Rolle mehr.

Alles auf Anfang. Nichts war geschehen, wenn sich nichts änderte. Es blieb, wie es war, immer gleich, immer gleich, immer gleich.

Er schüttelte den Kopf oder nickte oder zuckte mit den Schultern. Dann begann er sich wieder zu entkleiden. Er wollte klares Wasser auf seiner Haut spüren und so tun, als wäre er allein.

Während er seine Hose erneut öffnete, heftete sich Lights Blick auf den Boden, die weißen Fliesen, die sich in einheitlichem Muster fortsetzten. Im Augenwinkel bemerkte er die nackten Füße des Anderen, obwohl er dessen Anwesenheit gerade zu ignorieren versuchte, genauso wie die Ungewissheit, ob dieser ihn vielleicht beobachtete. Als er das flüsternde Rascheln von Stoff wahrnahm, da sich L nun ebenfalls seiner Sachen zu entledigen begann, kehrte Light seinem Partner den Rücken zu und stieg in die Duschkabine.

Er legte eine Hand auf den Wasserregler, rührte sich allerdings vorerst nicht weiter.

„Ryuzaki“, sagte er ein paar Sekunden später, nachdem jedes Geräusch von Ls Bewegungen schließlich schwieg, „ich will nicht verlieren.“

„Gegen mich?“, fragte der Detektiv in die Stille hinein. Überrascht musste Light lachen.

„Nein, wie soll das denn gehen?“ Mit hilfloser Belustigung in der Stimme sprach Light weiter ohne sich umzudrehen. „Es gewinnt, wer Kira zuerst fängt? Oder wer mehr für seine Festnahme geleistet hat?“

„So meinte ich das nicht“, entgegnete L schlicht.

„Ich weiß. Aber ich will gar nicht erst auf deine Mutmaßungen eingehen.“ Der scherzhafte Tonfall war noch immer nicht aus Lights Stimme gewichen, obwohl der Mut ihn längst verlassen hatte. Erklärend fügte er hinzu: „Ich will nicht gegen Kira verlieren.“ Er holte Luft und senkte den Blick hinab auf die farblose Emaille unter seinen Füßen. Mit Aufgabe seiner Zwanglosigkeit legte er Nachdruck und Härte in seine folgenden Worte. „Und ich will dich nicht verlieren.“

L ließ eine kurze Pause zwischen ihnen verstreichen, bevor er teilnahmslos eine Antwort gab.

„Das hat noch nie jemand zu mir gesagt, Light-kun. Niemand hat mir je gesagt, dass er mich nicht verlieren will, sondern nur, dass ich nicht verlieren darf.“

Niemand wusste von dem ungestillten Hunger, der auf Ls trockenen Lippen lag. Er brauchte Zucker, denn Zucker war genügsam. Zucker war liebevoll.

„Du wusstest also, dass ich dich fragen wollte, ob du deinen Tod in Kauf nimmst“, fasste Light kühl distanziert zusammen, „im Tausch gegen den einzigen Sinn, den dein Leben jemals hatte. Aber ich weiß nicht mit Sicherheit, was du damals sagen wolltest. Falls es so weit kommt...“

„Falls es so weit kommt“, wiederholte L und leckte den fehlenden Zucker von seinen Lippen, „dann möchte ich lieber durch die Hand Kiras sterben als durch irgendeinen anderen.“

Der Detektiv musterte die von ihm abgewandte, völlig reglose Statur des Jüngeren, ein gerade aufgerichtetes Kreuz und gleichmäßige Muskulatur unter leicht gebräunter Haut.

Endlich drehte Light das Wasser auf und ließ das Rauschen die tosende Stille füllen. Trotzdem oder gerade wegen des schützenden Wasserrauschens murmelte er noch leise etwas, das kaum zu hören war. Er vernahm, wie L ihn darum bat, deutlicher zu sprechen. Obwohl die Worte von Anfang an nicht für fremde Ohren bestimmt waren, sprach Light erneut aus, was er eben gesagt hatte, dieses Mal laut genug, um es zu verstehen.

„Warum willst du durch seine Hand getötet werden? Warum willst du nicht durch meine gerettet werden?“

Bevor er sich dessen bewusst wurde, war L bereits bei ihm in der Duschkabine, drehte ihn zu sich herum und drückte ihn mit den Schultern gegen die Wand in seinem Rücken.

„Aber du hast doch gesagt, du würdest nicht...!“, protestierte Light erschrocken.

„Das war gelogen“, antwortete L und verdeckte mit einer Hand die Augen seines Feindes, bevor er ihn küsste. Fordernd schob sich seine andere Hand bis zu Lights Rückgrat, wo er ihn unnachgiebig packte und an seinen eigenen nackten Leib zog, sodass sich ihre Körper vollständig berührten. Light wurde schlecht davon. Er war erregt und doch fühlte es sich anders, fast abstoßend an. Ob es an dem einerseits gleichartigen, andererseits aber durch die unbekannte Erfahrung auch fremdartigen Körper seines Partners lag oder daran, dass ihm die Kontrolle entrissen wurde, dies alles konnte sich Light im Moment nicht erklären. Er wusste nur, dass ihm schlecht davon wurde, weil er es kaum ertragen konnte.

„Wir sollten das nicht tun“, brachte er erstickt hervor und suchte wieder die spröden Lippen seines Freundes. Zwischen ihren Atemzügen, zwischen ihren Körpern glitten die Hände beider hinab.

„Ja, du hast Recht“, antwortete L und hörte dennoch nicht auf. Die allgegenwärtige Gleichgültigkeit war aus dem Klang seiner Stimme verschwunden.

Und das Wasser prasselte unaufhörlich auf sie hernieder wie schwerer Regen.

Halbes Ende

Halbes Ende

 

Jeder einzelne Wassertropfen fühlte sich an wie ein Nadelstich. Zugleich Prickeln und Schmerz drangen mit diesen Stichen aus giftigem Glück unter die Haut. Doch war nicht alles nur Lüge.

L hatte sich anfangs gegen die fremde Hand wehren wollen, auch wenn er es stets nur halbherzig zu tun schien. Überraschenderweise hatte er einen solchen Verlauf nicht vorausgeplant. Er hatte zwar erwartet, dass Light nachgeben, aber nicht, dass dieser die Nähe zwischen ihnen erneut auf intime Weise suchen und den Übergriff erwidern würde. War es dann überhaupt noch ein Gleichstand? Wer gewann und wer verlor in diesem Spiel, wenn die Einsätze unklar waren? Doch dieses Mal wollte L nicht mehr darüber nachdenken müssen. Er wollte es einfach nur zulassen. Lights Berührungen waren bereits zu vertraut geworden, um abgewiesen zu werden.

Der ungewohnte Schmerz wütete erneut in seinem Kopf und seinem Körper und ließ ihn ausgebrannt zurück, als L schwer atmend mit der Stirn gegen Lights nackte Schulter sank, während das heiße Wasser fortwährend auf seinen Rücken prasselte und an den Spitzen seines schwarzen Haares herablief. Wahrscheinlich lag es an der Anspannung, dass L mit der Hand weniger sanft zupackte. Ohne außer der Atmung den Ton einer Stimme zu vernehmen, hörte L den Anderen abgehackt keuchen, brachte damit jedoch nicht seine eigene Brutalität in Verbindung. Ihm war nicht bewusst, dass sein gewaltsamer Griff Lights Erregung zusätzlich verstärkte.

Kaum einen Gedanken verlor Light noch an seine Handlungen, als er den eigenen Griff von dem anderen Mann löste, nachdem er unbewusst bemerkt hatte, wie die Kontraktion der Muskeln nachließ. Einen kurzen Moment sträubte sich Light gegen den Rausch, lehnte sich abwehrend zurück, als wollte er entkommen, während er eine Hand gegen die Duschkabinenwand in seinem Rücken presste und mit der anderen fahrig über die dünnen, aber trainierten Arme des Detektivs glitt, über dessen sehnige Brustmuskulatur, wobei das schmerzhafte Gefühl in ihm unaufhaltsam Oberhand gewann, bis er seine Finger krampfhaft in Ls schwarzem Haar vergrub und sich schlussendlich von dem loslösenden Strom mitreißen ließ. Ebendieser Moment bescherte Light nur für den Bruchteil einer Sekunde den drängenden Wunsch nach Aneignung und Besitzanspruch, eine unheilschwangere Fantasie, die sich in betörend grausamen Bildern manifestierte, in welchen er der Versuchung nachgab, an diesem dichten schwarzen Haar zu zerren, um jenes meist ausdruckslose Gesicht und den blassen Hals freizulegen, hierauf L von sich zu stoßen, ihn niederzuringen, der eigenen Macht und Gewalt zu unterstellen und ihn damit endgültig zum selbstgewählten, gewollten Gehorsam zu zwingen. All diese Vorstellungen, in denen er L unterwarf, würgte, liebkoste, küsste und tötete, hasste und liebte, erschienen Light einen uneingestandenen Augenblick lang außerordentlich lustvoll. Vielleicht wehrte sich sein Verstand mit diesen Imaginationen gegen die kaum zu ertragende Qual seiner Gefühle.

Mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund wandte Light den Kopf zur Seite. Die weichen Strähnen, die er zwischen seinen Fingern spürte, waren nur teilweise nass, als wäre L einem flüchtigen Regenschauer ausgesetzt gewesen. Light konzentrierte sich auf jede Kleinigkeit seiner Wahrnehmung, um den trommelnden Herzschlag in seiner Brust zu besänftigen, seine hastigen Atemzüge wieder unter Kontrolle zu bringen und um den Hunger nach Menschlichkeit und Nähe zu stillen, bevor ihn das Verlangen innerlich zerfraß. Untrennbar vermischten sich die Gefühlswelten beider Männer, waren nicht mehr leicht voneinander zu unterscheiden, obgleich sie durch die Körperlichkeit den Abstand gar nicht überwinden konnten, den der Zweifel permanent zwischen ihnen markierte.

L versuchte sich an der Wand und dem nassen Körper des Anderen abzustemmen und aufzurichten. Er war noch immer atemlos. Seine Gliedmaßen fühlten sich ungemein schwer und träge an. Ls geweitete Pupillen unter den halb gesenkten, müden Augenlidern blickten seitlich zu Light hinüber und fielen zuerst auf dessen bebende Lippen, auf denen die letzten stockenden Atemzüge zitterten. Fand der Meisterdetektiv hier den Zucker, den er so dringend benötigte? Er strich mit den Fingern Lights Kinn entlang, über die Ohrmuschel und durch das braune Haar, bevor er die Hand in dessen Nacken legte und den Jüngeren näher an sich zog. Light war noch zu verwirrt und abwesend, um nicht alles mit sich machen zu lassen. Fordernd vertiefte L ihren Kuss und suchte auf seiner Zunge nach dem süßen Geschmack, den er zum Leben brauchte. Er fand zwar keinen Zucker, stattdessen aber einen anderen, sehr ähnlichen Stoff, als hätte er nach Bittermandeln verlangt und dafür Zyankali erhalten. Doch L war mittlerweile jedes Gift recht.

Light seinerseits erhoffte sich gleichermaßen dieses Etwas zu erforschen, das L ihm bislang nicht hatte geben wollen, vielleicht um einen Beweis oder ein Versprechen zu erhalten. Mit dem Bekenntnis seiner Lippen bat er ihn stumm um sein Wort.

„Ich kann nicht...“, unterbrach Light wispernd den Kuss. „L, ich kann nicht atmen.“ Erst jetzt wurde ihnen klar, wie sehr sich durch das heiße Wasser ein erstickender Nebel in der Duschkabine ausgebreitet hatte, sodass beiden schwindelte. L stellte sofort das Wasser ab und wankte einen Schritt zurück, bis er sich an die gegenüberliegende Wand lehnte, den Kopf senkte und sich gebeugten Rückens mit einer Hand oberhalb des Knies abstützte, als wollte er sich von einer tiefen Erschöpfung erholen.

Langsam nur wurde sich Light des Geschehens bewusst. Fassungslos wandte er den Blick ab, starrte unfokussiert die gekachelten Wände hinauf, beobachtete das herabrinnende Kondensat und lauschte der eingetretenen Stille, dumpf erfüllt vom Widerhall der letzten Wassertropfen. Ohne L anzuschauen fragte er nüchtern:

„War das wieder deine Maxime von Auge um Auge?“

„Wenn es nur so einfach wäre, Light-kun.“

Kälte gewann nach und nach die Oberhand, als der Nebel sich lichtete. Unsicheren Schrittes ging L aus der Duschkabine. Light schaute ihm nicht nach. Stattdessen senkte er den Blick auf seinen Körper und strich sich nervös über Bauch und Arme. Auf der erhitzten Haut fühlten sich seine Finger eisig an. Das Echo des eben erlebten Rausches, welcher seinen Körper geschwächt zurückgelassen hatte, war noch nicht gänzlich verklungen. Kurzentschlossen stellte Light das Wasser noch einmal an, um sich zügig abzuwaschen, bevor er ebenfalls die Kabine verließ.

Er wollte etwas sagen. Er hoffte, L würde von sich aus sprechen. Doch keine Gelegenheit ergab sich hierzu. Die beiden Männer wichen einander aus, sodass sie sich kaum in die Augen schauen konnten.

Light wollte erklären, dass er nicht daran glaubte. Er glaubte nicht, eine Hoffnung durch das rechtfertigen zu können, was nach ihnen kam, was nach dem Tod eines Menschen folgte, auch wenn sich dieser dafür geopfert hatte. Das war keine Hoffnung, sondern vielmehr Verzweiflung. Ebensolches galt für das Verlieren jeder Art, auch für jenen Verlust, den man in der Vergangenheit hatte erdulden müssen oder der einem in der Zukunft bevorstand. Light wollte seinem Freund klar machen, dass sie im Hier und Jetzt lebten. Hoffnung konnten sie sich nur gegenseitig schenken. Noch während er über all dies nachdachte und sich gedanklich unentwegt dazu aufforderte, L endlich seine Ansichten mitzuteilen, bereits in dieser Situation fragte sich Light unbehaglich, ob es überhaupt stimmte. Dachte er wirklich so? Im Augenblick war er sich bloß sicher, dass er leben wollte, weil er davon überzeugt war, dass nach dem Tod nur das Nichts auf ihn wartete.

Das Licht erlosch. Sie lagen im Bett und hatten kein Wort mehr miteinander gewechselt. Light starrte an die Decke und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Da er sich sicher war, dass L noch nicht schlief, fragte er schließlich unvermittelt:

„Was wäre, wenn die Vergangenheit nicht existierte? Wenn wir vor einer Sekunde mit all unseren Erinnerungen entstanden wären, aber nichts davon tatsächlich wahr ist?“ Light blieb völlig reglos, während er mit zur Decke gewandtem Kopf seine Fragen in den Raum stellte, als könnte die Finsternis ihm darauf Antwort geben. „Es scheint unerheblich zu sein, aber was ist, wenn uns gesagt würde, dass wir im nächsten Augenblick nicht mehr existieren und wieder in das Nichts eingehen, aus dem wir hervorgegangen sind? Oder wenn wir stattdessen etwas ganz anderes sein würden, ohne noch dem Etwas nachzutrauern, das wir einst waren, von dem wir aber nichts mehr wüssten?“

„Die Realität wird überbewertet“, erwiderte L. „Was ist schon real? Die Wirklichkeit ist nicht da draußen, sie entsteht in unseren Köpfen. Neuronal gesehen ist das die einzige Realität.“

„Das denke ich auch. Falls ich im jetzigen Moment mit all meinen Erinnerungen an ein vergangenes Ich erschaffen wurde, obwohl es diese Realität gar nicht gibt, wird mich meine verlorene Vergangenheit trotzdem nicht tangieren.“ Diese Gewissheit konnte ihm seine Ängste nicht nehmen, doch sie machte Light immerhin zuversichtlicher. „Was vergangen ist, ist immer verloren, egal ob es wahr ist oder nicht, denn all das Zurückliegende ist nur in meiner Erinnerung wahr. Es gibt keine Zeit in der Außenwelt, weil Zeit nur in meinem Bewusstsein existiert; die Vergangenheit ist die Retrospektive meiner selbst und Zukunft ist meine Erwartung, mein Hoffen und meine Angst.“

„Die wenigsten interessieren sich dafür, ob sie vor einer Sekunde bereits gelebt haben oder ob vielleicht alles nur Trug und Schein ist. Ein solcher Raub ist fast unerheblich, solange man seine Erinnerungen behalten kann“, stimmte L ihm zu.

„Doch was ist, wenn man gesagt bekäme, dass im nächsten Augenblick, in der nächsten Sekunde dasselbe geschieht?“, fragte Light erneut. „Dass alles gelöscht wird und niemand erinnert sich mehr, weil nie jemand gelebt hat.“

„Ist das nicht das gleiche? Es spielt doch keine Rolle, in welche Richtung die Zeit fortschreitet, wenn wir aus dem Nichts hervorgehen und wieder darin verschwinden.“

 

Bleigrau wie eine Stahlplatte versperrte die Wolkendecke den Blick auf das erste Tageslicht. Light schaute hinab auf die Datumsanzeige des Funkweckers, der auf dem Nachttisch stand. Daneben lag seine Armbanduhr. Er schob seinen rechten Hemdsärmel ein wenig zurück, nahm die Uhr auf und legte sie an. Wie jeden Morgen.

Als Gegengewicht zu dieser Armbanduhr spürte er am linken Handgelenk das Metall seiner Fesseln.

 

Die beiden Männer betraten den Raum. Matsuda saß gegenüber von Aiber auf einem Sofa, um mit ihm ein letztes Mal das Drehbuch für die abendliche Sendung durchzugehen. Auch Misa war bereits anwesend und schaute neugierig zu, während Herr Yagami erst vor wenigen Minuten gegangen war. Der ehemalige Chefinspektor würde später noch einmal zu ihnen stoßen und Bericht erstatten, bevor er sich in die Sendezentrale von Sakura TV begeben und die Liveübertragung direkt vor Ort verfolgen würde.

„Sie haben Talent, Matsuda-san“, meinte Aiber soeben lobend, nachdem er geraume Zeit einen Interviewer gemimt und Matsuda mit Fragen bombardiert hatte. „Die Inszenierung wird bestimmt gut gelingen.“

„Jawohl!“, antwortete der junge Polizist eifrig, auch wenn die Aufregung nur geringfügig seine Angst überlagerte.

Light begnügte sich damit, der Szenerie unbeteiligt beizuwohnen. Matsuda war mit vollem Ernst bei der Sache. Er spielte seine Rolle wirklich gut. Das lag wahrscheinlich daran, dass er sich größtenteils an die tatsächlich geschehenen Fakten hielt. Die beste Lüge war immer jene, die der Wahrheit am nächsten kam. Aiber nahm kaum Notiz von den anderen Anwesenden. Er zeigte seine übliche Gelassenheit und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Misa hatte sich sogleich an Light geschmiegt, als dieser erschienen war. Sie sagte etwas, doch in Gedanken versunken nahm er nicht wahr, worum es sich dabei überhaupt handelte.

Alles schien wie immer zu sein.

Trotzdem wurde Light das Gefühl nicht los, er wäre nach langer Abwesenheit zurückgekehrt. Zurück unter die Menschen, deren Nähe ihn entwaffnete und ins Abseits seiner Wahrnehmung drängte.

 

„Hier ist L“, sagte Light. Er telefonierte mit Namikawa, um ihm die nötigen Details für die Verhaftung Kiras mitzuteilen.

Die Worte hallten in Ls Ohren nach. Immer wieder die Worte dieses ersten Satzes. L fühlte sich, als würde Light damit in das Sein des Meisterdetektivs eindringen, ihn vereinnahmen, besitzen oder ersetzen. L war mehr als nur ein Name. Es war eine Funktion. Dahinter verbarg sich ungeheure Macht. Und dahinter verbarg sich auch ein einfacher, angreifbarer Mensch. L war mehr als ein Name, den Light in Besitz nehmen konnte.

„Dann ist Higuchi wohl am Ende“, meinte Namikawa gerade.

„Wussten Sie es etwa?“, fragte Light überrascht und unbedacht.

„Selbst L tappt also mal in eine Falle.“ Namikawa lachte. „Nach Ihrer Reaktion bin ich mir nun hundertprozentig sicher, dass es Higuchi ist.“

L schaute teilnahmslos zu seinem Kollegen hinauf, der schweigend den Mund verzog.

Also konnte auch Light mal einen Fehler begehen.

 

Higuchi ging in die Falle. Seine Handlungen entsprachen exakt dem Schema, das die beiden jungen Ermittler unter Berücksichtigung aller Eventualitäten erstellt hatten.

„Das klappt ja wie am Schnürchen“, kommentierte Light das Geschehen, das sie auf den Bildschirmen verfolgten. „Direkt beängstigend.“

„Anstatt uns zu ängstigen, sollten wir uns lieber freuen, Light-kun.“

 

Verschwiegen und nervös stand Misa hinter den beiden Männern und starrte auf die Monitore. Möglicherweise machte sie sich Sorgen, Higuchi könnte in Erwägung ziehen, nicht nur ihren vermeintlichen Manager, sondern auch sie selbst aus dem Weg zu räumen, um alle Spuren zu verwischen. Der Bereichsleiter Yotsubas umfasste krampfhaft das Lenkrad seines Wagens, während er zur Firmenzentrale von Yoshida Productions fuhr.

„Ein Selbstgespräch?“, fragte Light erstaunt, da Higuchi aufgebracht vor sich hin sprach, obwohl niemand sonst im Wagen saß.

„Mit wem er da redet“, meinte L nach einiger Zeit, „könnte vielleicht der Todesgott sein.“

 

Das Motorrad des Polizisten geriet ins Straucheln, das Heck brach aus und der Fahrer raste mitsamt seiner Maschine von hinten in einen Lastkraftwagen.

„Rem...“, sagte Light mit vibrierender Stimme. „Handel...“

 

„Ryuzaki, schnell, Higuchi ist im Besitz einer Handfeuerwaffe!“, ertönte Mogis Stimme über Funk. „Der Chefinspektor wurde getroffen! Higuchi ist flüchtig.“

„Oh nein, er konnte aus dem Sender entkommen!“, rief Light alarmiert und beobachtete auf einem Bildschirm im Hubschraubercockpit das Bewegungsprofil des Konzernmitglieds. Hinter ihm hatte sich jener ältere Mann positioniert, der Light bereits als Watari vorgestellt worden war. Dieser ergraute Herr und offenbar engste Vertraute des Meisterdetektivs befand sind in voller Ausrüstung und hielt ein Schnellfeuerscharfschützengewehr sicher in seinen Händen.

L saß neben Light und steuerte den Hubschrauber. Er hörte die Worte seines jungen Kollegen. Vorerst konnte Kira fliehen, aber sie würden ihn gemeinsam einholen. Light verlor kein einziges sorgenvolles Wort über seinen Vater. L schwieg, als er dies bemerkte.

 

Der Detektiv hielt seinem Partner eine Pistole entgegen. Doch Light lehnte ab.

„In Japan sind die Dinger verboten.“

„Dein Vater hätte bestimmt dasselbe gesagt“, spekulierte L und legte die Waffe wieder beiseite.

„Ja“, antwortete Light mit Überzeugung. Er wusste nicht, dass Chefinspektor Yagami tatsächlich vor wenigen Minuten die Waffe abgelehnt hatte, die Wedy ihm überantworten wollte. Kurz bevor er angeschossen wurde.

 

„Es ist aus. Er ist am Ende.“

In völliger Bedrängnis hatte sich Higuchi seine Magnum an den Schädel gehalten, als wolle er sich selbst zur Geisel nehmen. Watari reagierte blitzschnell. Sein Schuss traf den Lauf der Waffe, sodass diese Higuchi aus der Hand sprang und durch die Luft flog.

„Ja“, bestätigte L, „es ist aus.“

Sie beobachteten durch die Frontscheibe des gelandeten Hubschraubers, wie Higuchi von der japanischen Polizei, die sich unerwartet zur Unterstützung eingeschaltet hatte, aus dem Wagen beordert und festgenommen wurde. Mogi setzte dem Tatverdächtigen ein Headset auf, sodass L ihm die Frage stellen konnte, deren Antwort sie während der gesamten Verfolgungsjagd, bei der Higuchi weitere Menschen getötet hatte, nicht von allein hatten finden können.

„Auf welche Weise tötet Kira?“

 

Anscheinend existierte der Todesgott wirklich. Man konnte ihn sehen, wenn man das Mordinstrument berührte.

„Bringen Sie das Notizbuch bitte zum Hubschrauber.“

Das Geschehen raste an ihnen vorüber. Jedes Detail, das L an Light beobachtete, versuchte er festzuhalten. Woraus war der Stoff seiner Wahrnehmung und Erkenntnis? Heißer Sand zwischen seinen Fingern. Unerschöpfliches, ständig versiegendes kaltes Wasser in seinen Händen. Schnee, den er mit offenen Armen auffing und sammelte, der jedoch entweder schmolz oder ihn völlig zu bedecken drohte. Zucker, ein unstillbarer Hunger nach der süßen Essenz des Lebens.

Ls Gedanken überschlugen sich, als er dieses unscheinbare schwarze Heft zwischen die Finger nahm. Denn endlich sah er es. Dieses Wesen. Das Monster.

„Ryuzaki, ist das wahr?“, rief Light und riss seinem Partner das Notizbuch aus den Händen.

Und endlich sah er...

 

„Wenn sich nun herausstellen würde, dass Light-kun Kira wäre?“ monster ich Kann nIchts andeRes sein Als ein monster Ich kann nichtS anderes sein als ein monsTer ich „Es ist ein Unglück für jeden Menschen, diese Kraft zu besitzen. Wie er es auch anstellt, das Töten von Menschen kann ihn niemals wirklich glücklich machen.“ kann nichts anDeres sein Als ein monSter ich kann nichts anderes sein als ein Monster ich kann nichts „Ich bin L.“ „Wenn das wahr ist, freue ich mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen.“ anderes sein als ein mOnster ich kaNn nichtS anderes sein als ein monsTer ich kann nichts andEres „Light-kun ist nicht Kira. Zumindest würde mich das ziemlich treffen. Schließlich ist Light-kun mein erster und einziger Freund.“ sein als ein monsteR ich kann nIchts aNderes sein als ein monster ich kann nichts anDeres seIn als ein monsteR ich kann „Was du fühlst, ist für dich echt. Darüber kann dich niemand belügen. Darum ist das die einzige Wahrheit.“ nichts anderEs sein als ein monsteR ich kann nIchts andereS sein als ein monsTer ich kann nichts anderes seiN als eIn monster ich kann niChts anderes sein „Selbst wenn du wirklich Kira bist, möchte ich dich um deine Mithilfe bitten.“ als ein monster ich kann nicHts anderes sein als ein monsTer ich kann nichts anderes sein als „Wie oft sollen wir noch darüber diskutieren, dass wir Freunde sind? Als Freund ist es mir wichtig, was du von mir denkst, ganz unabhängig von der gesamten Ermittlung um Kira.“ „Und wenn die Tatsache, dass du Kira bist, nichts an meinen Gefühlen dir gegenüber ändern würde, Light-kun?“ ein monster ich kAnn nichts anderes seiN als ein monster ich „Kein Mensch ist perfekt.“ „Und was ist mir dir, Light-kun? Hast du denn jemals einen Fehler begangen?“ kann nichts anDeres sein als ein monster ich kann nichts anderEs sein als ein monster ich „Sollte ich, so wahr ich hier vor dir stehe, den jetzigen Kira gefasst haben, meinst du dann wirklich, ich würde zu Kira, zu einem Mörder werden? Siehst du hier vor dir einen solchen Menschen?“ „Ja, das tue ich. Genau so einen Menschen sehe ich.“ kann nichts andeRes sein als ein monster ich kann nichts anderes sein „Wir beide sind nicht nur durch Handschellen aneinander gekettet. Vielmehr sind auch unsere Schicksale miteinander verbunden.“ als ein monSter ich kann nichts anderes „Ich dachte, du hast vielleicht Hemmungen, einen Freund umzubringen.“ „Freund? Das habe ich doch nur so gesagt. Ich habe von Anfang an geplant, darauf einzugehen, falls er sich mit mir anfreunden will.“ sein Als ein monster ich kann nichts „Wenn du nicht Kira bist, dann wirst du ihm wohl nicht das Wasser reichen können.“ „Hast du denn nur Achtung vor mir, wenn ich Kira bin? Wenn ich mit meiner Intelligenz über Leichen gehe, um die kranke Vorstellung einer neuen Welt zu verwirklichen? Bin ich nur dann etwas für dich wert?“ ich kann nichts anderes sein aLs ein monster ich kann „Insgeheim habe ich mir gewünscht, dass du Kira bist.“ nichtS anderes „Einer wie der Andere. So gesehen ist die Welt voll von Leuten, die man besser umbringen sollte.“ sein aLs ein monster „Ich bin die Gerechtigkeit!“

Ich kann nichts anderes sein als Kira.

 

Light klammerte sich an das Heft in seiner Hand und genoss den Moment des Triumphes.

Alles verlief nach Plan. Er würde gewinnen.

Er würde L töten.

Fassade

Fassade

 

Vierzig Sekunden und er würde wieder vollständig sein. Krampfhaft hielt Light sich an seinen Erinnerungen fest. Er umklammerte das Death Note und versuchte, sein altes Ich nicht zu verlieren. Doch wer war dieses alte Ich? Der Gott einer neuen Weltordnung, der bei vollem Bewusstsein seine Erinnerungen abgegeben hatte und sie schon im nächsten Moment wieder verlieren konnte? Oder der junge Mann, der an der Seite des Meisterdetektivs gegen sich selbst gekämpft hatte? Wo war der Schüler, der einstmals auf dem Schulhof gestanden und überlegt hatte, ob er dieses schwarze Notizbuch aufheben sollte, das vom Himmel gefallen war?

Noch dreißig Sekunden und Kira kehrte zurück. Doch Light blieb, wer er war. Selbst ohne Erinnerungen war er nie etwas anderes gewesen, hatte niemals seine Ideale hintergangen. Im Moment band nur das Heft in seinen Händen ihn an diesen Teil seiner Persönlichkeit. Was geschah, wenn er losließ? Es schien, als würde sich Kira zwischen den Seiten und Zeilen dieses unscheinbaren Mordinstrumentes verbergen. Warum lag es dann so leicht in seiner Hand? Warum wog es nicht tausend Namen schwer?

Noch zwanzig Sekunden und jede einzelne dehnte sich zur Ewigkeit. Es war viel zu leicht. Viel zu leicht konnte ihm alles aus den Fingern gleiten, würde man ihm das Death Note wegnehmen, ihn gleichsam entwaffnen. Obwohl es kaum schmerzte, spürte Light ein Pulsieren und Pochen in seiner Fingerspitze, wo er mit der verborgenen Nadel in das Fleisch gedrungen war, um einen Tropfen seines eigenen Blutes hervorzulocken. Auf dem herausgerissenen Stück Papier, das er in seiner Armbanduhr versteckt hatte, stand mit Blut gezeichnet der Name von Higuchi Kyosuke.

Noch zehn Sekunden. Kira war die Summe der vergessenen Erinnerungen. Die Summe der zahllosen Opfer. Mit dem Berühren des Death Notes kehrte alles zu Light zurück. Er musste sich nur vergegenwärtigen, was er absichtsvoll verloren hatte. Wenn das ausreichte, um sich wiederzufinden, warum sah er dann all diese fremden Bilder? Wieso erinnerte er sich an Dinge, die in der Zwischenzeit geschehen waren? Es wäre besser gewesen, die Erfahrungen einzutauschen, den Punkt seiner alleinigen Gefangenschaft zu rekonstruieren und jede nachfolgende Erinnerung auszulöschen. Um einen Teil von sich zurückzugewinnen, hätte ein anderer sterben sollen. Jener Teil musste zerstört werden, der in der Vergessenheit entstanden war.

Nur noch ein Bruchteil der letzten Sekunde war übrig. Das kaum merkliche Zittern seiner Hände wurde von einer diffusen Angst verursacht, die nicht allein von der Möglichkeit herrührte, dass ihm jemand gegen seinen Willen das Heft entriss. Denn zugleich musste sich Light eingestehen, dass für ihn in der Gefahr eine schwer fassbare Versuchung lag, die ihn mit dem Gedanken spielen ließ, das Death Note von sich aus loszulassen.

„Higuchi! Ryuzaki, Higuchi ist...!“

Draußen auf der Straße entstand Aufruhr. Im grellen Scheinwerferlicht der Polizeiwagen bewegten sich schemenartig die Silhouetten mehrerer Menschen. Frontstrahler blendeten, behinderten die freie Sicht und warfen lange Schatten auf den nächtlichen Asphalt. Doch zwischen den Händen und Helmen der Männer war deutlich zu erkennen, wie Higuchi unter Schmerzen zusammenbrach.

„Was passiert da mit ihm?!“, rief Light entsetzt, Panik und Unwissenheit vorschützend. Auch L verfolgte beunruhigt das Szenario, das sich außerhalb des Hubschraubers abspielte, ohne eingreifen zu können. Die Fixierungen über Augen und Mund des Hauptverdächtigen lösten sich unter dessen qualvoll verzerrten Gesichtsmuskeln. Speichel rann aus seinem Mundwinkel, während sein Körper sich aufbäumte und der Kopf zum Himmel gewandt nach einer letzten Fluchtmöglichkeit suchte. Doch in Higuchis weit aufgerissenen Augen lag bereits die Erkenntnis des eigenen Todes.

Nach außen hielt Light eine perfekte Fassade aufrecht, innerlich allerdings triumphierte er, als er Higuchi sterben sah. Damit ging das Death Note wieder in den Besitz des rechtmäßigen Eigentümers über. Der Mord an dem vorigen Kira, jenem böswilligen und selbstsüchtigen Platzhalter, war nur ein erster Schritt. Als nächstes war Ryuzaki an der Reihe, sich dem Todesurteil zu stellen. Der Meisterdetektiv L würde durch Kiras Macht sterben. Für Light war dies der höchste, der ultimative Sieg, den er erringen, und das größte Opfer, das er erbringen konnte. Niemand sonst sollte die Befugnis haben, über L zu richten. Nur Light durfte ihm das Leben entreißen, das ihm ohnehin schon längst gehörte.

Der Gedanke ließ ihn erzittern. Berauscht schaute er hinab auf die wenigen Tropfen getrockneten Blutes, die auf seinen Fingerspitzen einen braunen Film hinterlassen hatten.

Endlich klebte wieder Blut an seinen Händen.

 

Der Rest der Nacht verging in Phasen des Wartens einerseits und aufreibenden Informationsaustauschs andererseits zwischen der Sonderkommission und der japanischen Polizei, die sich unerwartet eingeschaltet hatte, sowie dem Krankenhaus, in das Higuchi transportiert worden war. Natürlich war das gesamte Ereignis, jenes Aufgebot an Hubschraubern und Einsatzfahrzeugen, von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben. Der leitende Chefinspektor, der mittlerweile den Posten von Yagami Soichiro bekleidete, versuchte die Nachrichtenstellen mit schwammigen Aussagen zu besänftigen. Währenddessen bestätigte das Gutachten der Ärzte, was sie alle schon vermutet hatten: Higuchi Kyosuke war an Herzversagen gestorben.

Nachdem die Ermittler weit nach Mitternacht wieder in das Fahndungszentrum zurückgekehrt waren, entließ L sie mit dem Hinweis, man dürfe nun keine unbedachten Entscheidungen treffen oder übereilte Aktionen in die Wege leiten. Proben des Death Notes waren bereits mit höchster Dringlichkeitsstufe in ein Labor gegeben worden, wo man es auf seine Beschaffenheit untersuchte. Am nächsten Abend sollten die Ergebnisse vorliegen.

All dem hatte der Todesgott, der sich überraschenderweise in menschlicher Sprache verständigen konnte, größtenteils schweigend beigewohnt. Er meinte, er müsse in der Nähe des Death Notes bleiben, stelle aber keine Gefahr für die Anwesenden dar. L nahm das Zugeständnis mit Genugtuung hin, da dieses monströse Wesen nach dem Ableben Higuchis sein einziger Anlaufpunkt für eine Befragung war.

Doch diese Nacht hatte ihnen bereits genügend Antworten geliefert. Alles Weitere wurde auf den nächsten Tag verschoben, wenn das Denken wieder in wachen, geordneten Bahnen verlief. Light spürte Nervosität in sich aufsteigen. Er hatte gehofft, sobald sie das Death Note in Händen hielten und untersuchten, würde der Verdacht von ihm abfallen und zu der sofortigen Beendigung seiner Gefangenschaft führen.

Im Großen und Ganzen war Lights Plan fabelhaft verlaufen, als hätte er alle Akteure wie Marionetten in seinem persönlichen Theater bewegt. Dennoch gab es ein paar Kleinigkeiten, die er sich anders erhofft hatte. Jemand, der gewiefter und schwerer auffindbar gewesen wäre als Higuchi, hätte ihm sicherlich mehr Zeit verschafft. Zwei Monate waren einfach nicht genug, um Ls Vertrauen zu gewinnen. Er hatte gehofft, noch länger gemeinsam mit dem Meisterdetektiv auf der Suche zu sein, so wenige andere Ermittler wie möglich zu involvieren, bis sie ganz zum Schluss, im Moment des vermeintlichen Triumphes, nur zu zweit das Death Note berührten. Das wäre der Idealfall gewesen.

Light war nicht so blauäugig, dass er tatsächlich erwartet hätte, es würde in diesem Ausmaß reibungslos ablaufen. In anderer Richtung jedoch war er, bevor er sich in Ls Obhut begeben und seine Erinnerungen verloren hatte, mit seinen Vermutungen nicht weit genug gegangen. Ununterbrochen an L gebunden zu sein, sogar mit Handschellen an ihn gekettet zu werden, etwas Derartiges war ihm in dieser Form nicht in den Sinn gekommen. Es war nicht nur eine rabiate, unkonventionelle Vorgehensweise, es entbehrte noch dazu jeglicher Logik. Eine allumfassende Beobachtung war seines Erachtens sowieso nicht durchführbar. Der Mord an Higuchi, den Light völlig unbehelligt beging, während L direkt neben ihm saß, war der beste Beweis dafür. Warum also war L so weit gegangen?

Das Geräusch der sich schließenden Tür sperrte sie zum wiederholten und hoffentlich zum letzten Mal in diesen kargen Raum. Light hatte nicht mehr viel gesprochen, nur ein paar belanglose Bemerkungen fallen gelassen, um die freundschaftliche Fassade aufrechtzuerhalten. Er durfte sich keine Blöße geben, sonst keimte in L womöglich der Verdacht auf, es habe sich etwas geändert.

Wie immer löste der Detektiv die Handschellen, damit Light sich umziehen konnte. Dieser entledigte sich daraufhin seiner Sachen, während er abwechselnd vor sich auf den Boden sowie hinaus aus dem Fenster starrte, wo eine Wolkenwand aus finsterem Grau und Orange über der kaum mehr erleuchteten Stadt das Ende der Nacht und den baldigen Morgen ankündigte. Was hinter den Glasscheiben lag, konnte Light nur deshalb erkennen, weil nichts weiter als die Nachttischlampe eingeschaltet war, welche lediglich eine schwache Reflexion des Innenraumes auf den Fenstern hinterließ. Light wusste, dass er sich abzulenken versuchte. Das unangenehme Gefühl der Aufregung war mittlerweile, da er sich mit L allein in ihrem gemeinsamen Zimmer befand, übermächtig geworden. Er wollte den Anschein vermitteln, in kriminalistische oder ähnliche Überlegungen versunken zu sein, doch in Wirklichkeit bemühte er sich vergeblich darum, jeden Gedanken und jedes Bild zu verdrängen, das seinen Verstand verwirrte und die Fassade bröckeln lassen konnte. Glücklicherweise war auch L nicht allzu gesprächig. Wenn er Light schon nicht seine Anwesenheit ersparte, so verschonte er ihn doch wenigstens mit jenen verhassten eindringlichen Fragen.

Nachdem sie aus dem Bad zurückgekehrt waren und L sich bereits auf seine Seite des Bettes gelegt hatte, blieb Light noch einen Moment unentschlossen davor stehen. Er streckte seine Glieder, als wollte er die verkrampften Muskeln entspannen. Es machte ihn wütend, dass diese Anspannung nicht physischer, sondern psychischer Natur war, dass er mit jenem lächerlichen Gebaren sein Zögern zu verbergen versuchte und dass es ihm überhaupt so vorkam, als beherrschte ihn eine innere Blockade. Warum hatte L in ihrem Zimmer nur dieses verfluchte Bett aufstellen lassen? Die Kette war lang genug, zwei Einzelbetten hätten völlig gereicht. Und warum hatte Light nicht von Anfang an dagegen protestiert? Was sollte dieser Schwachsinn?

Müdigkeit vortäuschend ließ er sich scheinbar erschöpft auf das Bett fallen.

„Wer hätte gedacht, dass es so spät werden würde“, sagte er leichthin, weil eine plötzlich auftretende Besorgnis ihn davor warnte, durch seine Schweigsamkeit möglicherweise suspekt zu wirken. „Jetzt sind wir der Lösung des Falles so nah. Ich würde am liebsten sofort wissen, was es mit diesem merkwürdigen Heft auf sich hat.“

„Alles zu seiner Zeit“, antwortete L tonlos. „Warum so ungeduldig?“

Zuerst wollte Light es dementieren und versichern, er sei gar nicht ungeduldig, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle sich schnellstmöglich von L losmachen. Dann allerdings rief er sich ins Gedächtnis, wie er vermutlich ohne seine Erinnerungen reagiert hätte.

„Bist du etwa nicht gespannt, wie es jetzt weitergeht, Ryuzaki?“ Das Erstaunen in seiner Stimme war perfekt gespielt. „Stimmt ja, du hast schon zahlreiche Fälle gelöst, nicht wahr? Im Gegensatz zu dir besitze ich kaum Erfahrungen in dieser Richtung. Trotzdem finde ich, dass der Kira-Fall schon ziemlich außergewöhnlich ist.“ Light atmete tief durch und legte die nötige Entschlossenheit sowohl in seine Stimme als auch in seinen zur Decke gewandten Blick. Er wusste genau, dass L ihn beobachtete. „Ich kann nicht verzeihen, was mein Vater alles durchmachen musste. Und nicht nur er, so viele Unschuldige sind in diese Sache hineingezogen worden. Wir werden dem Ganzen ein Ende setzen. Ganz sicher.“ Damit wandte sich Light seinem Ermittlungspartner zu und lächelte ihn zuversichtlich an. Wie immer zeigte L keine Reaktion, anhand derer man hätte erkennen können, ob er das Trugbild durchschaute oder nicht. Light ließ sich davon jedoch nicht beirren, wünschte ihm knapp eine gute Nacht und löschte das Licht.

 

Wie hatte er nur all diese Nächte ausgehalten? Zwei Monate des ständigen Zusammenseins lasteten tonnenschwer auf ihm. Er war müde, doch zugleich wollte er sich nicht dem Schlaf überlassen. Seine Befürchtungen, dessen war er sich sicher, waren nicht unbegründet.

Light blieb völlig reglos im Bett liegen. Er hatte L den Rücken zugewandt und versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen. Immer wieder durchfuhr es ihn eiskalt, wenn er sich vorstellte, dass der Andere nicht schlief und ihn stattdessen mit seinem starren Blick unentwegt musterte. Vielleicht hatte sich Light an diesem Abend doch mit einer seiner Handlungen verraten. Vielleicht war sich L darüber im Klaren, dass er Kira nicht entlarven konnte. Vielleicht wusste er, dass es nur noch ein einziges Mittel gab, um Kira aufzuhalten. Fast spürte Light tatsächlich den stechenden Blick jener schwarzen Augen im Nacken, die Mordlust und den Wunsch zum Sieg. Im nächsten Moment schon konnten sich Ls langgliedrige Finger auf seine Schulter legen, nach vorn streichen, um an der Linie des Schlüsselbeins entlang den Weg zu Lights Kehle zu finden. L würde sanft seine kalten Hände um den Hals seines Freundes legen, sein gesamtes Gewicht auf dessen Körper verlagern und unnachgiebig zudrücken, um mit jedem schwächer werdenden Atemzug den letzten Rest an Machtgier, Besessenheit und Verlangen aus Light herauszupressen. Bestürzt musste Light feststellen, dass ihn diese Fantasie unweigerlich erregte.

Er wagte es nicht, sich aufzurichten, um im Halbdunkel nach dem schlafenden Gesicht seines Feindes zu suchen. Da waren viele widerstreitende Gefühle, die er zuvor nicht gekannt und die erst L in ihm hervorgerufen hatte. Und dieses eine Gefühl, das ihn jetzt fortwährend wach hielt, war der Wille, nicht zu verlieren.

 

Nach wenigen Stunden Schlaf standen die zwei Ermittler früh am Morgen auf. Light spürte die Erschöpfung in seinen Gliedern, auch wenn er geistig hellwach war. Ihm war ungewöhnlich kalt, er fror sogar, als er sich mit fahrigen Bewegungen das Hemd aufknöpfte.

Keiner der beiden Männer sprach viel. Das taten sie morgens generell selten. Mit einem Wink seiner Hand bedeutete L seinem Partner, ihm ins Bad zu folgen, wo sich der Detektiv sogleich in die Duschkabine stellte. Light richtete seine Aufmerksamkeit zwanghaft auf andere Dinge und widmete sich stattdessen seinen täglichen Routinen, der Zahnbürste, seinem Rasierapparat, dem silbernen Kamm mit den weit auseinanderstehenden Zinken. Angestrengt starrte er in den Spiegel über dem Waschbecken, obwohl dieser aufgrund des heißen Duschwassers so beschlagen war, dass er kein Bild zurückwarf. Das Kondensat bedeckte gleichmäßig das gesamte Glas. Etwas an dieser Tatsache irritierte Light und er brauchte einen Moment, um sich der Erinnerung bewusst zu werden, die hierfür verantwortlich war. Vor mehreren Wochen, eine gefühlte Ewigkeit her, hatte L mit seinen langen Fingern verschiedene Zeichen auf den beschlagenen Spiegel geschrieben. Und nun hatte Light einen kurzen Augenblick lang erwartet, diese Zeichen auf dem Glas wieder erscheinen zu sehen, als würden sie erneut aus der Vergessenheit auftauchen. Doch zwischenzeitlich war die glatte Oberfläche mehrmals gereinigt worden. Übrig geblieben war nichts davon. Alle Zeichen waren verschwunden.

L stellte das Wasser ab und stieg aus der Duschkabine. Light beachtete ihn nicht. Er kannte die folgenden Prozeduren schon zu genau. Meistens wusch L seine Haare in einer unnatürlichen Haltung kopfüber, trocknete sie danach ungeduldig mit einem Handtuch ab und schüttelte sie kräftig, noch bevor das Wasser aufgehört hatte von den Spitzen herabzutropfen. Das schwarze Haar stand daraufhin wirr vom Kopf ab, weil L es nie kämmte oder auch nur mit den Händen in Form brachte.

Light hasste das. Er hasste diese pechschwarze Mähne, von der er nächtelang träumte, wie er seine Hände darin vergrub.

Bald würde all das ein Ende finden.

 

„Seit klar ist, dass es Todesgötter wirklich gibt, können wir absolut sicher sein, dass Light-kun und Misamisa unschuldig sind“, meinte Matsuda zuversichtlich.

L hockte auf einem Stuhl im Hauptüberwachungsraum der Ermittlungszentrale und stapelte Kondensmilch. Er nahm die Aussage schweigend zur Kenntnis und wunderte sich, wie man einen derart einfachen Schluss ziehen konnte. Dennoch musste er gestehen, dass er zurzeit noch keine Erklärung für Higuchis Ableben hatte. Zwar glaubte der Detektiv nicht an einen Selbstmord, doch ob es Mord war und wie oder von wem er begangen worden war, spielte im Moment keine Rolle. Higuchi war tot. Er konnte ihnen keine Erklärung mehr liefern und das war es schließlich, was seinen einzigen Nutzen ausgemacht hätte. Dieser Kira, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte, war nur eine Strohpuppe. Er war es nicht, den L zu fassen versuchte.

Was ihm jetzt im Weg stand, war vielmehr jene Regel auf der Innenseite des Death Notes. Hatte man das Heft einmal benutzt, musste man innerhalb der nächsten dreizehn Tage einen weiteren Namen hineinschreiben, ansonsten verstarb man. Während der Gefangennahme hatten weder Light noch Misa Gelegenheit gehabt, etwas aufzuschreiben. Seitdem waren etliche Wochen vergangen, doch beide lebten noch. Vom jetzigen Standpunkt aus gesehen war es für L unmöglich, das Gegenteil zu beweisen, wohingegen dieser Umstand für die anderen Mitglieder der Sonderkommission sogar einem Beweis gleichkam, welcher die Unschuld von Light und Misa bezeugte. L hatte keine andere Wahl.

„Verstanden“, sagte er schließlich, nachdem er einige Minuten der Diskussion gelauscht und sich von den anderen Männern hatte bereden lassen. „Es tut mir leid für alles, was ihr bis hierhin durchmachen musstet.“ Seine Entschuldigung war aufrichtig gemeint, auch wenn er sie nicht so begriff, wie er sie aussprach. Tatsächlich wollte er sich dafür entschuldigen, nicht über die Indizien hinausgelangt zu sein und die Festnahme nicht mit den nötigen Fakten untermauert zu haben. Denn im Grunde war er noch immer überzeugt, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.

„Aber der Fall ist noch nicht gelöst“, stellte Light ernst fest. Er fasste zusammen, dass Higuchi für die zuerst begangenen Morde nicht verantwortlich sein konnte und es demzufolge zwei weitere Kiras gegeben haben musste. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die eigentlichen Täter den Verdacht auf Light und Misa gelenkt, um L in die Irre zu führen. Der Meisterdetektiv ließ die Spekulationen über sich ergehen, während er aus den Kondensmilchbechern eine Pyramide baute.

Light spürte genau, dass er ihn in die Enge getrieben hatte. L stand mit dem Rücken zur Wand. Es war an der Zeit, sich von den Ketten zu lösen, die beide Männer wochenlang aneinander gefesselt hatten. Jetzt, da Light sich wieder an alles erinnerte, war jede weitere Sekunde der Gefangenschaft ein unhaltbarer, fataler Zustand.

„Ryuzaki, ich bitte dich darum, mir die Handschellen abzunehmen“, wagte Light in aller Ruhe zu fordern, wobei er seine Euphorie mühelos verbarg, „aber gleichzeitig gewährst du mir hoffentlich, hier die Ermittlungen fortzusetzen.“

„Jawohl“, antwortete L ohne aufzuschauen.

Wie viele Tage waren nötig, wenn man jede einzelne Stunde zu zweit verbrachte, bis die fremde Persönlichkeit ein Teil vom eigenen Ich zu werden schien, von Hass und Besessenheit derart vergiftet, dass man den Anderen gleichermaßen festhalten und aus dem eigenen Sein wie ein Geschwür herausschneiden wollte, auch wenn man sich dabei selbst verletzte? Light fragte sich, ob es bereits zu spät war. Er spürte voller Unmut, wie sich alles in ihm sträubte, als ihm die Ketten abgenommen wurden.

Am Ende musste es jedoch geschehen. Und mit klickenden Geräuschen öffnete sich der Schließmechanismus ein letztes Mal.

Freiwilliger Zwang

Freiwilliger Zwang

 

Unumstößlich waren die Gesetze des Himmelreichs. Stellte ein Gott Regeln auf, kam kein Mensch dagegen an. Wiewohl der Mensch diesen Regeln nicht immer Folge leistete, so musste er ihnen dennoch seinen Glauben schenken. Denn die Bestimmungen der Gottheit kamen einem Naturgesetz gleich. Light hatte Ryuk zwei falsche Regeln in das Death Note schreiben lassen. Den Stift führte zwar die Hand des Todesgottes, doch in Wirklichkeit war es nach Lights Willen geschehen. Er hatte die Gesetze diktiert, darum waren sie seine eigene Schöpfung. Und auch L musste sich an die Regeln des Gottes Kira halten. Also war auch er nichts weiter als ein Mensch.

Lights Handgelenk schmerzte. Das Fehlen der Metallfessel hinterließ ein fremdes Gefühl auf seiner Haut. Jeden Tag hatte es mehrere Situationen gegeben, in denen die Handschellen gelöst worden waren. Aber dieses Mal war es anders. Diesmal machte ihm die Unwiderruflichkeit seiner Freiheit bewusst, wie tief ihn die Gefangenschaft bereits verletzt hatte.

Er nahm seine Uhr ab, die er bisher entgegen seiner Gewohnheit am rechten Handgelenk getragen hatte, und legte sie auf der anderen Seite wieder an. Auf diese Weise hatte es seine Richtigkeit. Dennoch fragte er sich, ob er damit vielleicht nur etwas zu ersetzen versuchte, um die entstandene Leere zu kompensieren.

Immer wieder fielen seine Augen auf die gekrümmte Gestalt des anderen Mannes. Der Meisterdetektiv wirkte in sich gekehrt, zurückgezogen, als hätten ihn die jüngsten Ereignisse schrumpfen lassen. Mit dem Auftauchen des Death Notes und der Sichtbarkeit des Todesgottes hatte sich eine Veränderung an L vollzogen. Sein Verstand schien unentwegt zu arbeiten, doch trat er noch stärker weltabgewandt auf als normalerweise. Light meinte sich sogar daran zu erinnern, wie stockend, fast stotternd L im Folgenden gesprochen hatte. Er hatte kaum klare Sätze formuliert, reagierte größtenteils nur auf die Anfragen seiner Mitmenschen, anstatt von sich aus die Initiative zu ergreifen. Als Light das Verhalten seines Ermittlungspartners Revue passieren ließ, stellte er außerdem fest, dass dieser mehrfach seinem Blick ausgewichen war. Auch jetzt versteckte sich L hinter seinen hochgezogenen Schultern und interessierte sich offenbar mehr für die zahlreichen Kondensmilchbecher als für seinen jungen Mitarbeiter. Hatte Light es wirklich geschafft, seinen Gegner derart einzuschüchtern? Selbst wenn L in die Enge getrieben worden war, sollte das doch noch lange kein Grund sein, völlig aufzugeben.

„Da die Observation hiermit beendet ist“, fasste der Detektiv die Lage mit unbewegter Miene und Stimme zusammen, „müssen wir uns an dieser Stelle wohl von Amane Misa verabschieden. Sie wird nicht mehr in die Ermittlungen einbezogen und auch Mogi ist fortan von den Verpflichtungen als ihr Manager entbunden.“

Endlich bot sich für Light eine passende Gelegenheit, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Einerseits war er auf Misa angewiesen, weil sie in nächster Zeit die weiteren Morde vollstrecken musste. Andererseits...

„Tja, dann werde ich mich mit Misa wohl nur draußen treffen können“, bemerkte Light beiläufig.

„Ach“, ging L überrascht auf die Aussage ein, „möchtest du dich etwa mit ihr treffen?“ Zum ersten Mal seit einiger Zeit, wenn auch nur für einen kurzen Moment, richteten sich die pechschwarzen Pupillen auf Light. Aus dem Augenwinkel schaute dieser hinüber zu L, dessen durchdringender Blick ihm, wie sooft, einen Stich versetzte. Light lief eine Gänsehaut den Nacken hinab, seine Muskeln verkrampften sich und das Herz schlug unangenehm hart gegen seine Brust, obwohl ihm davon äußerlich nichts anzumerken war. Bedacht entgegnete er:

„Ryuzaki, sie hat schließlich aus Liebe ihr Leben für mich riskiert.“

„Ja, das stimmt“, gab L langsam zu, machte dabei aber den Eindruck, als wüsste er nicht, worauf der Andere hinauswollte.

„Jeder, der ein Herz hat, würde durch so viel Liebe und Aufopferung berührt werden. Das ist doch ganz natürlich.“ Lights Worte klangen ausgeglichen und einfühlsam, seine Körperhaltung wirkte entspannt. Hinter der verständnisvollen Ausstrahlung allerdings tobten Wut und Verachtung. Seine Berechnungen waren nahezu perfekt gewesen. Er hatte darauf spekuliert, dass sich die freundschaftliche Zusammenarbeit mit L intensivieren würde, sich womöglich sogar Vertrauen zwischen ihnen einstellte. Jedoch hatte er nicht einkalkuliert, dass sich ihre Beziehung während der Zeit seines Gedächtnisverlustes in eine solche Richtung hätte entwickeln können. Von allen Akteuren hatte Light die Reaktionen richtig eingeschätzt und vorausgeplant. Nur auf eine einzige Person traf diese Kombination nicht zu. Nur einem einzigen Menschen hatte er nicht genügend Beachtung geschenkt: sich selbst.

„Willst du damit sagen...“, begann L zögernd und auf seine Kondensmilchpyramide starrend, „...dass du dich in sie verliebt hast?“

Wieder spürte Light Zorn in sich aufsteigen. Er musste es so schnell wie möglich beenden. Darum antwortete er:

„Ich habe es wohl selbst erst jetzt bemerkt, aber es scheint so zu sein.“

Nachdem der letzte Baustein seinen Platz in dem Gebilde eingenommen hatte, kam auch L zur Ruhe. Die Hände auf den Knien ablegend fixierte er die Spitze seiner Pyramide. Neben Nachdenklichkeit zeichnete sich nun in seinen Augen eine weitere emotionale Veränderung ab, ähnlich einem Erschrecken oder einer plötzlichen Verwirrung. Light bemerkte es nicht, weil er durch Matsuda abgelenkt war, der ihn überschwänglich zu der angeblichen Erwiderung von Misas Gefühlen beglückwünschte. Als L sich jedoch im Folgenden wiederholt mit Fragen an den anwesenden Todesgott Rem bezüglich des Handels und Augenlichts wandte, konnte Light die Gedanken seines Partners problemlos erraten. Unverhohlen äußerte der junge Student daher die Schlussfolgerung, dass jener Handel, den der Besitzer des Notizbuchs mit einem Todesgott eingehen konnte, wahrscheinlich die Fähigkeit zum Ziel hatte, den Namen eines Menschen nur anhand seines Gesichtes zu erkennen. Zurückhaltend bestätigte Rem die Vermutung, offenbarte jedoch nicht, was ein Todesgott als Gegenleistung forderte.

L startete keinen direkten Angriff mehr auf Light. Ja, er schien ihn nicht einmal zu beachten, obwohl er eindeutig über die an den Todesgott gestellten Fragen Druck auf seinen Verdächtigen ausübte. Zweifellos konnte er Light nach wie vor gefährlich werden.

„Ist es möglich...“, wandte L sich nun ein weiteres Mal mit unheilvoller Stimme an den Todesgott, „dass jemand, der das Buch benutzt hat, die Erinnerungen daran verliert?“

Sofort verwandelte sich Lights permanente Anspannung in Panik. Er hatte gespürt, wie sehr ihn die Zurückgezogenheit seines Gegners einerseits befriedigte, weil sie seine eigene Überlegenheit deutlich machte. Andererseits war er ständig auf der Hut, während unaufhörlich plagende Zweifel ihn am Leben hielten und seinem Kampf erst einen Sinn gaben. L war niemand, der so schnell aufgab. Er würde bis zum Schluss kämpfen, mit dem letzten Rest seiner Kraft und einer Aufopferungsbereitschaft, die keine Rücksicht auf seine eigene Person nahm, wenn ihm das Ziel nur erstrebenswert genug erschien. Drohend starrte Light zu Rem hinauf, um ihr klarzumachen, dass sie jetzt auf keinen Fall etwas Falsches antworten durfte.

„Nun...“, begann Rem vorsichtig, als sie Lights Blick bemerkte, „ein Todesgott verliert seine Erinnerungen jedenfalls nicht. Als Mensch habe ich das Buch aber nie benutzt, darum weiß ich das nicht.“

Was für eine dämliche Antwort, dachte Light, verärgert über die unausgereifte Entgegnung. Damit war klar, dass sich dummerweise auch Rems Intelligenz im erwarteten Spektrum bewegte. Trotzdem konnte ihm das nichts anhaben. L hatte nichts gegen ihn in der Hand. Seine Fragen waren nur ein letzter verzweifelter Versuch. Jetzt war es an Light, seinem Feind und Partner die Fesseln anzulegen, damit dieser nicht auf die Idee kam, aus schierer Kopflosigkeit den Namen seines Hauptverdächtigen in das Death Note zu schreiben. Nur aufgeben durfte der Meisterdetektiv noch nicht. Sollte er doch weiter versuchen an Kira heranzukommen. L sollte kämpfen, sich abmühen, unter Qualen aufbegehren und schließlich verzagen, um am Ende kläglich zu scheitern. Er würde unterliegen. Und auch noch mit dem allerletzten Atemzug sollte sich L zur Wehr setzen, während Light ihn gewaltsam niederrang.

Denk noch einmal scharf nach, forderte der skrupellose Mörder in ihm seinen Gegner heraus, innerlich verzückt vor Euphorie und Größenwahn. Und leide! Leide noch ein bisschen weiter. Schon bald werde ich dich von deinem Leiden erlösen.

 

„Willst du wirklich nicht weg von hier?“, fragte Herr Yagami seinen Sohn besorgt. „Endlich hast du deine Freiheit wieder. Wir können deiner Mutter und Sayu eröffnen, wir hätten unseren Streit beigelegt.“

„Vater, es tut mir leid.“ Aufmunternd lächelte Light den älteren Mann an. „Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich kann jetzt nicht einfach so gehen und mit euch ganz normal zu Abend essen, als wäre nichts geschehen, die Uni besuchen und so tun, als würde ich in wilder Ehe mit Misa zusammenleben.“ Der ältere Mann musste schmunzeln und auch Light lachte leise und gutherzig, bevor er hinzufügte: „In meinem Kopf dreht sich derzeit sowieso alles um den Kira-Fall. Da bezweifle ich, dass ich mich auf etwas anderes konzentrieren kann. Glaub mir, Vater, ich will hier bleiben und helfen, soweit es in meiner Macht steht.“

„In Ordnung, Light.“ Herr Yagami legte seinem Sohn liebevoll eine Hand auf die Schulter. Sie tauschten einen Blick, mit dem sie sich gegenseitig Zuversicht vermittelten, während das Lächeln auf beider Lippen ernst und ein wenig bekümmert wirkte. Dann verließ der mittlerweile wieder in Dienst genommene Chefinspektor den Hauptüberwachungsraum, sodass die zwei jungen Ermittler allein zurückblieben.

Light wandte sich von der Fahrstuhltür ab, nachdem diese sich geschlossen hatte. Er drehte sich um und begegnete sofort dem durchdringenden Blick der tiefschwarzen Augen. L starrte ihn neugierig an. Obwohl Lights Herzschlag einen Moment auszusetzen schien, hatte er keine Schwierigkeiten, milde zu lächeln und Gelassenheit vorzuspielen. Innerlich allerdings spürte er die altbekannte Unruhe, denn noch immer hatte er die Frage, die ihm die ganze Zeit auf der Zunge brannte, nicht gestellt. Wo sollte er fortan schlafen? Er wusste nicht, wie er diese banale Frage unverfänglich vortragen sollte, ohne dass L Verdacht schöpfte. Doch warum sollte eine solche Bitte überhaupt verdächtig sein? Die Observation war beendet. Sie waren nicht mehr aneinander gefesselt. War es nicht logisch, dass sie nun in getrennten Zimmern schlafen würden?

Bevor Light jedoch etwas sagen konnte, ergriff L das Wort:

„Deine Sachen sind noch im Zimmer. Du möchtest sie jetzt sicher zusammenpacken, oder? Also komm mit. Folge mir.“ L wedelte mit der Hand herum, stand auf und schlurfte durch den Überwachungsraum. Die Aufforderung klang wie ein Befehl oder eine Drohung und Light witterte eine diffuse Gefahr. Sollte er L tatsächlich noch einmal auf ihr gemeinsames Zimmer folgen? Wenn er ehrlich war, hatte er gar keine Lust, noch länger als nötig mit dem Anderen zusammen zu sein. Unwirsch schob er seine Bedenken beiseite. Es war albern, aufgrund von ungenauen Vermutungen zu zaudern, als würde er glauben, die Situation nicht im Griff zu haben. Schließlich war es seine eigene Entscheidung gewesen, hierzubleiben. Zudem fiel ihm ohnehin kein Vorwand ein, mit dem er sich jetzt aus der Affäre hätte ziehen können. Und wenigstens zeigte die Aufforderung, dass L Vorsorge getroffen und ein weiteres Zimmer arrangiert hatte.

Es lag, wie Light seinem Vater bereits erklärt hatte, nicht in seiner Absicht, das Fahndungszentrum zu verlassen. Er musste L unbedingt unter Kontrolle halten. Er musste an dessen Seite bleiben, um sich zum Einen zu vergewissern, dass dieser nichts Dummes tat, und zum Anderen wollte Light Zeuge sein beim Fall des Meisterdetektivs. Im entscheidenden Moment durfte er L unter keinen Umständen allein lassen. L sollte direkt vor Kiras Augen sterben.

 

„Du schienst mit deinen Gedanken heute ganz woanders zu sein“, meinte Light ruhig, während er im Bad die Utensilien zusammensammelte, die ihm gehörten. Kurz und fragend blickte er zu L hinüber, der im Türrahmen lehnte und ihm zusah. „Du bist abwesend, Ryuzaki, merkst du das? Gesagt hast du auch kaum etwas.“ Ohne Eile räumte Light seine Zahnbürste in die dafür vorgesehene Reisedose. Am liebsten hätte er bloß rasch seine Sachen gepackt und wäre so schnell wie möglich gegangen. Auch Unterhaltungen waren ihm momentan zuwider. Es kam ihm vor, als hätte L ihn schon längst durchschaut. Anstatt durch Zurückgezogenheit verdächtig zu wirken, war es daher besser, auf Konfrontation zu gehen. Dann konnte er auch erproben, ob er noch genauso gut lügen konnte wie früher.

L gab einen unbestimmten, nachdenklichen Laut von sich, wobei er ihn weiterhin mit den Augen fixierte. In der Zwischenzeit war Light fertig, schaute sich noch einmal suchend im Badezimmer um und wandte sich anschließend zur Tür. Ein schwaches Lächeln aufsetzend seufzte er bedauernd, als keine weitere Reaktion von seinem Freund kam.

„Willst du nicht reden?“, fragte Light und ging gemächlich auf seinen Partner zu. Dieser machte keine Anstalten, aus dem Türrahmen zu treten. Neben ihm war genügend Platz, um vorbeizugelangen, sodass Light annahm, in aller Ruhe passieren zu können. Er war sich dessen absolut sicher. Dennoch spürte er in seiner Magengegend wieder diese unbegründete, wachsame Aufregung, die ihn in jeder Sekunde einen handlichen Übergriff erwarten ließ. Warum zum Teufel ließ er sich von L so sehr aus dem Konzept bringen und verunsichern? Wenn es nicht bloß Zufall war und Light zu viel in dessen Verhalten hineininterpretierte, dann war es trotzdem nur ein Bluff. Zu mehr war der Detektiv auch gar nicht mehr imstande.

Und tatsächlich schritt Light ungehindert an ihm vorbei. Jetzt erst löste sich L vom Türrahmen, trottete zum Bett hinüber und blieb daneben auf der dem Fenster zugewandten Seite stehen. Währenddessen räumte Light seine Kleidung aus dem Schrank.

„Light-kun“, begann L endlich, „woher kam denn dein plötzlicher Sinneswandel?“

Der Angesprochene hielt inne. Offen begegnete er Ls Blick und lächelte wieder dieses bedauernde, traurige Lächeln.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du mich darauf ansprichst, Ryuzaki. Du meinst doch das, was ich vorhin in Bezug auf Misa sagte, oder?“ Entschuldigend schüttelte Light den Kopf. „Was in den letzten zwei Monaten passiert ist, tut mir wirklich leid. Ich habe mich manchmal wie ein Idiot benommen. Du kannst dich bestimmt erinnern, wie ich meinte, wir sollten das alles erst einmal auf sich beruhen lassen. In erster Linie bat ich dich deshalb darum, weil ich ständig gezweifelt und mir mein Handeln vorgeworfen habe. Eigentlich wusste ich, dass ich in vielen Situationen überreagiere. Oft habe ich es bereut und selbst nicht verstanden, was eigentlich mein Problem war und warum ich etwas tue, das ich gar nicht will.“ Mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht senkte Light den Kopf und strich sich scheinbar voller Zweifel das Haar aus der Stirn. Schweigend hörte L ihm zu. „Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Sogar jetzt verstehe ich es noch nicht ganz, aber es sollte wenigstens einiges erklären. Ich habe gemerkt, dass durch meine Freiheit und dadurch, dass der Verdacht von mir und Misa abgefallen ist, auch eine unglaubliche Last von meinen Schultern genommen wurde. Ich sehe jetzt viel klarer.“ Zwar wirkte Light noch immer bedrückt, doch erwiderte er den Blick seines Partners nun fest und zuversichtlich. „Was geschehen ist, hätte nicht passieren dürfen. Es war dir gegenüber unfair. Ich hoffe, du ver...“

„Es reicht“, unterbrach L ihn kalt. „Bist du fertig?“

Lights Augen verfinsterten sich. Einen Moment lang blieb er stumm und reglos. Dann nickte er ganz leicht, als hätte er eine solche Reaktion erwartet und würde Verständnis dafür aufbringen.

„Ja“, sagte er leise, „meine Sachen sind gepackt.“ Er hängte sich seine Reisetasche über die Schulter und war bereit zu gehen. Dennoch rührte er sich nicht und wartete einige Sekunden, in denen er seinen Freund nachdenklich musterte. Schließlich öffnete er den Mund, holte Luft, als wollte er etwas sagen, schien es sich jedoch anders zu überlegen und schwieg betreten. Es wirkte, als haderte er mit sich selbst. Jedenfalls wusste Light mit Bestimmtheit, dass sein Auftreten ein perfektes Abbild von Zweifeln und Schuldgefühlen war. Die Länge seines Zögerns sollte nun genügen. Er wandte sich um, ging zur Tür und drückte die Klinke herunter.

„Du willst also wissen, warum ich so schweigsam war?“ Überrascht blieb Light stehen und schaute zu L hinüber, der noch immer zwischen Bett und Fensterfront stand und ihn mit seinem Blick durchbohrte. „Warum ich dich selten direkt angesprochen habe?“

„Ich verstehe nicht...“

Kurzerhand stieg L mit langen Schritten über das Bett, durchquerte den Raum und war einen Wimpernschlag später bei Light angelangt. Er stemmte seinen Fuß gegen die Tür, welche erst einen Spalt breit offen stand, sodass sie mit einem dumpfen Knall wieder zuschlug. Daraufhin stützte er die Hand neben Lights Kopf an der Wand ab, beugte sich lässig zu ihm vor und fragte:

„Warum willst du denn unbedingt so schnell weg von mir, Light-kun?“

Rücken zur Wand

Rücken zur Wand

 

„Denkst du, es hat sich etwas an meinem Verhalten geändert?“, fragte L langsam und scheinbar völlig gelassen. Eine Hand stemmte er weiterhin gegen die Wand, um Light damit den Weg zu versperren, während er die andere mit sanfter Bestimmtheit auf dessen Schulter legte. Er kam seinem Partner noch näher, starrte ihm ungebrochen in die Augen und fragte erneut, diesmal mit eindeutig unheilvoller Stimme: „Hat sich etwas verändert, Light-kun?“

Keine Antwort folgte. Light verdrängte den Impuls, zurückzuweichen. Er zwang sich dazu, dem hastigen Schlagen seines Herzens nicht nachzugeben und stattdessen bedächtig ein- und auszuatmen, wobei er eine irritierte Miene aufsetzte, um Unverständnis auszudrücken.

„Wenn ich mein Schweigen breche“, sprach L weiter, „bist du nicht der Einzige, der mit der Wahrheit konfrontiert wird.“ Er verstärkte den Druck auf Lights Schulter, sodass dieser sich fühlte, als würde er in einen Schraubstock eingeklemmt werden. „Ich kann es nicht beweisen, aber ich halte an meinem Verdacht fest. Yagami Light war Kira.“

„Sind wir an diesem Punkt nicht schon oft genug gewesen, Ryuzaki?“

Die Bemerkung veranlasste L dazu, seinen Partner gegen die Wand in dessen Rücken zu stoßen. Mit beiden Händen hielt er Lights Kopf fest, während er die Unterarme gegen dessen Oberkörper drückte und ihm somit seine spitzen Ellenbogenknochen in den Brustkorb bohrte.

„Yagami Light ist es auch jetzt noch, auf welche Weise auch immer“, fuhr L unbeirrt fort. „Doch wenn ich darüber nachdenke, dann will ich nur den Fall sehen. Ich will dir nicht ins Gesicht schauen müssen, wodurch mir bloß ungewollt bewusst wird, dass du es bist, um den sich meine Deduktionen drehen.“

„Lass mich los“, forderte Light beschwichtigend, allerdings wurden seine Worte achtlos übergangen. Ganz im Gegenteil umfasste L seinen Kopf sogar noch nachdrücklicher, um den direkten Augenkontakt aufrechtzuerhalten und die Veränderungen im Blick des vermeintlichen Serienkillers erkennen zu können.

„Ich werde Kira vernichten“, sprach L eindringlich weiter, „ob auf kurze oder lange Sicht, irgendwie werde ich ihn vernichten. Ich werde ihn überführen und den Staat das Urteil über ihn vollstrecken lassen. Wenn nötig, werde ich auch seiner Hinrichtung beiwohnen. Verstehst du, was das bedeutet, Light-kun?“ Leicht schüttelte L seinen Partner an den Schultern, bevor er ihn erneut gegen die Wand stieß, als wollte er ihn zum Zuhören bewegen. „Wenn ich mir bewusst mache, was sich hinter den Variablen in meinem Kopf verbirgt, dann erkenne ich immer wieder nur dich. Das ist der Moment, in dem ich akzeptieren muss, was das alles heißt.“ Er verzog seine Mundwinkel zu einem Lächeln, doch seine schwarzen Augen blickten leer und starr durch Light hindurch. Sich vorbeugend flüsterte er seinem Freund ganz sacht ins Ohr: „Ich werde dich töten.“

Lights Atem stockte. Das Bild vor seinen Augen begann zu flimmern, die schmucklose Einrichtung, die sterile Umgebung, die gekrümmte Gestalt jenes Menschen, der ihn mit eiskalten Händen festhielt und dessen Atem er warm an seinem Hals spürte. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was L wenige Sekunden später hinzufügte:

„Oder du mich.“

„Was redest du denn da?“, rief Light abwehrend aus und diesmal war nichts von seiner Reaktion gespielt. „Ryuzaki, bitte bleib ruhig und hör...“

„Du hast dich also in Amane Misa verliebt?“, schnitt L ihm das Wort ab. „Ist das so? Ich verstehe. Dann ergibt dein Verhalten natürlich mehr Sinn. Du stehst solchen Dingen also eher offen gegenüber. Und selbstverständlich hast du damit Recht, denn eine derartige Einstellung ist viel schlüssiger als jede andere Behauptung.“ Nach wie vor lächelte L ihn falsch, fast ein wenig hochmütig an, während er ihm über die Wange und den Hals hinab strich, bis er beim Kragen des gestreiften Hemdes angelangt war und die oberen Knöpfe zu öffnen begann. „Beinahe hätte ich vergessen, dass du sowohl in der Schule als auch in der Universität verschiedene Freundinnen hattest. Wie war noch...“

„Ryuzaki, was soll das?“ Seine Panik ignorierend sprach Light äußerst gefasst, dem Anschein nach empfindungslos, und wollte L soeben aufhalten, als dieser sich blitzschnell dem Griff entwand und seinen Partner seinerseits gewaltsam an den Handgelenken festhielt.

„Nicht doch, Light-kun“, sagte er milde überrascht. „Das ist doch albern, du verhältst dich wie ein frigides Weib.“ Nachdem Light darüber höhnisch und abweisend gelacht hatte, entgegnete er bissig:

„Komm wieder runter, Ryuzaki. Du machst dich doch nur lächerlich. Das kann man ja nicht mit ansehen.“

„Dann mach die Augen zu“, spottete L mit einem ebenso aggressiv liebenswürdigen Lächeln. Kurz bevor er losließ, verstärkte er noch einmal seine Umklammerung, sodass Lights Handgelenk knackte. „Oder willst du dich später bei Misa-chan ausheulen, dass du ja gar nicht fremdgehen wolltest?“ Während er weiterredete, öffnete er die restlichen Knöpfe des Hemdes und streifte es seinem jungen Kollegen von den Schultern. Darunter trug Light noch ein kurzärmliges schwarzes Shirt. L bemerkte, dass sich die Muskeln an den nackten Armen seines Partners anspannten, doch hinderte dieser ihn kein zweites Mal an seinem Tun. „Was war es noch, was du damals gesagt hast? Die Mädchen wollten bloß ein bisschen Spaß haben? Mach dir also keinen Kopf und entspann dich, Light-kun, das ist doch nichts Ernstes.“ Resolut griff L nach dem Hosenbund, wobei er die Mimik des anderen Mannes musterte, welcher den Blick herablassend erwiderte.

Light empfand gleichermaßen Erregung wie Verachtung. Er wollte keine Angst oder Schwäche zeigen, indem er der Konfrontation aus dem Weg ging. Wenn er es schaffte, sich unter Kontrolle zu halten, war das die beste und erniedrigendste Variante, um L abzuweisen. Doch er wusste nicht, ob ihm das gelang, ob er das überhaupt wollte. Vielleicht war es besser, zu fliehen, bevor es zu spät war. Verstärkte es wirklich den auf ihm lastenden Verdacht, wenn er ihm Einhalt gebot?

Mitten in diese Gedanken und Zweifel mischte sich das Gefühl der Selbstaufgabe, als Light spürte, wie sich die fremde Hand in seine Hose schob. Auf einmal wurde ihm klar, dass er nicht widerstehen konnte. Er wandte den Blick zur Seite und versuchte sein Denken in weite Ferne zu lenken. Im Inneren war er unentschlossen und gespalten. Würde er es ertragen, unterlegen zu sein? Das konnte er nicht, er wusste es genau, und trotzdem lähmte Begehren seine Vernunft, sodass sein rastloser Wille vergeblich gegen den Selbstverlust anschrie, ihn zur Verteidigung seines Stolzes antrieb und doch nicht mehr bewirkte als eine halbherzige Gegenwehr, die seine Muskeln erstarren ließ, die Sichtbarkeit seiner Emotionen unterdrückte und nur mit wenigen Worten dem Angriff des Meisterdetektivs trotzte. Mit kalter Stimme, in der ein kaum wahrnehmbares Zittern mitschwang, warnte Light ihn:

„Du solltest das besser sein lassen.“

„Willst du das denn jetzt noch?“, fragte L und intensivierte seine Berührungen, wobei er sich nach vorn beugte und seinen Freund seitlich am Hals küsste, was diesen zurückschrecken ließ.

Light konzentrierte sich darauf, ruhig zu bleiben und seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Doch er bewirkte damit das genaue Gegenteil. Je mehr er seine Erregung zu unterdrücken versuchte, desto stärker wurde sie. Er hatte das Gefühl, das Herz müsste ihm in der Brust zerspringen, weil er sich kaum erlaubte Luft zu holen.

„Ryuzaki, warte!“

„Warum wehrst du dich so sehr?“, raunte L leise in sein Ohr und jagte damit einen weiteren Schauer durch Lights Körper.

„Nein, ich...“, setzte dieser zu einer Entgegnung an, stockte jedoch. Im Moment hasste er den Klang seiner eigenen Stimme.

„Offenbar habe ich es ein wenig einfacher als du“, stellte L gleichmütig fest, „und das ganz ohne die Handschellen, mit deren Hilfe man jemanden gut festhalten kann. Ich weiß, du musstest dich damals ziemlich abmühen, nicht wahr? Vielleicht liegt es ja daran, dass ich älter bin. Aber wenn du mich bittest, könnte ich genauso wie du mit meiner Zunge...“

„Nein!“, stieß Light rau hervor. Er vergrub seine Finger in Ls Ärmel und senkte die Stirn auf dessen Schulter, um wenigstens zu verhindern, dass dieser sein Gesicht sah. Obwohl er sich mit aller Macht dagegen wehrte, erreichte L schließlich sein Ziel. Light konnte ein Zusammenzucken nicht verbergen, genauso wie sich ein plötzliches Keuchen ungewollt aus seiner Kehle stahl, als ihn sein eigener Körper hinterging und die Gefühle sein Bewusstsein übermannten. Natürlich bemerkte L es und drückte ihn daraufhin kaltblütig mit der linken Hand von sich und gegen die Wand in dessen Rücken. Von hilflosem Hass erfüllt wandte Light den Kopf zur Seite. Seine Augen waren fest geschlossen, die Zähne aufeinandergebissen, während er den Schmerz niederzukämpfen versuchte, der vermutlich unübersehbar seine Gesichtszüge entstellte und seine Erregung verriet. Er spürte regelrecht Ls erniedrigenden Blick auf sich ruhen.

Dieser Bastard, dachte Light voller Zorn und Verlangen, dafür wird er sterben!

In gespielter Verwunderung hob L seine rechte Hand und kommentierte ironisch:

„Du hast wohl gerade an Amane Misa gedacht.“

Sofort rammte ihm Light die Faust in den Magen, obwohl er eigentlich nicht vorhatte, so zu reagieren. Es geschah schneller, als er sich darüber im Klaren werden und davon abhalten konnte. L hingegen hatte sehr wohl damit gerechnet. Trotz seiner reflexartig angespannten Bauchmuskulatur, ging er ein wenig in die Knie. Diesen Moment der Schwäche nutzte Light, um eilig seine Hose wieder hinaufzuziehen und danach erneut zuzuschlagen. Er folgte L, packte ihn am Kragen und schob gleichzeitig sein Bein von hinten in dessen Kniekehle, womit er ihm den Boden unter den Füßen entzog und ihn zu Fall brachte. Der Detektiv schlug keuchend auf, sammelte sich jedoch rasch und trat, halb auf dem Rücken liegend, mit dem Fuß in Lights Richtung. Dieser fing den Tritt rechtzeitig ab. Während er L mühselig festhielt, zog er ihn über den Boden näher zu sich und behinderte seine Bewegungsfreiheit, indem er dessen Beine rechts und links über seine Arme legte und sie im Hinabbeugen durch den mit seinem Körpergewicht beschwerten Druck seiner Schultern in eine angewinkelte Position zwang.

„Na, wer ist jetzt in der ungünstigeren Lage?“, fragte Light überheblich und von der Situation berauscht.

L gab seine Abwehrhaltung auf und begnügte sich damit, seinem Freund durchdringend in die Augen zu starren, welcher ihm eine ungemein demütigende Stellung aufzwang. Beide Männer atmeten schwer und schwiegen einige Sekunden, die Light ausreichend Gelegenheit gaben, um wieder zu Verstand zu kommen.

„Hörst du mir nun zu?“, fragte er versöhnlich, ohne den Meisterdetektiv freizugeben.

„Dann sprich“, antwortete L genervt. Sein Rückgrat schürfte unangenehm über den harten Boden. Er versuchte sich aufzustützen, doch durch die Körperhaltung und das Gewicht des anderen Mannes erschien ihm das unmöglich. Unbeteiligt zur Seite blickend stemmte er seine Beine, die auf Lights Schultern lagen, gegen dessen Rücken, doch auch das stellte sich als vergebens heraus.

Amüsiert registrierte Light die versteckten Bemühungen, mit denen sich L von ihm zu befreien versuchte. Er ignorierte es und sagte:

„Denk doch mal nach, Ryuzaki. Ich wollte Misa nicht ausnutzen, als wir uns sicher waren, dass sie die Videobänder verschickt haben musste. Irgendwie schien sie mit dem zweiten Kira in Verbindung zu stehen, aber jetzt ist es offensichtlich, dass hier irgendjemand im Hintergrund die Fäden zieht und uns alle nur benutzt hat, um den Verdacht von sich selbst abzulenken. Misas und meine Unschuld sind bewiesen. Nun kann ich meine Gefühle zulassen, weil es einfach keine mögliche Ausnutzung mehr in Bezug auf den Kira-Fall gibt.“ Bei diesen Worten schnaubte L verächtlich, einerseits über die Dreistigkeit seines Partners, andererseits fiel ihm das Atmen zunehmend schwerer. Anfangs war der Schmerz noch erträglich, doch verstärkte er sich mit jeder Sekunde.

Seine Überlegenheit genießend fuhr Light teilnahmslos fort:

„Es ist doch nicht überraschend, dass ich deshalb erst jetzt Klarheit erlangt habe. Wobei...“ Er zögerte, als dächte er offen darüber nach. „Wenn ich ehrlich bin, kam das gar nicht so plötzlich. Ich bin mir nach und nach dessen bewusst geworden. Allerdings wollte ich dir keine Angriffsfläche bieten, nachdem du mir schon einmal vorgeschlagen hattest, ich könnte Misas Gefühle missbrauchen, um ihr Informationen zu entlocken. Solange das alles noch ungeklärt war, habe ich mir selbst verboten, mich auf Misa einzulassen. Außerdem... was ist denn mit dir, Ryuzaki?“

L atmete angestrengt. Er verzog das Gesicht, hielt den Kopf aber weiter zur Seite gewandt. Es kam ihm vor, als würde der Schmerz ihn überwältigen. Dabei ging es nicht allein um den durch ihre Stellung verursachten körperlichen Schmerz, obgleich ihn nicht alles an seiner jetzigen Lage abstieß. Er fühlte sich ausgeliefert. Die Nähe war ihm zu intim. Er wusste nicht mehr, was er wollte und was nicht. Und damit war er nicht der Einzige.

Eigentlich dachte Light, er würde die Erniedrigung seines Partners voller Hohn auskosten. Als er ihn nun so schutzlos und dennoch beherrscht unter sich sah, vereinnahmten ihn erneut widersprüchliche Gefühle. Anstatt das Spiel weiterzutreiben, zog er sich zurück und gab L frei. Er redete sich ein, dass er Fairness walten lassen wollte, weil ein ungleicher Kampf an Wert verlor. Er wollte L nicht so schwach sehen. Er wollte nicht selbst schwach werden.

„Jedenfalls müssen wir jetzt dem echten Kira auf die Spur kommen“, meinte Light im Aufstehen. Auch L kam wieder auf die Beine. Er atmete, seine Glieder und Gelenke bewegend, geräuschvoll aus. Light betrachtete ihn eingehend, während er sagte:

„Wir sind bisher immer nur falschen Fährten gefolgt. Es heißt also, wieder ganz von vorn anzufangen.“

„Geh, Light-kun. Bevor ich mich vergesse.“

Den Rücken zur Tür gewandt blieb L unbewegt stehen. Er schaute Light nicht an, der seinerseits einen Moment lang schwieg und dann seufzte.

„Ich hoffe, du beruhigst dich bald wieder und erkennst, dass du mit deinen Vermutungen nicht immer richtig liegen kannst, Ryuzaki. Erst recht, wenn du es nicht schaffst, rational zu denken.“

Nach diesen abschließenden Worten ordnete Light seine Kleidung, hob sein Hemd vom Boden auf, streifte es über und knöpfte es zu. Daraufhin hängte er sich die Reisetasche um. Er verzichtete darauf, sich noch einmal umzuschauen. Im Vorbeigehen klopfte er seinem Freund auf die Schulter, schritt an ihm vorüber und verließ, ohne ein weiteres Zögern, den Raum. Hinter ihm fiel die Tür gedämpft ins Schloss.

L verharrte reglos in dem nun stillen Zimmer. Mit leicht gehobenem Kopf und leeren Augen sagte er leise:

„Heuchler...“

 

Ein kurzer greller Signalton erklang beim Entriegeln der elektronischen Türsperre. Light schob die Sicherheitskarte zurück in seine Tasche. Der Detektiv hatte sie seinem Partner vorhin auf dem Flur, als er ihm seine neue Unterkunft zeigte, in die Hand gedrückt. Das war geschehen, bevor sie zum letzten Mal in ihr gemeinsames Zimmer gingen. Nun betrat Light allein ein Quartier, welches sich in Zuschnitt und Ausstattung kaum von dem anderen Raum unterschied, den er wochenlang zu zweit bezogen hatte. Selbst das Bett hatte die gleiche Größe. Geruhsam stellte er darauf seine Tasche ab, zog den Reißverschluss auf und entnahm ihr seine persönlichen Hygieneartikel, die er auf dem sauberen Stoff des gemachten Bettes zwischenlagerte. Nachdem er die Armbanduhr, das Geschenk seines Vaters, vom Handgelenk gelöst und sie mit Vorsicht auf dem Nachttisch niedergelegt hatte, sammelte er die Utensilien zusammen und trug sie ins Bad. Dort ordnete er sie sorgfältig auf der gefliesten Ablagefläche an. Er drehte sich um, machte die Tür von innen zu und schloss ab, obwohl niemand sonst bei ihm war. Es war lange her, seit er das letzte Mal so allein war wie jetzt. Seine Hand ruhte noch eine Weile auf der Klinke, als wäre sie erstarrt. Als wäre sein ganzer Körper zu Eis gefroren.

Von einer Sekunde zur nächsten drehte sich Light zur Seite und schlug mit der Faust gegen die Fliesen, immer und immer wieder, Schlag auf Schlag.

„Verdammt! Verdammt! Verdammt! Er hat es schon wieder getan.“

Zwischen den Wänden des Badezimmers hallte das hohle Geräusch wider. Umsonst darauf wartend, dass der Schmerz in seinen Fingerknöcheln seine emotionale Erschütterung milderte, vergrub Light die Hände in seinen braunen Haaren. Er sank wütend, nervös und entkräftet gegen die Wand. Die glatten Fliesen kühlten ein wenig seine erhitzte Stirn.

L hatte es erneut geschafft, ihn zu demütigen, auch wenn Light es ihm heimgezahlt hatte. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Die Vergeltung war einfach nicht genug. Es reichte nicht. L musste noch mehr dafür büßen. Doch trug er wirklich die Schuld an dem, was passiert war? Wie konnte das überhaupt geschehen? L hatte gar nicht die Macht, um Light so etwas anzutun. Niemand konnte Kira kontrollieren, weil nur er allein alles in der Hand hielt. Warum hatte er es so weit kommen lassen? Warum hatte er es nicht verhindert?

Lights Körper bebte. Seine schmerzhaften Atemzüge wurden unterbrochen von einem leisen Lachen, das seinen Brustkorb erzittern ließ. Es war noch nicht vorbei. Wozu grämte er sich? Schließlich hatte er den Kampf offensiv gesucht, der Eintönigkeit und Ungerechtigkeit der Welt mit dem Death Note ein Ende bereitet, um eine neue Zeit einzuläuten. Ein neuer Gott konnte nur aus den Trümmern eines Schlachtfeldes auferstehen. Er musste den Gott der alten Weltordnung zu Grabe tragen. Natürlich war der Krieg längst entschieden, aber ein paar Schlachten mussten noch geschlagen werden. Kira sollte dankbar sein, dass L nicht kampflos aufgab.

Lachend lehnte sich Light gegen die Wand in seinem Rücken. Er wehrte sich nicht mehr gegen die Angst, den Hass und die Besessenheit. Es war gut so, wie es war. Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wären Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch? Was wäre Sinneslust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde? Was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft?

Trugbild

Trugbild

 

Die anderen Personen waren nichts weiter als schwarze Silhouetten. Sie scharten sich im Licht der Überwachungsmonitore um den Meisterdetektiv L, doch dessen gekrümmte Gestalt war für Light als einzige erkennbar. Auf einmal stand sein Vater neben ihm. Light blickte hinauf in das ausgezehrte Gesicht des älteren Mannes. Die Lippen des Polizisten bewegten sich stumm. Es sei in Ordnung, sagte Herr Yagami, sie würden auf ihn Acht geben, damit er nichts Dummes tat. L würde weiterhin der Kontrolle unterliegen. Dankbar nickte Light. Er zog sich eine Jacke über und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Es war totenstill in den leeren Hallen, nur das Geräusch seiner Schritte erklang, als er die letzten Stufen zum Ausgang hinunterging. Kein zweiter Atem war an seiner Seite.

Light trat hinaus in die abendliche Kühle. Das erste Mal seit zwei Monaten allein. Rechts und links erstreckten sich bis in weite Ferne die beleuchteten Straßen Tokyos, bunte Reklametafeln und die mit künstlichem Essen ausstaffierten Schaufenster der zahlreichen Lokale. Über allem lag ein orangefarbener Nebel, als drückten die Wolken ihr Gewicht hinab auf die Stadt. Schmerzlich vertrautes Tokyo, ein kleines Stück der Welt, die Kira beschützen musste.

Light ging mit erhobenen Kopf und geradem Blick an den Menschen vorbei, die ihn nur unmerklich streiften und nichts davon wussten, dass soeben der erlösende Gott einer neuen Ära ihren Weg kreuzte. Kira kämpfte für sie. Allein gegen die Gefährdung seiner Welt. Vollkommen allein. Das Gefühl der Einsamkeit und Leere verstärkte sich mit jedem Atemzug, den er in den belebten Straßen der Großstadt mit tausend fremden Menschen teilte.

Nach einigen Minuten des ziellosen Herumwanderns betrat er kurzentschlossen einen 7-Eleven, jene Kette von Konbinis, die man hier an fast jeder Ecke fand. In ihrer Anfangszeit, daher der Ursprung des Namens, konnte man in diesen Läden von sieben bis elf Uhr einkaufen, mittlerweile waren sie allerdings rund um die Uhr geöffnet. Von 7-Eleven zu 24/7. Die wochenlange Verbindung war unterbrochen. Die Fesseln aus Metall hatte Light verloren. L war nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag in seiner Nähe. Jetzt hatte sich die Überwachung umgekehrt und währte nur noch vom Morgen bis zum Abend. Von 24/7 zu 7-Eleven.

Gedankenversunken griff Light in das Regal mit den Backwaren. Der Detektiv mochte Süßigkeiten, die nicht klebten und die man leicht anfassen konnte, aus Angst, sich die Hände schmutzig zu machen. Diese Melonpans mit Schokoladenkugeln würden ihm sicherlich schmecken. Beim Bezahlen wurde der Student zum zweiten Mal von der jungen Kassiererin am Eingang begrüßt, schenkte ihr aber auch jetzt nichts weiter als ein Lächeln. Er schaute ihr in die Augen und fragte sich, ob sie wohl auf Kiras Seite stand. Oder war sie gegen ihn? Ging es ihr nun besser, wie so vielen anderen Menschen auch, die durch Kira in dieser grausamen Welt Hoffnung schöpften?

Light wandte sich ab und verließ schweigend das Geschäft. Nachdem er ein paar Schritte gegangen war, hatte er das Gesicht der jungen Frau bereits vergessen. Sie würde das seine bald ebenso vergessen haben. Erinnerungen waren nicht nötig. Niemand sollte sich daran erinnern, wer sich hinter Kira verbarg, um seiner zu gedenken oder zu ihm zu beten. Denn ein Gott brauchte keinen Namen.

Es konnte nicht mehr lange dauern. Würde sich Light wohler fühlen, wenn er endlich als Herrscher über die neue Ordnung verfügte? Zu jenem Zeitpunkt, wenn L tot war? Eigentlich hatte Light in der Außenwelt nach Luft zum Atmen gesucht. Er wollte seine wiedererlangte Freiheit auskosten. Freiheit bedeutet Unabhängigkeit. Und Unabhängigkeit bedeutet Einsamkeit. Light gehörte nicht mehr zu dieser Welt, sobald er sich als beschützender Gott von ihr abgrenzte. Er fühlte sich ihr nicht mehr zugehörig. Das Einzige, das ihn noch mit seiner eigenen Menschlichkeit verband, war jene Fessel, die ihn seit mehreren Wochen umschloss. Nur L hielt ihn noch auf dem Boden fest, der unter seinen Füßen bereits zerbrach.

 

Verhalten raschelte das Bettzeug unter der schwerfälligen Bewegung seines Körpers, als Light sich umdrehte. Er öffnete müde die Augen, schloss sie wieder und ließ die linke Hand am unteren Rand des Kopfkissens ruhen, sodass sich sein Gelenk über der Erhebung befand. Indem er die Metallfessel neben der Kante hängen ließ, dämmte er ihren unangenehmen Druck ein. Verschlafen drehte er sich um und öffnete die Augen erneut. Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass L nicht neben ihm lag.

Erschrocken richtete sich Light auf. Das Bett neben ihm war leer und sah beinahe unbenutzt aus, obwohl L normalerweise weder Laken noch Decken ordnete, wenn er am Morgen aufstand.

„Ryuzaki?“

Sich aus dem Bett erhebend blickte Light verwirrt um sich, eilte dann ins Bad, doch auch hier schien niemand sonst zu sein. Irgendetwas war fremd und falsch an diesen kargen Räumlichkeiten. Während er noch seine Gedanken zu ordnen versuchte, bemerkte er im Hinabschauen, dass keine Handschellen sein Gelenk umschlossen. Hatte L sie mitgenommen? Wieso sollte er das tun? Warum sollte er einfach so...?

Schlagartig fielen Light die Ereignisse des vorigen Tages wieder ein. Auch wenn das Zimmer denselben Zuschnitt hatte, so wurde ihm nun klar, dass hier keinerlei Spuren des Detektivs zu finden sein würden. Light würde nicht mehr, weil er angekettet war, umständlich auf seine Bewegungen achten müssen. Er würde nicht mehr ständig von tiefschwarzen Augen verfolgt werden, die auf jede Unachtsamkeit lauerten, die Light gar nicht hätte zeigen können, solange er seine Erinnerungen nicht besaß. Er würde nicht mehr unter einer Freundschaft leiden, die nur einer von beiden ernst meinte.

Am vorigen Abend hatte der junge Student noch alle Gedanken an diese Tatsache verdrängt und war aufgrund seiner Müdigkeit sofort in tiefen Schlaf gefallen. Ein Schlaf, der dennoch nicht traumlos geblieben war. Wahrscheinlich war es sein Wunsch nach Freiheit, der ihm diese Bilder einer abendlichen Stadt vorgegaukelt hatte. Light erinnerte sich an die überfüllten Straßen Tokyos, nach deren Anonymität er sich sehnte. Er wollte das Getriebe der verrottenden Welt arbeiten hören und lauschen, ob sich etwas an diesem Klang geändert hatte. Stattdessen sperrte er sich selbst in einen luftleeren Raum, lehnte mit dem Rücken an geschlossenen Türen und versuchte vergeblich zu atmen.

 

Abwesend zog Light den Reißverschluss seines Oberteils nach oben. Die Stille, nur überdeckt von den Geräuschen, die er selbst verursachte, übte einen dumpfen Druck auf seine Ohren aus. Er war eben erst aus dem Bad gekommen und hatte sich fertig gemacht, um zum Frühstück zu gehen, wo er sich mit der Gesellschaft anderer konfrontieren musste, als es an der Tür klopfte.

„Ja?“, sagte Light kurz, aber deutlich und schaute irritiert auf. Dann fiel ihm ein, dass der Schließmechanismus von außen nur mit seiner Karte entriegelt werden konnte. „Ah, Moment.“ Doch bevor er die Tür erreichte, ertönte bereits der grelle Signalton, sie öffnete sich und L trat herein.

„Ich wünsche dir einen guten Morgen, Light-kun“, begrüßte er ihn ohne Umschweife oder Betonung. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt L noch immer seine Sicherheitskarte in die Luft. Finster starrte Light sie an und meinte abschätzig:

„Sollte meine Überwachung nicht beendet sein, Ryuzaki?“

„Ja, das ist sie.“

„Und gehört dazu nicht auch ein gewisses Maß an Privatsphäre?“

„Du hast mich doch hereingebeten, oder etwa nicht?“ Gleichgültig schob L die Karte zurück in seine Hosentasche.

„Habe ich das?“, fragte Light tonlos, ohne dass es nach einer Frage klang, sondern eher nach einer ironischen Feststellung.

„Wenn dir das missfällt“, räumte der Detektiv lächelnd ein, „kannst du ja jederzeit gehen. Ich werde dich nicht aufhalten.“

„Du meinst, du kannst“, betonte Light das Wort absichtlich, „mich nicht aufhalten.“

Ls Lächeln wurde eine Spur breiter.

„Warum so selbstgefällig, Light-kun?“

Betroffenheit vortäuschend begegnete dieser dem durchdringenden Blick seines Partners, bevor er kopfschüttelnd zu Boden sah. Traurig seufzend schloss Light für einen Moment die Augen.

„Lass uns nicht so weitermachen, Ryuzaki“, bat er leise. „Ich will mich nicht ständig mit dir streiten.“

Das Lächeln verschwand. L wandte nachdenklich das Gesicht zur Decke und kaute am Nagel seines Zeigefingers herum, wobei er seinen Partner nur noch aus dem Augenwinkel musterte. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

„In Ordnung. Ich wollte dich ohnehin nur darüber in Kenntnis setzen, dass alles für die Abreise von Amane Misa in die Wege geleitet wurde. Verabschiede sie bitte, auch in meinem Namen, denn ich werde mich vorerst zurückziehen und sie wahrscheinlich nicht mehr antreffen.“ Light wusste, dass sich L mit Sicherheit nur solange zurückziehen würde, bis Misa das Hauptquartier verlassen hatte, weil er davon ausging, dass sie ihm als zweiter Kira wieder gefährlich werden konnte. Natürlich schwieg er über diese Vermutung. „Übrigens“, fügte L hinzu, nachdem Light nur stumm genickt hatte, „besitzt du die gleiche Verfügungsgewalt wie ich.“

„Wie meinst du das?“

„Deine Zugangskarte“, erklärte L scheinbar gelangweilt, wobei er den Zeigefinger auf seinen Freund richtete wie eine gezückte Waffe, „du besitzt noch immer eine zweite.“

„Warte, ich gebe sie dir.“ Rasch drehte Light sich um, doch wurde er sogleich am Arm zurückgehalten.

„Schon okay. Behalt sie ruhig.“ Er schaute verwirrt in Ls Gesicht und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. Was für ein Manöver sollte das denn jetzt sein? Verbarg sich hierin eine unverhohlene Aufforderung oder wollte der Meisterdetektiv nur seine Reaktion testen? Dessen Blick fiel jedoch plötzlich aufmerkend hinab. „Was hast du da gemacht, Light-kun?“ L hob den Arm seines Freundes an und betrachtete die rot geschwollenen Fingerknöchel.

„Nichts.“ Umgehend entzog Light sich ihm. Er wich den tiefschwarzen Augen aus, die ihn auf so vertraute Weise beobachteten, als könnten sie mühelos jede Fassade durchbrechen. „Nachher werde ich mich also von Misa verabschieden müssen. Ich habe verstanden.“ Reserviert ging er an dem Detektiv vorbei, blieb allerdings im Türrahmen für einen kurzen Moment stehen. Seine abschließenden Worte sprach er, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Wir sehen uns später, Ryuzaki.“

Reglos schaute L ihm nach. In seinen leeren Augen spiegelte sich Ernst wider.

 

„Warum ist Ryuzaki eigentlich als Einziger nicht mit runtergekommen?“ Herr Yagami blickte verwundert zum Fahrstuhl hinüber. Seine Kollegen aus der Polizei, zu denen seit dem Großeinsatz gegen Higuchi auch Aizawa wieder gehörte, standen neben ihm im Eingangsbereich, um Abschied von Misa zu nehmen. Das Mädchen warf sich mit tränenbenetzten Wimpern in die Arme von Light, welcher sie zärtlich festhielt, während er in seinen Gedanken voller Spott die Frage seines Vaters beantwortete. Wahrscheinlich saß der Meisterdetektiv genau in diesem Moment im Überwachungsraum vor einem der Monitore und verfolgte starr jede Bewegung seiner beiden Hauptverdächtigen. Er hatte offenbar Angst davor, Kiras Waffe, seinem Augenlicht, in der jetzigen Situation noch einmal zu begegnen. Bisher waren zwar noch keine weiteren Morde an Verbrechern verübt worden, doch L spürte offenbar instinktiv, dass er sich jetzt mehr in Gefahr befand als jemals zuvor. Er wusste ja nicht, dass Misa derzeit noch nicht in der Lage war, den Meisterdetektiv zur Strecke zu bringen. Sie musste erst ihr eigenes Death Note, welches Light an einem schwer auffindbaren Ort vergraben hatte, wieder berühren, um ihre Erinnerungen aus der Tiefe des Vergessens hervorzuholen. Doch selbst für den Fall, dass sie sich nicht mehr an den echten Namen von Hideki Ryuga, Ryuzaki oder L erinnern konnte, hatte Light vorgesorgt, indem er die beiden Todesgötter ihre Death Notes hatte tauschen lassen. Wenn Misa es wollte, konnte sie also jederzeit das Augenlicht, welches sie zusammen mit dem Besitzrecht an ihrem Death Note aufgegeben hatte, zurückerlangen, dieses Mal durch einen Tauschhandel mit Ryuk. Damit würde sie ihre Lebensspanne erneut halbieren. Sie vergötterte Light so sehr, dass sie es ohne zu zögern tun würde.

Nachdem die Polizisten sie miteinander allein gelassen hatten, konnte er Misa seinen Plan unbemerkt mitteilen. Anschließend entließ er das Mädchen mit einem Kuss und einem falschen Lächeln. Als sie schweren Herzens ging, meinte Light bereits sehen zu können, wie Ryuk als dunkler Schatten hinter ihr thronte.

„Und, ist dein Vorhaben aufgegangen?“, hörte er in seinem Kopf die belustigte Stimme seines Todesgottes. Mit Betreten des Fahrstuhls war der Schatten ihm gefolgt, wenngleich es nur ein Trugbild seiner eigenen Gedanken war. In wenigen Tagen schon würde er Ryuk tatsächlich wiedertreffen. „Die Menschen sind so dumm, Light.“ Ein abgehacktes Kichern hallte in seinen Ohren nach, während Light unbeteiligt auf die Etagenanzeige des Fahrstuhls starrte. „Sie schauen in dein hübsches Gesicht, verfallen deinem gutmütigen Lächeln und lassen sich von deinen liebenswerten Worten einlullen. Du bist wie ein süßes Gift. Jeder möchte dir Vertrauen schenken. Nur L lässt sich von dir nicht täuschen.“ Ein krankhaftes Gackern grollte in Ryuks Kehle. „Du lügst zu schön, als dass er dir glauben könnte.“

 

„Sein Name ist nirgends aufgeführt. Es deutet alles darauf hin, dass er nicht durch dieses Notizbuch, das wir hier in Händen halten, gestorben sein kann“, mutmaßte Aizawa und blätterte durch die Seiten des Death Notes. „Also doch ein anderes...?“

„Todesgott! Du hast gesagt, du hättest Higuchi nicht umgebracht.“ Herr Yagami wandte sich eindringlich an Rem. „Aber euch Todesgöttern ist es trotzdem möglich, ein Menschenleben einfach so auszulöschen, nicht wahr?“

„Wenn wir es wollen, dann töten wir eher wahllos“, antwortete Rem stoisch. „Es könnte sein, dass ein Todesgott Higuchi umgebracht hat. Vielleicht aber auch nicht.“

Die wilden Spekulationen, die seit einiger Zeit zwischen den Ermittlern hin und her gingen, amüsierten Light. Es war ihm ein Vergnügen, sich einzuklinken, um Öl ins Feuer dieser fruchtlosen Diskussionen zu gießen.

„Vielleicht stirbt ein Benutzer des Notizbuchs automatisch, sobald er sein Death Note verliert.“ Über seine eigenen Worte nachsinnend legte Light eine Hand an sein Kinn und starrte grübelnd ins Leere. Daraufhin traute sich Matsuda mit ängstlich gesenktem Kopf erstmalig Rem anzusprechen.

„Ist das so, Mister Todesgott?“

„Tja, vielleicht ist das so.“

Scheinbar verärgert stieß Light die Luft zwischen seinen Zähnen aus.

„Sinnvolle oder hilfreiche Antworten sind aus dir wohl nicht herauszubekommen, was?“

Ohne etwas zu entgegnen folgte Rem dem perfekten Schauspiel, das Light ihnen bot. Wie hatte sich Misa nur in einen solchen Mann verlieben können, der es genoss, alle Menschen in seiner Umgebung hinters Licht zu führen? Wie schaffte er es, so skrupellos zu lügen? Um glaubhaft die Unwahrheit zu sagen, musste man sich selbst von der Wahrheit seiner Lügen überzeugen. Die Todesgöttin ahnte nicht, dass Light längst nicht mehr wusste, was der Wirklichkeit entsprach und was nicht. Sie wurde aus ihren Überlegungen gerissen, als L, der seine Aufmerksamkeit gänzlich einem Stück Baumkuchen gewidmet hatte, in typisch monotoner Weise eine Vermutung äußerte.

„Vielleicht ist es aber auch immer nur der erste, der tatsächliche Kira, der diejenigen ermordet, die seinen Zwecken nicht mehr dienen können, nachdem er sie benutzt hat.“

„Aber könnte es nicht genauso gut sein, dass die Kraft mitsamt dem Death Note ständig weitergegeben wird?“, fragte Matsuda unsicher. „Dann gäbe es wohl schon zwei, drei, vier oder noch mehr Kiras.“ Er fasste sich mit beiden Händen an die Stirn, als würde ihn diese Idee überfordern.

„Das passt nicht zu dem erstellten Persönlichkeitsprofil.“ Gelassen teilte L den Ring seines Baumkuchens in mehrere gleichgroße Bausteine. „Wie Light-kun bereits vor ein paar Tagen erklärt hat, ist die Weitergabe des Notizbuchs sicherlich mit Kiras Absicht geschehen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es ihm möglich sein würde, das Heft später zurückzuerlangen. Der zweite Kira unterschied sich in seiner Vorgehensweise bereits stark vom ursprünglichen. Nichtsdestotrotz hätte er, unter richtiger Leitung, der Vorstellung des ersten Kiras entsprechend handeln können.“ L stapelte die Baumkuchenstücke wie die winzige Ausgabe einer Backsteinmauer übereinander. „Dagegen fällt Higuchi völlig aus dem Muster heraus. Er handelte nicht nach einem Gerechtigkeitsideal, sondern ausschließlich nach seinem eigenen Vorteil. Warum er dennoch Verbrecher getötet hat, ist mir schleierhaft, möglicherweise nur, um von den Unfallmorden seiner Konkurrenten abzulenken oder weil er durch Kira dazu genötigt wurde. Nachdem er seine Schuldigkeit getan hatte, musste Higuchi eliminiert werden.“ Mit den Zinken seiner Gabel stieß L gegen die unteren Baumkuchenstücken und brachte die kleine Mauer damit zum Einsturz. „Es kann nicht übermäßig viele Kiras geben, denn selbst wenn sich ein Muster ergäbe, weil die anderen Vollstrecker unter der Führung eines Einzelnen agieren, so würden sie doch eine Gefahr darstellen. Je mehr Menschen an einem Verbrechen beteiligt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit des Fehlschlags und Scheiterns. Es muss in Kiras Interesse gewesen sein, so wenige Menschen wie möglich zu involvieren.“

Genau wie bei dir, L. Verständnisvoll nahm Light die Worte des Meisterdetektivs wahr, auch wenn sie ihm offenbarten, wie wenig jener seinen Verdacht trotz der 13-Tage-Regel fallen lassen wollte. L ließ sich nicht einmal von den Gesetzen eines Gottes abschrecken. Das passte zu seinem Kampfgeist und seiner zähen Widerstandsfähigkeit. Zumindest solange er sein eigentliches Ziel, den ihm ebenbürtigen Gegner Kira, nicht verlor.

Es stimmte, sein Freund und Widersacher ließ sich von Light nicht täuschen. Doch gerade das machte diesen Kampf überhaupt erst interessant.

Nachher wie vorher

Nachher wie vorher

 

„Das kapiere ich nicht.“ Sich am Kopf kratzend verzog Matsuda verständnislos das Gesicht. „Wie kann es denn sein, dass Kira die gleiche Person ist wie am Anfang, wir aber trotzdem keine Ahnung haben, wer genau sich dahinter verbirgt? Das ergibt doch keinen Sinn. Irgendeine Spur müssten wir dann doch haben.“

„Es muss so sein“, sagte L entschieden und verteilte mit der Gabel die kleinen Blöcke seines Baumkuchens gleichmäßig auf dem gesamten Teller. „Es kann nicht anders sein. Denn wie unwahrscheinlich die Lösung auch erscheinen mag, wenn alle Unstimmigkeiten ausgemerzt wurden, ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit.“

„Man kann gar nicht alle Etwaigkeiten ausfindig machen und ausmerzen“, widersprach Light, wobei er sich mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurücklehnte. „Es gibt keine absolute Wahrheit. Hast du nicht selbst zugegeben, dass du aus diesem Grund mit Wahrscheinlichkeiten rechnest und nicht mit absoluten Werten, Ryuzaki?“

„Wenn man einen Kriminalfall zu lösen versucht, bezeichnet man das angestrebte Ziel nun einmal als die Wahrheit.“ Der Detektiv fing an, eine Tube mit Schokoladensoße über den Kuchenstücken auszudrücken. „Sobald Beweise dagegen sprechen, muss man die entsprechenden Kausalketten für ungültig und falsch erklären, auch wenn sie logisch wirken. Auf der anderen Seite sollte man etwas Unwahrscheinliches nicht als undenkbar abstempeln, nur weil es noch keine Verbindung in der Kausalkette, keine Indizien gibt.“

„Also, bewiesen ist zum Beispiel“, schaltete sich Matsuda eifrig ein, „dass Light-kun und Misamisa es nicht gewesen sein können, sonst wären sie jetzt tot.“

„Wie der Name schon sagt“, erwiderte L trocken, „zeichnet sich ein Beweis dadurch aus, dass er bewiesen wurde.“ Nachdem er den gesamten Baumkuchen in Schokoladensoße ertränkt hatte, sodass die einzelnen Stücke nur noch anhand leichter Erhebungen unter der schwarzbraunen Masse zu erahnen waren, stellte er die zu zwei Dritteln geleerte Flasche beiseite. „Wie in unseren empirischen Wissenschaften kann man Bedingungen festlegen und untersuchen, daraufhin Schritt für Schritt erforschen, welche Aussagen zutreffen, Theorien aufstellen und abschließend deren Gültigkeit überprüfen. Die Vorgehensweise ist immer dieselbe. Sie kann zu einem Abschluss kommen und in dem münden, was wir für die Wahrheit halten. Diese Wahrheit trifft solange zu, bis irgendwann das Gegenteil bewiesen wird.“

„Meines Erachtens“, gab Light zu bedenken, „sind aber Natur- und Geisteswissenschaften inkommensurabel.“

„Sind sie das?“, fragte L und suchte mit der Gabel nach den ertrunkenen Kuchenstücken auf seinem Teller. „Wie gut, dass wir hier jemanden haben, der die Zweige unseres wohlgeordneten Wissenschaftssystems so präzise definiert auseinander halten kann. Und ich dachte schon, es wäre in beiden Bereichen normal, mehrere einander widersprechende Wahrheiten gleichzeitig gelten zu lassen.“

„Touché.“ Lächelnd gestand Light dem Anderen diesen Punkt zu. Er mochte den leichten Sarkasmus in Ls Stimme, den dieser meist eher mit gespieltem Erstaunen als mit Bissigkeit äußerte. Der Meisterdetektiv schob sich unbeeindruckt ein schokoliertes Baumkuchenstück zwischen die Lippen und sprach mit vollem Mund etwas undeutlich weiter.

„Derart komplex ist zum Beispiel auch die Psychologie. Wir sprachen darüber schon einmal, als es um die Determination des Menschen ging und deren scheinbaren Beleg durch das Experiment von Libet, der ja eigentlich das genaue Gegenteil beweisen wollte.“

„Das stimmt, durch das Ergebnis widersprach Libet seinen eigenen Thesen, aber die Erkenntnis, die er daraus zu gewinnen glaubte, ließe sich ebenso widerlegen, indem man davon ausgeht, dass ein Mensch bei solch einfachen Handlungsabläufen, wie es das Bewegen eines Fingers ist, eine Entscheidung bereits vor der Tat gefällt hat. Experimente gibt es natürlich in beiden Wissenschaftszweigen, mit mehr oder minder eindeutigen Ergebnissen. Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass man in der Naturwissenschaft nach Kausalität sucht und in der Geisteswissenschaft nach Korrelation.“

„Jetzt geht das schon wieder los!“ Die beiden Gesprächspartner schauten verdutzt zu Matsuda hinüber, der sich mit beiden Händen angestrengt den Kopf festhielt, als könne er damit eine unbekannte Gefahr abwenden. Chefinspektor Yagami räusperte sich, während Aizawa seinem Kollegen den Rücken tätschelte und ihn sich hinsetzen ließ, indem er ihn auf das Sofa drückte.

„Standbymodus, Matsuda-san. Einfach abschalten“, beschwichtigte Aizawa den jungen Polizisten und murmelte dann noch kaum vernehmlich: „Seit ich weg war, hat sich offenbar rein gar nichts geändert.“

Als wäre nichts geschehen, fuhr Light fort:

„Nur weil die Geschichte der Physik gezeigt hat, dass wir einen Fortschritt im Wissen erlangt haben, heißt das nicht, dass wir uns der Wahrheit annähern.“

„Eben darum darfst du nicht vergessen, dass auch die Geisteswissenschaften ähnliche Konzepte bieten, Light-kun.“ L spießte ein weiteres Kuchenstück auf, das ihm allerdings sofort wieder von der Gabel rutschte, sodass er umständlich danach fischen musste. „Wie beispielsweise das teleologische Konzept der Geschichte, wonach der Staat und die Gesellschaft sich permanent verbessern und zum perfekten Zustand der Gerechtigkeit tendieren würden.“

Während Light den Detektiv bei seiner Angeltour beobachtete, nickte er verstehend und räumte ein:

„Der Unterschied besteht vermutlich in der Klarheit oder eben Schwammigkeit der jeweiligen Aussage, obwohl ich zugeben muss, dass man mit Mitteln der Logik tatsächlich auf beiden Seiten arbeiten kann.“

„Und eben diese Mittel sind nur auf den ersten Blick eindeutig. Erweitert man das Spektrum, dann gibt es nicht mehr nur das Offensichtliche, sondern noch etliche andere, manchmal verquere Antworten, die ebenfalls stimmen, wenn man den absurden Parameter unter der Oberfläche entdeckt, mit dem die Kette wieder funktioniert.“

„Du meinst also, man könne auf diese Weise mit einem ähnlichen Denken alle Prozesse der Welt begreifen. Darum gibt es für dich keinen qualitativen Unterschied zwischen den Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaft.“

„So viel schwammiger ist das Zweite nämlich gar nicht, Light-kun. Auch physikalische Experimente können kompliziert sein, mit vielen Störfaktoren. Dagegen sind zum Beispiel Wahlvoraussagen als Teil der Politik- oder Sozialwissenschaften schon ziemlich genau, mitunter sogar leichter vorherzusagen als mancher Ausgang eines komplizierten physikalischen Prozesses.“

„Der Unterschied ist begriffstheoretisch“, stellte Light erneut fest, „was uns wieder zur Inkommensurabilität beider Bereiche führt, aber sicher nicht dazu, einer Wissenschaft mehr Wahrheitsanspruch zuzusichern.“

„Das mit dem Standby klappt nicht!“ Matsuda stöhnte gequält auf und brachte mit den Händen seine Haare durcheinander.

„Den Eindruck hatte ich bisher gar nicht“, kommentierte Aizawa ungerührt. „Kommt mir eher so vor, als würden manche Leute immer im Leerlauf funktionieren.“

„Hey!“, wollte Matsuda gerade protestieren, doch sein Vorgesetzter unterbrach ihn ungeduldig.

„Wir sollten uns besser mit den Akten und Datenbanken beschäftigen.“ Herr Yagami schob zwei Stapel mit Dokumenten, die er soeben fertig geordnet hatte, über den Tisch. „Das ist schließlich nicht wenig. Und es ist noch nicht einmal alles vollständig. Dafür werden wir eine Menge Zeit benötigen. Aizawa, Sie übernehmen die Krankheitsfälle seit Kiras Auftauchen. Konzentrieren Sie sich auf junge Menschen, besonders auf solche unter zwanzig Jahren. Und Sie, Matsuda, nehmen sich die Unfälle vor.“

„Ja, Chef.“ Kleinlaut ließ Matsuda den Kopf hängen. Währenddessen waren der Meisterdetektiv und sein einstiger Hauptverdächtiger weiterhin in ihr Gespräch vertieft. Light sprach mittlerweile von den verschiedenen wissenschaftlichen Hilfsmodellen.

„Es mag zwar sein, dass sich die Biologen einen deutlicheren Begriff von einer Aminosäure machen können, wenn sie aus Draht und farbigen Kugeln ein Molekülmodell zusammenbasteln, was uns hilft die Phänomene in der Vorstellung zu ordnen. Doch ein buchstäbliches Modell des wirklichen Soseins der Dinge ist es nicht.“

„Das würde ich auch nicht behaupten wollen, Light-kun. Nur kann man diese Herangehensweise auch überall sonst anwenden. Meinetwegen wäre es auch möglich, etwa mit Hilfe von Flaschenzugrollen, Hebeln, Kugeln und Gewichten ein Modell der Volkswirtschaft anzufertigen. Jede Verminderung des Gewichtes G, also der Geldmittel, bewirkt eine Abnahme des Winkels I, der Inflationsrate, sowie eine Zunahme der Anzahl A von den Kugeln in der Schale, was wiederum für die Anzahl der Arbeitslosen steht. Auf diese Weise erhalten wir zwar die richtigen Eingabedaten und eine zutreffende Endwiedergabe, doch niemand wird behaupten wollen, dass es keinen Unterschied zwischen diesem Modell und der wirklichen Volkswirtschaft gäbe.“ L ließ das letzte überlebende Baumkuchenstück durch die Schokoladensoße gleiten wie ein Boot durch tiefes Wasser, bevor es in seinem Mund verschwand.

„Trotzdem scheint mir die Art der Herangehensweise verschieden zu sein“, setzte Light zu einer Erklärung an, wobei er L dabei zuschaute, wie er seinen Teller ableckte. „Auf der einen Seite das Aufstellen von Thesen und auf der anderen Seite die Experimente. Sozialwissenschaftliche Probleme können diskutiert werden. Man kann sich darauf einigen, wie schlüssig eine These ist und ob man sich ihr anschließen will. Das ist meiner Meinung nach allerdings nicht mit einem Beweis gleichzusetzen, wohingegen Wissenschaftler, die unabhängig voneinander daran arbeiten, die Naturereignisse zu begreifen, sich auf eigentlich differierenden Wegen mit ihren Erkenntnissen sogar gegenseitig in die Hände spielen können, wie das beim Zischen aus dem All und der Feststellung der im Weltraum herrschenden Wärme der Fall war.“

„Ist das denn möglich?“, warf Matsuda erstaunt fragend ein. Ein paar der von ihm zu bearbeitenden Akten ruhten nun unbeachtet auf seinem Schoß. „Ich dachte, im All würde Vakuum herrschen und die Temperaturen wären am absoluten Nullpunkt.“

„Nun, das ist soweit auch richtig“, erläuterte Light. „Einige Experimente sprachen aber gegen diese Theorie. In der Anfangszeit der transatlantischen Funkübertragung traten allerhand atmosphärische Störungen auf. Die Quellen dieses Rauschens konnten ermittelt, aber nicht immer beseitigt werden. Einige rührten von Gewitterstürmen her. Man entdeckte jedoch auch eine Art Zischen, das aus dem Zentrum der Milchstraße kam. Es gab also im Weltraum Quellen der Radiostrahlung, die ebenfalls zu den vertrauten atmosphärischen Störungen beitrugen. Um dieses Phänomen zu untersuchen, bauten die Physiker Penzias und Wilson ein Radioteleskop, um die vermuteten Energiequellen zu ermitteln. Sie stießen dabei auf einen geringen Energiebetrag, der überall im Weltraum in gleicher Verteilung aufzutreten schien.“

„Eine Entdeckung, die ihnen später den Nobelpreis einbringen sollte“, fügte L hinzu. Er war inzwischen damit beschäftigt, auf seinem Teller mit der restlichen Schokoladensoße Sterne zu malen. Light nickte seinem Partner zu und fuhr fort:

„Es war, als wiese alles, was im All existiert und selbst keine Energiequelle darstellt, eine Temperatur von ungefähr 4°K auf.“

„Das wirkte aber nicht besonders sinnvoll“, warf L ein.

„Genau. Darum taten sie alles, um eventuelle Instrumentenfehler ausfindig zu machen.“

„Taubenmist auf dem Teleskop etwa.“

„Doch nachdem sie jede erdenkliche Störquelle ausgeschaltet hatten, blieb trotzdem noch eine Resttemperatur von 3°K. Es widerstrebte ihnen, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen.“

„Weil eine völlig homogene Hintergrundstrahlung überhaupt nicht nachvollziehbar war.“

Während sich die beiden Männer gegenseitig den Ball zuspielten, ruckte Matsudas Kopf offenen Mundes hin und her in die Richtung des jeweils Sprechenden.

„Zum Glück geschah es gerade zu der Zeit“, erklärte Light weiter, „da sie sich dieses sinnlosen Phänomens sicher wurden, dass ein paar Theoretiker aus Princeton einen Vorabdruck zirkulieren ließen, in dem in rein qualitativer Terminologie folgender Gedanke dargelegt wurde: im Falle der Entstehung des Weltalls aus einem Urknall müsse im ganzen Weltraum eine gleichförmige Temperatur auftreten, nämlich die Resttemperatur jener ersten Explosion.“ Im Zuge der Formulierungen seines jungen Partners leckte L die Sterne vom Teller, weshalb er nur einen undefinierten, zustimmenden Laut von sich gab. „Außerdem würde man dieser Energie in Gestalt von Radiosignalen auf die Spur kommen. Die experimentellen Arbeiten von Penzias und Wilson standen also bestens in Einklang mit einer Theorie, die ansonsten reine Spekulation geblieben wäre. Sie hatten nachgewiesen, dass die Temperatur des Universums fast überall ungefähr drei Grad über dem absoluten Nullpunkt liegt.“

„Die Restenergie der Schöpfung“, fasste L zusammen und stellte den blanken Teller vor sich auf den Tisch. Light schloss die Ausführung mit den Worten:

„Es war der erste wirklich zwingende Grund, an diesen Urknall zu glauben.“

„In diesem Fall ist es gelungen, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, aber um die Lücken zu füllen, würde man auch so immer einen Weg finden“, meinte L, den Blick nun auf seinen Freund fixiert. „Um eine Anomalie mit der Theorie in Einklang zu bringen, werden einfach irgendwelche Dinge postuliert oder hinzugedichtet, damit es wieder aufgeht. Das ist ein in der Physik durchaus üblicher Schritt, damit die Gleichungen dem Phänomen nicht widersprechen. Man entnimmt dem gegebenen Vorrat einige Standardelemente und fügt sie den betreffenden Gleichungen hinzu, ohne dass man wüsste, warum es mit der einen Größe klappt und mit der anderen nicht. Zum Beispiel führte die Bahnanomalie des Uranus zur Annahme eines weiteren Planeten, sodass man im 19. Jahrhundert auf Neptun stieß. Die Wissenschaftler haben in der Hinsicht ziemlich gute Immunisierungsstrategien gegen jeden Zweifel entwickelt. Erstaunlicherweise wird in den Schullehrbüchern dieses Wissen der Physik so vermittelt, als wäre es wirklich so und als würden keinerlei Unstimmigkeiten zwischen den jeweiligen Theorien bestehen.“

„Eine solche Vorgehensweise kann aber auch gehörig in die Hose gehen.“

„Genauso ist es, Light-kun. Das führte nämlich auch zu der Annahme des Planeten Vulkan, um die Bahnanomalie von Merkur zu erklären. In diesem Fall hatte man allerdings kein Glück, denn den Planeten Vulkan gibt es nicht. Die Relativitätstheorie konnte jedoch diese Anomalie von Merkur im Gegensatz zur Newtonschen Theorie erklären. Gleiches gilt übrigens für die Postulierung Dunkler Materie oder Schwarzer Löcher. Nichts davon ist belegt. Es sind nur Hilfshypothesen zur Erklärung der Galaxiebewegungen, denn auch mit Einsteins Theorie können diese bisher nicht erschlossen werden. So stellt sich die Frage, was leistet die Wissenschaft überhaupt? Beschreibt sie die Welt, wie sie ist? Versucht sie uns die Welt begreifbarer zu machen, ohne Wahrheitsanspruch zu erheben? Gibt sie uns Erklärungen an die Hand, um die Realität für uns nutzbar zu machen? Wahrheit und Realität können sich nach der Praktikabilität richten. Ist die Newtonsche Theorie nun also falsch oder nicht, wenn sie sich nur danach richtet, wie sie für die Realität nutzbar gemacht werden kann?“

„Okay, ich verstehe, was du meinst, Ryuzaki. Die sogenannte richtige Wissenschaft kann auf diese Weise schwer von den Pseudowissenschaften abgegrenzt werden und die Erkenntnisse über die Natur schwer von denen des Geistes. Was unterscheidet dann noch Gott, Weltenergie oder Zauberkraft von der Vermutung einer Dunklen Materie?“

„Ich kann nicht mehr!“, rief Matsuda entnervt. Er verfrachtete den Stapel Akten von seinem Schoß auf die Tischplatte und legte erschöpft seinen Kopf oben auf den Dokumententurm. Die zwei Gesprächspartner achteten nicht auf ihn. Sie hielten ihren Blickkontakt fortwährend aufrecht. Vertieft in die Unterhaltung sagte Light schließlich, zu einem Konsens gelangend:

„Mit der Quantenmechanik hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Naturwissenschaft davon distanziert, eindeutige Aussagen über die Realität der Welt machen zu können. Die alten Theorien funktionieren nach wie vor und werden auch verwendet. Physik ist nicht linear, sie strebt nach Vernetzung aller Theorien, doch die Hauptrichtungen lassen sich kaum in Einklang bringen. Es sind unterschiedliche Herangehensweisen zur Erklärung der Welt. Die Eindeutigkeit von Theorien und die Wahrheit der Hypothesen werden eher populärwissenschaftlich stark gemacht. Ein Buch, eine Studie oder eine Reportage muss sich nun mal verkaufen und kann besser das Verständnis des Konsumenten ansprechen, wenn nicht lauter Unstimmigkeiten und Fragen das klare Bild verwischen und die Deutlichkeit der eigentlichen Erkenntnis hemmen.“

„Dass eine Theorie anerkannt wird, liegt nicht daran, dass sie völlig schlüssig, wahr oder ohne Lücken ist“, lenkte L affirmativ ein. „Das bestimmt eher ihre Praktikabilität, ihre Nützlichkeit, also einfach die Tatsache, dass sie funktioniert. Wir können die Welt nur so begreifen, wie sie uns erscheint. Nach dem Prinzip des Instrumentalismus sind Theorien richtig, wenn wir sie benutzen können, und nur diese Nützlichkeit ist entscheidend.“

„Bedeutet das etwa, Newton hatte doch Recht?“, fragte Light rhetorisch. „Müssen wir Einstein beiseiteschieben, weil wir im normalen Alltag mit seinen Annahmen nicht viel anfangen können? Das führt am Ende unabwendbar zur pessimistischen Metainduktion. Theorien haben sich oft als falsch herausgestellt. Warum sollten wir also glauben, dass wir in Zukunft eine richtige Theorie finden könnten?“

„Nun, Light-kun, eines wissen wir dennoch mit Sicherheit. Entweder ist es wirklich so...“ Jetzt lächelte L seinen Freund verschmitzt an. „Oder nicht.“

Obwohl verblüfft blinzelnd, antwortete Light sofort:

„Scharf kombiniert, Sherlock.“

„Danke, Watson. Meine Deduktion ist wie immer brillant, ich weiß. Damit haben wir also eine Tautologie. P oder nicht P. Eine schöne Gleichung, die immer zutrifft.“

„Was bedeutet das jetzt?“, fragte Matsuda verwirrt, aber immer noch schlaff mit dem Kopf auf seinen Akten liegend.

„Das bedeutet“, entgegnete Light ernst, „wir können ein äußerst erfolgreiches Resumé ziehen.“

„Genau“, stimmte L zu, „unsere Erkenntnis ist erstens richtig, zweitens falsch und drittens im Prinzip egal.“

Light musste lachen. Es entwich ihm unbekümmert und ehrlich. Er merkte nicht, wie der Detektiv ihn daraufhin interessiert musterte. Und er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal vor einer anderen Person, abgesehen von L, ein Lachen nicht gespielt hatte.

„Du musst ihn töten.“

Ryuks Stimme, die nur er selbst hören konnte, rann wie eisiges Wasser seinen Nacken hinab. Unangekündigt blitzte diese Tatsache in seinen Gedanken auf. Er musste L töten. Einen unbeschwerten Moment lang hatte Light es vergessen.

„Wie könnt ihr nur einfach so weitermachen, nach allem, was passiert ist?“, nuschelte Matsuda verständnislos. „Ihr ändert euch wohl nie.“

Light schwieg und starrte nachdenklich zu Boden. Es stimmte. Es hatte sich rein gar nichts geändert. Es änderte sich generell nie etwas, was auch immer zwischen L und ihm geschah. Sobald die beiden jungen Männer im Team unter den anderen Ermittlern waren, kehrte alles zur scheinbaren Normalität zurück. Sie verhielten sich wie Komplizen bei der Durchsetzung desselben Ziels, rational im Austausch ihrer Überlegungen, respektvoll im Umgang miteinander, distanziert in Bezug auf ihre Gefühle füreinander. Mehr als das war nach außen nicht erkennbar. Sie blieben Feinde, die Freunde spielten.

Kontrolle

Kontrolle

 

Es war nicht schwer, sich auf die Unterhaltungen mit L einzulassen. Die beiden Männer hatten bereits Monate zuvor über etliche Themen gesprochen, während sie noch gemeinsam die Universität besuchten und die Zeit zwischen den Seminaren und Vorlesungen im Park oder Café verbrachten. Damals, im Frühjahr desselben Jahres, als die Kirschblütenblätter gerade begannen wie Schnee von den Bäumen zu fallen, hatte Light seine Erinnerungen noch nicht verloren und sich geschworen, dass er darauf eingehen würde, wenn L in ihm einen Freund zu finden hoffte, ob es nun ehrlich gemeint sein sollte oder nicht. Und dieses Vorhaben war ihm unerwartet leicht gefallen. Gegenüber L eine solche Rolle zu schauspielern fiel ihm sogar sehr viel leichter als bei seinen Mitschülern und Kommilitonen, weil er sich dafür kaum zu verstellen brauchte, es sogar eher ein Anreiz war, sich dem Detektiv relativ offen zu zeigen. Nur seine echten Emotionen verbarg Light wie stets, wenn sie ihm nicht zum Vorteil gereichten. Darum war er sich absolut sicher, sein eigenes Verhalten in der erinnerungslosen Zeit größtenteils richtig voraussagen zu können. Er würde sich mit L anfreunden, denn früh genug hatte er erkannt, dass er das ohnehin auch in Wirklichkeit wollte.

Mit der Rückkehr seiner Erinnerungen und der Wiederauferstehung Kiras würde sich Light gewiss entsinnen, warum diese Freundschaft nichts an ihrer Feindschaft änderte. Und so hatten sich ihre Gespräche vor, während und nach dem Verlust seiner Identität in bestimmten Punkten immer geglichen. Jetzt spürte Light, dass sie beide mehr denn je abdrifteten. Sie führten Gespräche, die nichts mit dem Fall um Kira zu tun hatten. Gespräche, die keine zwischenmenschlichen Dinge behandelten. Es war, als wollten sie übereinstimmend ihre Probleme zerreden, sie regelrecht beiseite diskutieren, indem sie sich über alles und nichts austauschten, um ihren Gedanken keinen Freiraum zu geben. L sprach und Light hörte unwillkürlich die Worte dahinter, auch wenn er seine Ohren davor zu verschließen versuchte. Er befürchtete, nein, er wusste beinahe schon, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Von den anderen Mitgliedern der Sonderkommission war Chefinspektor Yagami als letztes gegangen. Er hatte sich von seinem Sohn verabschiedet, ihm irgendetwas gesagt, das Light nicht bewusst wahrnahm, auf das er nur mechanisch reagierte. Das einstudierte Verhalten lief ab wie ein Programm. Es wirkte natürlich und wohlerzogen, höflich und respektvoll. Light hörte sich reden, aber er verstand kein Wort davon. Innerlich war seine Aufmerksamkeit auf die eintretende Situation gerichtet, die er den Rest des Tages gleichsam gefürchtet und herbeigesehnt hatte: der Moment, wenn er wieder mit L allein sein würde.

Dieser stand mit abgewandtem Körper vor dem langgezogenen Tisch, auf dem die zahlreichen Monitore der Computer und Überwachungskameras aufgereiht waren. Reglos hielt er den Blick auf die von den Polizisten zurückgelassenen Ordner gesenkt. Unterdessen schaute Light hinüber zu Rem. Stets verschwiegen hatte die Todesgöttin den Beredungen beigewohnt und nur dann etwas von sich gegeben, wenn sie direkt befragt wurde, aber auch in diesen Fällen blieben ihre Antworten vage und waren absolut nichts wert. Vor der Umsetzung seines Planes hatte ihr Light dies aufs Schärfste eingebläut, es ihr regelrecht befohlen, obwohl er selbst nur ein Mensch war und Rem ihm als vermeintlich unzerstörbares Monstrum schon mehr als einmal gedroht hatte, ihn zu töten. Doch das Monstrum, welches sich in Lights Seele eingenistet hatte, war stärker und grausamer, als ein Todesgott es je hätte sein können. Jetzt fing der selbsternannte Herrscher einer neuen Welt den Blick des furchteinflößend skelettartigen Wesens ein und hielt ihn beschwörend fest. Von L unbemerkt ruckte er leicht mit dem Kopf zur Seite, um Rem zu bedeuten, dass sie sich unauffällig zurückziehen sollte. Das zu einem Schlitz verengte Auge der Todesgöttin flackerte zu dem Meisterdetektiv hinüber. Dann nickte sie stumm, drehte sich fort und verschwand lautlos im massiven Material einer der Wände.

Light atmete tief durch. Er fixierte den gekrümmten Rücken seines Freundes. Seine Ängste waren unbegründet und die Distanz konnte er nur bedingt aufrechterhalten. Er musste die Konfrontation suchen, bevor er es später bereute.

Entschlossen durchquerte er den Raum, blieb hinter L stehen und legte, ohne weiteres Zögern, eine Hand auf dessen Schulter. Er spürte, wie dieser leicht zusammenzuckte. War er so sehr in seinen Überlegungen versunken gewesen?

„Bist du nicht müde?“, fragte Light milde, wobei er die Hand sanft auf dem Schulterblatt seines Freundes ruhen ließ.

„Du kannst ruhig schon ins Bett gehen, Light-kun.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“ Light stützte sich links und rechts von Ls Körper am Tisch ab und beugte sich an ihm vorbei nach vorn. Zuoberst auf dem unangerührten Stapel mit Dokumenten lag, unscheinbar und ungefährlich wirkend, das auf zwei leeren Seiten geöffnete Death Note. „Du siehst nicht so aus, als hättest du noch etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Habe ich nicht?“

Light wandte ein wenig den Kopf zur Seite, um dem Detektiv ins Gesicht schauen zu können, von welchem er momentan nur das Profil erkannte. Wie eingefroren starrte L mit stechenden Pupillen in das von pechschwarzen Linien zerfurchte Weiß des todbringenden Papiers. Gespielt resignierend seufzte Light.

„Du bist durch nichts mehr von deiner Meinung abzubringen, nicht wahr?“ Er nahm einen Füller, der neben den Ordnern lag. Bedächtig schraubte er ihn auf. „Wenn du dir wirklich so sicher bist, dann ist es doch ganz einfach.“ Dicht hinter ihm stehend hielt Light seinem Partner den Füller entgegen. Die Tinte an der Spitze der Feder schimmerte nachtblau im unnatürlich farblosen Licht. „Schreib meinen Namen und das Problem hat sich erledigt.“ Noch immer bewegte sich L nicht. Er vernahm die Worte nah an seinem Ohr. „Du bist dir doch sicher, oder nicht? Du hast schließlich erst letztens gesagt, dass du mich töten würdest. Hiermit ist es ganz leicht.“ Langsam klang Light ungehalten, beinahe verzweifelt. Er langte nach Ls Arm, legte ihm den Füller in die Hand und umschloss dessen Finger mit dem eigenen Griff, damit das Schreibwerkzeug nicht wieder fallen gelassen wurde. Zur leeren Seite des Death Notes geführt verharrte die Federspitze wenige Zentimeter über dem Papier. „Na los, mach schon, L. Schreib meinen Namen und töte mich. Es ist so einfach. Da du glaubst, dass ich Kira bin, hast du gar keine andere Wahl. Wie willst du mich sonst aufhalten? Wie willst du die Welt vor Kira retten, wenn du nicht bereit bist, dafür auch einen Unschuldigen zu opfern? Zögere nicht. Tu es einfach. Nur ein paar Schriftzeichen, ein paar wenige Striche und ich sterbe direkt vor deinen Augen, ohne Hoffnung auf Rettung, einfach so. Alles, was dir vorher so schwer vorkam, wird danach sicher ganz leicht.“

„Hör auf.“ Ls Stimme war leise und tonlos. Doch Light fühlte das unmerkliche Zittern von dessen Hand in seiner eigenen und erahnte die kaum sichtbare Veränderung in dessen Mimik. „Was auch immer das hier ist, es ist nicht leicht.“ L machte Anstalten sich in der Umarmung seines Freundes umzudrehen, sodass dieser ihn losließ. Der Füllfederhalter fiel hinab und besprenkelte, bevor er unbeachtet über den Tisch rollte, mit ein paar wenigen dunklen Spritzern die namenlosen Seiten des Death Notes.

Eigentlich hatte Light gehen wollen, doch hielt der Andere ihn, als sie einander zugewandt waren, an beiden Handgelenken fest. Mit forschender Zudringlichkeit fragte L:

„Denkst du etwa, ich würde dich nicht verschonen, wenn du Kira bist?“

„Hast du das nicht selbst mehrfach zugegeben?“

„Nein, wenn du Kira bist, wirst du mir keine andere Wahl lassen. Ich bin mir sicher, dass ich dich werde töten müssen. Wie auch immer es geschieht, du würdest mich dazu zwingen. Falls Kiras Tod nicht ohnehin schon unumgänglich feststeht, sobald sein Scheitern besiegelt ist. Zum jetzigen Zeitpunkt mache ich mir darüber noch keine Gedanken. Ich will ihn bloß in die Finger bekommen, ihn überführen, ihn fangen. Wie über ihn geurteilt wird, interessiert mich nicht. Wer weiß, wenn es anders sein sollte und mir Kira in die Hände fällt, dann würde ich ihn vielleicht sogar verschonen. Kein Gericht der Welt könnte ihn auf übliche Weise verurteilen. Wahrscheinlich würde man die meisten Beweise nicht einmal gelten lassen können. Dieses Verbrechen überfordert unser Rechtssystem. Nur im Geheimen könnte man Kira zur Anklagebank führen und bestrafen. Aber vielleicht würde ich das gar nicht zulassen.“ L hob eine Hand zu Lights Gesicht und strich leicht über dessen Wange, sein Kinn, seinen Hals. „Wieso sollte bei solch einem ungewöhnlichen Ausnahmefall, für den es keinerlei Präzedens gibt, irgendein Gericht das Urteil über Kira fällen dürfen? Wenn ich ihn fange, dann kann ich auch über ihn verfügen, das wäre nur fair. Kein anderer sollte die Befugnis über ihn haben. Kira gehört mir.“ Light versuchte das Prickeln in seiner Magengegend zu ignorieren, genauso wie das Vibrieren seiner Fingerspitzen und die Anspannung im Nacken. Er ließ sich von L dirigieren, der ihn am Kinn festhaltend näher an sich zog, sodass sie einander aus kürzester Distanz in die Augen schauen konnten. Während Light gegen das in seinem Inneren aufkeimende Verlangen ankämpfte, fuhr sein Freund eindringlich fort. „Solltest du Kira sein, kette ich dich vielleicht wieder an mich, dieses Mal für immer. Und ich würde dich zwingen, bei mir zu bleiben und an meiner Seite Kriminalverbrechen zu lösen und dadurch Buße zu tun. Die unzähligen Morde könnten nie wiedergutgemacht werden. Darum müsstest du dich ein Leben lang abmühen. Du würdest nie wieder von mir loskommen.“ Jetzt lächelte L auf seine liebenswürdige, kindliche Weise und kam dabei den Lippen seines Freundes so nahe, als wollte er sie mit den eigenen berühren. „Du könntest dich nie mehr von mir befreien.“

Light wandte sich ab. Er drehte den Kopf zur Seite, um nicht der Versuchung zu erliegen, diesen Mund erneut zu vereinnahmen und vom Geschmack seines Feindes zu kosten, den er das letzte Mal auf der Zunge verspürt hatte, als seine Erinnerungen noch verloren und die zwei Männer nur Freunde waren.

„Bist du nicht müde?“, fragte L nun seinerseits.

Ernst starrte Light auf die Wand, hinter der er die Todesgöttin vermutete, nachdem sie die beiden für kurze Zeit allein gelassen hatte.

„Doch“, antwortete er schließlich leise, „das bin ich.“

 

Abwartend stand Light im Gang und schaute zu seinem Partner hinüber. Dieser verharrte vor der Tür ihres einst gemeinsamen Zimmers. Alles an ihm wirkte so vertraut, die schwarzen zerzausten Haare, das im Kontrast dazu stehende weiße Sweatshirt sowie die ausgebeulten Jeans, die gekrümmte Körperhaltung und die Hände, die L wie immer in scheinbar unbeteiligter Gelassenheit in die Taschen geschoben hatte.

„Willst du dort Wurzeln schlagen, Ryuzaki?“ Light sprach kühl, fast sogar ein wenig herablassend. Mit emotionsloser Miene neigte L den Kopf in seine Richtung. Auf einmal grinste er unvermittelt und fragte zurück:

„Und du, Light-kun?“

Der Angesprochene erwiderte nichts darauf. Er hatte L bereits im Überwachungsraum zum Gehen gedrängt und keinen Hehl daraus gemacht, dass er ihn nicht mit dem Death Note allein lassen würde. Jetzt kam der Detektiv ruhigen Schrittes auf seinen jungen Ermittlungspartner zu, welcher nicht einen Millimeter wich, als er am linken Arm gepackt wurde. Lights Handgelenk anhebend starrte L auf die Armbanduhr, die der Sohn des Chefinspektors von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Alle Alarmglocken schienen in Light zu schrillen, doch äußerlich blieb er vollkommen gleichgültig.

„Nach Mitternacht“, sagte L schließlich kaum hörbar. „Fünfundzwanzig also.“

„Was meinst du?“, fragte Light verwundert. Das Datum konnte damit nicht gemeint sein, denn der anbrechende Tag war der einunddreißigste Oktober. Allerdings gab L ihm keine Antwort, stattdessen bedachte er ihn mit einem seiner bohrenden Blicke.

„Denkst du, dass die Überwachung zu Ende ist, Light-kun?“, fragte er, ohne seinen Partner von sich zu befreien. „Du weißt genau, dass ich dich nicht aus den Augen lassen werde. Aber du hast deine Unschuld bewiesen, deine Freiheit zurückerlangt. Du könntest jederzeit gehen, wohin du willst, und ich hätte keine Gewalt über dich, um dich daran zu hindern. Dennoch bleibst du hier. Du sitzt mir im Nacken, ist es nicht so? Tagaus, tagein bist du unentwegt an meiner Seite. Die Überwachung ist noch nicht vorbei, aber von nun an stehe ich in ihrem Zentrum. Du willst sichergehen, dass mir die Hände gebunden sind, nicht wahr? Warum tust du das, Light-kun?“

„Weil ich dich kenne“, entgegnete jener gefasst. „Du brauchst einen Freund, der dich vor dir selbst schützt und dich davor bewahrt, etwas Unbedachtes zu tun.“

„Unbedacht?“ L lächelte nicht mehr. Seine Umklammerung wurde noch eine Spur schmerzhafter. „Ich muss dir wohl nicht sagen, dass ich darüber reichlich genug nachgedacht habe.“

„Dann eben aus übereilter kindlicher Neugier.“

„Oder aus Spontaneität und einer gewissen Skrupellosigkeit“, wandte L kaltblütig ein. „Womöglich sind diese Dinge sogar nötig, um den Fall um Kira zu lösen.“

„Vielleicht ist Geduld aber genauso notwendig?“

Ein paar Sekunden hielt L den Arm und Blick seines Freundes weiterhin unnachgiebig fest, bis er seine Finger langsam lockerte und sich von ihm löste. Wortlos drehte er sich um, schlurfte zur Tür zurück und öffnete sie sogleich mit der elektronischen Sicherheitskarte. Danach wandte er sich noch einmal an Light.

„Wenn du mich kontrollieren willst...“ L hielt die Tür geöffnet und deutete ein Nicken an. „Bitte.“ Erneut blieb er einen langen Moment stehen, wartete auf eine Reaktion. Als diese nicht einzutreffen schien, wandelte sich der Ausdruck in seinem Gesicht zu einer Gewissheit, dass er genau damit gerechnet hatte, mit dieser abweisenden Distanz, die Light unüberwindlich zwischen ihnen aufbaute. L ersparte sich einen Kommentar dazu. Er schritt durch die Tür ins Zimmer und verabschiedete sich lediglich, wobei er ebenso kühl den Abstand zu seinem Freund wahrte. „Gute Nacht, Light-kun.“

Bevor die Tür jedoch ins Schloss fallen konnte, wurde sie zielsicher von einer Hand aufgehalten. Überrascht drehte L sich um. Kurz darauf schob sich Light gesenkten Blickes ins Zimmer. Er machte die Tür hinter sich zu, lehnte sich dagegen und lenkte dann seine braunen, alles durchschauenden Augen hinauf, um die schwarzen Pupillen des Meisterdetektivs einzufangen.

„Wie du willst, L.“ Mehr sagte er zur Erklärung seines Handelns nicht.

Die Verblüffung in Ls Miene wich allmählich einem unergründlichen Lächeln.

„Ich verstehe.“

 

Er hörte das Flüstern, doch begriff er die Worte zu Anfang nicht. Light regte sich müde. Graues Morgenlicht drang durch seine geschlossenen Lider. Dann vernahm er es erneut.

„Hörst du mich?“

Es war nur ein leises Wispern. Oder bildete er sich das bloß ein, wie so vieles in letzter Zeit?

„Wach auf.“

Kälte rann über seinen Rücken wie eisiges Wasser. Sein ganzer Körper tat weh. Seine Muskeln stachen, als wäre er die halbe Nacht durch die Straßen Tokyos gerannt. Warum fiel es ihm so unsagbar schwer, die Augen zu öffnen?

„Du darfst nicht schlafen.“

Endlich schaffte er es unter Anstrengung, doch seine Lider kamen ihm verklebt vor, als er sie zu heben versuchte. Er konnte seine Umgebung nicht deutlich erkennen, sah alles nur verschwommen und unscharf. Es war noch gar nicht hell. Keine Farben zeichneten die Konturen des Raumes. Direkt vor dem Bett erhob sich eine schwarze Silhouette. Oder hatte die Person schon die gesamte Zeit unbeachtet dort am Rande ausgeharrt? Light bemerkte ein fein geschnittenes Gesicht, braunes Haar und eine ebenfalls braune Iris, umrahmt von einem weit aufgerissenen Wimpernkranz. Er starrte in sein eigenes Gesicht.

„Hast du mich vermisst?“

Der schön geschwungene Mund seines Ebenbildes teilte sich wie ein Messerschnitt zu einem fratzenhaften Grinsen. Gepflegte Hände mit akkurat geschnittenen Nägeln glitten über die Bettkante. Krampfhaft krallten sie sich in den Stoff.

„Bald hast du es geschafft, Light. Du hast fast nichts mehr zu verlieren. Du hast fast nichts mehr.“

Ein ersticktes Lachen erfüllte den Raum. Light wusste nicht, ob es von dem schattenhaften Trugbild stammte oder ob es aus seinem eigenen, gequält grinsenden Mund gedrungen war. Seine Wangen schmerzten unter der Beanspruchung seiner Gesichtsmuskulatur. Trotz der Aufregung und Hysterie, die vom Bauch ausgehend in ihm aufstiegen, brannte seine Kehle wie Feuer.

„Es dauert nicht mehr lange. Halt nicht ein. Geh weiter. Du wirst doch jetzt nicht aufgeben? Du kannst doch niemals genug bekommen, nicht wahr? Nimm dir mehr. Nimm dir alles. Nimm! Nimm! Nimm!“

Schweiß perlte auf Lights Stirn. Mit kalten Händen fuhr er sich über die Haut, über seine nassen Augen. Er wischte sich das Lächeln vom Gesicht. Panik lähmte seine Glieder, als die gleichfalls eiskalten Hände seines Ebenbildes sich nach vorn reckten und über seinen Körper wanderten, an ihm zerrten, um ihn über den Rand hinab in die Tiefe zu ziehen.

„Mach weiter. Du kannst jetzt nicht mehr aufhören. Nur du kannst es tun. Es gibt keinen Weg zurück.“

Ununterbrochen hörte er dieses Lachen, das seinen Leib verkrampfen ließ. Er streckte seine Arme nach vorn, drückte die Handballen gegen die Brust seines fremden Ichs, um es von sich zu schieben. Doch seine Kraft reichte nicht aus. Er fühlte die eisigen Fingerspitzen sein Rückgrat nachzeichnen und ihn unaufhaltsam näher an den Abgrund ziehen. Vergeblich stemmte er sich zurück, kämpfte dagegen an. Wo konnte er Halt finden? Wieso war da nichts mehr? Warum griff er überall ins Leere?

„Es ist ganz leicht. Nur ein kleiner Schritt. Sei tapfer, gut so, du schaffst es. Verlier die Kontrolle.“

Ein zweites Paar Hände strich über seinen Bauch und umfing ihn von hinten. Light spürte, wie Handflächen und schlanke Finger sich auf seine Brust legten, ihn in einer sanften Umarmung festhielten. Jemand in seinem Rücken drückte ihn schützend an sich. Als sich eine dieser warmen Hände von ihm löste, um das Trugbild seiner selbst brutal am Hals zu packen, sah Light hinauf und erkannte, dass es L war, der sich über ihn beugte.

Dann hörte er seine eigene Stimme laut lachen und schreien:

„Komm schon, Light! Füttere mich mit deiner Dunkelheit.“

Mea Culpa

Mea Culpa

 

Nach Luft schnappend zuckte Light zusammen. Er riss die Augen auf und starrte in liegender Position geradeaus über den Rand des Bettes, wo nichts weiter lauerte als sein eigener Schatten, den er selbst auf das leichentuchartige Laken warf. Wie eine zweite Haut, die er nicht abstreifen konnte, lag das Grauen unangenehm auf jedem Zentimeter seines Leibes. Noch immer waren seine Atemzüge schwer und von Angst gezeichnet. Mit zittrigen Fingern fuhr er sich über das Gesicht. Er hatte schnell gemerkt, dass es nur ein Traum war, und sich aus ihm zu befreien versucht, doch es war ihm nicht gelungen. Er war seinen Fängen nicht entkommen.

Die Wärme, die von der Hand auf seiner Schulter ausging, beschwichtigte jedoch allmählich sein Gemüt. Ohne viel darüber nachzudenken drehte Light sich um, fort von dem Abgrund in seinem Rücken. Stumm neben ihm liegend beobachtete L ihn aus seinen schwarzen Pupillen, die so tief und beruhigend erschienen wie ein geöffnetes Grab. Als Light sich ihm zugewandt hatte, ließ L seine Hand weiterhin an dessen Schulter verweilen, sodass sie nun unter dem Körper des Anderen auf dem Bett ruhte. Fragend, vielleicht sogar besorgt betrachtete L seinen jungen Freund, diese ernsten braunen Augen und den bitteren Zug um den Mund. Da war viel zu viel Wissen, zu viel Erwachsenheit in dem ansonsten so jugendlichen Gesicht.

Obwohl er damit rechnete, weggestoßen zu werden, schob L seine Hände weiter voran in Lights Rücken. Er umfasste ihn an Hüfte und Hinterkopf und zog ihn an sich, in eine Umarmung. Mit den Fingern streichelte er vorsichtig durch das weiche braune Haar, als müsste er ein Kind trösten. Light wehrte sich nicht. Sein Blick war leer und ziellos. Trotzdem fühlte er die Anspannung von sich weichen. Die Bestie in seinem Inneren schien vorerst besänftigt.

Langsam schloss er seine Lider, sank mit der Stirn gegen die Brust seines Freundes und nahm dessen unverkennbaren Geruch in sich auf, nach Seife, Baumwolle und sogar ein wenig nach Karamell. Im Traum hatte ihn L genauso schützend in den Arm genommen. Er hatte das blindwütige Monster in Light an der Kehle gepackt und von ihm ferngehalten. Doch das brauchte er nicht, dachte jener nun voller Zuneigung und Dankbarkeit. Kira war ein Teil von ihm. Und wer hatte nicht manchmal Angst vor sich selbst?

Solcherlei Alpträume hatten Light schon lange nicht mehr heimgesucht. Am Anfang war es furchtbar gewesen. Nach den ersten beiden Morden, die er mit dem Death Note begangen hatte, plagte ihn sein Gewissen ununterbrochen und machte es ihm fast unmöglich, nachts zu schlafen. Allein in den ersten fünf Tagen bis zum Auftauchen des Todesgottes hatte er, von Stress und Schuldgefühlen gepeinigt, vier Kilo abgenommen. Seine geistige Verfassung war mehr als problematisch. Er hatte sich erbärmlich wie ein geschundenes Tier in seinem Zimmer verkrochen. Konnte er das aushalten? Sollte er nicht besser aufhören? Aber niemand sonst konnte diese Aufgabe übernehmen. Er war der Einzige, der es durchstehen, der es verkraften würde, mochte es auch kosten, was es wollte. Irgendjemand musste es tun. Die Welt brauchte endlich eine Veränderung. Es durfte nicht so weitergehen wie bisher. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, war es ganz leicht, sich aufzugeben. Er hatte sein Selbst innerlich verwüstet, damit in dieser Ödnis kein Alptraum mehr wuchs. Lachend stand er zwischen den Leichenbergen seiner unzählbaren Opfer und sah, dass es gut war. Dass es richtig war, was er tat.

Mit diesem letzten Gedanken fiel Light zurück in einen friedlichen Schlaf. L lauschte seiner gleichmäßigen Atmung und spürte, wie der Körper in seinen Armen sich entspannte, während er ihm sanft durch die Haare strich. Er wusste nicht einmal, ob jener wirklich wach gewesen war.

„Light-kun“, flüsterte L leise.

Doch dieser hörte ihn nicht mehr.

 

Der Schlaf währte nicht lang. Als Light aus seinem Alptraum erwacht war, hatte bereits der Morgen, wenn auch noch kein weit fortgeschrittener, die Großstadt aus ihrem stets halbwachen Schlummer geholt. Mühselig schälte er sich jetzt aus der schutzversprechenden Umklammerung, die ihn festhielt. Die Hände gaben ihn widerstandslos frei. Trotzdem berührten sie ihn dabei an mancher Stelle und hinterließen ein Brennen auf der Haut. Light war erschöpft. Sein erhitzter Körper fühlte sich schwer an. Beim Aufstehen fiel ihm wieder ein, dass er völlig nackt war. Er bemerkte nicht, dass L vom Bett aus gleichfalls den entblößten Leib seines Ermittlungspartners begutachtete, als dieser sich unsicher erhob und Kurs auf das Badezimmer nahm. L sah, wie Light noch benommen von Müdigkeit leicht wankte.

Ihr Verhältnis zueinander war mittlerweile so merkwürdig, so undefinierbar, einerseits vertraut und nach Nähe suchend, andererseits distanziert, um Abstand bemüht und im Widerspruch dazu dennoch auf Konfrontation aus. Das war alles zu verwirrend, auf unangenehme, aber zugleich erstrebenswerte Weise zu intensiv, um es noch verstehen zu können. Als hingen sie beide in einem Zwiespalt fest und würden sich gegenseitig auf festen Boden hinaufziehen wollen, doch das Einzige, das ihnen dazu zur Verfügung stand, war ein Strick um den Hals des jeweils anderen.

Light hatte, seitdem er im Besitz des Death Notes war, erkannt, dass es am einfachsten war, mit dem inneren Chaos und den unlösbaren Problemen umzugehen, indem er sie zur Seite schob und so tat, als wären sie nicht da. Am vorigen Abend war es ihm genauso egal gewesen. Daran erinnerte er sich jetzt wieder, als er vorm Spiegel im Badezimmer stand, sich auf der Waschbeckenarmatur abstützte und bedrohlich, fast vorwurfsvoll in seine eigenen Augen schaute. Es war gleichgültig gewesen, ob diese ganze Aktion überhaupt Sinn ergab. Es war ihm egal gewesen, dass er sich zum Schlafen entkleidet neben seinen Feind legen musste. Light wollte am vergangenen Abend, nachdem er sich entschieden hatte, bei L zu bleiben, um ihn zu bewachen, nicht noch einmal in sein eigenes Zimmer zurückgehen. Darum hatte er nichts besorgt, was er für die Nacht oder den nächsten Tag hätte brauchen können. Stillschweigend hatten die beiden Männer die Situation hingenommen und kein Wort mehr darüber verloren, während sie sich in jener wochenlang gewohnten Art verhielten. Light hatte sich am Badezimmerschrank bedient, wo Einwegzahnbürsten und andere Hygieneartikel in Verpackungen und kleinen Tuben lagerten, wie es auch in all den anderen, einem Hotel ähnlich eingerichteten Zimmern des Hauptfahndungszentrums der Fall war. Und obwohl alles hier so karg und sauber und uniform wirkte, jegliche persönliche Note vermissend, fühlte sich Light in diesem Gebäude, in diesen sterilen Räumen zusammen mit L, zum ersten Mal wirklich zu Hause.

Machte er sich nur etwas vor? Konnte er sich nicht eingestehen, dass er so oft wie möglich an Ls Seite sein wollte, solange ihnen noch etwas Zeit blieb? Light sollte sich besser früh genug von seinem Freund befreien, bevor er die Beherrschung verlor und ihm unmissverständlich klar machte, dass er ihn besitzen wollte.

Seine Gedanken abschüttelnd drehte Light den Wasserhahn auf, beugte sich vor und benetzte sein Gesicht mit dem kühlen Nass. Hierbei bemerkte er im Augenwinkel erneut den Schatten von Ryuks Schwingen in seinem Rücken. Obwohl er wusste, dass die Anwesenheit des Todesgottes nur Einbildung war, ein trügerisches Produkt seiner eigenen Fantasie, war er doch jedes Mal froh darüber, seinen dämonischen Gefährten zu sehen. Ryuk war der Einzige, dem Light vollends alles von sich anvertrauen konnte, weil dieser keinerlei Partei ergriff und ihn nur stumm und ohne moralische Stellungnahme begleitete. Ryuk kannte die dunkelsten Abgründe von Lights Seele.

„Du hast dich kein Stück verändert“, sprach das finstere Geschöpf nun mit glucksender Belustigung in der kratzigen Stimme. „Ich habe dich lang genug begleitet, Light. In der Schule bist du strebsam und freundlich, für deine Familie erfüllst du alle Leistungsanforderungen und mimst dabei den perfekten, niemals klagenden Sohn und deinen sogenannten Freunden heuchelst du jugendliches Interesse vor. Du passt dich an die jeweiligen Menschen an, bei denen du genau merkst, dass sie dir nicht das Wasser reichen können. Diese Heuchelei ist wirklich amüsant.“

Light ignorierte, was ihm sein überforderter Verstand vorzugaukeln versuchte. Nichtsdestotrotz nahm er das Gesagte äußerst genau wahr. Und er wusste, was er tat, war keine Heuchelei. Er zeigte den Menschen nur, was sie sehen wollten. Wenn er sich nicht an diejenigen anpasste, mit denen er Umgang pflegte, wenn er sich tatsächlich so verhalten sollte, wie er wirklich war, würde er ihnen damit offenbaren, dass sie nicht an ihn heranreichten. Sie würden sich minderbemittelt fühlen, wenn er ihnen zeigte, wie viel intelligenter er war und wie sehr er die meisten von ihnen für ihre Oberflächlichkeit verachtete.

„Eigentlich erkenne ich dich nur wieder“, stellte Ryuk nüchtern fest, „wenn du mit L zusammen bist.“

Light schüttelte schmunzelnd den Kopf. Das wusste er doch schon längst. Er wusste es längst und konnte es leider nicht ändern.

 

Ungewöhnlicherweise hatte sich Watari an diesem Tag zu ihnen gesellt. Auch wenn Light ihn selten zu Gesicht bekam, erkannte er den älteren Mann und scheinbar einzigen Vertrauten des Meisterdetektivs sofort, als er mit einem kleinen, fahrbaren Wagen in ihrer Mitte auftauchte, beladen mit einem Nachmittagsgedeck für mehrere Personen. Er verteilte an alle Anwesenden auf kleinen Tellern mit zierlichen Gabeln eine schwedische Torte, bedeckt mit Mandelsplittern. Dies alles tat er wortlos, während sich manch einer, wie Matsuda oder Polizeiinspektor Yagami, verwirrt bei ihm bedankte. Auf jedem Kuchenstück steckte, entzündet und völlig unpassend, eine rotweiß gestreifte Kerze.

Light aß sein Tortenstück ohne Kommentar und dachte dabei an das, was L ihm in der vorigen Nacht gesagt hatte. Konnte er davon ausgehen, es richtig verstanden zu haben? Konnte es sein, dass L...?

„Irgendwie ist das doch erschreckend“, unterbrach sein Vater Lights Gedanken. „Es ist viel zu einfach, mit dem Death Note zu töten. Man muss bloß einen Namen hineinschreiben, mehr nicht. Es geht nicht darum, sich zu überwinden, jemandem die Waffe gegen die Brust zu drücken, ihm ein Messer an den Hals zu halten, Gift in sein Glas zu schütten oder was auch immer. Es ist nicht mehr als das Schreiben eines Namens auf den Seiten eines Notizbuchs. Wer das Death Note findet, wird vermutlich nicht davon ausgehen, dass es funktioniert, oder?“ Der Chefinspektor schwenkte das Heft achtlos in der Luft herum, um dessen Unscheinbarkeit und Banalität zu verdeutlichen. „Somit sollte derjenige, der es unbedarft benutzt, für die ersten Morde gar nicht belangt werden.“

„Unkenntnis schützt vor Strafe nicht“, entgegnete L daraufhin ohne Rücksicht. „Davon abgesehen trifft diese Mutmaßung nicht auf Kira zu. Er wird sich Gewissheit darüber verschafft haben, ob es funktioniert oder nicht. Für das systematische Töten von Verbrechern hat er sich bei vollem Bewusstsein entschieden. Wie simpel diese Morde für ihn rein technisch gesehen auch sein mögen, er kann und muss trotzdem dafür belangt werden. Zudem, Yagami-san...“ Eine Pause machend blies L die Kerze auf seinem Kuchenstück aus, sank dann zurück gegen die Stuhllehne und legte den Kopf in den Nacken, um schräg über seine Schulter nach hinten zu schauen. „So einfach ist es gar nicht.“

Dieser Satz veranlasste Light dazu, aus dem Augenwinkel zu dem Detektiv hinüberzusehen. Ihre Blicke trafen sich unverhofft und blieben aneinander haften, denn auch L hatte für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit in Richtung seines Partners gelenkt.

„Aber wenn man doch glaubt, dass es ohnehin nicht klappt?“, gab Herr Yagami zu bedenken und überflog dabei skeptisch die vollgeschriebenen Seiten des Death Notes. „Das ist doch auch schwer vorzustellen, dass so ein bedeutungsloses Ding...“

„Es reicht schon, allein mit dem Gedanken zu spielen, selbst wenn man davon überzeugt ist, dass es nicht funktioniert“, widersprach L unmittelbar. „Außerdem können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, ob es tatsächlich funktioniert, weil keiner von uns es ausprobiert hat, ergo haben wir es auch noch nicht bewiesen. Genauso gut könnte es Zufall sein, dass die aufgeschriebenen Namen mit den getöteten Personen übereinstimmen. Vielleicht ist das Notieren nur ein Hinweis für den Todesgott.“ Mit einer knappen Geste zeigte L auf Rem, die unscheinbar im Hintergrund stand. „Es ist nicht auszuschließen, dass die Morde auf diese Weise durch den Todesgott verübt werden, wonach das Notizbuch selbst keinerlei Effekt hätte.“

„Vater“, mischte sich nun Light in die Unterhaltung ein, und obwohl die beiden jungen Männer vermeintlich mit dem Chefinspektor redeten, unterbrachen sie ihren Blickkontakt kein einziges Mal, „ist es denn wirklich so viel schwerer, den Abzug einer Waffe zu betätigen? Oder einen Hebel umzulegen? Oder im Cockpit eines Militärflugzeugs einen Schalter zu drücken, um über einer Stadt Bomben abzuwerfen und zahllose Leben auszulöschen? Es gibt genügend Möglichkeiten, ganz unbeteiligt Menschen umzubringen, die Meilen von einem entfernt sind. Ein Mord beginnt nicht erst mit dem Töten, sondern mit dem Vorsatz.“

Bestürzung huschte über den sonst so stoischen Ausdruck von Inspektor Yagamis Gesicht. Er konnte sich selbst nicht erklären, woran das lag, vielleicht wegen der Gefühllosigkeit, mit der sein Sohn diese Worte von sich gab. Allerdings ließ auch L jegliche Skrupel vermissen, als er hinzufügte:

„Dahingehend ist es sogar viel bewusster und zielorientierter, mit diesem Heft zu morden, weil man sich sowohl Namen als auch Gesicht der auserwählten Person vergegenwärtigen muss, sich somit gleichsam damit konfrontiert. Wenn man das Wissen verleugnen kann, dass dahinter eine Identität verborgen liegt, dass hinter den notierten Zeichen ein Mensch steht, der den Duft von Gras kennt oder das Geräusch von Meereswellen oder den Geschmack von Schokolade, dann ist es wirklich ganz leicht.“ L pflückte die Kerze von seinem Tortenstück herunter, stieß anschließend seine Gabel vorn in die Kuchenspitze hinein und schob sie sich beladen in den Mund. „Im Grunde genommen ist es gar nicht so schwer“, sagte er kauend und ein wenig nuschelnd. „Menschen zu töten ist einfach. Wenn man den Geschmack von Zucker vergessen kann.“

„Ich erinnere mich daran“, räumte Light nachdenklich ein, „wie du gesagt hast, Vater, der Mensch mit der Fähigkeit des Tötens sei zu bedauern.“ Eine längst vergangene Erinnerung schwebte daraufhin im Raum, eine Begebenheit, die schon ewig her zu sein schien. Damals war Herr Yagami aufgrund eines erlittenen Herzinfarkts ins Hospital eingeliefert worden. Voller Besorgnis hatten Light und L sich bei ihm eingefunden, nachdem sie telefonisch zur selben Zeit, während einer Unterhaltung im Café, über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt wurden und im ersten Moment noch geglaubt hatten, es handle sich um eine weitere Attacke von Kira. Eine solche hätte der Chefinspektor jedoch garantiert nicht überlebt. Was Light zugegebenermaßen in dieser Situation viel wichtiger gewesen war als der Zustand seines Vaters, war die Gewissheit, die er ihm damals direkt vor Ort mit der Bestätigung gegeben hatte, dass jener skurrile Kommilitone, der neben ihm scheinbar gelangweilt auf einem Klappstuhl vor dem Krankenhausbett hockte, tatsächlich L war.

„Ich denke, dass Kira selbst es nicht als Unglück empfindet, das Death Note erhalten zu haben“, offenbarte Light tonlos, „aber nur, weil er seine eigene Person hintergeht. Sollte Kira wirklich die Welt verbessern wollen, dann können ihm die Menschen nicht egal sein. Dass er sie dennoch massenhaft umbringt, sie also, wie Ryuzaki meint, hinter den unzähligen Namen vergisst, das alles kann nur funktionieren, indem er sich über sein eigenes ungerechtes Handeln hinweghilft und sich selbst dabei genauso vergisst wie die Menschen, die er tötet.“

„Ja, ich kann mich entsinnen.“ Ernst betrachtete Herr Yagami den schwarzen Umschlag des tödlichen Heftes. „Damals habe ich mich gefragt, ob Kira nicht selbst das Opfer ist?“

„Du solltest nicht so nachsichtig sein, Vater.“ Härte und Entschiedenheit zeichneten Lights Mimik und Stimme. „Kira ist ein Mörder. Er ist zweifelsfrei dafür verantwortlich zu machen, was er getan hat. Man darf nicht vergessen, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat, bei denen Mitleid viel eher angebracht wäre.“

„Wozu sollte man jemanden bemitleiden, der schon tot ist, Light-kun?“ Fragend tippte sich L mit der abgeleckten Gabel gegen die Lippen. „Die meisten Getöteten waren doch sowieso Verbrecher und haben ihr eigenes Leben und das Mitgefühl der anderen bereits verwirkt, oder nicht? Der Täter sollte einem viel eher leidtun. Seine Opfer sind schließlich erlöst und leiden nicht mehr. Aber der Täter, er kann vermutlich keine Sekunde an etwas anderes denken als an seine Tat.“

Die Aussage überdenkend schaute Light seinem Freund unverwandt in die Augen, bevor er antwortete:

„Du hast sicher Recht, Ryuzaki. Jede unrechte Tat an einem anderen Menschen ist in erster Linie ein Vergehen an sich selbst.“ Seine folgenden Worte formulierte er gedankenversunken. „Auge um Auge, das hast du doch vor einiger Zeit gesagt, nicht wahr? Für jede einzelne seiner Handlungen muss Kira die Konsequenzen tragen.“

„Light-kun...“ L richtete einen überraschten, aber zugleich traurigen Blick auf seinen jungen Freund. „Wollte man Gleiches mit Gleichem vergelten, müsste Kira einen tausendfachen Tod sterben.“

Ein bitteres Lächeln umspielte Lights Mund, als er entschlossen erwiderte:

„Ja, das müsste er wohl.“

Der Geschmack von Zucker

Der Geschmack von Zucker

 

Anstelle eines Löffels rührte L mit einem Lutscher in seiner Teetasse herum, bevor er sie anhob und austrank, den Lutscher derweil noch immer zwischen den abgespreizten Fingern seiner linken Hand haltend. Mit in den Nacken gelegtem Kopf ließ er sich den letzten Tropfen seines Getränks aus der in der Luft schwebenden Tasse auf die herausgestreckte Zunge fallen. Verstohlen beobachtete Light ihn dabei, bis L abrupt aufstand.

„Ich gehe aufs Dach, frische Luft schnappen“, verkündete er den restlichen Anwesenden, die sich seit einigen Stunden müde und stumm ihren bisher ergebnislosen Recherchen gewidmet hatten. Im stets gleichbleibenden, künstlichen Licht bezeugten lediglich die Digitalanzeigen auf den Monitoren, dass bereits der Abend angebrochen war. Aizawa hatte sich verabschiedet, um zu seiner Familie zu gelangen. Nur die Polizisten Matsuda und Mogi sowie Chefinspektor Yagami waren noch anwesend. Demnächst würden auch sie sich aus der Fahndungszentrale zurückziehen. Die Suche schien in letzter Zeit keine Aussicht auf Erfolg zu versprechen. Sie waren gefangen in den immer gleichen Arbeitsabläufen. Allein Light fühlte deutlich, wie die Stunden verrannen und das Ende der Ermittlungen unaufhaltsam näher rückte.

„Willst du mich nicht begleiten?“ Aus seinen Gedanken gerissen hob Light den Kopf. Abwartend stand L neben seinem Stuhl. Dabei strahlte er nicht etwa wie am vorigen Abend, als sie im Flur zwischen den Türen gestanden hatten, jene herausfordernde Haltung aus. Nicht einmal seine Stimme klang so emotionslos wie sonst. Light war nicht bewusst, dass er neben Watari der  Einzige war, dem diese feine Nuance in Ls Stimme auffiel. „Du bekommst dafür auch einen Lutscher.“ Irritiert beäugte Light die in durchsichtiges Papier gewickelte Süßigkeit, die der Andere aus seiner Hosentasche geholt hatte und ihm nun entgegenstreckte. Erfüllt von unterschwelliger Melancholie, die er schwer erklären, aber auch nicht leugnen konnte, lächelte Light. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Meisterdetektiv ein paar Jahre älter als er selbst, verhielt sich allerdings so, als hätte man ihm mehrere Jahre seiner Kindheit gestohlen.

„Einverstanden“, sagte Light und nahm das Geschenk an.

 

Eigentlich mochte er Süßigkeiten nicht besonders. Er mochte meistens auch keinen Zucker in seinem schwarzen Kaffee. Wie L erklärt hatte, musste er sich darauf konzentrieren, die Erinnerung an diesen Geschmack zu vergessen. Darum hatte Light sich angewöhnt, jeden Gedanken über die Menschen, die er opferte, unbeteiligt zu verdrängen, jedwedes Mitgefühl auszumerzen, auch oder besonders in Bezug auf sich selbst. Schon bald würde er diesen Geschmack nicht mehr kennen. Es gab nur eine einzige Art von Zucker, die er jetzt noch begehrte.

L stand vorgebeugt am Rande des Helikopterlandeplatzes, stützte die Unterarme auf die niedrige Brüstung und schaute über das endlose Meer von Gebäuden und Türmen. Smog schien über der Stadt zu liegen. Die Abendsonne wurde von den tiefhängenden Wolken verschluckt. In dem langsam dunkler werdenden Licht sah Ls Haut noch blasser aus als sonst, doch traten seine Augenringe dagegen nicht so deutlich hervor. Er hob eine seiner feingliedrigen Hände zu dem Lutscherstiel zwischen seinen Lippen, um ihn abwesend im Mund zu drehen. Ein auffrischender Wind strich durch sein schwarzes Haar, während er gedankenverloren in die Ferne sah.

All das nahm Light von seinem Freund wahr, während er neben ihm an der Brüstung lehnte und schwieg.

„Light-kun“, brach L schließlich unvermittelt die Stille. Seine Stimme war leise und klang ein wenig kratzig, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt. „Weißt du, welches Verbrechen in vielen Religionen der Welt am meisten verachtet, am schlimmsten bestraft wird?“

Überrascht suchte Light nach den Augen des Anderen, doch genauso andauernd, wie dieser ihn am heutigen Mittag fixiert hatte, genauso wich L jetzt dem Blickkontakt aus. Nach mehreren Sekunden des Überlegens fragte Light schließlich kühl:

„Mord?“

„Nein.“ L schüttelte gutmütig den Kopf. Ganz leicht lächelte er sogar, als er antwortete: „Verrat.“

Gelassen nahm Light diese Anklage, die sich offensichtlich dahinter verbarg, entgegen. Er spürte das schmerzende Stechen in seiner Brust nicht. Er fühlte nicht, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Nein, er bemerkte nicht den bitteren Geschmack auf der Zunge.

Was für ein Hohn. Light konnte L gar nicht verraten. Sie waren überhaupt nie auf derselben Seite gewesen. Von Anfang an nicht. Außerdem konnte man doch nur jemanden verraten, der einem auch vertraute. L hingegen hatte ihm nie vertraut. Er hatte Light niemals vertraut.

„Als Vertreter des Staatsrechts schützt dein Vater jeden Menschen gleichermaßen, ob unschuldig oder nicht. Selbst Kira hält er nicht für böse. Das eigentliche Unglück sieht er vielmehr in der Kraft, die ihm mit dem Death Note verliehen wurde.“ L leckte mittlerweile an seinem Lutscher, als wäre es ein Eis am Stiel, unterbrach diese Tätigkeit jedoch immer wieder zwischen seinen folgenden Aussagen. „Müsste unter dieser Voraussetzung ein Schicksal wie das des Judas nicht neu beurteilt werden? Schließlich hat Judas nach christlicher Lehre, indem er Jesus verraten hat, eigentlich einen Teil von Gottes Heilsplan verwirklicht. Wenn er als Gottes Werkzeug fungierte, war er in seinem Handeln nicht frei. Somit dürfte er nicht für den Vertrauensbruch verantwortlich gemacht werden und wäre, ganz im Gegenteil, sogar selbst ein Opfer.“

„Das Christentum ist nicht gerade dafür bekannt, sich nicht ständig selbst zu widersprechen, Ryuzaki. Das, wovon du da sprichst, sind doch zwei Grundsatzlehren des Christentums. Gott ist allwissend und der Mensch ist frei. Daraus ergibt sich schon per se ein Widerspruch, weil ein allwissender Gott, der die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen geformt hat und der zu jeder Zeit alles über die Geschehnisse weiß, auch von vornherein wissen müsste, wo das Ganze endet. Jede Handlung des Menschen ist dann nur ein Abbild dieser Vorbestimmung, ein Resultat seines Entwurfs. Wenn ein Gott uns in die Welt geworfen hat, wäre damit bereits entschieden, wo wir landen und welche Zerstörung wir bei unserem Auftreffen anrichten.“ Light schaute hinab auf seine Hände, in denen er das Geschenk von L, den noch eingepackten Lutscher, sanft hin- und herdrehte. „Um unsere Eigenverantwortlichkeit aus der völligen Absurdität dieser Sachlage zu retten, sind die Anhänger solcher Glaubensrichtungen auf das clevere Argument gekommen, Gottes Wege seien unergründlich.“

„Dann gefällt es diesem Gott offenbar, seine Streitkräfte gegeneinander ins Feld zu führen“, stellte L gleichgültig fest. „Er sucht sich charismatische Führer aus und wirft sie der Menge zum Fraß vor. Und wofür? Damit ein Mensch für das Wohl aller stirbt. Für die Gleichberechtigung, die Revolution, die Unabhängigkeit, für die Gerechtigkeit.“

„Um die Welt zu reinigen...“ Light stockte kurz, sprach dann jedoch mit milder Zuversicht weiter. „Um die Welt zu verändern, ist ein Opfer erforderlich. Jede Revolution fordert einen Tribut, meist wohl nicht nur in Form von einem einzigen, sondern von unzähligen Opfern.“

„Oder in Form der beiden genannten Führer, die sich an der Spitze ihrer Armee gegenüberstehen. Vermutlich erinnert man sich später nur noch an diese beiden, nämlich den Märtyrer der alten Weltordnung und den Messias der neuen. So ist es schließlich jedes Mal, wenn sich eine neue Religion aus der alten herausschält. Nicht jeder sieht in Judas einen Verräter oder in Jesus einen Messias. Darüber entscheidet, wie so oft, der eigene Standpunkt.“ Während des Sprechens hielt L den Stiel seiner Süßigkeit erdwärts gesunken zwischen Daumen und Zeigefinger fest. „Wer weiß, wie es sich in Zukunft mit Kira und L verhalten wird.“

„Du bist L“, warf Light unwirsch ein. „Du weißt genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn du von dir wie von einem Ding redest. Außerdem...“ Ernst starrte er auf den Betonboden des Daches zu seinen Füßen. „Zum Märtyrer kann man nur werden, wenn man stirbt.“

„Oh, stimmt.“ L tat erstaunt, als wäre ihm diese Tatsache wirklich erst jetzt in den Sinn gekommen. Resigniert seufzend schloss Light die Augen.

„Weil du dich als Kiras Widerpart siehst, setzt du sogar dein Leben aufs Spiel.“

„Quasi wie ein Krieg der Götter.“ In gespielter kindlicher Begeisterung zog L diesen Vergleich, als sei es eine völlige Belanglosigkeit. „Ragnarök. Ein Kampf der Titanen für die Gerechtigkeit der Welt.“ Er stieß heroisch seinen Lutscher in die Luft und verharrte einen Moment in dieser Haltung. Nach kurzer Zeit senkte er den Arm jedoch wieder und legte stattdessen grübelnd einen Daumen an die Lippen. „Mir ist, als hätte ich da was vergessen. Was war es nur...? Ach ja!“ Er schnippte mit den Fingern, als wäre ihm etwas eingefallen. Dann endlich drehte er sich zu Light um. „Wir sind Menschen, keine Götter.“

Der junge Student lächelte schmerzlich. Schaffte er es wirklich, den bitteren Geschmack auf seiner Zunge zu ignorieren? Bedacht wickelte Light jetzt den Lutscher aus der durchsichtigen Plastikfolie und schob ihn sich in den Mund, um diesen Geschmack zu überdecken und sich an jenen anderen zu erinnern.

Er sollte froh sein, dass es keinen anderen Weg mehr gab. Light hatte stets an seine Ideale geglaubt. Er glaubte noch immer daran. Er war im Recht. Er war die Gerechtigkeit. Darum musste er es tun. Er musste L töten.

Wenn das erledigt war, würde nur noch Misa an seiner Seite sein. Doch auch ihr Leben währte nicht mehr lang. Ein weiterer Vorteil, denn so musste Light sie nicht selbst töten, um darüber zu richten, dass sie als zweiter Kira Böses getan hatte. Zuvor würde Light ihr dennoch die Erinnerungen rauben. Misa hatte seine Ideale ohnehin nie wirklich verstanden. Sie war zum Kira-Anhänger geworden, weil er ihr in einer persönlichen Sache geholfen hatte, aus Sentimentalität und Selbstsucht. Ihr Tun war purer Eigennutz.

L hingegen stellte sich Kira in den Weg und riskierte sein Leben, ohne etwas dafür zu verlangen. Das war der beste Beweis dafür, dass er ganz genau verstand, um welches Ideal es hier ging, was Gerechtigkeit bedeutete. Und Selbstaufgabe.

Doch Light konnte nicht sprechen, er konnte sich L nicht anvertrauen, weil dieser gleichzeitig sein größter Feind war. L war der Mensch, der ihm am nächsten stand und den er deswegen am meisten hasste.

„Ich werde gehen, Light-kun.“ Verwirrt hob der Angesprochene den Blick. Neben ihm hatte sich L wieder nach vorn auf die Brüstung gestützt. Sein Lutscher hing zwischen seinen Fingern über dem Abgrund. „Es ist schon spät. Willst du mich heute wieder überwachen?“

Light zögerte. Den Sinn seiner vorgeschobenen Kontrolle abwägend entschied er sich rasch dagegen und schüttelte den Kopf.

„Lass mich hier noch ein bisschen bleiben.“

„Interessant.“ L malte mit dem abwärts hängenden Lutscher eine Schleife in die Luft. „Was soll mir das wohl über dich sagen, Light-kun? Vertraust du mir etwa? Oder hast du einfach nur Angst?“

„Ich habe keine Angst.“ Genervt schob Light die runde Süßigkeit im Mund von einer Seite zur anderen. Sollte ihn dieses abfällige Gerede wieder einmal provozieren? Er spürte Wut in sich aufsteigen. Die glatte Kugel auf seiner Zunge schmeckte viel zu penetrant, viel zu süß. „Ist es andersherum nicht weitaus logischer, Ryuzaki? Wenn ich dich allein lasse, zeigt das doch, wie wenig ich mich vor deinen möglichen Taten fürchte.“

„Nein, das zeigt nur, wie viel wichtiger es dir offenbar ist, mich davon zu überzeugen, dass du keine Angst haben würdest, anstatt mir als deinem Freund zuzugestehen, dass du mir vertraust.“

„Hast du nicht selbst gesagt, das würde uns verbinden? Warum sollte ich in unserer Freundschaft eines der wenigen Dinge aufs Spiel setzen, die wir überhaupt gemeinsam haben?“, konterte Light sarkastisch, wobei er sich mit dem Lutscherstiel im Mund zunehmend albern vorkam.

„Ich glaube ja“, meinte L teils belustigt, „dass du trotzdem Angst hast. Wenn schon nicht vor mir, dann doch wenigstens vor dir selbst.“

Blitzschnell griff Light an der Brüstung entlang nach dem Arm des Anderen, obwohl er sich diese zornige Affekthandlung kaum erklären konnte. Erschrocken ließ L seine Süßigkeit fallen. Er schaute ihr bedauernd hinterher und begegnete dann den grimmigen braunen Augen seines Ermittlungspartners.

„Das war mein Lutscher“, äußerte sich L verletzt. „Gib mir deinen.“ Sofort erwiderte er den Übergriff ebenso plötzlich. Binnen weniger Sekunden nahm Light einen Stoß gegen seine Schultern und gegen sein Bein wahr, danach einen auf seinen Brustkorb ausgeübten Druck, ein leichtes Schwindelgefühl durch den Verlust des Bodens unter seinen Füßen und den dumpfen Schmerz in seinem Rücken beim Aufprall. Als er benommen begriff, dass er sich liegend auf der Anhöhe vor der Absperrung befand, war ihm die Süßigkeit bereits aus dem Mund gezogen worden. „Hab keine Angst.“ L hatte mit Bedacht sein Knie auf Bauch und Becken des anderen Mannes gestemmt, um diesen am Boden zu halten. In der einen Hand hielt er triumphierend den Lutscher, die andere legte er an Lights Wange und fuhr mit dem Daumen sanft über dessen noch feucht schimmernde Unterlippe. „Es ist wirklich ganz einfach, einen Menschen zu töten, nicht wahr, Light-kun? Einen anderen oder die eigene Person.“ Voller Unbehagen und Aufregung verfolgte Light, wie L komplett ungeniert die Süße von seinem Daumen leckte, bevor er sich die fremde Süßigkeit in den Mund schob. „Man muss nur den Geschmack von Zucker vergessen.“

Damit wandte sich der Detektiv zum Gehen.

„Ist es nicht ein bisschen dreist“, fragte Light, erstarrt in seiner liegenden Position und noch immer atemlos, „jemandem ein Geschenk wieder wegzunehmen?“

L drehte den Kopf leicht zur Seite, sodass man sein schwaches Lächeln erkennen konnte, als er abschließend sagte:

„Gute Nacht, Light-kun.“

Reglos blieb dieser, nachdem L schon längst gegangen war, noch eine Weile liegen. Er starrte hinaus in das weite Firmament des Himmels, während er versuchte, sein heftig schlagendes Herz zu beruhigen.

 

Er hatte schier ewig in dieser Zelle gesessen. Leises Rauschen in den Ohren, lauter Kameras um ihn herum, erdrückende Wände, ein schmales Bett. Seine Hände waren gefesselt und schmerzten. Einzig und allein diese Stimme aus dem Lautsprecher, Ls Stimme, war eine Verbindung zur Außenwelt. Keine Luft zum Atmen, keine Privatsphäre, keine Bewegungsfreiheit.

Wie lange war er jetzt schon hier? Wie viel Zeit war vergangen? Mindestens dreißig Tage. Vierzig vielleicht? Oder fünfzig? Er war am Ende. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr.

Behutsam berührten ihn kalte Finger an den Handgelenken und massierten sie leicht, linderten den Schmerz.

„Los, sag es schon.“ Sehnsuchtsvoll rettete er sich von Minute zu Minute, bis er Ls Stimme wieder hörte. „Sag mir, dass du Kira bist.“

Angestrengt versuchte er zu atmen. Was sie auch reden mochte, er musste diese Stimme hören.

„Mach dir keine Hoffnungen, Light-kun. Niemand wird dir helfen.“

Längst war es schon mehr als das. Er nahm menschliche Nähe wahr, einen vertrauten Geruch nach Seife, Baumwolle und ein wenig nach Karamell. Zuerst nur ein Finger, der über seine Lippen strich, ein fremder Körper dicht an seinem eigenen, direkte Berührung ihrer Haut. L nahm sein Gesicht zwischen die kalten Hände, beugte sich hinab und leckte sanft die Süße von Lights Unterlippe.

Und auf seiner Zunge der Geschmack von Zucker.

 

Langsam öffnete Light die Augen und erwachte aus seinem Traum. Dieses Mal wusste er sofort, wo er sich befand, nämlich in seinem eigenen Zimmer, das ihm seit der Befreiung von den Fesseln zur Verfügung gestellt wurde. Rücklings blieb er auf dem Bett liegen. Er wusste nicht, ob er sich dafür verachten sollte, dass er nicht gegen die Trugbilder ankämpfte, die ihn nach und nach vollends aus dem Konzept brachten. Er konnte es nicht. Oder war es nicht eher so, dass er es nicht wollte? Nun hatte er also erneut von der wochenlangen Marter in dieser engen Zelle geträumt. Ls Präsenz hätte das eigentliche Übel sein sollen. Stattdessen war er für Light der einzige Halt, den er jetzt noch finden konnte.

Er dachte an die tot wirkenden und doch eindringlichen Augen, diese tiefschwarzen Pupillen, die ihn stets so wissend betrachteten, sodass er sich ihnen im Laufe der Zeit immer stärker ausgeliefert fühlte und je weniger er sich dagegen wehrte, desto mehr in ihnen zu versinken drohte. Dieser berechnende Blick ließ ihn nicht mehr los, das wache Interesse und die Neugier darin, der Kampfgeist und jener traurige Schmerz, der kaum merklich in manchen kurzen Momenten Ls Gesicht zeichnete und den niemand sonst zu sehen schien. Light dachte wieder an diese blassen Lippen, die sich in seltenen Gelegenheiten zu einem kindlichen oder spöttischen Lächeln, manchmal sogar schmollend verzogen hatten, die aber genauso kaltblütig sein konnten. Oft diente dieser Mund nur dazu, analytische Aussagen zu formulieren, von deren Präzision und Vielschichtigkeit sich Light zunehmend angezogen fühlte. Von Beginn an war sein Interesse geweckt, seine geistigen Fähigkeiten waren ohne Rückhalt gefordert worden. Er hatte längst ehrlich zugegeben, dass ihn diese Gespräche erfüllten und begeisterten. Damals, als L zu seinem Erstaunen nach einiger Abwesenheit wieder in der Universität aufgetaucht war, auf einer Bank sitzend, mit einem Buch in den feingliedrigen Fingern und einem stechenden, aber in der nächsten Sekunde auch erfreuten Blick auf seinen Kommilitonen. Damals hatte Light es aus Kalkül geäußert und es sich zugleich eingestanden, wie sehr er L vermisste, sich mit ihm körperlich messen wollte, wie an jenem vergangenen Tag beim Tennismatch, aber auch die Diskussionen mit ihm, an die kein anderer seiner sogenannten Freunde heranreichte, auch nicht diese Takada Kiyomi, die von allen geschätzt und begehrt wurde und die sich genauso einfach von seinem guten Aussehen und seinen dahingeworfenen schlauen Worten beeindrucken ließ. Light wusste, wie er sich andere Menschen zunutze machen konnte, aber all diese unbedeutenden Existenzen hatten ihm nie etwas geben können, das er sich nicht von sich aus hätte nehmen wollen. L hingegen überraschte ihn stets aufs Neue. Häufig hatte er Light nicht nur herausgefordert, sondern ihn auch bestärkt, beruhigt, zum Lachen gebracht oder ihm einfach stumm gezeigt, dass jemand an seiner Seite war, der ihn verstand. So viel hatten ihm diese Lippen in den letzten Monaten verraten, vor dem Light lieber seine Ohren verschlossen hätte. Gleichwohl zogen sie ihn unweigerlich auch auf andere, auf zugegebenermaßen intime Weise an. Er wollte unbedingt den Geschmack des Zuckers wieder auf der Zunge spüren, die unbekannte Leidenschaft und den wechselseitigen Besitzanspruch sowohl bei L als auch bei sich selbst, wenn sie beide einander zu unterwerfen, zu bezwingen, zu vereinnahmen versuchten. Light sehnte sich danach, seine Hände in dem schwarzen Haar zu vergraben, die dunkel umschatteten Lider mit einem kalten Kuss zu verschließen und den ungewohnt rauen Klang von Ls Stimme zu hören. Er wollte wieder diese knochigen Handgelenke umklammern, Macht ausüben und dennoch Halt spenden, sobald L schwach und verletzlich war und unwillentlich seine Zerbrechlichkeit zeigte. Light wollte sich gleichfalls festhalten lassen, wollte die langen, schlanken Finger in seinem Haar spüren, an seinem Hals, auf seiner Haut, den drahtigen Körper, der hinter der gekrümmten Haltung unerwartet viel Kraft und Agilität verbarg, besonders deutlich spürbar in solchen Situationen, in denen L seinem Partner gewaltsam, aber auch zärtlich seinen Willen aufgezwungen hatte, ihm Zuflucht gewährt hatte, sodass dieser es ersehnte, sich fallen zu lassen, sich ihm einfach hinzugeben, sich von ihm nehmen zu...

„Verdammt!“ Light gebot seinen Gedanken Einhalt. Sich im Bett aufrichtend schüttelte er energisch den Kopf, als könnte er damit auch die Bilder abschütteln, die sich vor seinem inneren Auge abspielten. Er krallte die Hände in seinem Haar fest und atmete angestrengt ein und aus. „Nicht diese Gedanken. Bloß nicht diese Gedanken. Reiß dich zusammen, verdammt!“

Seufzend schloss er die Augen. Sein Körper reagierte unweigerlich. Er konnte seine schmerzliche Sehnsucht nicht leugnen, aber Erleichterung verschaffen durfte er sich ebenso wenig. Denn wenn er sich jetzt selbst berührte, das war ihm nur allzu sehr bewusst, könnte er es nicht verhindern. Er würde dabei an L denken.

„Du musst ihn töten“, flüsterte die Stimme des Todes in seinem Nacken.

Zwanghaft stellte sich Light vor, wie er den sterbenden Körper seines Freundes in den Armen hielt, wie dessen Muskeln sich verkrampften und dann langsam erschlafften, wie der letzte Atemzug Ls Kehle verließ und sich die schwarzen Augen für immer schlossen. Anfangs ganz leise entfloh Light ein stockendes Lachen, als er fassungslos bemerkte, dass ihn selbst diese Vorstellung erregte.

All diese Träume machten ihn in letzter Zeit fertig, genauso wie die Wahnvorstellung von Ryuk, der ihn ständig wie ein imaginärer Freund begleitete, sodass sich Illusion und Wirklichkeit, Traum und Realität nach und nach vermischten. Light wusste schon fast nicht mehr, was echt war und was nicht, was richtig war und was falsch. Er vergrub die Hände in seinen Haaren und begann unkontrolliert zu lachen.

So fühlte es sich also an, wenn man langsam, aber sicher den Verstand verlor.

Nostalgie und Widerwille

Nostalgie und Widerwille

 

Menschen sind dumme Wesen, die ihr wahres Ich nicht offen zeigen. In der menschlichen Gesellschaft gibt es nur sehr wenige, die einander wirklich vertrauen.

Light saß, obwohl es eigentlich zu früh und draußen noch relativ dunkel war, vollständig angezogen auf dem Bett in seinem grell erleuchteten Zimmer. Er hatte es mittlerweile geschafft, seine Empfindungen zu betäuben, Beherrschung und Selbstdisziplin zurückzuerlangen. Sein kaltes Herz war wieder stumm.

Die Anzeige des Digitalweckers auf dem Nachttisch zeigte das heutige Datum an, den ersten November. Nachdenklich wendete Light die elektronische Sicherheitskarte in seinen Händen herum. Es war nicht seine eigene, sondern die Karte zu dem Zimmer, welches er vorher bewohnt hatte. Das Zimmer, in dem sich jetzt nur noch L befand. Funktionierte diese Karte überhaupt noch? Konnte es nicht sein, dass der Detektiv sie hatte sperren lassen? Hatte er seinem Hauptverdächtigen nur deshalb zugestanden, sie zu behalten? Andererseits war es unsinnig, ihm den Zutritt zu verwehren. Light konnte schließlich schlecht hinüberspazieren und L im Schlaf erwürgen, auch wenn er die Vorstellung zuweilen ganz verlockend fand. Er fragte sich, was das alles bedeuten sollte. War diese Karte etwa ein Vertrauensbeweis?

Genervt atmete er aus und ließ sich zurück auf das Bett fallen. Eine Weile blieb er reglos liegen, starrte an die Decke und schließlich zu der glasartigen Halbkugel, hinter der sich, wie in allen anderen Räumen auch, eine Überwachungskamera befand. Ob sie eingeschaltet war oder nicht, konnte Light nur vermuten. Korrekterweise hatte L dazu gar keine Befugnis mehr, allerdings scherte er sich sowieso nie um die Einhaltung von Richtlinien oder Abmachungen. Es war kein Wunder, dass man zu ihm kein Vertrauen fassen konnte. Genau diesen Umstand hatte Light damals schließlich genutzt, um einen Keil zwischen den Meisterdetektiv und die Polizei zu treiben. Auf der einen Seite konnte man ohnehin niemandem vertrauen, von dem man weder das Gesicht noch den Namen kannte, sodass es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis man von L eine Enthüllung verlangte. Damit wurde auch für Light die erste Möglichkeit geboten, an seinen Gegner heranzukommen. Auf der anderen Seite musste L wohl oder übel damit beginnen, die Beamten und deren Familien unbemerkt durch das FBI beschatten zu lassen, weil Kira durch seine Reaktion, das geänderte Tötungsmuster, absichtlich jenes bereits präsente Misstrauen geschürt hatte. Indem er die Verbrecher exakt im stündlichen Abstand hatte sterben lassen, machte er L deutlich, dass er seine Morde beliebig lenken konnte. Es ging Light zu dieser Zeit jedoch nicht in erster Linie darum, die Theorie, Kira sei ein normaler Schüler, ad absurdum zu führen. Vielmehr wollte er L offensiv zeigen, dass er bestens über den Stand der Ermittlungen Bescheid wusste. Und damit rückte er sich selbst in die Schusslinie.

Ein Lächeln huschte über Lights Lippen, als er sich jetzt ins Gedächtnis rief, wie diese ganze Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Rein theoretisch hätte er sich damals auch unauffällig verhalten können, dann wäre ihm der Meisterdetektiv womöglich sogar nie auf die Schliche gekommen. Allerdings hätte in diesem Fall auch Light keinen einzigen Schritt näher an L herantreten können. Mit Sicherheit wollte dieser ihn damals, bei ihrer im Fernsehen ausgestrahlten, ersten öffentlichen Auseinandersetzung, genau aus diesem Grund provozieren. Nach einer solchen Demütigung und Kriegserklärung konnte und wollte sich Light diesem Kampf nicht mehr entziehen.

Wie weit hatte er bis zum jetzigen Zeitpunkt schon gehen müssen? Die langweilige Gleichförmigkeit der vorüberziehenden Tage hatte sich in das komplette Gegenteil verkehrt. Was brachte es, das alles Revue passieren zu lassen, sich immer wieder bewusst zu machen, dass nicht das Death Note, sondern die Bekanntschaft mit L in jeder Hinsicht der Eintönigkeit und Leere ein Ende gesetzt hatte? Würde es überhaupt noch aufregend sein, wenn L besiegt war? Konnte es nicht sein, dass dies alles, wenn L nicht mehr da war, seinen Reiz verlor? Es kam Light so vor, als würden sich die Gedanken in seinem überfüllten Kopf unentwegt im Kreis drehen. Zu viel war passiert. Viel zu viel.

Er entsann sich, dass in seiner Schulzeit das Erscheinen von Kira zum häufigsten Gesprächsthema im Klassenzimmer geworden war. Jeder zerriss sich das Maul darüber. Light erinnerte sich an das Gerede zweier seiner Mitschüler, mit denen er damals oft nach Hause gegangen war. Lachend hatte er sich den Unterhaltungen angeschlossen und mit ihnen spekuliert und gefachsimpelt, obwohl es ihm eigentlich auf die Nerven ging. Es war einfach nur ermüdend. Unglaublicherweise war das alles schon fast ein Jahr her. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr an die Namen der beiden Mitschüler erinnern, obwohl er mit ihnen viel unternommen und sie pro forma als Freunde bezeichnet hatte.

Light hob eine Hand, um sein Gesicht vor dem grellen Licht der Deckenstrahler abzuschirmen, während er die Zeichen und Zahlen auf der Sicherheitskarte in seiner anderen Hand betrachtete.

In der Schule, in der Universität, bei der Arbeit seines Vaters, überall war Light schon immer beliebt gewesen. Doch wenn er ehrlich war, hatte er keinerlei Freunde, die ihm mehr bedeuteten als jeder andere auch. Alle waren sie gleich. Sie langweilten ihn bloß und waren so unendlich leicht zu blenden und zu manipulieren, so vorausschaubar und stupide. Die Menschen heuchelten Mitgefühl, dabei wollten sie sich eigentlich nur selbst inszenieren. Aus den Brettern der Gesellschaft hatten sie eine Bühne erbaut, auf der jeder herumstolzieren konnte, um sich dafür bewundern zu lassen, wie gut er seine Rolle spielte. Wer beim Publikum nicht ankam, wurde belächelt oder kritisiert, von der Bühne heruntergestoßen und ausgeschlossen. Diese armen Existenzen verweilten irgendwo am Rande der Gemeinschaft, freiwillig zurückgezogen hinter die Mauern ihrer eigenen Wohnungen oder weggesperrt in Einrichtungen, die man extra für solche Unbelehrbaren eingerichtet hatte, damit sie von den normalen Menschen ferngehalten wurden und diese nicht mit ihrer unpassenden Art belästigten. Light wusste, wie das Spiel lief, wie man sich am besten integrierte und durch das richtige Erscheinungsbild, die richtige Ausstrahlung auf seine Umgebung die entsprechende Anziehungskraft ausübte. All jene weniger charismatischen Personen in seinem Umfeld fühlten sich von ihm angezogen, umschwärmten ihn wie Motten das Licht. Sie liebten ihn für das Bild, das er ihnen zeigte, nicht für das, was dahinter lag. Sie würden niemals das lieben, was er wirklich war.

L war anders. L ließ sich nicht von seinem perfekten Auftreten täuschen, war dafür viel zu clever, viel zu interessant. Er kümmerte sich nicht darum, was andere von ihm dachten. Und diese Idioten, die jenes nach außen gekehrte Lügengespinst von Light bewunderten, spotteten gleichzeitig über die Erscheinung, die L ihnen bot. Dabei war ihnen nicht bewusst, dass dieser sie mühelos durchschaute. In wenigen Sekunden hatte er sie analysiert, katalogisiert und als unbedeutend abgeheftet. Es war offensichtlich, wie schnell L das Interesse an jemandem verlor. Demgemäß nahm der Meisterdetektiv nur Kriminalfälle an, die ihm spannend genug erschienen. Er konnte sich mit überschwänglicher Begeisterung auf die Sezierung eines Täterprofils stürzen. Doch sobald er das Problem gelöst hatte, wurde es für ihn wieder uninteressant. Seit dem Aufeinandertreffen mit Kira hatte sich das geändert. L war keine andere Wahl geblieben, als sich in den letzten Monaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, all seinen Kräften und nicht zuletzt seiner eigenen, als Köder fungierenden Person nur auf diesen Fall zu konzentrieren.

Zermürbt von den eigenen Überlegungen, Erinnerungen und Fragen drehte sich Light auf die Seite, nach wie vor fixiert auf die Sicherheitskarte in seiner Hand.

Er wollte, dass der scharfe Verstand des Meisterdetektivs an nichts anderes mehr dachte, nur an Kira und den Kampf gegen ihn, ihre feindliche und freundschaftliche Auseinandersetzung, ständig aufs Neue beidseitig überrascht von den vielen übereinstimmenden Gedanken und trotzdem fasziniert vom Unterschied ihrer Persönlichkeit. Sein Gegner und Mitstreiter sollte an keinen anderen Menschen mehr denken können. L sollte es genauso ergehen wie ihm selbst.

 

Der gewohnte Signalton begleitete das Öffnen der Tür. Blassgraues Morgenlicht fiel schwach in den Raum. Nicht länger zögernd trat Light ein und schloss die Tür leise hinter sich. Sie funktionierte wirklich noch. Die Sicherheitskarte funktionierte.

Dennoch hatte er nicht erwartet, den Detektiv schlafend vorzufinden. Ohne das Licht anzuschalten, ging Light beinahe lautlos auf Socken durch das Zimmer hinüber zum Bett, obwohl er sich keine besondere Mühe gab, nicht gehört zu werden. L war sicher trotzdem wach, auch wenn er jetzt so unbewegt und still auf dem Laken ruhte. Beide Decken waren unordentlich übereinander im Bett verteilt und verbargen nur halb seinen Körper. Wie immer hatte er die angewinkelten Beine in einer unbequem wirkenden Haltung zur Seite gelegt, während er mit dem Oberkörper flach auf dem Rücken lag, die eine Hand auf dem Bauch, die andere entspannt neben dem Kopf. Genauso wie das Licht des gestrigen Abends ließ das Morgenlicht seine Haut unnatürlich blass erscheinen, zusätzlich verstärkt durch die schwarzen Haare, die ihm wirr und vom Schlaf zerzaust ins Gesicht fielen. Unter den geschlossenen Lidern zeichnete sich dunkel der Schatten seiner Augenringe ab.

Als schön konnte man Ls Aussehen nicht gerade beschreiben. Misa hatte beim ersten Aufeinandertreffen gesagt, er sähe cool aus, einige Kommilitonen in der Universität formulierten es eher als verschroben. Für Light wirkte der Meisterdetektiv wie aus einem skurrilen Puppentheater entsprungen. Mit dieser schlechten Körperhaltung, als hinge er an Marionettenfäden. Mit seinen großen, dunklen Augen, die stets totenstarr und leer waren. Mit diesen spinnenartigen, feinen Fingergliedern, den rissigen Lippen und der weißen Porzellanhaut.

Nachdem Light eine Weile stumm vor dem Bett gestanden und seinen dem Anschein nach schlafenden Feind betrachtet hatte, setzte er sich schließlich neben ihn an den Bettrand, den Blick weiterhin nicht von ihm lösend.

„Ryuzaki?“, sprach Light mit gedämpfter Stimme.

Keine Reaktion deutete darauf hin, dass L ihn gehört hatte. Stattdessen vernahm man nur tiefe, gleichmäßige Atemzüge, bei denen sich seine Brust unter dem weißen Stoff seines zerschlissenen Oberteils hob und senkte. Mit grimmiger Gewissheit dachte Light, dass der Detektiv natürlich genau wusste, wie man sich schlafend stellte.

Er hob eine Hand und berührte mit der Rückseite seiner Fingerknöchel behutsam Ls Wange, bevor er vorsichtig mit dem Daumen den von Schlafmangel zeugenden Schatten unter seinen Wimpern nachzeichnete. Merkwürdig, dass sich die Haut an dieser Stelle so dünn und weich anfühlte. Doch noch immer öffnete jener die Augen nicht.

Kurzentschlossen strich Light flüchtig hinab über Ls Kiefer und umfasste, während ihm sein Herz hart von innen gegen die Brust schlug, mit einer Hand den bloßen Hals seines Feindes. Ein wenig konsterniert fragte er dann ganz leise:

„Hast du denn keine Angst mehr, L?“

Wieder folgte nicht die erwartete Reaktion. Der Detektiv schien friedlich und furchtlos zu schlafen. Dabei wirkte er gerade jetzt so unglaublich angreifbar, auf unangenehme und erschreckende Weise verletzlich. Den Hals seines Gegners mit zitternder Hand umschließend spürte Light überdeutlich, wie unter der warmen Haut das Blut in Ls Adern pulsierte.

Sofort löste er sich von ihm und stand auf. Skeptisch starrte er hinab auf den reglosen Körper seines Freundes, dann drehte er sich kopfschüttelnd um und ging Richtung Tür. Vorher blieb er jedoch neben der nahegelegenen, niedrigen Kommode stehen. Er holte etwas aus seiner Hosentasche, begutachtete es zweifelnd und verharrte einen Moment, bis eine Stimme ihn unmerklich zusammenzucken ließ.

„Nein, habe ich nicht, Light-kun.“

Ohne sich umzuwenden zog Light seine Hand von der Kommode zurück. Ruhigen Schrittes setzte er sich wieder in Bewegung. Ein paar Sekunden später durchdrang die dichte Stille im Zimmer nur das Geräusch einer sich schließenden Tür.

Aufrecht im Bett sitzend schaute L müde zur Kommode hinüber und erkannte dort, unauffällig im blaugrauen Morgenlicht, die Umrisse einer elektronischen Sicherheitskarte.

 

In Bezug auf die Ermittlungen ging dieser Tag genauso monoton und ereignislos vorüber wie die vorherigen. Noch hatten sie keine weiteren Aktivitäten von Kira feststellen können. Light arbeitete, um Ablenkung bemüht, die endlosen Aktenberge durch, in denen das Fahndungsteam einen neuen Ansatzpunkt zu finden hoffte. Natürlich wusste er, wie sinnlos das alles war. Auch L beteiligte sich nur äußerst halbherzig an diesen Ermittlungen. Stattdessen beschäftigte er sich lieber mit der Todesgöttin Rem, die seinen Fragen jedoch geschickt auswich, obwohl er sie fortwährend bedrängte.

In Lights Innerem nahmen Anspannung und Nervosität schleichend überhand. Die Sekunden rannen ihm durch die Finger wie Wasser.

Am späten Nachmittag gab L schließlich seine Befragung auf. Über das Mikrofon wandte er sich an Watari mit der Bitte um ein Go-Brett. Er nannte ihm die Lounge in der Nähe der Konferenzräume eine Etage tiefer, daraufhin erhob er sich ohne weitere Anmerkung an die restlichen Anwesenden. Light schaute ihm abwägend hinterher, wohingegen die in ihre Aufgaben vertieften Polizisten nur wenig Notiz davon nahmen. Wahrscheinlich würden einige von ihnen, zumindest Matsuda und Mogi, heute wieder in den Privaträumen des Gebäudes übernachten. Während L noch vorm Fahrstuhl stand und darauf wartete, dass dieser vom Erdgeschoss aus oben angelangte, entschied Light kurzerhand, sich ihm anzuschließen. L verfolgte weiter die Etagenanzeige über der Fahrstuhltür, doch umspielte jetzt, da sein Freund neben ihn trat, ein kleines Lächeln seine Mundwinkel.

 

Einvernehmlich hatten die beiden jungen Männer kaum ein Wort gewechselt. Sie saßen einander in einem der westlich möblierten Zimmer gegenüber, unpassenderweise ein großes hölzernes Go-Spiel auf dem Glastisch zwischen den Sofas aufgebaut. Der eingeschaltete Fernseher warf flimmerndes Licht auf ihre Gesichter. L hatte die beiden Behälter, in denen sich die weißen und schwarzen Steine befanden, zur Seite geschoben. Einige Zeit verbrachte er damit, etliche Bonbontüten zu öffnen, sie auf dem Tisch zu entleeren und die runden Süßigkeiten einzeln aus ihren viereckigen Verpackungen zu holen. Er sammelte sie in zwei Teetassen, in der einen jene grünen Bonbons, die nach Matcha schmeckten, in der anderen diejenigen mit Milchteegeschmack. Nachdem er fertig war, schob er die mit den hellgelben Milchteebonbons gefüllte Tasse zu Light hinüber, damit dieser sie an Stelle eines Goke und die Süßigkeiten als Go-Steine benutzen konnte. Während sich der Student ohne Protest an der Partie beteiligte, gesellte sich Watari in seiner stummen, stets würdevollen Art zu ihnen, um die leeren Plastikverpackungen, die auf und um den Tisch herum verstreut lagen, diskret wegzuräumen. Höflich nickend verschwand er nach kurzer Zeit wieder.

So unerklärlich es Light auch erschien, doch seine innere Unruhe war im Laufe des Tages von ihm abgefallen. Er fühlte sich ausgeglichen, allerdings nicht durch den Zwang, den er gedanklich auf sich selbst ausgeübt hatte, sondern dank der Zurückhaltung seines Freundes.

Von Beginn an leicht ersichtlich standen ihnen für ihr Go-Spiel zu wenig Bonbons zur Verfügung, sodass sie ohne Agehama spielten, also ohne die gegnerischen Steine zu sammeln. Weil L viele von den Milchteebonbons aß, die er von Light gefangen nahm, besaß dieser irgendwann nichts mehr, womit er hätte setzen können. Darum beendeten sie gleichmütig ihr Spiel, ohne es zu einem Ergebnis geführt zu haben.

Die Zeit schritt voran, es war Abend geworden und Light hatte sich an den Esstisch gesetzt, der unweit von der Sitzgruppe stand. Während er frittierte Garnelen, Reis und Misosuppe mit eingelegtem Tofu aß, schaute er abwechselnd von L, der mit den restlichen Matchabonbons auf dem Go-Brett mittlerweile eine Art Schiffeversenken spielte, zum Fernseher hinüber, wo gerade eine dieser schrillen Quizshows lief, alle paar Minuten unterbrochen von Werbung, die fast noch bunter und überdrehter war als die eigentliche Sendung. Den Blick gleichfalls auf den Fernseher geheftet fragte L schließlich teilnahmslos:

„Wie lange muss man eigentlich in Japan bleiben, um diese Shows zu verstehen?“

„Um aus eigener Erfahrung zu sprechen, Ryuzaki, achtzehn Jahre reichen jedenfalls nicht dafür aus.“

Verhaltenes Schmunzeln. Light mochte dieses meist stimmlose Lachen seines Freundes. Er beendete seine Mahlzeit und setzte sich hinüber auf das Sofa.

„Das werde ich sicher vermissen“, stellte L scheinbar desinteressiert beim Schalten durch die Kanäle fest. „Japanische Süßigkeiten und die vielen Gegensätze dieses Landes, einerseits die Verrücktheiten, andererseits die engstirnige Disziplin und Höflichkeit.“

„Aber England ist doch auch bekannt für seine Höflichkeit, oder nicht?“

„Bestimmt nicht so. Siehst du?“ L deutete auf den Bildschirm. „Selbst die Nachrichtensprecherin verbeugt sich bei ihrer Begrüßung.“

„Das ist bei uns üblich, ein Zeichen des Respekts. Auch unser Zugpersonal verbeugt sich beim Betreten und Verlassen eines Abteils.“

„Ich lasse mich lieber mit dem Auto chauffieren. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind mir hier eindeutig zu überfüllt.“

„Dafür muss man sich auf unseren Straßen allerdings vor Taxifahrern in Acht nehmen.“

„Kein Problem, Light-kun, ich habe vorgesorgt.“

Das helle Klingeln eines Glöckchens. Zwischen zwei seiner Finger hielt L ein rotblau besticktes O-Mamori in die Luft, ein in Japan als Talisman verwendeter kleiner Stoffbeutel, der mit Schutzzaubern versehen wurde. Es gab sie überall an diversen religiösen Stätten wie Tempeln oder Schreinen zu kaufen. Auf diesem hier konnte Light mit leichter Belustigung die Schriftzeichen für Sicherheit im Straßenverkehr erkennen.

„Willst du denn gleich wieder abreisen, sobald der Fall gelöst ist?“

„Jetzt werde ich die nächsten zehn Tage sicher erst einmal bleiben.“

„Wieso gerade zehn Tage?“

„Das fragst du noch? Am elften November ist Pocky-Day.“

Verstehend nickte Light, auf den Lippen ein leichtes Lächeln tragend, das im Widerspruch zu dem mulmigen Gefühl in seinem Magen stand. Bis dahin, weit vor dem Ablauf dieser zehn Tage, würde Misa ihr Death Note längst ausgegraben haben. Light fror ein wenig. Von seinem Nacken breitete sich die Kälte über seinen gesamten Körper aus.

„Weißt du, Ryuzaki, bevor du abreist, könnte ich dir noch mehr von Japan zeigen.“

„Das... würde mich freuen, Light-kun.“

„Wir könnten nach Hakone fahren und uns den Fuji ansehen. Dort kann man gekochte Eier essen, die im Schwefelwasser der heißen Quellen zubereitet wurden. Die sehen ganz schwarz aus.“

„Wirklich? Ich habe gehört, es gäbe dort sogar Eis mit Eigeschmack.“

„Ja, das stimmt.“

„Eine sehr merkwürdige Vorstellung.“

Knisterndes Rascheln. L legte eine Chipstüte auf den Tisch, begleitet von einer offenen Geste. Light bemerkte, dass es die Geschmacksrichtung Consommé war. Er nickte zum Dank, rührte die Tüte jedoch nicht an, während er L mit leiser Stimme versicherte:

„Du hast Recht, es klingt gewöhnungsbedürftig, aber eigentlich ist es ganz in Ordnung. Schmeckt ein bisschen nach Eierlikör, bloß ohne Alkohol.“

„Woher willst du denn wissen, wie Eierlikör schmeckt, Light-kun? Du bist doch noch gar nicht volljährig.“

„Wie ist es mit alkoholfrei?“

„Alkoholfreier Eierlikör? Du schwindelst doch.“

Leises Lachen, das in Lights Kehle schmerzte. L knabberte an einem Pocky-Stab. Flimmerndes Licht fiel auf seine blassen Gesichtszüge. In zehn Tagen, dachte Light. In zehn Tagen war L vielleicht schon tot.

„Sobald das hier vorbei ist, fahren wir nach Hakone. Einverstanden, Ryuzaki?“

„Einverstanden. Lass uns das machen.“

„Und dann kannst du das Eis selbst probieren.“

Eine unaufhörliche Flut an Stimmen und Geräuschen drang gedämpft aus den Lautsprecherboxen des Fernsehers. Light starrte vor sich auf den Tisch. Auf dem Go-Brett lagen die restlichen Bonbons und warfen lange Schatten über das Spielfeld. Das waren vermutlich die letzten Trümmer der versenkten Schiffe.

„Light-kun... alles okay bei dir?“

„Ja, alles bestens.“

Recht durch Unrecht

Recht durch Unrecht
 

Als er verwirrt erwachte, fiel noch immer flackerndes Fernsehlicht in den ansonsten bloß von gedämpften Schirmlampen erhellten Raum. Offenbar war Light auf dem Sofa sitzend eingeschlafen. Während er nun erschöpft über seine Stirn rieb, entsann er sich, durch eine Hand auf seiner Schulter geweckt worden zu sein. Er blickte auf und schaute in das freundliche Gesicht von Watari. Dieser legte einen Finger an die Lippen unter seinem Schnauzbart und deutete ein stummes Nicken an. Der Geste folgend lenkte Light den Blick hinüber zu dem anderen Sofa, auf welchem L in seiner üblichen Haltung verharrte, die knochigen Finger auf seinen Knien, den Kopf entspannt gesenkt. Er schlief.

Irritiert musterte Light den Meisterdetektiv. Wieso verhielt sich L in letzter Zeit so? Warum trat er derart offen und schutzlos auf, obwohl er sich wochenlang vor seinem Verdächtigen in Acht genommen hatte? In diesen Wochen, als Light nichts von seiner eigenen Identität als Kira wusste, hatte ihn das fehlende Vertrauen seines Freundes unentwegt verletzt. Und jetzt? Wollte L ihn damit etwa provozieren? Wollte er absichtlich diesen Widerspruch aus verständnislosem Zorn und unbändiger Zuneigung in Light auslösen? Sofort wischte er den lächerlichen Gedanken beiseite. Was er da dachte, ergab überhaupt keinen Sinn. Seine Aggressionen verleiteten ihn zu schwachsinnigen Schlussfolgerungen.

Leise stand Light auf, um Watari dabei zu helfen, den hölzernen Goban mit den Schalen und allen restlichen Dingen, die über den Tisch verstreut lagen, auf einen kleinen Servierwagen zu räumen. Bevor der ältere Mann sich verabschieden konnte, fragte Light flüsternd:

„Watari-san, was ist mit Ryuzaki?“

Der alte Herr schaute auf die reglose Gestalt seines Schützlings, lächelte dann kaum merklich und antwortete genauso leise:

„Normalerweise ruht er sich nicht mehr als drei bis vier Stunden aus. Keine Sorge, Ryuzaki ist es gewohnt, in sitzender Haltung zu schlafen.“

Skeptisch zog Light die Augenbrauen zu einem ernsten Gesichtsausdruck zusammen, während sein Blick weiterhin auf dem Detektiv verweilte.

„In den letzten Wochen“, entgegnete er stockend, „entsprach das jedenfalls nicht seinen Gewohnheiten, da hat er normal im Bett geschlafen.“

„Jetzt gibt es aber niemanden mehr, für den sich das lohnen würde“, erklärte Watari schlicht und schob daraufhin gemächlichen Schrittes den Servierwagen aus dem Zimmer. Nachdenklich betrachtete Light die auf dem Jeansstoff ruhenden schlanken Finger und das unter schwarzen Haaren verborgene, blasse Gesicht seines Freundes. So etwas hatte doch nichts mit Erholung zu tun, das war eher das Minimum an notwendiger Regeneration.

Leicht befremdet wandte er sich ab, um Watari, der den Raum bereits verlassen hatte, zu folgen. Doch Light zögerte. Er starrte eine Weile vor sich auf den Teppich. Schließlich öffnete er genervt den Reißverschluss seiner Sweatjacke, die er über einem kurzärmligen Shirt trug. Im Herumdrehen streifte er sich das Kleidungsstück von den Schultern, ging zu dem Anderen hinüber und blieb, abermals zögernd, vor ihm stehen. Kurzentschlossen legte Light seine Jacke über die Couchlehne, fasste L behutsam an den Schultern und drückte ihn seitlich hinab auf das Sofa, wobei er dessen Kopf vorsichtig mit einer Hand stützte. Light bemerkte, wie sein Freund leicht zusammenzuckte und die Augen einen Spalt öffnete.

„Schlaf weiter“, beruhigte er ihn sanft, bevor er die Jacke über dessen Oberkörper ausbreitete. Sogleich schloss L die Augen wieder. Seine dünnen Finger lugten in der Nähe des Gesichtes unter dem Kleidungsstück hervor und hielten es fest. Mit emotionsloser Miene schaute Light auf seinen Feind herab, Leere und gefühlskalte Trauer in den braunen Augen.

Dann kehrte er ihm den Rücken zu, dieses Mal endgültig. Er überprüfte die Zeitangabe auf seiner Armbanduhr und stellte fest, dass es bereits nach Mitternacht und somit der zweite November war. Indes spürte er deutlich jenes undefinierbare Gewicht zwischen seinen Rippen. Denn mit jedem Tag wog sein Herz schwerer in der Brust.

 

„Noch immer kein Zeichen von Kira.“ Herr Yagami warf die letzte Tageszeitung, die er durchforstet hatte, auf den Stapel zu den anderen. „Keine getöteten Verbrecher, keine Mitteilungen, gar nichts. Vielleicht hat er es aufgegeben.“

„Das glaube ich nicht“, antwortete Light, ohne vom Computerbildschirm aufzusehen oder seine Finger, die mit schnellen Anschlägen über die Tastatur flogen, stillstehen zu lassen. „Beim letzten Mal hat es auch ein bisschen gedauert, bis die Morde wieder anfingen. Es gibt nicht viele Gründe, weshalb Kira auf einmal das Töten beenden sollte. Aus Angst sicher nicht, schließlich war die Sonderkommission ihm selten so fern wie jetzt. Und ich bezweifle, dass sich plötzlich Skrupel bei ihm eingeschlichen haben.“

„Könnte Kira denn nicht erkannt haben“, gab der Chefinspektor zu bedenken, „dass aus Unrecht kein Recht entsteht?“

„Du meinst, dass er auf einmal bemerkt, dass er falsch liegt?“ Light drehte sich auf seinem Stuhl herum. „Das glaubst du doch nicht wirklich, Vater. Etwas Derartiges wird Kira erst einsehen, wenn er auf ganzer Linie scheitert. Eine Bestie wird nicht von jetzt auf gleich einfach aufhören zu wüten.“

„Ist er das denn?“ Light schaute hinüber zur Couchgruppe, wo L mit einer Kaffeetasse zwischen den schmalen Händen hockte, vor sich auf dem Glastisch ein von weiß und braun glasierten Puffreiskugeln bedecktes Stück Schokoladenkuchen. Seine Frage formulierte er in relativ gelangweiltem Tonfall. „Ist Kira denn eine Bestie, Light-kun?“

Mit ruhiger, erwachsener Miene überlegte der junge Student, bevor er antwortete:

„Es kommt wohl darauf an, was man unter einer Bestie versteht. Kira ist mit Sicherheit kein Todesgott, sondern ein Mensch. Wenn man eine Bestie als wildes Tier definiert, trifft mein Vergleich wahrscheinlich nicht zu, denn ein Tier tobt nur, wenn es gereizt oder geängstigt wird, und beruhigt sich irgendwann wieder. Ein Mensch hingegen kommt nicht von allein zur Ruhe, er wird immer weitermachen, streben und fordern und kämpfen, bis ihm jemand Einhalt gebietet.“

„Oder bis er ausgebrannt ist und sich selbst zerstört“, fügte L leise hinzu.

Erneut überschwemmten unvergessene Erinnerungen Lights Gedanken. Er sah sich am Schreibtisch in seinem Zimmer sitzen, ein Junge im letzten Jahr seiner Schulzeit. In seinem Rücken schwebte mit riesigen Schwingen der dunkle Schatten des Todesgottes, während Light selbst sich über das aufgeschlagene Death Note beugte. Er notierte Namen um Namen um Namen, sodass sein rechtes Handgelenk schmerzte. Ryuk wollte damals wissen, warum Light so fleißig wäre. Eigentlich war es geschmacklos, von Fleiß zu sprechen, wenn ganze Existenzen mit ein paar Federstrichen ausgelöscht wurden. Aber es musste getan werden. Light konnte nicht mehr damit aufhören. Er musste fortsetzen, was er einmal begonnen hatte. Es ging schließlich darum, eine ideale Welt frei vom Bösen zu erschaffen. Wie viel Zeit er sich auch nahm, wie viele Namen er auch niederschrieb, es würde niemals reichen.

„Es klingt vermutlich zu stark verallgemeinernd, aber ich denke“, fügte Light nach einigen Sekunden des vielstimmigen Schweigens hinzu, „im Gegensatz zum Tier hat der Mensch weit mehr Potenzial, ein Monster zu werden.“

„Aber...“, begann Herr Yagami, ohne recht zu wissen, was er dieser Aussage überhaupt entgegensetzen wollte. Er bemerkte eine Trostlosigkeit und Verlorenheit in den Augen seines Sohnes, die er selten bei ihm sah oder nicht hatte sehen wollen. Umso mehr Zuversicht versuchte er nun in seine Stimme zu legen. „Aber die meisten Menschen sind im Grunde ihres Herzens gut. Seit Jahrhunderten bemühen wir uns, eine schöne, gerechte Welt zu erbauen. Und das ist uns bisher doch ganz gut gelungen.“ Der ältere Mann lächelte und als sein Sohn das Lächeln herzlich erwiderte, atmete er innerlich erleichtert auf.

Nur L sah, dass sich hinter dem Lächeln am Ausdruck in Lights Augen nichts geändert hatte. Warum sagte er dann nichts? Warum stimmte Light seinem Vater mit diesem gutmütigen Schweigen zu, obwohl er offensichtlich, trotz gleicher philanthropischer Einstellung, ganz anders über die gesamte Sache dachte? Es konnte kaum daran liegen, dass er seinem Vater keine Widerworte geben wollte, hatte er das doch schon zuvor in aller Deutlichkeit getan, um seinen Standpunkt zu verteidigen oder einen Sachverhalt zu vermitteln. Missmutig stach L die Gabel in sein Kuchenstück und schob sie sich beladen in den Mund. Im Grunde genommen wusste er ganz genau, warum Light sich so verhielt, und als er nun dessen gedankenversunkene, leere Mimik beobachtete, störte und nervte ihn diese Gewissheit erst recht.

„Es gibt Dinge in der Welt, die sich nie ändern, Yagami-san“, mischte sich L in die scheinbare Übereinkunft von Vater und Sohn ein. „Dinge, die nie ein Ende finden werden, solange wir Menschen das sind, was wir sind. Sie kennen doch sicher jene Flamme, die in Hiroshima als Symbol der Hoffnung für den Frieden entzündet wurde. Sie soll erst verlöschen, wenn die letzte Nuklearwaffe auf der Welt demontiert ist. Was denken Sie, wie lange dieses Feuer wohl noch brennt?“ Fast betreten senkte der Chefinspektor den Blick, sodass sich L an dessen Sohn wandte. „Was denkst du, Light-kun?“

„Ich schätze“, erwiderte dieser, „man sollte schon einmal anfangen, genügend Brennholz zu sammeln.“

 

„Danke, dass du heute Nachmittag für mich Stellung bezogen hast.“ Light sprach seine Worte unvermittelt in die Stille des Raumes. Wie so oft waren L und er die Letzten in der Zentrale des Gebäudes, lediglich begleitet von der stummen Anwesenheit der Todesgöttin. Obwohl es schon spät war und Light wusste, dass alles, was er zurzeit für die angebliche Lösung des Falles unternahm, völlig ohne Nutzen war, blieb er weiterhin an Ls Seite. Er hätte längst gehen können. Stattdessen nippte er an einer Tasse kalten Kaffee, verarbeitete einen endlosen Strom aus unwichtigen Computerdaten und dürstete nach jedem einzelnen Wort seines Freundes.

Doch L antwortete nicht.

Unsicher löste Light seine Aufmerksamkeit von den Dateien und schaute an den Monitoren entlang zur Seite. L saß gelassen auf einem Stuhl, die Beine an den Körper gezogen, den Kopf auf seinen über den Knien verschränkten Armen und die geweiteten Pupillen unverhohlen auf seinen jungen Partner gerichtet. Dieser durchdringende Blick ließ Light innerlich wanken. Bevor er sich zu Gleichmut gemahnen konnte, wandte er sich nervös wieder ab. Er ignorierte das unruhige Schlagen seines Herzens. Und er ignorierte die Frage, die er in Ls Augen lesen konnte: Willst du die Wahrheit wissen?

Nein, er wollte sie nicht hören.

„Auch wenn Kira kein wildes Tier ist“, sagte L nach einigen Minuten des Schweigens, „was meinst du, wie er über das Volk denkt, das er beschützen will?“

Obwohl Light Gefahr lief, damit einen Fehler zu begehen, antwortete er:

„Der Mensch ist durch seine Analytik zu weit mehr Grausamkeit fähig als ein Tier. Sein Einfallsreichtum ist nahezu grenzenlos, zum Beispiel in Bezug auf mögliche Methoden der Folter oder des psychologischen Terrors. Dennoch... Kira rechnet mit Menschen, als wären sie nicht mehr als eine Herde von Schafen.“

„Wie ein leicht lenkbarer Schwarm“, ergänzte L leise, während er neugierig das Gesicht seines Partners beobachtete, welches er derzeit nur im Profil sehen konnte. Traute sich Light etwa nicht, ihm in die Augen zu schauen?

„Kira wird denken“, fuhr Light abwesend fort, „dass der Mensch im Allgemeinen ein Tier ist, das in den Grenzen seiner eigenen Gattung einen Herrn nötig hat. Schafe meinetwegen, die einen Hirten brauchen. Oder Wölfe, die einander zerfleischen würden, wenn man sie nicht in ihre Schranken weist.“

„Damit spricht Kira dem Volk allerdings Individualität, Eigenverantwortung und die Stärke des Geistes ab.“

„Bist du mal wieder dabei, die Seiten zu wechseln, Ryuzaki?“ Spott mischte sich in den ärgerlichen Tonfall von Lights Stimme. „Wie oft wir auch über solche Themen reden, ich weiß immer noch nicht, ob du die Menschheit nun in Schutz nehmen willst oder sie verachtest.“

„Ich glaube, da geht es nicht nur mir so.“

Light ließ mit emotionsloser Miene eine kurze Pause zwischen ihnen verstreichen, in welcher er die Worte überdachte und schlussendlich erklärte:

„Geistigkeit ist das Kennzeichen des Einzelmenschen und widerstrebt wesensmäßig jeder Art von Sozialisierung.“

Mit Genugtuung erkannte L, dass sein Partner zwar seinen Blicken, nicht aber seinen verbalen Angriffen auswich. Sich vom Stuhl erhebend ging er lässig zu Light hinüber, während er dessen Worten, um ihn weiter zu provozieren, in taktloser Formulierung hinzufügte:

„Und darum muss also die Masse dumm sein und dem folgen, was ihr von den wenigen, intelligenten Führern vorgegeben wird. Das willst du doch damit sagen, nicht wahr, Light-kun? Denn nur so können die Menschen glücklich werden.“ L blieb, die Hände in die Hosentaschen geschoben, hinter dem Stuhl seines Ermittlungspartners stehen, doch dieser reagierte nicht darauf. Darum beugte sich der Detektiv mit gekrümmtem Rücken nach vorn, verharrte neben Lights Kopf, den dieser stur geradeaus gerichtet hatte, und sprach dicht an seinem Ohr weiter. „Allein wären sie vollkommen ratlos und wüssten nicht, was zu tun sei. Die Menschen wüssten nicht, was gut für sie ist.“ Nach wie vor zeigte Light keinerlei emotionale Regung. L starrte ihn gebannt aus nächster Nähe an und wartete auf eine Reaktion. Dem Anschein nach gelangweilt meinte dieser plötzlich:

„Du musst mir nicht so auf die Pelle rücken, um eine Antwort zu bekommen, Ryuzaki.“ Ohne sich ihm direkt zuzuwenden, musterte Light den Detektiv gelassen aus dem Augenwinkel. „Die Menschen sind nicht so dumm, wie du sie gerade übertrieben hinzustellen versuchst, nur um von mir eine Reaktion zu provozieren. Ein freies Volk wählt selbst, wem es sich anvertrauen will. Und sofern es wohlberaten ist, wählt es gerade die Besten unter sich aus. Darin liegt das Wohl des Gemeinwesens, zumal die Natur es so eingerichtet hat, dass die sittlich und geistig Überlegenen nicht nur die Schwächeren beherrschen sollen, sondern dass diese jenen sogar gehorchen wollen.“

„Und wie weit dürfen die Stärkeren für das sogenannte Wohl des Gemeinwesens gehen, Light-kun?“

„Du sprichst auf das an, was mein Vater heute Nachmittag gesagt hat, oder?“ Light verschränkte gelassen die Arme ineinander, während sich in seinen gleichgültigen Augen nur das Licht der Monitore widerspiegelte. „Aus Unrecht entsteht kein Recht. Doch was ist mit dem Urteil des Staates? Ist Gefängnis nicht eigentlich Freiheitsberaubung und somit auch eine unrechte Tat? Ist die Todesstrafe nicht ungerecht? Es gibt genügend Leute, die für die Hinrichtung von Kinderschändern plädieren, auch wenn das Töten einer Person wiederum Unrecht sein müsste. Wenn aber der Staat und das Volk es einstimmig wollen, ist es dann trotzdem schlecht und böse? Wozu bezeichnet man diese Tat dann als vom Richter gefälltes Urteil und nennt es rechtskräftig und gut? Erwarte nicht von mir, dass ich Mitleid mit Kira habe und es als Unrecht gelten ließe, wenn man ihn tötet.“

Diese Offenlegung und die fortwährend abweisende Haltung reizten L. Er suchte mit weit geöffneten Augen nach Rissen in Lights Maske, wenngleich dessen Worte ihm ohnehin schon genug verrieten. Allerdings ließen Ungeduld und Aufregung, die sein Hauptverdächtiger unentwegt in ihm schürte, L nach mehr verlangen. Entschlossen drehte er dessen Stuhl zu sich herum, stützte sich beidseitig auf den Lehnen ab und beugte sich zu Light herunter. Jetzt konnte dieser ihm nicht mehr ausweichen. Ungerührt erwiderten jene kühlen braunen Augen seinen bohrenden Blick.

„Wer darf denn darüber entscheiden?“, fragte L eindringlich. Im Laufe seiner folgenden Ausführung forschte er in dem schönen Gesicht nach jedem Anzeichen von Instabilität in der perfekten Fassade. „Wer hat das Recht, über die Frage zu entscheiden, was gut und was böse ist? Vergewaltiger und Mörder werden von den Menschen am meisten verurteilt. Es gibt Verbrecher, die sich an kleinen Kindern vergreifen, sie sexuell missbrauchen und danach töten. Niemand kann in die Köpfe dieser Menschen sehen und wissen, ob einer von ihnen vielleicht nur pädophil ist und sich sein Leben lang dafür geschämt hat, erregt zu sein, sobald er das Kind seiner Nachbarn im Garten spielen sah. Sein Leben lang hat er vielleicht dagegen angekämpft, konnte sich seine Neigungen nicht eingestehen und litt unter etwas, das einfach als eine Krankheit zu definieren ist, für die niemand die Schuld trägt. Und irgendwann, nach all den Jahren, in denen er von seinem eigenen Leben erdrückt wurde, läuft dieser Mensch abends an einem Spielplatz vorbei, sieht einen kleinen Jungen und verliert im nächsten Moment die Kontrolle. Als der Verstand sich wieder einschaltet, sieht er dieses Kind unter sich, schmerzgeplagt, einem Stück Stoff im Mund, völlig nackt und zitternd. Und er bekommt Angst, nein, Panik... und legt seine Hände um den Hals des Kindes. Er empfindet keine Lust, keine Genugtuung, keine Freude daran, einem anderen Menschen so sehr wehzutun. Fast ist er froh, als ihm die Polizei schließlich die Handschellen anlegt. Von diesem Moment an schwört er sich, alles Erdenkliche zu tun, um sich und den Menschen in seiner Umgebung, die dasselbe Problem haben, zu helfen, damit so etwas nicht noch einmal geschieht. Er will fortan die Welt verbessern und gegen das Böse ankämpfen, das einen Menschen unwillentlich schlechter macht, als er eigentlich ist. Was nun, Light-kun?“

In gespielter Betroffenheit senkte jener für einen Moment die Lider. Als Light sie wieder öffnete, um zu dem Detektiv hinauf zu schauen, antwortete er trübsinnig und dennoch eiskalt:

„Dann wird er sicher auch froh sein, von seinen Qualen und seiner Schuld durch den Tod erlöst zu werden.“

Leviathan

Leviathan

 

Stumm harrte die Todesgöttin in einer düsteren Ecke des Raumes aus. Sie vernahm mit wenig Interesse die Auseinandersetzung der beiden Gegner, eines von vielen Streitgesprächen unter den etlichen Diskussionen und Unterhaltungen, die sie immer und immer wieder führten. Was hatten die Menschen nur davon, permanent im Konflikt miteinander zu stehen? Die Anspannung zwischen jenen zwei hier anwesenden Kontrahenten war ständig greifbar, zumindest seitdem Rem den Situationen beiwohnte. Sicher war es davor nicht anders gewesen. Wie hielten sie das nur aus? War es nicht ermüdend? Zermürbend?

Rem war nicht mehr gewillt, an den komplizierten Gefechten zwischen L und Kira teilzuhaben. Sie mochte keinen von beiden. Yagami Light hasste sie mittlerweile sogar. Misa hingegen war so erfrischend ehrlich. Ihre Liebe war echt und nicht von Hass verfälscht.

Als die Todesgöttin durch die Wand in ein Nebenzimmer glitt, blieb ihre Abwesenheit vollkommen unbemerkt, denn keiner der beiden achtete auf ihr Verschwinden. L und Light waren zu sehr voneinander vereinnahmt. Ungebrochen sahen sie sich herausfordernd in die Augen, der Meisterdetektiv vorgebeugt und auf die Stuhllehnen rechts und links von seinem Partner gestützt. Nach einer Weile richtete er sich jedoch auf und reagierte mit einiger Verzögerung auf Lights vorige Aussage.

„Vielleicht.“ L ging zwei Schritte rückwärts und schob die Hände erneut in seine Hosentaschen. „Aber das sollte jeder selbst entscheiden dürfen.“

„Du kannst niemanden selbst entscheiden lassen“, widersprach Light. Er blieb zurückgelehnt sitzen, mit verschränkten Armen und einem ernsten Gesichtsausdruck, den er nun ganz offen zeigte. „Sonst würden wir in einer Anarchie leben. Wir brauchen Gesetze und ein Justizwesen und Menschen, die entscheiden, was mit einem Verbrecher geschieht. Unsere Anwälte versuchen zwar die Hintergründe in einer Art zu vermitteln, dass mildernde Umstände durchaus in Betracht gezogen werden können, aber Ungerechtigkeit ist keine Farce oder Illusion, sondern ein Teil der menschlichen Geschichte und Persönlichkeit. Verbrecher werden zu Recht verurteilt, in manchen Ländern, wie bei uns hier in Japan, sogar zum Tode. Wenn unser System so entscheidet, muss ein Verbrecher sich fügen. Er kann ohnehin nicht entkommen. Und auch diese Entscheidung wäre dann vom Menschen gemacht und ist fehlbar.“

„Inwiefern ist Gewaltanwendung für die Gerechtigkeit denn zu billigen? Die Maxime, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist sicherlich eine mögliche Form davon, allerdings...“ L wandte den Kopf zur Seite, in Richtung der Front aus zahlreichen Monitoren. In ihrem künstlichen Licht, das in die Dunkelheit geworfen wurde, wirkte seine ganze Gestalt noch farbloser als sonst. „Wie ich bereits sagte, dann müsste Kira einen tausendfachen Tod sterben. Die Begriffe von Recht, Gerechtigkeit, Urteil und Strafe sind im Wesentlichen miteinander verknüpft, doch beinhalten sie mitunter sehr differierende, sogar gegensätzliche Bedeutungen. In den seltensten Fällen entsteht die Gültigsprechung eines Rechtsverhalts aus voriger Überlegung und Präjudiz, sondern eher aus Reflexion und Konvaleszenz.“ Schweigend lauschte Light den Worten des Meisterdetektivs, die wie zumeist vom surrenden Geräusch der Computerprozessoren aus dem Hintergrund begleitet wurden. Manchmal redete L so verworren und konfus, dass selbst Light daran zweifelte, ob das Gesagte überhaupt Sinn ergab. Häufiger jedoch war alles, was er äußerte, klar strukturiert und gut verständlich, solange man in der Lage war, ihm zu folgen. Mehr noch als Inhalt und Deutlichkeit seiner Worte mochte Light allerdings den ruhigen Klang von Ls tonloser Stimme.

Seinerseits auf den Detektiv fixiert, wie es jener wenige Minuten zuvor noch umgekehrt auf ihn war, gab Light zur Antwort:

„Ob man einen Verbrecher mit dem Tode bestraft und ob es richtig ist, das zu tun, wird durch den Staat entschieden, der diese Art der Strafe billigt. Hast du nicht selbst gesagt, du wolltest Kira zum Schafott geleiten, Ryuzaki?“

„Ja, in der Tat, das habe ich gesagt.“ L zog eine Hand aus der Hosentasche und legte nachdenklich einen Finger an die Lippen, während er hinab auf einen der Computerbildschirme starrte, als wäre dort mehr zu sehen als jene aus den Nachrichten und der NPA-Datenbank zusammengestellte Liste aller bisher verschonten Verbrecher. Unbewusst heftete Light seinen Blick auf den Daumen, mit dem sich L gedankenversunken über die Unterlippe strich. „Erinnerst du dich auch daran, was ich dir geantwortet habe, als du mich vor einigen Wochen darauf angesprochen hast? Du meintest damals, dass dich mein Vorgehen ziemlich beeindruckt hätte.“

Light entsann sich genau. Er hatte dies seinem Partner zugestanden, weil er zu dem Zeitpunkt nicht wusste, dass er durch die genannte Ankündigung und Bloßstellung bei jener lange zurückliegenden Fernsehübertragung mehr gedemütigt worden war als jemals zuvor. Und das von einem Menschen, den er damals noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, geschweige denn persönlich kannte.

„Ich erinnere mich“, offenbarte Light in ruhigem Ton. „Provokation. Mehr hast du dazu nicht gesagt.“

„Erstaunlich, dass dir das so gut im Gedächtnis geblieben ist.“

„Wieso sollte es nicht?“ Light senkte irritiert die Brauen. „Deine Strategie in diesem Fall war von Beginn an provokativ, wahrscheinlich weil du Kira zum Agieren bewegen wolltest, um ihn aufspüren zu können.“

„Das stimmt“, gestand L geistesabwesend, den eindringlichen Blick seines Partners nicht bemerkend. „Das habe ich gerade eben aber nicht gemeint. Ich wollte nicht auf meine Antwort dir gegenüber ansprechen, sondern auf meine Wortwahl bei der damaligen Fernsehübertragung.“ L wirkte in sich gekehrt, als er sich nun über die trockenen Lippen leckte und mit der Hand nachdenklich durch sein dichtes, schwarzes Haar fuhr. Light zwang sich, zur Seite zu schauen, spähte jedoch kurz darauf erneut in das Gesicht des anderen Mannes, betrachtete die Linie seines Kinns, den Hals, die leichte Erhebung des Kehlkopfs und Ls Schlüsselbein, welches unter dem Kragen des weißen Oberteils verschwand und nur noch sacht als Schatten zu erkennen war. Sich abwendend griff Light nach seiner Kaffeetasse, um einen Schluck daraus zu trinken, bevor er sie wieder vorsichtig abstellte. „Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis ich dich zum Schafott geleiten darf.“ Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, als L aus dem Augenwinkel zu ihm hinüberschaute. „So habe ich Kira damals provoziert und daran konntest du dich noch gut erinnern, Light-kun.“

„Wie gesagt“, gab dieser leise, unterschwellig sogar auf bedrohliche Art zurück, „das hat wohl ziemlich Eindruck bei mir hinterlassen.“

„Wirklich?“, fragte L monoton, ohne dass es nach einer ernst gemeinten Frage klang, nicht einmal so, als hätte er die Worte des Anderen tatsächlich vernommen. Er senkte die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Tischplatte vor dem Computerbildschirm, welchen er nun erneut versunken anstarrte. Light folgte jener Bewegung mit den Augen. Die Ärmel von Ls Oberteil waren relativ knapp bemessen, sodass außer der sehnigen Hand mit den langen Fingern auch sein dünnes Handgelenk und bis zum Saum die helle Haut des restlichen Armes zu sehen war. „Über alles Folgende mache ich mir keine großen Gedanken, Light-kun. Wenn ich an einem Fall arbeite, will ich ihn erfolgreich beenden, indem ich den Täter dingfest mache. Es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu bestrafen. Und eigentlich interessiert mich das auch gar nicht, weil es mir nur darauf ankommt, das Problem zu lösen.“ Während er L zuhörte, ließ Light seinen Blick dessen Arm hinauf wandern, über die knochigen Schultern und entlang an den Stofffalten seiner viel zu weiten Kleidung, die den schlanken, drahtigen Körper nur erahnen ließ, der sich darunter verbarg. Light schaute zu Boden, nahm dann seine Kaffeetasse erneut auf und nippte daran, während er sich auf Ls Worte zu konzentrieren versuchte. „Es liegt keineswegs an Skrupeln oder falschem Mitgefühl, falls du das denkst, Light-kun, sondern allenfalls an einer ethischen Analyse meinerseits. Ich halte die Todesstrafe nämlich nicht für eine Bestrafung im eigentlichen Sinne. Schließlich soll eine Strafe bewirken, dass sich das Verhalten einer Person ändert. Der Tod raubt dem Menschen jedoch all seine Möglichkeiten, jede Chance zur Besserung. Wieso sollte jemand darüber urteilen dürfen, was Verbrecher empfinden, ob sie vielleicht ihre Taten bereuen oder ob sie einen guten Grund dafür hatten? Meines Erachtens ist das keine Strafe, sondern Rache und Selbstherrlichkeit.“

Light suchte eine vielleicht weit tiefergehende Bedeutung hinter Ls Worten, fand jedoch nur die Unergründlichkeit seiner pechschwarzen Augen. Die darunter liegenden dunklen Schatten zeugten von Müdigkeit, nichtsdestotrotz verminderten sie die Ausstrahlung des Meisterdetektivs in keiner Weise. Ungewollt erinnerte sich Light daran, wie dünn und weich sich Ls Haut an dieser Stelle angefühlt hatte. Er räusperte sich, stellte mit Sorgfalt seine Tasse neben der Tastatur ab und erwiderte dann bedacht:

„Nein, es geht nicht um Bestrafung, sondern um den Druck auf die allgegenwärtige Präsenz von verbrecherischem Potenzial. Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit in Zukunft nicht gefehlt werde.“

Eine Pause verstrich, bis L eine Vermutung äußerte, die er schon seit längerem hegte, noch immer ohne seinen Hauptverdächtigen dabei anzusehen.

„Kira versteht es als Notwendigkeit, einen Gott zu mimen, weil die Menschen einen Führer oder Gott haben wollen. Es war für ihn von höchster Bedeutung, dass man seine Anwesenheit bemerkte. Wahrscheinlich hat er deshalb, obwohl ihm mit dem Death Note zahllose, unauffälligere Varianten des Tötens zur Verfügung standen, die Verbrecher größtenteils durch Herzversagen sterben lassen, um ein Zeichen zu setzen und auf sein Tun aufmerksam zu machen.“ In Lights Innerem verbreitete sich Aufregung, eine Gänsehaut jagte über seinen Nacken, als er vernahm, wie präzise L seine Gedanken erriet. „Stillschweigende Urteilsvollstreckungen hätten keinen Nutzen besessen. Hingegen fungieren die Morde, durch das Wissen um einen vermeintlichen Gott, als zu erwartende Sanktion. Kira benutzt seine eigene Identität, die Bedrohung durch einen Massenmörder, als prophylaktische Maßnahme.“

„Wenn man dich so reden hört“, meinte Light mit einem atemlosen Lächeln und um Fassung bemüht, „könnte man meinen, du wärst auf seiner Seite.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Light-kun.“ Ls Stimme klang gleichgültig, doch sein Freund kannte ihn zu gut, um nicht die Ironie darin herauszuhören. „Kira achtet zwar sehr genau darauf, gerecht zu handeln und nur diejenigen zu töten, die es verdient haben, aber wenn etwas oder vielmehr jemand seinen Plan gefährdet, kann er auch ziemlich erbarmungslos sein.“

„So wie L“, rutschte es Light heraus. Er sah, wie der Detektiv jetzt, ohne dass er den starren Blick von den Verbrechernamen auf dem Computer abwandte, ganz leicht und bitter lächelte. Dieser Gesichtsausdruck verwirrte Light. Warum wirkte L so, als plagte ihn ein Schmerz, gegen den er nichts ausrichten konnte? Light betrachtete das nur dem Anschein nach emotionslose Gesicht des Detektivs. L wirkte so blass, seine gekrümmte Gestalt so erschöpft, dass Light für einen kurzen Moment den absurden Wunsch verspürte, aufzustehen und seinen Freund festzuhalten, damit er nicht fallen konnte. Zum wiederholten Mal langte Light nach der Kaffeetasse, obwohl er wusste, dass sie längst leer war. Zu seinem eigenen Erstaunen versuchte er mit seinen folgenden Worten L aufzumuntern. „Obwohl es manchmal gegen meine Moral verstoßen hat, haben uns deine unkonventionellen, meinetwegen auch erbarmungslosen Methoden oft vorangebracht. Sonst hätten wir vielleicht gar nichts erreicht, die Opferzahl hätte am Ende sogar noch höher ausfallen können. Selbst ich kann das nicht leugnen, Ryuzaki.“

„Der Zweck heiligt also doch die Mittel?“

Light fragte sich, ob er in eine Falle getappt war. Trotzdem erwiderte er:

„Wovon die Bürger eines Staates gelenkt werden, das ist das Kollektiv. Jeder ist nur ein Teil der verschiedenen Instanzen, so wie L zum Beispiel ein Teil der Gerechtigkeit ist, selbst wenn diese Instanz von einer Einzelperson verkörpert wird. Im Kollektiv entfällt die individuelle Einstellung, also auch die Frage nach dem fehlenden Mitleid eines Einzelnen. Kennt denn der Frost des Winters Erbarmen oder die Schwerkraft? Natur und Leben treten immer als Richter auf, doch sie wurden bisher noch nicht verurteilt. Genauso sagt man, Gottes Wege seien unergründlich und niemand soll in diesem Fall und im Glauben an das Gute von Ungerechtigkeit sprechen dürfen. In der Gesellschaft gleicht der Wille des Volkes einer Naturgewalt. Auf sich allein gestellt sind Menschen viel zu egoistisch, um sich nicht gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.“

Schmunzelnd schüttelte L den Kopf, legte ihn dann schief und erwiderte endlich den Blickkontakt, womit er das unangenehm intensive Kribbeln in Light weiter verstärkte.

„Egoismus kommt demnach vor der Nächstenliebe, nicht wahr, Light-kun? Wie heißt es so schön? Erst das Fressen, dann die Moral. Aber meinst du denn, dass eine Welt, die auf Angst basiert, besser ist als eine, die auf das zwar fehlbare, jedoch vertrauensvolle Mitleid der Menschen baut?“

„Gerade du redest von Vertrauen?!“ Light war aufgestanden, knallte dabei seine Tasse viel lauter auf den Tisch als gewollt und begegnete auf gleicher Höhe seinem Feind oder Freund oder was auch immer L für ihn war. „Gerade du mit deiner Vorsicht und Distanz, zurückgezogen hinter deinen persönlichen Grenzwall, weil du genau weißt, dass unsere menschliche Gesellschaft ein Schlachtfeld ist, auf dem nur der Stärkere gewinnt und die Schwächeren untergehen!“ Erstaunt starrte ihn L mit weit aufgerissenen Augen an, doch Light vergaß völlig, seinen Worten rechtzeitig Einhalt zu gebieten. „Du weißt doch genau, dass ich Recht habe! Wir Menschen befinden uns in einem ständigen Kriegszustand. Jeder ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht und wird von Angst, Misstrauen, der Gier nach Ruhm und der gegenseitigen Konkurrenz getrieben. Alles andere wäre bloß Selbstbetrug. Man kann nicht an den Verstand oder das Mitleid der Menschen appellieren. Die Angst muss alle anderen Gefühle überragen, um wahres Glück zu erlangen. Die Angst vor Sanktionen, vor der ungewissen Bestrafung treibt den Menschen dazu, nicht ausschließlich nach seinem eigenen Vorteil zu handeln. Er hält sich an Regeln und seine vermeintliche Moral. Die Vernunft sagt uns letztendlich, dass ein Zusammenleben klüger ist. Den Rest erledigen gutmütige Gefühle, die heutzutage nur noch wenige schwache Menschen in ihrem Inneren tragen. Das sind diejenigen, die immer den Kürzeren ziehen, die von der Gesellschaft wegen fehlender Skrupellosigkeit ausgeschlossen werden, und diese Menschen muss man beschützen vor der Ungerechtigkeit, die sich immer mehr überall Bahn bricht. Was ist Staatenbildung denn anderes als Gewalt und bloße Willkür? Kira hat das Kind nur beim Namen genannt.“

Lights übliche kühle Beherrschung hatte sich im Laufe seines Redeschwalls in ein seltsames Gemisch aus Zorn, Euphorie und Verzweiflung verwandelt. Jedoch wich die Eindringlichkeit seiner Rede nun, da er seine Worte zu einem Abschluss brachte, einem kaum wahrnehmbaren Erschrecken darüber, wie viel er soeben von sich preisgegeben hatte.

Derweil beobachtete ihn L voller Faszination und begeisterter Neugier. Jetzt zeigte sich auf seinen Lippen ein kleines Lächeln, während er einen Finger an den Mund legte und sagte:

„Willkommen zurück, Mr. Hyde.“

Lights Herz raste. Warum war das plötzlich geschehen? L hatte ihn doch gar nicht derart stark provoziert, dass es einen solchen Ausbruch gerechtfertigt hätte. Oder etwa doch?

„Du hast so oft von mir gefordert, mich in die Rolle von Kira hineinzuversetzen“, hörte Light sich mechanisch erklären. Er schüttelte dazu entschuldigend den Kopf und lächelte schwach. „Ich versuche nur, dir zu helfen, Ryuzaki.“ Light hatte selten eine so bescheuerte Begründung aus seinem eigenen Mund gehört. Ob L ihm das wohl abkaufte? „Ich glaube, ich bin wahrscheinlich einfach müde“, fügte er hinzu und wich jenen durchdringenden schwarzen Augen aus. „Am besten, ich mache für heute Schluss mit der Arbeit.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Es ist ja auch schon spät. Du solltest ebenfalls nicht mehr so lange wach bleiben, Ryuzaki.“ Eigentlich wusste Light gar nicht, wie spät es war, weil ihm die Zeigerstellung auf dem Ziffernblatt irgendwie unverständlich vorkam.

Nur ein letztes Mal noch an diesem Abend. Nur ein paar Sekunden musste er es noch durchstehen und die Nähe zu L aushalten. Light überwand sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Und obwohl es ihm die Kehle zuschnürte und in seinem Inneren Tumult herrschte, setzte er eine gleichmütige, freundliche Miene auf und verabschiedete sich.

„Wir sehen uns dann morgen.“

Damit wandte er sich um und verließ mit ruhigen Schritten den Raum. Er bekam nicht mit, dass L hinter ihm leise sagte:

„Lauf ruhig weg, Light.“

 

Er musste sich entziehen, brauchte Abstand von dieser verdammten, aufdringlichen Person mit dem schwarzen Haar und der blassen Haut. Bedächtig zog Light die Sicherheitskarte durch den Schlitz der Entriegelung. Daraufhin erklang jener bekannte Signalton. Er öffnete die Tür, trat hindurch und schloss sie geruhsam hinter sich.

Endlich war er wieder in seinem Zimmer. Endlich war er wieder allein.

Ein paar Schritte ging Light in den Raum hinein, dann blieb er in dessen Mitte stehen. Zwanghaft versuchte er seine Atmung zu beruhigen, tief und langsam ein- und auszuatmen. Die Knöchel seiner Hände schmerzten, weil er sie zu Fäusten geballt hatte. Er hob sie an, um sie betrachten zu können, und bemerkte auf den Innenflächen die Abdrücke von Fingernägeln. Seine Hände zitterten noch immer.

Hinter ihm ertönte das grelle Signal der Türentriegelung. Vor Entsetzen straffte sich Lights Rücken, seine Augen weiteten sich, sein Atem stockte, doch drehte er sich nicht um.

„Light-kun, eines wollte ich noch gern wissen.“

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht einfach in mein Zimmer kommen“, raunte jener unheilvoll und merkte gleichzeitig, dass er wie ein Kind klang. Warum konnte ihn dieser Bastard nicht einfach in Ruhe lassen?

„Erinnerst du dich daran, was du vor mehreren Wochen zu mir gesagt hast?“, überging L den Protest ungerührt. „Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist.“

Light öffnete den Mund, um langsam und geräuschlos Luft holen zu können. Durch die Unterdrückung seiner Atmung pochte sein Herz schmerzhaft hektisch gegen seine Rippen wie ein eingesperrter Vogel. Er schloss kurz die Augen, versuchte vergeblich die Anspannung seines Körpers zu lösen und drehte sich dann genervt herum.

„Ja, was ist denn damit? Ryuzaki, müssen wir das wirklich jetzt noch besprechen?“

„Ich wollte dich nur darauf hinweisen“, erklärte L gelassen und schob seine Sicherheitskarte zurück in die Hosentasche, „dass das auch im Umkehrschluss zutrifft.“ Nervös beobachtete Light, wie sich die Fingerspitzen des Anderen ganz sacht auf das Material der Tür legten und diese allmählich von innen zudrückten, bis sie mit einem verhaltenen Klacken im Schloss einrastete. „Wer die Wahrheit nicht kennt, Light-kun, der kann auch nicht lügen.“

„Es reicht“, hörte sich Light sagen. L wusste es, wusste es ganz bestimmt. Er war durch seine Kombinationsgabe und die tausend verräterischen Anzeichen seines Hauptverdächtigen darauf gestoßen, dass dieser seine Erinnerungen verloren haben musste. Und er wusste mit Sicherheit auch, dass Light heute wieder wie damals derjenige war, für den er ihn von Anfang an hielt. „Ich weiß, worauf du hinauswillst, Ryuzaki.“

Mit gesenktem Kopf starrte Light den Meisterdetektiv bedrohlich aus seinen braunen Augen an und setzte sich in Bewegung, bevor er sich zu Besonnenheit ermahnen und davon abhalten konnte. Er sah die Überraschung in den sonst tot erscheinenden Augen, während er L an den Schultern packte und zurückdrängte. Jener gab einen kurzen Laut des Schmerzes von sich, als er rückwärts gegen die Kommode gestoßen wurde, an deren Kanten er sich reflexartig festhielt. L beugte sich nach hinten, dennoch kam Light ihm gefährlich nahe, hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest und sagte ihm mit kalter Stimme direkt ins Gesicht:

„Ja, ich bin Kira.“

Mit offenen Karten

Mit offenen Karten

 

„Das ist es doch, was du hören willst, nicht wahr?“, fragte Light mit schroffer Stimme, Schmerz und Wut im Gesicht tragend. „Wie fühlt sich das an, L? Soll ich dir helfen, dich selbst zu belügen, weil du dir einen falschen Schluss nicht eingestehen kannst?“ Erleichtert stellte Light fest, dass ihm seine Gefühle dabei halfen, den Verlust seiner Beherrschung durch jugendlichen Leichtsinn zu erklären. Er hatte schon früher, in der erinnerungslosen Zeit, unbesonnen gehandelt und Dinge gesagt, die ihn als Kira hätten entlarven können. Und selbst L musste erkennen, dass seine momentane Verzweiflung nicht gespielt, sondern echt war.

Während Light erhitzt den Leib seines Freundes mit seinem eigenen gegen die Kommode drängte, stemmte L zwar aus Schreck, soweit es ihm möglich war, seinen Oberkörper nach hinten, darüber hinaus wehrte er sich allerdings nicht gegen die ihm aufgezwungene Nähe. Etwas anderes hätte Light auch gar nicht erwartet. Der Detektiv hatte ihm oft genug gezeigt, dass er in Kauf nahm, fast jede Reaktion geschehen zu lassen, wenn er selbst sie provoziert hatte. Wie weit wäre L wohl bereit zu gehen? Unwirsch schob Light den vielfach gedachten Gedanken beiseite.

„Ich hätte von dir wirklich mehr erwartet“, meinte er seufzend, wobei er seinen Worten einen herablassenden Tonfall beimischte. Er löste seine Hände, strich stattdessen flüchtig mit ihnen Ls Wangen hinab, um nur für einen kurzen Moment diese blasse Haut zu spüren, anschließend legte er zaghaft seine Handfläche auf dessen Brustkorb. Light konnte unter seinen Fingern die feinen Rippen spüren und die Wärme, die von dem fremden Körper ausging. Zugleich nahm er irritiert wahr, wie sich Ls Brust aufgrund seiner schweren Atmung deutlich hob und senkte. Hatte der Übergriff ihn so sehr erschreckt? Außerdem fühlte Light mit leichter Bestürzung, wie auch das Herz seines Freundes schnell und heftig schlug.

Sofort drückte sich Light von ihm weg und ging taumelnd einen Schritt zurück, wobei er sich darum bemühte, mit seinen folgenden Worten geringschätzig und distanziert zu klingen.

„Du enttäuschst mich. Warum bist du so besessen von dem Gedanken, ich sei Kira?“

Bevor Light sich vollständig entziehen konnte, packte L ihn am Handgelenk und zog ihn wieder zu sich heran. Seine großen schwarzen Augen fixierten Light gebannt. Dieser ließ sich von dem Blick, der ihn innerlich erschütterte, in Beschlag nehmen und entwaffnen.

„Besessen?“, wiederholte L das Wort, als würde er verblüfft etwas begreifen. „Das trifft es schon relativ gut. Aber nicht von einem Gedanken, sondern eher von einer Person.“

Ruckartig wollte sich Light von ihm losmachen, doch die Umklammerung war so fest und schmerzhaft, dass seine Hand durch mangelnde Blutzufuhr taub wurde. Dennoch versuchte er sich zu entwinden, wobei sein schönes Gesicht nicht wie sonst ernsthaft und kühl wirkte. Es offenbarte vielmehr ganz ungeschminkt seine Fassungslosigkeit und Panik.

„Was soll das denn?“, wollte Light verärgert wissen. „Lass los.“

Keine Antwort folgte oder eine der Aufforderung nachkommende Reaktion. Light fühlte den Pulsschlag in seinen kalten Fingern. Unwillkürlich fiel ihm jene Assoziation auf, dass L sein Handgelenk derart eisern umschloss, wie es einstmals über mehrere Wochen die Handschellen getan hatten. Und erneut konnte er sich nicht von ihm befreien. Erneut machte L es ihm unmöglich, zu entkommen.

Aufgewühlt ging Light zum verbalen Angriff über.

„Willst du denn immer so weitermachen, Ryuzaki, mit deinen Machtspielchen und Hinterfragungen? Merkst du denn nicht, dass...“ Unbeabsichtigt versagte Light die Stimme. Er versuchte zu schlucken, doch fühlte es sich so an, als würde L nicht nur sein Handgelenk, sondern auch seine Kehle umklammern.

„Was, Light-kun? Was soll ich merken?“

„Dass...“ Angestrengt holte Light Luft, überdachte den Beginn seiner nächsten Aussage, um danach noch einmal zum Sprechen anzusetzen. „Dass du irgendwann allein sein wirst, wenn du so weitermachst?“ Reglos standen sie einander gegenüber, trotz minimalem Körperkontakt die Nähe des Anderen überdeutlich wahrnehmend. „Ryuzaki, du hast mir eröffnet, ich wäre dein erster und einziger Freund gewesen, falls das überhaupt je ernst gemeint war. Keine Sorge, du musst mir nichts mehr vormachen. Ich habe verstanden. Vielleicht habe ich es schon damals gewusst und bin einfach nur zu blauäugig oder engstirnig gewesen, um es zu akzeptieren. Ich war so ein Idiot und habe mich inständig darum bemüht, es wirklich zu sein. Ich wollte dieser eine Freund für dich sein. Aber es war niemals echt. Es war alles nicht wahr.“ Light senkte den Kopf und fragte sich, ob das, was er gerade sagte, eine Lüge war. „Ich wollte es nicht wahrhaben. Und trotzdem frage ich mich jetzt nur noch, wenn das stimmt, wie war es dann davor?“

Als er den Blick wieder hob und seinen Partner offen ansah, wirkten seine braunen Augen einfühlsam und gutmütig. Der Griff um sein Handgelenk hatte sich gelockert, doch machte Light keine Anstalten mehr, sich daraus zu befreien. Er würde schon beizeiten von allein freigegeben werden. Er hatte alles unter Kontrolle und besaß noch einige Trümpfe, die er ausspielen konnte.

„L, du bist fünfundzwanzig Jahre alt, oder?“ Da er keineswegs damit rechnete, von dem Meisterdetektiv eine Antwort zu erhalten, fuhr Light sogleich fort. „Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Aber sag mal, was hast du in den ganzen Jahren denn getrieben, dass du mir gegenüber behauptest, ich sei dein erster Freund gewesen? Ist es etwa möglich, dass es für dich noch nie anders war?“ Light setzte ein mitleidiges Lächeln auf. „Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, Ryuzaki oder Ryuga oder wie du dich auch nennen willst, warst du schon immer allein, kann das sein? Du hattest niemanden.“

„Wer war denn Zeit seines Lebens allein?“, erwiderte L unbeeindruckt und ließ den Anderen los. „Bist du sicher, dass du nicht gerade von dir selbst redest, Light-kun?“

„Ich bin nicht...“, verneinte dieser empört. „Ich war noch nie...“, startete er einen neuen Versuch, wandte den Kopf zur Seite und lächelte unsicher. „Was redest du nur für einen Unsinn, Ryuzaki? Ich war doch schon immer...“

„Gesellschaftstauglich?“, fragte L belustigt, aber mit Nachsicht. Er schob die Hände zurück in seine Taschen und beugte sich in gekrümmter Haltung ein wenig nach vorn, um seinem jungen Partner von unten in das verschlossene Gesicht blicken zu können. Jetzt trat L beinahe unbekümmert auf. „Was ist, Light-kun? Wollen wir mit offenen Karten spielen?“

„Verschon mich.“ Light machte eine abweisende Geste mit der Hand, als wollte er einen Schwarm Fliegen verscheuchen, und drehte sich um. „Wenn es unbedingt sein muss, dann geh mir morgen damit auf die Nerven. Wahrscheinlich will ich es sowieso nicht hören.“

„Ich fand dich vom ersten Moment an interessant“, offenbarte L freimütig, die Bemerkung seines Partners ignorierend, „schon als ich dich nur auf dem Bildschirm beobachtet habe.“

Es versetzte Light einen Stich, doch merkte man ihm kaum eine Gefühlsregung an, als er schlicht entgegnete:

„Schön für dich.“ Mit sorgfältig bemessenen Schritten ging er zum Schrank hinüber und schlüpfte bedächtig aus seinen ordentlich geputzten Schuhen, unerschütterliche Gelassenheit vortäuschend. Eigentlich hätte er sich jetzt lieber im Badezimmer verbarrikadiert. Wenigstens dort wäre er vor der Zudringlichkeit seines Partners sicher gewesen.

Als L sich nun erläuterte, klang seine Stimme an der Oberfläche derart ruhig und gelassen, wie es typisch für ihn war. Bei genauerem Hinhören allerdings konnte Light unterschwellig eine emotionale Färbung ausmachen, die ihn beunruhigte.

„Was für ein schlauer Junge, dachte ich damals, so vorbildlich in seinem Verhalten, so liebenswert und selbstsicher und vollkommen unnahbar. Du warst der erste Mensch, den ich nicht nur auf dem Papier analysieren wollte. Ich wollte dich persönlich treffen, dich kennen lernen.“ Light kam es vor, als würde sich das schmerzhafte Pochen in seiner Brust mit jeder Sekunde, mit jedem Wort seines Freundes verstärken, obwohl er das kaum für möglich gehalten hätte. Er war vor dem Kleiderschrank stehen geblieben, rührte sich nicht und bemerkte mit versteckter Furcht, dass L im Weitersprechen von hinten auf ihn zukam. „Mit jedem deiner intelligenten, verflucht berechnenden Sätze und dem dazu im Gegensatz stehenden kindlichen Ehrgeiz und Siegeswillen hast du mich mehr fasziniert.“

Viel zu nah blieb L in seinem Rücken stehen und sagte, nach einer kurzen Pause, vorgebeugt und dicht an seinem Ohr:

„Es stimmt, ich täusche dich, ich benutze dich und ich glaube dir nicht. Ich will gegen dich kämpfen. Aber ich will auch wirklich dein Freund sein. Du bist selbst schuld, Light. Du hast mir zu viel von dir gezeigt.“

„Lass mich endlich in Ruhe.“ Lights Stimme klang drohend. „Ich will das nicht hören. Geh einfach.“

„Ich fange sogar schon an Witze zu erzählen, nur um dich aus deiner Ernsthaftigkeit heraus lachen zu hören.“

„Als würde ich das sonst nicht tun“, meinte Light in tonlosem Spott. Von Angst gelähmt registrierte er, wie L die Arme rechts und links an seinem Körper vorbei anhob, um sich am Kleiderschrank abzustützen. Auf diese Weise glaubte Light erst recht, er würde in die Enge getrieben und jeder Aussicht auf Flucht beraubt werden.

„Nein“, wies L entschieden ab, „ich meine nicht dieses glasklare Lachen, das genau wie der Rest deiner ganzen zuvorkommenden Freundlichkeit sozialkompetent, warmherzig und unglaublich anziehend erscheint. Dein Auftreten ist zu perfekt, um echt zu sein.“

Light versuchte, sein inneres Beben nicht nach außen zu tragen. Er wusste, dass er seine sowohl geistige als auch emotionale Erschütterung erfolgreich kaschierte und man ihm äußerlich kaum etwas anmerken konnte. Doch wie lange hielt er das noch aus?

„Was denkst du denn, warum ich dich immer wieder provoziere?“, vernahm er, neben all den anderen unangenehmen Aussagen, eine jener Fragen, die er nie von L hatte hören wollen, vor deren Antwort er sich ungemein fürchtete. Er hätte seine Augen und Ohren gern davor verschlossen. „Ich will die perfekte Fassade zum Bröckeln bringen, Light, und sehen, was darunter ist. Deine Aggressivität, deine Angst und Verzweiflung, wahre menschliche Zuneigung und nicht zuletzt... deine Arroganz.“

„Und was ist, wenn du falsch liegst?!“, wollte Light aufgebracht wissen, wobei er sich energisch herumdrehte und Ls Arme beiseite schlug. „Wenn ich nicht Kira bin und dir etwas vorzumachen versuche?“

„Du verstehst nicht.“ Sofort verhinderte L unerwartet rabiat, dass sich Light von ihm befreite, packte ihn brutal an den Handgelenken und stieß ihn mit solcher Wucht und einem lauten Krachen gegen den Schrank in seinem Rücken, dass Light einen Moment lang die Luft wegblieb. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihm schwarz vor Augen. Der Schmerz in seinen Schulterblättern und Handgelenken erschien ihm seltsam unwirklich. Im Gegensatz dazu vernahm er weitaus intensiver die Wärme und Nähe seines Freundes, den vertrauten Geruch und den ungewohnt schneidenden Klang von Ls Stimme, als dieser nun zügellos die Wahrheit offenlegte. „Das hat nichts mit Kira zu tun. Niemand könnte von jetzt auf gleich sein wahres Selbst verbergen. Dein perfektes Auftreten ist Teil deiner Persönlichkeit. Etwas, das du dir über die Jahre antrainiert hast. Ob du Kira bist oder nicht, spielt hierfür überhaupt keine Rolle. Du verstellst dich nicht aus Gehässigkeit. Du zeigst deinen Mitmenschen einfach nur das, was sie sehen wollen. Aber das ist es nicht, was ich von dir will.“ Light bewegte sich unruhig und zerrte nervös an seinen Handgelenken, aber der Griff seines Partners blieb unerbittlich. Warum hatte L plötzlich so verdammt viel Kraft? Oder war es nur seine eigene Schwäche? „Beinahe würde ich mich genauso gern von deiner manipulativen Art verführen lassen, wenn es mich nicht so wütend machen würde.“

„Hör auf“, bat Light in aufgelöster, zorniger Verfassung. Vergeblich versuchte er, wenigstens den Kopf zur Seite zu drehen. „Lass mich gehen. Ich kann nicht mehr...“

L presste ihn weiterhin gegen die Schranktür, starrte ihn eingängig und tief an, während er eines seiner Handgelenke von dem gewaltsamen Griff entband. Er ließ nicht zu, dass sein junger Freund den Blick abwandte. Indem er ihn mit sanfter Bestimmtheit am Kinn festhielt, zwang er Light dazu, ihm in die alles durchdringenden Augen zu schauen. Unbarmherzig setzte L seine Ausführungen fort:

„Ich will die kaltblütige Analytik sehen, die deinen scharfen Verstand offenbart, den du normalerweise verbirgst, damit man dir nicht anmerkt, wie überheblich und grausam du sein kannst. Und ich will deine Unschuld sehen, deine aussichtslose moralische Einstellung, an der du langsam verzweifelst, deine aufopferungsvolle Hilfsbereitschaft, die Gutmütigkeit, mit der du die Menschen trotz ihrer Schwächen immer noch liebst. Aber auch deine kindische Gewinnsucht und Selbstgefälligkeit, die dir die meisten aufgrund deiner Seriosität nicht zutrauen würden.“ Ihre Lippen berührten sich fast, sodass Light den Verstand zu verlieren glaubte, zerrissen zwischen Panik und Erregung und all den anderen unverständlichen Gefühlen, die ihn in letzter Zeit unentwegt belasteten. „Komm schon, Light! Zeig es mir. Deinen Hass, deine Leidenschaft, deinen Wahnsinn. Ich will alles von dir.“

Stockend holte er Luft, um zu widersprechen, doch überwand L in diesem Moment den letzten Abstand zwischen ihnen. Er vergrub seine Finger in dem braunen Haar, zog seinen Freund an sich und küsste ihn fordernd. Zuerst ließ sich Light voller Verwirrung darauf ein, schmeckte endlich wieder auf der Zunge jene herbsüße Note aus Tee und Karamell. Er hatte diesen Geschmack zu lange vermisst, sich zu sehr danach gesehnt, um nicht wenigstens von ihm zu kosten. Jedoch machte er sich hastig und mit wild schlagendem Herzen wieder von dem Anderen los.

„Du lügst“, raunte er mutlos und bitter. „Niemand würde sich mit solchen Dingen konfrontieren wollen.“

„Da irrst du dich aber gewaltig.“

Erneut zog L ihn an sich. Diesmal küsste er ihn nur behutsam auf die geschlossenen Lippen. Widerwillig versuchte Light nicht darauf einzugehen, bis L den Druck in seinem Nacken verstärkte und mit den Fingern sein Kinn leicht anhob, um sanft über seine Unterlippe zu lecken. Lights Kehle fühlte sich ausgetrocknet an und brannte. Zaghaft öffnete er den Mund und wurde sofort von seinem Partner vereinnahmt. Sehnsüchtig erwiderte Light den Kuss, ausgezehrt vom ungestillten Hunger nach jenem süßen Gift. Mit jeder Sekunde wurden beide verlangender, leidenschaftlicher.

Light verstand es nicht. Er verstand nicht, warum L so versessen darauf war, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen, wenn es angeblich nicht darauf abzielte, seinen Hauptverdächtigen zu entlarven. Ging es ihm wirklich darum, zu erfahren, welches selbstzerstörerische Chaos sich im Inneren seines vermeintlichen Freundes verbarg? Warum nur wollte L das sehen? Jeder andere verschloss lieber die Augen davor, darum gab es auch keinen Grund, sich nicht zu verstellen. Anders konnte man in dieser langweiligen, verrottenden Welt nicht überleben. Lights Vater würde nicht akzeptieren, dass sein Sohn an dem System und Justizwesen der Gesellschaft zweifelte. Seine Mutter wäre enttäuscht, sollte er nicht überall der Beste sein. Seine Schwester mochte ihn als warmherzigen coolen Bruder. In der Schule und Universität sollte er aufpassen und lernen. Als Assistent bei der Polizei brauchte man seinen Scharfsinn. Die Mädchen liebten ihn für sein charmantes Wesen. Für seine Kameraden und Kommilitonen war er locker und lachte an den richtigen Stellen über ihre Scherze. Würde er sich nicht an sie anpassen, dann gäbe er ihnen das unangenehme Gefühl der Minderwertigkeit oder Distanz. In der Gemeinschaft musste man lachen und fröhlich sein, man musste Interesse zeigen und Mitgefühl, aber alles stets im rechten Maß. Selbst wenn jedes Wort, jede Geste nur eine Lüge war, wie schlecht es auch geschauspielert sein mochte, keiner störte sich daran. Niemand wollte sehen, wie ein Mensch wirklich war.

Unter schweren Atemzügen und den innigen Berührungen ihrer Lippen und Zungen versuchte Light die Kontrolle zu bewahren oder zurückzuerlangen oder zu verlieren, er wusste es nicht. Er wollte sich nicht mitreißen lassen. Er durfte jetzt nicht nachgeben. Ein flaues Gefühl hatte sich schon längst in seinem Magen ausgebreitet, während sein Brustkorb heftig schmerzte. Wenngleich angespannt, fühlte er sich kraftlos. Er musste dagegen ankämpfen. Alles war wirr und durcheinander in seinem Kopf, ihm war schwindlig, er fand kein Gleichgewicht auf dem Boden unter seinen geschwächten Beinen. Nur die Ausweglosigkeit in seinem Rücken stützte ihn noch. Und die Arme seines Feindes, an denen er sich festhielt.

Ohne den engen Kontakt ihrer Münder zu unterbrechen, strichen langgliedrige Finger durch Lights Haar, über seine Wange und anschließend seinen Hals hinab. Zügig öffnete L die Knöpfe des Hemdes, unter welchem Light diesmal nichts weiter trug. Den Kuss noch einmal vertiefend schob er das Hemd von dessen Schultern und drückte seinen Freund daraufhin stärker gegen den Schrank in seinem Rücken. Zärtlich erkundeten seine Hände Lights nackten Oberkörper, wobei L den Kuss löste und stattdessen seinen Hals liebkoste. Benebelt wandte Light den Kopf zur Seite. Sein Blick war unfokussiert, als schaute er durch einen Schleier. Warum wehrte er sich nicht endlich? Er spürte, wie L sacht an seinem Ohrläppchen knabberte. Der heiße Atem dicht an seinem Ohr ließ ihn erschaudern. Wo ihn die Hände berührten, schien seine Haut zu glühen. Sanft leckte L über Lights Kehle, zog ihn besitzergreifend an sich, während er sein Schlüsselbein küsste, bevor er tiefer wanderte, schließlich mit Lippen und Zähnen eine der Brustwarzen umschloss und leicht hineinbiss, was Light ein knappes Keuchen abgewann. Ls Handlungen waren unnachgiebig, als wollte er sich nehmen, wonach ihm verlangte, und würde keinen Widerspruch dulden. Allerdings vermittelte er dieses Mal nicht den Eindruck, seinen Feind erniedrigen zu wollen. Es war anders als sonst, fremd und doch irritierend vertraut, resolut und forsch, aber trotzdem auf aggressive Weise liebevoll. Light konnte, er wollte sich nicht wehren. Er schaffte es nicht einmal, seine Atmung, die ihm unangenehm laut erschien, unter Kontrolle zu bringen. Das konnte doch unmöglich sein. Das konnte nicht wirklich passieren.

Beherrschung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Sein des Scheins

Sein des Scheins

 

Warum musste das passieren? Warum konnte es nicht anders sein? Was hatten sie falsch gemacht?

Kraftlos entließ Light seinen geliebten Freund, seinen größten Feind aus der gewaltsamen Unterwerfung, die er ihm aufgenötigt hatte, um sich selbst eine trügerische Genugtuung zu verschaffen. Ein letztes Mal streifte er die blasse Haut und konzentrierte sich auf das Gefühl der wirren schwarzen Haare zwischen seinen Fingern. Er blieb am Rand des Bettes sitzen, vorgebeugt auf seine Knie, und schaute mit zur Seite gewandtem Kopf und kalten Augen auf seinen Gegner, seinen Mitstreiter im Kampf um die Gerechtigkeit. Warum nur musste L auf der falschen Seite stehen? Am Ende gab es zwischen ihnen doch keinen Unterschied.

Eingängig betrachtete Light den mittlerweile vertraut gewordenen, nackten Körper seines Partners. L stützte sich auf seine Ellbogen, blieb allerdings entkräftet auf dem Bett liegen, als wären seine Arme nicht stark genug, um die Last seiner eigenen Person zu tragen, geschweige denn sich wieder vollständig aufzurichten. Seine Schulterblätter traten deutlich hervor, genauso wie Wirbelsäule und Rippenbögen. Das Morgenlicht malte ein Wechselspiel aus weißen und graublauen Schattierungen auf die Knochen und Muskeln. Während seiner Musterung wurden Lights Augen eine Spur ernster. Irgendwie wirkte der Ältere zerbrechlicher als sonst. Bildete er sich das nur ein oder war L in letzter Zeit dünner geworden?

Der Detektiv hielt den Kopf gesenkt, sodass ihm die rabenschwarzen Haarsträhnen über seine starr zu Boden gerichteten Augen fielen. Die meisten Leute hätten in diesem Gesicht keinerlei emotionalen Ausdruck erkannt. Doch Light, der in den letzten Monaten mehr von L gesehen und ihm gleichfalls mehr von sich gezeigt hatte als irgendeinem anderen Menschen jemals zuvor, erkannte darin Unverständnis und Schmerz. Vielleicht konnte Light es deshalb sehen, weil er oft genauer hinschaute als der Rest der Welt. Vielleicht sah er es aber auch nur, weil er selbst wusste, wie L sich fühlte.

„Hat Light-kun das wirklich nicht gewollt?“, fragte L leise, tonlos, fast stockend. „Nicht einmal mehr... Light-kun hat nicht einmal mehr seine Hände benutzt, um sich zur Wehr zu setzen. Wenn er es wirklich nicht will, warum dann so halbherzig? Wenn Light-kun sich anders verhalten würde... wenn ich ihn nicht so gut kennen würde...“

„Ryuzaki.“ Mit sanfter Stimme sprach Light den Namen seines Freundes aus, als handle es sich dabei um etwas unaussprechlich Kostbares. Sein Gemüt schien sich wieder in das genaue Gegenteil verwandelt zu haben. Er versuchte dem Anderen mit seinen Worten aus der Abwesenheit herauszuhelfen, in der er sich zu verlieren drohte. „Du musst dich nicht von mir distanzieren. Ich bin doch hier, Ryuzaki. Ich bin hier bei dir.“

Stumm blickte L noch immer geradeaus. Light meinte zu sehen, dass sich dessen verschlossener Mund ein wenig verzog und sein Kiefer arbeitete, als würde er die Zähne aufeinanderbeißen. Offenbar war L verletzt und rang mit seinen folgenden Worten. Abwartend brannte sich Light jede Einzelheit vom Aussehen des anderen Mannes ins Gedächtnis, seine leeren, trostlosen Augen genauso wie seine schmalen Lippen, das markante, spitze Gesicht, die leichte Erhebung seines Kehlkopfs, die angehobenen Schultern und seine totenblasse Haut. Jede androgyne oder eindeutig männliche Eigenschaft des Älteren wollte Light in sich aufnehmen und bewahren, damit er nichts von all dem vergaß, was L ausmachte. Er wollte keine dieser Erinnerungen verlieren, sobald er L verloren hatte.

Den Arm auf merkwürdig ungelenke Art ausgestreckt zupfte der Detektiv an der zerwühlten Bettdecke, zog sie mit Daumen und Zeigefinger, die restlichen Finger abgespreizt, näher zu sich heran und wickelte sie nachlässig um seinen Körper, während er sich mit angewinkelten Beinen auf die Seite drehte, sich gleichsam seinem jungen Ermittlungspartner zuwandte. Ein paar schwarze Haarsträhnen fielen ihm dabei ins Gesicht. L hob eine Hand zu seinem Ohr und überprüfte, ob es vollständig bedeckt war. Schmerzlich verfolgte Light jede dieser allzu vertrauten Gesten. Trotz kindlicher Verhaltensweisen besaß L oftmals eine unverkennbar erwachsene Ausstrahlung, gegen die sich Light mitunter machtlos fühlte. Sie waren einander so ähnlich und blieben sich dennoch fremd.

Mit unverhohlen offenem Blick schaute L ihn an und meinte schließlich:

„Ich würde dir niemals wirklich wehtun oder dich zu etwas zwingen wollen, Light-kun.“

Anstatt ihm zu versichern, dass er das zweifelsfrei wusste, wies Light das Zugeständnis entschieden ab. Nüchtern und ehrlich reflektiert war seine ganze halbherzige Gegenwehr ohnehin eher einer Einladung gleichgekommen.

„Geh nicht so sorgsam mit mir um, Ryuzaki. Du weißt genau, dass ich es nicht verdient habe.“ Er präzisierte nicht, was er damit meinte. L fragte glücklicherweise nicht nach und ließ stattdessen mit ruhiger Stimme verlauten:

„Erst kürzlich hast du gesagt, ich würde einen Freund brauchen, der mich vor mir selbst beschützt, Light-kun. Aber brauchst du den nicht auch? Warum hast du solche Angst davor, dich fallen zu lassen?“

„Glaub mir“, antwortete Light gleichgültig, „das habe ich schon viel zu sehr getan. Außerdem...“ Er grinste zynisch. „So selbstzerstörerisch bin ich nun auch wieder nicht.“

„Doch“, gab L sofort zurück, „ich glaube, genau das bist du.“ Seufzend und mit finsterem Blick erhob sich Light. Er wollte dazu nichts mehr sagen. Er wollte es nicht einmal mehr hören. Bevor er auf dem Weg ins Bad die Hälfte des Zimmers durchquert hatte, ließ Ls tonlose Stimme ihn erneut innehalten. „Du durchschaust einfach alles, Light-kun. Sogar wie meine Psyche funktioniert. Wir verstehen uns blind und denken oft dasselbe. Du bist doch sonst so schlau. Warum verstehst du mich jetzt nicht? Weil du dich selbst nicht verstehst?“

Light drehte sich nicht um. Seine Stimme war kalt, als er sagte:

„Es tut mir leid.“

„Verstanden“, gab L monoton zur Antwort, ohne sich zu rühren. „Mir auch.“

Wie einen Stich in die Brust nahm Light die Aussage auf und sperrte sie, zusammen mit all den anderen fremden Worten, in seinem Gedächtnis ein. Er würde alles festhalten und weitertragen, sobald er Namen und Position von L eingenommen hatte, sobald er alles von ihm besaß, sein Leben genauso wie seinen Tod.

Im Badezimmer angelangt stieg Light sogleich in die Duschkabine. Er ließ die Tür geöffnet, eine Angewohnheit der langen Zweisamkeit. Sie hatten sowieso nichts mehr voreinander zu verbergen. Vom ersten Moment an, da L seine Aufmerksamkeit auf Light gerichtet hatte, konnte dieser sich der Observation des Meisterdetektivs in keiner Weise mehr entziehen. Light stemmte seine Hände gegen die gekachelte Wand, senkte den Kopf und ließ das Wasser auf sich niederprasseln. L hatte ihm die Maske vom Gesicht gerissen und den hilflosen Jungen entdeckt, der sich darunter noch verbarg. Dabei hatte Light geglaubt, er hätte diesen unschuldigen, idealistischen Jungen schon längst getötet, der die Welt und die Menschen gleichermaßen verachtete wie liebte und aus Langeweile begonnen hatte, sie besser zu machen, als sie überhaupt sein konnten. Wieder schweiften Lights Gedanken ab. Alles, was zwischen L und ihm vorgefallen war, die letzten Monate, die letzten Wochen, die letzten Tage. Und die letzten Stunden...

Was L gesagt hatte, kam einem heftigen Liebesgeständnis gleich. Natürlich hatte Light es verstanden. Als Gegner forderte er ihn heraus und spornte ihn an. Als Rivalen hatten sie auf der Jagd nach Kira miteinander gewetteifert. Als Freunde unterstützten und verstanden sie einander. Das alles war schon mehr als genug. Doch gab es noch eine weitere, letzte Eigenschaft, die nur L für ihn auszeichnete. Sich fallen lassen? Wenn es nur so einfach wäre. Lights Abwehrreaktion war weniger Angst als Selbstschutz.

Er stellte das Wasser ab, griff nach einem Handtuch und stieg aus der Duschkabine. Der Spiegel über der Armatur, auf welcher sich Light nun tief ausatmend abstützte, war kaum beschlagen. Er blickte sich selbst in die rissige braune Iris, die glanzlosen Pupillen und fragte sich, was er in ihnen noch erkennen konnte. Einen Gott? Ein Monster? Oder war er dafür noch zu menschlich?

Im Augenwinkel bemerkte er, wie L ins Bad getrottet kam, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Was war das nur für eine Last, die auf seinen Schultern zu liegen schien? Was hatte diese Augen so leer werden lassen? Das Rauschen von Wasser erfüllte erneut den kalten Raum. Mechanisch widmete sich Light seinen morgendlichen Prozeduren und Gewohnheiten. Er wollte das nicht an sich heranlassen, was um ihn herum geschah. Doch seit einiger Zeit verselbstständigten sich seine Gedanken. Er schaute zu L hinüber, der sich inzwischen in genau derselben Manier an der gekachelten Wand abstützte und das Wasser auf seinen Hinterkopf prasseln ließ, wie Light es kurz zuvor auch getan hatte. Achtlos glitt sein Blick über den gebeugten, drahtigen Körper seines Partners. Unmittelbar spürte Light, dass seine Emotionen schmerzhaft stärker wurden, sich seine Atmung beschleunigte, sein Herz unkontrolliert schlug, das Prickeln in jeder Faser seines Inneren überhandnahm, Nervosität, Erregung, schwächendes Schwindelgefühl, ein Stein in seiner Kehle, Übelkeit, Schuldbewusstsein und unerträgliche Zuneigung. Das durfte doch nicht wahr sein. Er fühlte sich von L unwiderstehlich angezogen. Schon von Beginn an auf hasserfüllte, kindische Weise durch ihre gegenseitige Herausforderung. Später in ihrer Freundschaft durch sein Verlangen nach Anerkennung und Vertrauen. Und jetzt? Light wünschte, er könnte von sich behaupten, dass er L nur besitzen wollte. Vieles, was er an seinem Freund mochte und leider auch sexuell attraktiv fand, war nichts, was Light normalerweise an Frauen gefiel. Aber was gefiel ihm denn an Frauen? Eigentlich wollte er sich an ihnen nur selbst gefallen.

Es stimmte, was L über die Freundinnen und Liebschaften des einstigen Schülers, mittlerweile jungen Studenten gesagt hatte. Zwar war es Light lästig vorgekommen, aber er hatte, um von Misa abzulenken, mit mehreren Mädchen ausgehen müssen. Dummerweise war L, der ihn zu diesem Zeitpunkt schon genau ins Visier genommen hatte, diese Verhaltensänderung sofort aufgefallen, denn im Vergleich zu den vormals wenigen Verabredungen war es tatsächlich ungewöhnlich für Light, sich mit so vielen Mädchen zu treffen. Und darüber hinaus, was war das für ihn? Lustgewinn? Bedürfnisbefriedigung? Warum hatte er L vorgeworfen, es würde diesem nur um Unterwerfung und Bestätigung gehen? Weil es bei Light selbst nie anders gewesen war. Er hatte sich mit Frauen vergnügt, die hübsch und beliebt waren, um seiner Umwelt zu zeigen, dass es ein Leichtes für ihn war, sie für sich zu gewinnen. Obwohl man von Gewinnen oder gar Erobern kaum sprechen konnte; sie warfen sich ihm regelrecht vor die Füße. Dass er Erfahrungen mit Frauen sammelte, entsprach einfach den gängigen Konventionen. Es entsprach schlichtweg der Norm. Weil Misa nicht ganz in dieses Bild hineinpasste, hätte sich Light bestimmt nicht mit ihr abgegeben, wenn sie ihm nicht gedroht hätte. Stattdessen war eine völlig andere Frau in seinen Blick gerückt, mit der er wahrscheinlich am ehesten zusammengekommen wäre: Takada Kiyomi, schön, intelligent, erfolgreich und bei allen begehrt. Sie passte perfekt in sein geplant vorbildhaftes Leben. Auch wenn er für sie genauso wenig empfand wie für alle anderen, beliebig austauschbaren Menschen.

Das Rauschen des Duschwassers erstarb. Light bemerkte, wie sich L mit Handrücken und Unterarm über die Augen rieb, als wäre ihm versehentlich Shampoo hineingeraten, während er unbeholfen nach einem Handtuch tastete. Ohne Umschweife kam Light auf ihn zu, legte ihm ein Handtuch auf den gesenkten Kopf und begann mit sanften Bewegungen ihm das Haar zu trocknen.

„Sonst tropfst du wieder alles voll mit deiner Mähne.“

„Entschuldige, Light-kun.“

Feindschaft konnte auch ohne Anziehungskraft dazu führen, dass man jemanden durch einen sexuellen Übergriff erniedrigen wollte. Im Krieg kam es nicht selten vor, dass Männer von Soldaten vergewaltigt wurden, um sie zu demütigen und zu unterwerfen. Obwohl Light es nicht wahrhaben wollte, war ihm dennoch bewusst, dass es bei der Körperlichkeit zwischen L und ihm vollkommen anders war, trotz häufiger Brutalität. Manchmal hätte es ohne Gewalt einfach nicht gereicht. Dafür wollten sie einander zu sehr.

Die ganze Zeit hielt L den Kopf gesenkt, sodass die schwarzen Haarsträhnen seine Augen verdeckten. Das Handtuch ein wenig zurückschiebend strich Light vorsichtig das noch feuchte Haar beiseite. Wie erwartet starrte L leer geradeaus, dem Anschein nach durch seinen Freund hindurch.

„Da du gerade unentwegt in der Vergangenheit gräbst, Ryuzaki“, fing Light zu sprechen an, während er das Gesicht seines Freundes sacht in die Hände nahm, „möchte ich dir eine Frage beantworten, die du mir vor einiger Zeit gestellt hast. Du wolltest wissen, ob es nicht reichen würde, mir zu sagen, dass du mein Freund bist.“

„Du warst wach?“

„Tu nicht so, als hättest du das nicht gewusst.“ Light ließ seine Finger über die nasse Haut gleiten, entlang an den dunklen Schatten unter den großen, leeren Augen. Er hätte L gern die Lider geküsst, um herauszufinden, ob er weinte. Zwar schnürte es Light so unangenehm die Kehle zu, dass er kaum zu schlucken vermochte, doch wählte er seine folgenden Worte sehr präzise und gefärbt in eine analytisch kühle, teils jungenhafte Tonlage. Er wusste genau, was er jetzt sagen musste. „Ich glaube, es reicht nicht, Ryuzaki. Wenn überhaupt, dann ist diese Tatsache das Einzige, wovor ich Angst habe. Es ist im Moment einfach alles viel zu kompliziert für mich, um es richtig einzuordnen oder zu verstehen. Also das, was hier geschieht und wieso ich mich so merkwürdig verhalte. Nichtsdestotrotz gibt es auch Dinge, über die ich mir sehr wohl im Klaren bin, schließlich ist da noch Misa, von der ich weiß, dass ich sie liebe und dass ich mit ihr zusammen sein will. Es ist ja schon ein bisschen chaotisch zurzeit, findest du nicht? Dennoch ist es erstaunlich. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.“ Light lachte hell und unnatürlich. Die Stimme, die aus seinem Mund kam, klang in seinen eigenen Ohren fremdartig. „Vielleicht liegt es wirklich daran, dass ich ununterbrochen mit dir zusammen bin, Ryuzaki. Wir sollten da aber nicht zu viel hineininterpretieren, okay?“

L schaute weiterhin starr durch den Anderen hindurch. An seiner Mimik schien sich rein gar nichts geändert zu haben. Nach einer Weile setzte er ein verzerrtes Lächeln auf und nickte eigentümlich, ohne Light dabei anzusehen. Dieser sagte daraufhin:

„Dann geh jetzt bitte.“

Um sich selbst nicht mehr erkennen zu können, hätte Light überhaupt erst wissen müssen, was seine Person ausmachte, was er am Ende noch war. Unaufhörlich stürmten Eindrücke seines vergangenen, verlorenen, wirklichen oder gefälschten Ichs auf ihn ein. Er konnte nicht sagen, was davon echt war. Und was der Meisterdetektiv ein ums andere Mal von seinem Hauptverdächtigen ins abgeblendete Licht zerrte, war womöglich nur ein Bruchstück der zersplitterten Wahrheit und Vielschichtigkeit. Immer wenn L in das Innere des jungen Mannes blicken wollte, ging er nicht selten grausam vor. Indes hatte sich Light gleichermaßen seinem Freund aufgezwungen, ihn angegriffen, sich gewehrt und fast hingegeben. Das verschlossene Gewaltpotenzial war die einzige Möglichkeit, mit den Aggressionen, der Wut und Verzweiflung umzugehen. Auf Gegenseitigkeit beruhend war das, was Light tatsächlich von L wollte und nach ihm verlangen ließ, so einfach wie komplex. Er wollte ein Teil von ihm sein, alles kennen, jede Stärke und jede Schwäche akzeptieren und ausnutzen, der Auslöser für jedes Gefühl in ihm sein, ihn am Leben halten, streben lassen, ihn erniedrigen und ihm, sobald er am Boden lag, wieder auf die Beine helfen, um zum Schluss, auf dem Höhepunkt ihrer Beziehung, für den Tod dieses Menschen verantwortlich zu sein und damit auch das Letzte von ihm zu besitzen: seinen Namen, sein Leben, seinen Tod. Alles.

Light hatte gehofft, wenn Kira erneut in ihm erwachte, würde jede Form der Zuneigung für L verfliegen. Wenigstens hätte rein theoretisch der Widerstand gegen sich selbst die unliebsamen und ungünstigen Emotionen abschwächen müssen. Zu allem Überfluss allerdings, ohne eine logisch akzeptable Erklärung hierfür zu haben, hatte die Rückkehr seiner Erinnerungen die Anziehungskraft sogar noch verstärkt. Je mehr sich Light von nun an darauf einließ, desto mehr würde es schmerzen, diesen Teil wieder aus sich herauszuschneiden.

Mit einem dumpfen Laut schloss sich die Tür. L hatte Light allein gelassen, mit sich selbst und seinen Gedanken. Vereinzelt tropfte noch Wasser von seinen Haaren hinab auf seine eisigen Hände. Ungerührt blieb Light auf dem Wannenrand sitzen. Nun endlich hörte er wieder Ryuks kratzige Stimme.

„Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen, Yagami Light.“

Doch, er konnte es. Und er würde es. Light schaute hinauf in den Spiegel, in welchem sich die Schatten vermehrten und verdichteten. Sie griffen mit ihren Worten durch das reflektierende Glas.

„Oh Herr“, riefen sie ihn an, „die Todgeweihten grüßen dich.“

In seinem Nacken breiteten sich, zusammen mit dem Schauer der Angst und Euphorie, die tödlichen Schwingen seiner Hybris aus. Denn im letzten Winkel seines Herzens hauste noch immer dieses Monster, das in jedem Herzen schläft. Auch in L lauerte es. Und immer wieder hörte man es flüstern:

„Versuch mich zu leugnen, mich zu ignorieren, zu vergessen, doch töten kannst du mich nicht.“ Nach seinen ersten beiden Morden hatte Light sich entschieden, es nicht zu verleugnen. Sonst wäre er an den Schuldgefühlen zugrunde gegangen. Er musste weitermachen. Er konnte nicht mehr aufhören. Und auch L würde ihm bald zum Opfer fallen. Es war wie ein Rausch, all das Schlechte aus der Welt zu verbannen. Light machte die Welt perfekt. Er machte sie schön. Er schnitt alles Unreine heraus. Wenn er könnte, er würde auch dieses hämmernde, schmerzende und fehlerhafte Ding zwischen seinen Rippen herausreißen. Aber vielleicht war selbst das gar nicht so schwer.

Dissoziation

Dissoziation
 

Nachher wie vorher. Es würde sich nichts geändert haben. Es würde sich nie etwas ändern. Nichts konnte den Lauf der Dinge, die Welt, geschweige denn die Persönlichkeit eines Menschen verändern. Veränderung war ohnehin oft keine Lösung. Veränderung war furchteinflößend und manchmal falsch. Darum war es auch egal, was er dagegen zu unternehmen versuchte. Oder nicht?

Mit schleppenden Schritten ging der von vielen geachtete, von vielen verlachte, weltbeste Detektiv langsam die Treppe herunter. Eine der Stufen schien ein bisschen wackliger zu sein als die anderen, weshalb er einen kurzen Moment taumelte und sich an der Wand neben sich abstützte.

„Guten Morgen, Ryuzaki.“

Den Kopf hebend blickte L auf.

„Guten Morgen, Mogi-san.“

Der etwas korpulente Polizist saß bereits an einem der großen Aktenberge, den er in jener ihm eigenen stoischen Weise bearbeitete. Wie zumeist hatte er offenbar im Privatbereich der Ermittlungszentrale übernachtet. Da es noch sehr früh am Morgen war, hatte sich Mogi bisher als Einziger im Hauptüberwachungsraum eingefunden. Nun allerdings, nachdem L die letzten Stufen überwunden hatte und mitten im Raum stehen blieb, waren sie binnen kurzer Zeit zu dritt.

„Mogi-san“, meldete sich Watari zu Wort, der soeben in seinem typisch geruhsamen Gang eintrat, das Haupt auf ein Kleidungsstück gesenkt, das er bedächtig in den Händen trug, „die Reinigung ihres Sakkos war zufriedenstellend. In der Seitentasche sind keinerlei Flecken mehr von der Erdbeere... Ryuzaki?“

L schärfte seinen Blick, den er, ohne es zu merken, ziellos über den Boden hatte gleiten lassen. Er fokussierte seinen Mentor, welcher ihn besorgt musterte.

„Alles in Ordnung, Ryuzaki?“

An Stelle einer verbalen Antwort streckte L ruckartig einen Arm nach vorn, mit nach oben zeigendem Daumen.

„Jawohl, Watari. Alles, was ich jetzt brauche, ist Schokolade.“

 

„Was ist der kürzeste Weg zwischen diesen zwei Punkten?“, hörte Light die vertraut ruhige und tiefe Stimme des Meisterdetektivs. Als er sich den anderen Mitgliedern der Sonderkommission anschloss, saß L gerade gegenüber von Matsuda auf der Couch, hielt mit spitzen Fingern eine Seite der heutigen Tageszeitung in die Luft und tippte mit einem Teelöffel auf zwei Kugelschreiberkreise, die jeweils am unteren und oberen Rand des Papiers aufgemalt waren.

„Eine gerade Linie?“, fragte Matsuda und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Willkommen, Light-kun.“ Der Detektiv bedachte ihn mit seinem durchdringenden Blick. Zugleich wirkten seine Augen fragend, leer und haltlos, sodass jenes ungute, übelkeiterregende Gefühl in Light, gegen das er seit dem Morgen ankämpfte, erneut zunahm. Sein eigenes Schauspiel machte ihn so krank, wie es ihn vergnügte. Er hatte L verletzt. Er hatte ihn gedemütigt, wie er selbst von ihm gedemütigt worden war. Er hatte ihn verleugnet, wie Light sich selbst verleugnete.

„Oh, ich weiß es!“, rief Matsuda begeistert. Er riss die Zeitung an sich und malte mit dem Kugelschreiber eine Linie zum oberen Bildrand, die er am unteren fortzusetzen meinte, bis sie auf den zweiten Punkt traf. „Das ist die Lösung, nicht wahr?“

„Sagen Sie, Matsuda-san“, wollte L, auf seinem Daumennagel herumkauend, wissen, „mögen Sie eigentlich Spielfilme? Zum Beispiel Science Fiction oder Horror?“ Irritiert schwieg der junge Polizist. „Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten“, fing L zu erklären an, griff dann jedoch, anstatt seine Erläuterung auszuführen, nach dem Zeitungsblatt, faltete es genau in der Mitte, sodass die beiden Kugelschreiberpunkte exakt übereinanderlagen, und stieß seinen Löffelstiel an dieser Stelle durch das Papier. Skeptisch begutachtete Matsuda die gesamte Aktion und fragte dann:

„Und das soll jetzt belegen, dass ich eindimensional denke?“

 

Das Bühnenstück war perfekt. Aus der stumpfsinnigen Selbstbetäubung heraus fiel es Light dankbarerweise leicht, sich zu verstellen. Seine Bewegungen waren mechanisch, seine Worte gewählt, sein Lachen einnehmend. Zumindest für die anderen Anwesenden. In Ls Miene erkannte er jedoch, wie sehr diesen das gekünstelte Verhalten abstieß. Nichtsdestotrotz spielte er ihm direkt in die Hände. Sie tauschten sich über den Fall aus, unterhielten sich über ermüdend intellektuelle Themen und machten die üblichen freundschaftlichen Scherze.

„Entitäten könnten durch ihre Starrheit begrenzt sein“, antwortete der Detektiv soeben auf eine Aussage seines jungen Kollegen, die dieser vor ein paar Sekunden ausgesprochen und sogleich wieder vergessen hatte. „Prozesse wiederum kennzeichnen die Beziehungen zwischen den Entitäten. Prädikation ist jedoch selbst keine Entität. Es gibt Objekte und Subjekte, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Zum Beispiel gibt es unbelebte Objekte wie einen Stein und belebte Subjekte wie den Menschen.“

„In diesem Rahmen“, fügte Light wie einstudiert hinzu, „ist das Leben selbst lediglich eine Prädikation. Was dieses auszeichnet, ist die präzise Definition, die bloß zur Beschreibung der Entität dient. Das Leben an sich stellt keine Entität dar, an die man Fragen stellen könnte. Zu jenen, wenn man so will, Dinglichkeiten zählen physikalische Quarks genauso wie Elektronen.“

Warum ließ L sich das gefallen? Warum beteiligte er sich an dieser Schmierenkomödie? Light hatte fest damit gerechnet, dass sein Freund Widerstand leisten und versuchen würde ihn bloßzustellen. Doch nichts dergleichen geschah. Seelenruhig puzzelte L weiße Schokoladenstückchen zu verschiedenen Gebilden zusammen. Es handelte sich dabei nicht um echte Schokolade, sondern um ein aus Plastikteilen gefertigtes Denkspiel der Firma Meiji. Watari hatte es vor einiger Zeit, zusammen mit diversen Tafeln echter Schokolade, vor L auf den Tisch gelegt. Unnötigerweise fragte sich Light, ob die Wahl dieser Süßigkeiten etwas damit zu tun hatte, dass heute der dritte November und somit der Tag der Kultur sowie der Gedenktag für Kaiser Meiji war. Jedenfalls hatte L, im Gegensatz zu dem Puzzle, die essbaren Schokoladentafeln bislang nicht angerührt.

„Das klingt alles total unverständlich“, kommentierte Matsuda die Unterhaltung der beiden jungen Männer.

„Ryuzaki will nur verdeutlichen“, erklärte Light in geübter Kompetenz, „dass Prädikation nichts weiter als eine definitorische Zuschreibung ist und demnach keine Subjektbezeichnung in Form eines inhaltsschweren Namens.“

Insgeheim, in manchen Momenten der jugendlichen Schwäche, wünschte sich Light die unbeschwerte Zeit der Erinnerungslosigkeit zurück, als er sich L gegenüber noch unbefangen zeigen konnte. Denn jetzt kam ihm seine eigene zwiespältige Person, die er von einer außengelegenen Position zu begleiten schien, in dieser eigentlich gewohnten Umgebung unangenehm wirklichkeitsfern vor. Fremd, dumpf, taub, stumm verrannen die Sekunden und niemand kümmerte sich darum, dass mit jedem Ticken des Uhrzeigers auf unsichtbare Weise das Leben aus dem Meisterdetektiv entwich. Warum bemerkte es keiner? Warum sah hier niemand, wie falsch die beiden voreinander auftraten? Und warum wehrte sich L nicht endlich dagegen?

„Light-kun hat Recht. Ich will darauf aufmerksam machen, dass die basale Funktion mehr Bedeutung hat als die Bezeichnung eines Subjekts. Das unterstützt nämlich meinen vorhin erwähnten Standpunkt. L ist nicht das, was ich bin, sondern das, was ich tun kann.“

„Ist Kira denn das, was du bist, Yagami Light?“, fragte die Imagination des Todesgottes kichernd. Light konnte die Schwingen seiner Wahnvorstellung als Reflexion in den Computermonitoren erkennen. Jetzt verfolgte es ihn also schon bis hierher, wenn er sich unter Menschen befand.

„Etwas Ähnliches“, fuhr L in gleichbleibend monotoner Stimmlage fort, „hat mal jemand gesagt, den ich immer für seine heldenhafte Aufopferung bewundert habe, der für die Menschheit und im Kampf gegen die Ungerechtigkeit alles gab, ohne Anerkennung dafür zu verlangen, weil die meisten von seiner wahren Identität nichts wussten. Doch der Name, mit dem er in seiner wichtigen Funktion für die Welt auftrat, ist jedem bekannt.“ Der Meisterdetektiv schaute die anderen Anwesenden aus tiefstem Ernst an und meinte nach einer Pause: „Superman.“

Matsuda verschluckte sich an seinem Kaffee, weil er plötzlich lachen musste. Und Light fragte interessiert:

„Hat er dir das persönlich gesagt, Ryuzaki?“

„Sei nicht albern, Light-kun. Als ob er Zeit dafür hätte.“

„Wir amüsieren uns zu Tode, nicht wahr, Light?“ Ryuk gluckste zufrieden in seinem Rücken. „Denn nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man. Alle machen gute Miene zum bösen Spiel, doch unter deinem gutmütigen Lächeln lauert ein grinsendes Monster, das in dir gräbt und wütet und dich innerlich aushöhlt, bis nichts als Leere in dir herrscht. Oder ist es andersherum? Ist Kira deine Maske, unter der sich ein verleugneter, hilfloser Junge verbirgt? Vorsicht, Yagami Light, wenn man die Maske herunterreißt, kann es sein, dass sich dabei das Gesicht mit ablöst. Das wäre doch wirklich schade, bei deinem hübschen Antlitz. Aber wer weiß? Vielleicht ist dort unter der Maske schon gar nichts mehr.“

 

Mit kelchartig aneinandergelegten Händen spritzte sich Light Wasser ins Gesicht, wischte sich dann über Stirn und Wangen, bevor er wieder hinauf in den Spiegel über dem Waschbecken schaute. Er stand in einem der Waschräume, die sich in unmittelbarer Nähe zur Küche und zu einigen Konferenzräumen befanden. Durch die unnatürliche Beleuchtung schimmerte die zerfurchte braune Iris, die ihm im Glas begegnete, fast rötlich.

„Das Abbild des Schöpfers“, zischte Ryuk belustigt in sein Ohr. „Die Realität ist nur ein Schein. Die Wahrheit wird im Spiegel reflektiert. Wenn du nicht weißt, ob das hier die Wirklichkeit ist, oder doch eher das, was du ganz deutlich dort hinter den Spiegeln erkennen kannst, woher willst du dann wissen, dass du auf der richtigen Seite stehst?“

Unwirsch schlug Light mit der flachen Hand neben sich in die Luft, als könnte er damit vertreiben, was gar nicht existierte. Sofort wurde Ryuks glucksendes Lachen lauter.

„So funktioniert das nicht, Yagami Light. Je mehr du dich selbst hintergehst, desto mehr wirst du dich in deinem Wahnsinn verlieren. Merkst du es nicht, wie du dich weiter und weiter von L entfernst? Stell dir vor, was das erst für ein Spaß wird, wenn er tot ist.“

Hysterisches Lachen hallte zwischen den Wänden wider und obwohl Lights Mund fest geschlossen war, kam es ihm vor, als würde es aus seiner eigenen Kehle dringen. Schon bald, wenn L verschwunden war, würde Ryuk zurück an seiner Seite sein. Dann konnte Light wenigstens sicher sein, dass dessen Stimme keine Einbildung mehr war.

„Du willst ihn unbedingt zur Strecke bringen, nicht wahr? Du brennst regelrecht darauf, L zu besiegen und umzubringen. Am liebsten würdest du ihm eigenhändig den schmalen Brustkorb aufreißen und sein blutiges Herz heraustrennen, ist es nicht so? Warum nur, Light?“ Ryuk unterdrückte ein Kichern. „Willst du etwa gewaltsam sein Herz gewinnen? Hat er dir das nicht schon längst geschenkt?“ Erneut brach die Illusion in Gelächter aus, sodass Light seine Faust zur Seite schnellen ließ, dabei aber nur schmerzhaft hart auf die gekachelte Wand traf.

„Oh, was ist denn? Quält es dich so sehr? Das ist es doch, was du wolltest, oder nicht? Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Du hast es fast geschafft. Freust du dich schon? Vorfreude ist ja bekanntlich die beste Freude, sagen die Menschen. Vergnügt es dich deshalb so sehr, dass du jetzt innerlich lachst und schreist und leidest?“

Light schaute in sein Spiegelbild. Was er sah, war ein junger Mann, der Seriosität und Glaubwürdigkeit ausstrahlte. Er lächelte nicht. Er weinte nicht. Er verzog keine Miene. Das Bild vor seinen Augen vibrierte, verschwamm, schwärzte sich.

„Das Leben ist ein Witz, der uns jeden Tag aufs Neue erzählt wird. Zugegeben, niemand hat bisher die Pointe verstanden, aber wir lachen darüber aus vollem Hals. Zumindest am Anfang. Es gibt nichts Komischeres auf der Welt als das Unglück. Aber es ist immer dasselbe. Irgendwann haben wir diesen Scherz zu oft gehört. Wir finden ihn immer gut, selbstverständlich, das Unglück ist jederzeit lustig. Trotzdem können wir nicht mehr darüber lachen.“

Light schloss die Augen und vergrub die Hand in seinem Haar, spürte die kühlende Berührung der zum Teil nassen Haarsträhnen zwischen seinen pochenden Fingerknöcheln. Wollte er wirklich wegwerfen, was er noch nicht ganz verloren hatte? Wollte er die Zeit, die ihnen blieb, verschwenden und mit weiteren Lügen vergiften, nur um sich selbst zu schützen? Konnte er L weiterhin falsch ins Gesicht lachen und zusehen, wie sehr ihn das verletzte?

„Alles in Ordnung bei dir, Light-kun?“

Einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Ein wenig durcheinander schaute Light auf. Im Türrahmen stand L, eine Hand in der Hosentasche, die andere mit gekrümmtem Zeigefinger in der Luft, seine schwarzen Augen wirkten prüfend und besorgt.

„Ja“, antwortete der junge Student und begann, sich nervös im Spiegel betrachtend, sein braunes Haar zu ordnen. „Mir ist nur ein bisschen unwohl.“ Er fühlte den bohrenden Blick des Detektivs auf sich ruhen und versuchte, die beklemmende, obgleich erholsame Stille zu überhören, die mit dem Erscheinen von L schlagartig auch die wahnhaft eingebildeten Stimmen auslöschte. „Was ist denn, Ryuzaki? Wolltest du etwas von mir?“

„Ach, ich war nur mit meinen Gedanken noch bei dem Gespräch, das wir eben führten, weil mir ein paar Ergänzungen dazu einfielen.“ L drehte sich um und trat hinaus in den Verbindungsgang.

Geh nicht!, dachte Light für die Dauer einer Sekunde. Lass mich nicht allein mit mir. Anstatt etwas derart Absurdes von sich zu geben, folgte er seinem Freund rasch nach draußen auf den Gang und fragte:

„Wovon sprichst du denn, Ryuzaki?“

„Performatives Verhalten ist nicht automatisch aufschlussreich“, antwortete L monoton, während er den Flur entlangging. „Erstens ist es antrainiert durch die Beobachtung der Umgebung und der Verhaltensweisen seiner Mitmenschen, demzufolge ist es als Teil der Sozialisation auch nicht überall gleich. Zweitens entspricht die Performativität nicht unbedingt dem tatsächlichen Innenleben, wie man es bei einem Versprecher im Sinne Freuds annähme, wenn jemand zum Beispiel etwas bejaht, aber unwissentlich den Kopf schüttelt.“

„Warte.“ Mit ein paar schnellen Schritten hatte Light den Anderen erreicht, der gerade im Begriff war, hinter der nächsten Biegung zu verschwinden, vielleicht für immer. Zumindest kam es Light einen beängstigenden Moment lang so vor. Warum band diese verfluchte Metallkette sie nicht mehr aneinander, mit der er L hätte aufhalten, festhalten und daran hindern können, sich weiter von ihm zu entfernen?

„Passend sind die Verhaltensweisen eigentlich nur“, fuhr L scheinbar desinteressiert fort, „solange das Individuum damit umzugehen weiß, denn sobald die Emotionen stärker sind als die Kontrolle des Individuums, werden die Reaktionen oft eher dissoziativ. Die größte Verzweiflung eines Menschen zeigt sich nicht in seinen ersten Tränen, sondern in seinem letzten Lachen.“

„Warum tust du das?“ Light griff nach dem Handgelenk seines Freundes und zwang ihn, stehenzubleiben und sich zu ihm herumzudrehen. Erwartungsvoll durchdrang L ihn mit seinen dunklen Augen.

„Was meinst du, Light-kun?“

„Du...!“

„Gehen Sie ruhig, Aizawa“, war die Stimme des Chefinspektors am Ende des Gangs zu hören, neben einem gedämpften Laut, der eine Sekunde später aus der entgegengesetzten Richtung erklang, welcher jedoch von keinem der beiden Polizisten registriert wurde, die sich soeben den Fahrstühlen näherten. „Ihre Familie macht sich sicher Sorgen. Außerdem ist Ihre Tochter noch sehr jung, sie wird ihren Vater bestimmt vermissen. Sie sollten sie nicht vernachlässigen, schließlich hat Kira bisher keine weiteren Morde verübt.“

„Entschuldigen Sie bitte. Vielen herzlichen Dank für ihr Verständnis.“

„Ich werde heute ebenfalls nach Hause fahren. Aizawa, haben Sie zufällig meinen Sohn gesehen?“

Lights Schultern strafften sich. Durch den Spalt in der Tür konnte man die Stimmen der beiden Familienväter deutlich im Inneren des Konferenzraumes hören, in den Light seinen Freund, ohne lang zu überlegen, geschoben hatte. Noch immer verweilte sein Zeigefinger auf Ls Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, während er ihn an die Wand hinter der Tür drückte. Neugierig starrte L ihn an.

„Du wartest hier“, raunte Light mit sanfter Nachdrücklichkeit, bevor er sich abwandte und festen Schrittes hinaus in den Gang trat.

„Vater“, hörte er die Worte in jungenhaft freundlicher Tonlage aus seinem eigenen Mund. Aizawa war, nachdem er die Frage seines Vorgesetzten verneint hatte, bereits in den Fahrstuhl gestiegen und hielt nun, da das jüngste Mitglied des Ermittlungsteams aufgetaucht war, abwartend eine Hand in die Lichtschranke der Tür.

„Bitte, Aizawa“, gewährte ihm der Chefinspektor zum Abschied, „ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“

Der Polizist mit dem schwarzen Lockenkopf nickte verstehend, zog seine Hand zurück und betätigte den Schalter für das Erdgeschoss.

„Es ist gut, dass ich dich treffe, Light. Ich wollte ohnehin noch einmal mit dir reden.“ Der Sohn des Polizeichefs verabschiedete sich knapp von Aizawa, setzte dann eine selbstbewusste, interessierte Miene auf und wartete, bis sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten und er mit seinem Vater vermeintlich allein war. „Deine Mutter und Sayu machen sich Sorgen um dich, Light. Ich akzeptiere, dass du hierbleiben und dich auf den Fall konzentrieren willst. Glaub mir, es gibt kaum jemanden, der das besser verstehen kann als ich, obwohl es mir lieber wäre, du würdest dich nicht mehr so stark in den Fall involvieren lassen, seitdem deine Unschuld bewiesen wurde.“ Herr Yagami räusperte sich. „Jedenfalls bin ich froh, dass du hier trotzdem einen Freund gefunden hast.“

Erstaunt hob Light eine Augenbraue und fragte:

„L?“

„Ich glaube, du hattest bisher noch nie einen Freund“, meinte der ältere Mann lächelnd, „mit dem du dich so gut verstanden hast. Vielleicht kannst du gleichfalls ein wenig mehr... wie soll ich sagen?“ Er seufzte. „Mein Sohn, du solltest dich von L nicht ständig dazu nötigen lassen, Kiras Position einzunehmen, auch wenn er dein Freund ist. Und du solltest ihm bewusst machen, dass er sich von seinen Fehlschlüssen nicht entmutigen lassen darf. Ich glaube nämlich, er kann einen Freund gebrauchen, der ihn ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zurückholt.“ Lights Miene blieb völlig unbewegt, während sein Vater mit ernster Stimme fortfuhr. „Meiner Meinung nach bezieht L ein wenig zu oft für Kira Stellung. Dabei sollte ihm doch eigentlich klar sein, wie wenig es Kira um Gerechtigkeit geht, spätestens ab dem Zeitpunkt, als dieser anfing unschuldige Menschen zu töten.“

„Redest du von den FBI-Agenten?“, fragte Light tonlos. „Wer trägt denn die Schuld daran, dass sie hatten sterben müssen?“

„Was meinst du?“

„Ist nicht wichtig.“

„Doch“, forderte Herr Yagami entschieden, „sprich dich aus.“

„Also gut.“ Light holte Luft, obwohl es ihm beinahe lästig vorkam, seinen Vater mal wieder desillusionieren zu müssen. „L hat Kira in der näheren Umgebung der japanischen Polizei gesucht und die Angehörigen durch das FBI beschatten lassen, nicht wahr? Findest du es nicht seltsam, dass er dafür nur zwölf Agenten eingesetzt hat? Warum wohl, Vater?“ Der Chefinspektor runzelte die Stirn, sodass sein Sohn ihn, die Arme ineinander verschränkend, skeptisch musterte. Begriff er wirklich nicht? „Weil L seinen Prämissen zufolge nur diejenigen Personen beschatten ließ, die dem Täterprofil entsprachen. Dass ich als dein Sohn und mit meinen hervorragenden Leistungen unter diesen Verdächtigen sein musste, war nicht weiter verwunderlich. Indem er das Untersuchungsspektrum gering hielt, ging L das Risiko ein, dass Kira ihm womöglich schon an dieser Stelle durch die Lappen gehen könnte. Für den Fortgang der Ermittlungen musste er dennoch so handeln. Genau aus diesem Grund mussten zwölf Agenten ausreichen. Kannst du dir jetzt denken, warum er das getan hat?“

„Ich verstehe noch immer nicht, worauf du hinauswillst.“

„Um den Kreis enger zu ziehen“, erklärte Light, sich ungeduldig durch das Haar fahrend, „und um die Opferzahl möglichst gering zu halten. Damit Kira sich seiner angeblichen Verfolger entledigen konnte, musste er stärker in Aktion treten. Diese Aktivität hätte ihn Fehler gekostet. Außerdem hätte Kira nicht verhindern können, Angriffsfläche zu bieten und natürlich Möglichkeiten, das Feld um ihn herum weiter einzudämmen. Genau das ist schließlich auch passiert. Dummerweise hat L nicht erwartet, dass Kira sogar das vorausgeplant und absichtlich den Verdacht auf mich gelenkt hat.“

„Light...“ Entgeistert starrte Herr Yagami seinen Sohn an. „Du willst doch nicht behaupten, L hätte auf den Tod der Agenten spekuliert?“

Der junge Student und Ermittler antwortete nicht, zuckte stattdessen mit den Schultern, begleitet von einer unbestimmten Kopfbewegung. Dann lächelte er, um seinem Vater zu vermitteln, dass er gleichfalls nur Vermutungen anstellen konnte. Herr Yagami stieß zischend die Luft zwischen seinen Zähnen aus und stemmte kopfschüttelnd die Fäuste in die Hüften. Nach einem Moment des Schweigens meinte er:

„Ob du nun richtig liegst oder nicht, ich habe schon die ganze Zeit ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich frage mich, haben L und Kira nicht schon beide aus den Augen verloren, dass sie der Gerechtigkeit folgen wollen? Mittlerweile scheinen sie sich nur noch gegenseitig besiegen zu wollen. Das ist nicht gut, mein Sohn. Als Freund musst du L wieder an sein ursprüngliches Ziel erinnern, damit er es nicht vergisst und sich in irgendwelchen fixen Ideen verrennt.“

„Ja, Vater“, versicherte Light automatisiert, „das werde ich.“

„Für L ist das hier in mancher Hinsicht nur ein Spiel. Er scheint den Ernst der Lage nicht zu sehen. Versteh mich nicht falsch, mein Sohn, ich vertraue L ausnahmslos. Wenn mir seine Mittel zu skrupellos und unmoralisch erscheinen, muss ich mich dennoch offen distanzieren. Das solltest du auch tun, anstatt dich davon anstecken zu lassen, in Ordnung? L nimmt den Fall mitunter ein bisschen zu gelassen und heiter.“

„Heiter?“ Light senkte verständnislos die Augenbrauen, setzte kurz darauf allerdings ein entschuldigendes Lächeln auf. „Stimmt, L war heute gut drauf, nicht wahr, Vater?“

„Ja, in der Tat.“ Herr Yagami schmunzelte. „Ich habe gar nichts dagegen. Ihr seid beide noch jung, da ist es normal, die Dinge ein bisschen lockerer und nicht so engstirnig anzugehen. Aus diesem Grund bin ich auch froh, dass du dich L gegenüber ganz natürlich verhalten kannst. Du hast all deine Freunde in der Uni und von der Schule schon länger nicht mehr treffen können. Yamamoto hat letztens sogar angerufen und nach dir gefragt.“

Yamamoto? Wer war das denn? Wahrscheinlich einer von Lights unwichtigen Bekannten. Vielleicht einer seiner Freunde aus der Schulzeit?

„Ach, Light“, fügte Herr Yagami noch hinzu, wobei er bereits den Schalter betätigte, um den Fahrstuhl zu rufen. „Vergiss nicht, dich mal wieder bei deiner Mutter zu melden.“

Akzeptanz

Akzeptanz

 

Die Gerechtigkeit siegt immer. Denn was gerecht oder gerechtfertigt ist, welche Opfer für die Zielsetzung notwendig sind, darüber entscheidet der Sieger. Doch was war eigentlich das Ziel, wenn es nicht mehr die Gerechtigkeit sein sollte? Der Kampf oder der Sieg an sich?

Gedankenversunken verfolgte Light die Ziffern der Etagenanzeige über den geschlossenen Fahrstuhltüren, hinter welchen der Chefinspektor soeben verschwunden war, nachdem sie ihr Theaterstück beendet hatten und der Vorhang gefallen war. Seit wann hatte Yagami Soichiro eigentlich aufgehört seinen Sohn anzusehen? Kira hatte sich ohnehin schon vor langer Zeit von seiner Familie distanziert.

„And the Oscar goes to...“, hörte Light hinter sich die monotone Stimme des Meisterdetektivs. Er drehte sich um und erblickte L, lässig im Türrahmen lehnend, wie so oft mit den Händen in seinen Hosentaschen. „Yagami Light, in der Rolle des wohlerzogenen Sohns, in den Nebenrollen Yagami Soichiro, der liebende und alles durchschauende Vater, sowie L alias Ryuzaki, der nette Komplize im Erfinden von Lügengeschichten.“

„Hör auf.“

„Wer hat denn damit angefangen, Light-kun?“

Genervt wischte jener die Stichelei beiseite und kam auf L zu. Im Vorbeigehen legte er ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn zurück in den Konferenzraum. Es stimmte, dass sie im Laufe ihres Kampfes einige vermeintliche Grundsätze über Bord geworfen hatten. Zumindest konnte sich Light an solch banale Dinge erinnern wie den Vorsatz, seinen Tagesrhythmus nicht zu gefährden, weil Schlafmangel Gift für Gesundheit und Denkvermögen sein konnte. Später hatte er zur Durchführung eines Plans gegen L mitunter vier Tage lang nicht richtig geschlafen. Er hatte Lind L. Taylor ermordet, obwohl er davon ausgehen musste, dass es sich dabei nicht um einen Verbrecher handelte. Die Agenten aus dem FBI waren ebenso wenig kriminell gewesen, dennoch mussten sie aus dem Weg geräumt werden. Sowohl Kira als auch L hatten diesen Umstand in Kauf genommen. Es spielte keine Rolle mehr. Kira musste gegen L kämpfen. Nein, er musste gegen ihn gewinnen. Das war das einzige Ziel, der einzige Sinn. Wenn Kira nach den ersten beiden Morden mit dem Töten aufgehört hätte, wären seine Taten von Beginn an sinnlos und böse gewesen. So aber hatten sie eine Bedeutung. Genau auf dieselbe Weise musste Kira nun beenden, was er mit L begonnen hatte.

„Light-kun?“ Eindringlich starrte L seinen jungen Partner an, ein wenig nach vorn gebeugt, um dessen Gesicht von der Seite besser erkunden zu können. Eine Hand hatte er sorgenvoll erhoben, doch verharrte sie in der Luft, bevor sie Light berühren konnte. Abwesend erwiderte Light den Blick seines Freundes und fragte:

„Warum spielst du da überhaupt mit, Ryuzaki?“

„Nun ja.“ L lächelte befremdlich. „Ich habe einfach gehofft, dass du mich genug mögen würdest, um mir das nicht allzu lange anzutun.“ Auch Light setzte jetzt ein Lächeln auf, obwohl er nicht wusste, warum sich sein Mund derart verzerrte.

Hatte er nicht nach und nach weitere seiner Ideale verraten, sich nicht mehr an das gehalten, was ihm seine Moral diktierte? Und was tat L seinerseits? Er nahm zunehmend die Position von Verbrechern ein, konnte sich geradezu erstaunlich gut in sie hineinversetzen. Selbstverständlich musste er das können, denn genau diese Fähigkeit zeichnete einen guten Detektiv aus. Doch Light beschlich jedes Mal ein merkwürdiges Gefühl dabei. Wollte L ihn etwa darauf aufmerksam machen, dass die Bösen, die er tötete, ebenfalls nur Menschen waren, damit er erkannte, wie viel Unrecht er tat? L hatte doch verstanden, dass es nicht darum ging, die Bösen zu bestrafen, sondern die Guten zu beschützen. Oft genug kam es Light so vor, als wollte L mit seinen Aussagen Kira selbst in Schutz nehmen. Oder ihn in Sicherheit wiegen, damit er sich verriet. Gaukelte ihm sein selbstherrlicher Verstand das nur vor? Oder wollte L verdeutlichen, dass er Kira verschonen würde? Wollte er, dass er sich freiwillig stellte? Wollte L nicht gleichfalls diesen Kampf bestreiten und gewinnen?

„Light!“ Verwirrt blickte er hinauf in die rabenschwarzen Augen seines Freundes. „Sieh mich an, Light. Ich bin kein Fremder.“ L hielt ihn mit einer Hand am Ellbogen fest und legte die andere an Lights Wange, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In der für ihn typisch aufdringlichen Art kam er seinem Partner hierbei näher. Dieser wich weder aus noch zurück. In den braunen Augen spiegelte sich Leere wider. Als L weitersprach, klang seine Stimme rauer als sonst. „Light, hör mir zu. Es ist egal, ob du mich hasst. Hauptsache, du tust nicht so, als wäre ich dir gleichgültig. Verachte mich, hasse mich, töte mich, wenn du kannst. Aber sieh mich nicht an, als wäre ich schon tot.“ Einen kurzen Moment stockte L und fügte dann hinzu: „Oder als wärst du es.“

„Wieso sollte ich dich töten wollen?“, fragte Light mechanisch.

„Für das, was ich dir angetan habe?“

„Du hast mir nichts angetan.“ Abwesend schüttelte Light den Kopf. „Du kannst mir nur antun, was ich selbst zulasse.“

„Ist das so? Dann lass...“

„Ich habe es schon einmal gesagt“, unterbrach Light ihn scheinbar teilnahmslos, „selbst wenn dein Verdacht stimmen würde, ich könnte dich nicht übergehen, als ginge es nur um Sieg oder Niederlage. Du wärst mir niemals egal. Du würdest für mich immer wichtig sein. Wenn ich könnte und wenn du es wünschst, würde ich für dich sogar Kira sein.“

L blickte seinem jungen Freund daraufhin starr in die leblosen Augen. Langsam ließ er seinen Kopf und eine seiner Hände sinken, hielt ihn jedoch weiterhin am Arm fest. Sein Blick wanderte ohne Ziel über die Falten des weißen Hemdes, das Light trug, knitterfreier Stoff und dazwischen Knopf um Knopf ordentlich geschlossen bis hinauf zum Kragen. So viel Disziplin und Selbstsicherheit, aber dahinter ein solches Chaos an unterdrückten Emotionen, Wankelmut und Zorn.

„Wenn Light-kun jetzt wieder Kira wäre“, fragte der Detektiv leise, „würde er L dann hassen?“

„Natürlich“, antwortete Light sofort. „Dennoch hätte sich nichts geändert. Er würde dich hassen und er würde dich trotzdem... mögen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Im Raten war ich schon immer gut.“

Lights Körperhaltung wirkte wie erstarrt, völlig reglos und unberührbar. L versuchte sich auf seine Wahrnehmung zu konzentrieren. Unter seinen Fingern spürte er eine angespannte Armmuskulatur und auch Lights Brustkorb schien sich schwerfälliger zu heben und zu senken. Es war bestimmt nicht aussichtslos. Es gab noch Möglichkeiten, ihn zu erreichen.

„Vielleicht ist Kiras Ideal ja richtig“, warf L provozierend spekulativ in den Raum. „Vielleicht sollte ich aufgeben und mich einfach von ihm töten lassen. Ich könnte mich ihm stellen, ihm mein Gesicht zeigen und dann frage ich ihn...“ Er sah wieder hinauf in Lights Augen, die ihn nun, langsam in die Realität zurückkehrend, mit Erstaunen fokussierten. „Willst du mich töten? Soll ich dir dafür meinen richtigen Namen verraten? Du willst ihn doch hören, nicht wahr? Mein wahrer Name ist...“ Abrupt legte Light seine kalten Fingerkuppen auf Ls Lippen und hinderte ihn am Weitersprechen. Seine Mimik war nicht mehr länger kühl und unnahbar, sondern beinahe schockiert. L umfasste das Handgelenk seines Freundes und drückte es zur Seite, sodass er ihn jetzt an beiden Armen festhielt. „Wieso hast du so eine Angst, Light-kun? Wenn du meinen Namen wüsstest, würdest du mich doch nicht an Kira verraten, oder?“ Irritiert starrte Light den gelassen wirkenden Detektiv an. L hatte ihm einmal gesagt, falls sein Tod unumgänglich war, würde er durch Kiras Hand sterben wollen. Stimmte das? Hatte er Light lediglich provozieren wollen? Oder hatte er seinen Kampf schon damals aufgegeben? „Man kann niemandem vertrauen“, fuhr L eindringlich raunend fort, „von dem man weder Namen noch Gesicht kennt. Wenn ich dir meinen Namen verrate, würdest du mir dann glauben, dass ich dir vertraue? Würdest du begreifen, wie viel du mir bedeutest?“

„Okay.“ Den Blick offen und direkt erwidernd löste Light eine Hand aus Ls Griff und tippte sich lächelnd mit einem Finger ans Ohr. „Dann flüstere ihn mir zu.“

Auch L lächelte. Er beugte sich vor, sodass Light seine bereits erhobene Hand in dessen Nacken legte, um ihn näher an sich zu ziehen. Er spürte das dichte schwarze Haar zwischen seinen Fingern, während ihn Ls warmer Atem am Ohr kitzelte.

„Mein wahrer Name ist...“ Das Gefühl der Aufregung verstärkte sich erneut auf unerträgliche Weise. Light schluckte schwer, machte bewusst die Augen zu und genoss die Nähe des Anderen. Es war, wie er in diesem Moment dachte, schon fast lachhaft, wie oft sie nach Gelegenheiten und Vorwänden suchten, um einander berühren zu dürfen.

Außer dem Atem bemerkte er plötzlich auch Ls Zunge und kurz darauf Zähne, die ihn liebevoll ins Ohr bissen. Ein Grinsen huschte über Lights Mundwinkel. Er ließ seine Hand von Ls Nacken nach vorn zu dessen Wange gleiten, drehte dessen Gesicht am Kinn in seine Richtung, damit sie einander zugewandt waren, und küsste ihn sanft auf die geschlossenen Lippen.

„L“, wisperte er eine vermeintliche Antwort auf die gestellte Frage, bevor sie sich einem ungewohnt zaghaften, aber verwirrend intensiven Kuss hingaben. Light wünschte sich, er hätte sein schmerzendes Herz endlich wieder bändigen können. Im Augenblick war es allerdings gar nicht wichtig. Er konnte seine Gefühle ohnehin längst nicht mehr unter Kontrolle bringen. Zumindest in dieser einen und letzten Hinsicht.

Damals, als er allein mit Misa und den Todesgöttern in seinem Zimmer gestanden und Rem ihm angeboten hatte, L auf der Stelle auszulöschen, da konnte Light nicht anders als zu zögern. Er hatte Rem mit absoluter Entschiedenheit verboten, ihrem gemeinsamen Feind ohne seine Zustimmung etwas anzutun. Hatte er denn wirklich noch an Ryugas wahrer Identität gezweifelt oder ihm abgekauft, dass L keine einzelne Person, sondern eine Gruppe von Ermittlern sein würde? Angeblich hätte der Tod des Meisterdetektivs zu jenem Zeitpunkt bedeutet, dass Light der Mörder sein musste, aber nur aufgrund einer solchen Äußerung hätte niemand ihn verhaften können, schließlich fehlten dafür jegliche Beweise. Nein, Light wollte damals Ls wahren Namen erfahren und den Mord eigenhändig begehen. Es durfte nicht so einfach vorbei sein. Traf womöglich doch Ryuks Vermutung zu, dass er sich daran erinnerte, wie L ihn seinen ersten und einzigen Freund nannte? Wenn Light ehrlich darüber nachdachte, hatte er vielleicht schon damals zu viel Zeit mit L verbracht, ihn zu nah an sich herangelassen. Dieses Zögern musste er nun teuer bezahlen.

Mit aufkeimender Verzweiflung küsste Light seinen Freund inniger. Derweil fuhren Ls schlanke Finger an dem Arm, den er schon die gesamte Zeit ununterbrochen festhielt, leicht unter den Stoff des Hemdes, soweit er es vermochte. Er öffnete den Knopf am Saum über Lights Handgelenk und schob den Ärmel hinauf bis zum Ellbogen, um über die darunter liegende Haut streichen zu können.

Konnte Light es jetzt überhaupt noch tun? Wenn er Ls Namen erfuhr, könnte er ihn so seelenruhig in das Death Note schreiben? Ein Teil von ihm wollte es unverändert, sogar mehr als jemals zuvor. Niemand sonst durfte es tun. Dieser unbekannte Name sollte allein ihm gehören. Dieser Name war Teil der Gesamtheit, die den Meisterdetektiv ausmachte. Light wollte alles von L in Besitz nehmen. Er wollte dessen Namen sogar vor einem Todesgott beschützen. Doch möglicherweise bestand der einzige Weg, wie er seinen Plan mittlerweile noch in die Tat umsetzen konnte, darin, den Mord indirekt durch einen anderen durchführen zu lassen.

Widerwillig löste sich Light von Ls Lippen und drückte ihn von sich.

„Wir haben gewisse Aufgaben zu erfüllen, Ryuzaki“, versuchte er nicht gerade schlagkräftig zu erklären, „vergiss das nicht. Wir müssen Kira fangen und auch darüber hinaus liegt noch vieles vor uns.“ Light lachte ein wenig verkrampft. „Die Welt ist ja schließlich nicht automatisch gut und perfekt, wenn Kira verschwunden ist.“

„Das wird sie auch niemals sein, Light-kun.“ L beobachtete seinen jungen Freund dabei, wie er am Rundtisch vorbei zu einem der Fenster ging und es öffnete, als brauchte er Luft zum Atmen. Daraufhin wehte nicht nur der Abendwind kalt in den Raum hinein, sondern auch der ferne Lärm des Straßenverkehrs und ein allumfassendes Rauschen, das aus der Tiefe der Großstadt zu ihnen herauf drang. L trat neben seinen Freund und sagte ganz leise: „Zeige mir eine perfekte Welt und ich zeige dir ein Vakuum ohne Menschen, eine Welt, die nur aus Leere und Tod besteht.“

„Hörst du das nicht?“, wollte Light gedankenverloren wissen, wobei sein Blick weit abzuschweifen schien.

„Was meinst du?“ L schaute ebenfalls in die Ferne. „Die Kirchenglocken?“

„Die Luft ist voll von den Schreien der Menschen, die um Erlösung bitten. Erlösung von der grausamen Kälte und Ungerechtigkeit dieser Welt.“

„Light-kun...“ L sah seinen Freund aus leeren Augen traurig an. „Bist du der Einzige, dessen Stimme du nicht hören kannst?“

 

Allein stand Light in dem so fremd vertrauten Zimmer, er wusste nicht, wie lange schon. Die Umgebung war sauber und aufgeräumt, selbst das Bett hatte er ordentlich gemacht, an jenem einige Stunden zurückliegenden Morgen, nachdem L ihn verlassen und sich irgendwie alles und nichts zwischen ihnen geändert hatte. Light wollte sich nicht noch weiter darauf einlassen, sich nicht noch weiter in etwas verlieren, das schon bald ein Ende finden musste. Den Vorsatz, jede tiefere Beziehung mit L stillschweigend zu beenden, hatte er nicht einmal bis zum Abend aufrechterhalten können. Es war zwecklos gewesen. Light kam nicht dagegen an. Und dennoch zeigte L ihm deutlich, dass er ihn nicht noch einmal zu irgendetwas zwingen würde. Darum hatten sie sich stumm wieder voneinander getrennt. Light hatte den Meisterdetektiv im Überwachungsraum zurückgelassen und dieser hatte ihn nicht am Weggehen gehindert. War etwa auch L außerstande, mit diesem Schmerz umzugehen?

Die Lichter der Nacht waren hinter der Fensterspiegelung nur undeutlich sichtbar. Light ging mit unsicheren Schritten zum Bett hinüber, schaltete die Nachttischlampe ein und danach die große Beleuchtung aus, weil er das grelle, anklagende Licht nicht ertragen konnte. Mit einem Mal, da er die Außenwelt besser erkennen konnte, bemerkte er, dass sich die Aussicht in diesem Raum von jener im vorherigen, zusammen mit L bewohnten Zimmer unterschied, weil die Fenster in eine andere Richtung wiesen. Das war ihm vorher nicht aufgefallen. Von hier aus konnte man den Tokyo Tower ausmachen, der wegen des heutigen Feiertages in anderen Farben erleuchtet war als dem normalerweise typischen Rot und Weiß, das jeden Tag bis Mitternacht in die Finsternis strahlte. Reglos starrte Light das Wahrzeichen eine Weile an, bis er es gar nicht mehr wirklich sah. Seine Beine fühlten sich schwach an, als würde er in eisigem Wasser stehen, darum setzte er sich vorsichtshalber auf das Bett und ließ sich zurückfallen. Auf dem Rücken liegend schaute er hinauf und ließ seinen Blick den Fokus verlieren. Kein Geräusch war zu hören. Keine Stimmen. Kein Signalton einer Tür.

„Wo bist du?“ Die Frage war nicht mehr als ein Flüstern. „Ich höre dich nicht mehr, Ryuk.“

Light strich sich mit seinen kalten Händen über das Gesicht.

„Warum höre ich dich nicht? Bitte, komm doch. Ich will dich lachen hören.“

Müde und schlaflos drehte sich Light zur Seite, wandte sich der Fensterfront zu und betrachtete die ebenso rastlosen Lichter in der Dunkelheit und jene schimmernde Silhouette, die in weiter Entfernung wie ein Leuchtturm im unruhigen Meer ausharrte. Mit leichtem Erschrecken vergrub Light seine Finger in der Bettdecke und dem Kopfkissen, schloss konzentriert die Augen und gab kurz darauf ein ungläubiges, knappes Lachen von sich. Natürlich, wie hätte es auch anders sein sollen. Er konnte noch immer Ls Geruch wahrnehmen.

„Warum bist du nicht da?“

Seine Lider wieder hebend fixierte Light den Turm, der in der Ferne nur gering die Nacht erhellte.

Doch das Licht des Tokyo Towers erlosch.

 

Vollkommen leer lag der Hauptüberwachungsraum im Dunkel, lediglich einige permanent eingeschaltete Monitore ließen die Möbel und andere Gegenstände gespenstische Schatten auf Boden und Wände werfen. In einer Ecke lehnte Rem mit geschlossenen Augen. Sie öffnete sie kurz, als sie vernahm, wie Light den Raum betrat. Desinteressiert glitt sie zurück in einen Dämmerzustand, der für Todesgötter zu keiner etwaigen Erholung notwendig, sondern bloß Zeitvertreib war. Es wäre vermutlich sinnlos gewesen, Rem nach dem Verbleib des Meisterdetektivs zu fragen.

In Gedanken ging Light die verschiedenen Orte durch, an denen L sein konnte. Watari hatte vor zwei Tagen gesagt, für L würde es sich nicht mehr lohnen, in einem Bett zu schlafen, darum war es gut denkbar, dass er sich auch jetzt nicht in seinem Zimmer aufhielt. Umgehend machte sich Light wieder auf den Weg. Womöglich wusste er, wo sich der Andere befand.

Seine Vermutung bestätigte sich, als er kurz darauf die Privaträume erreichte, in denen die beiden Männer häufig in den letzten zwei Monaten ihr Abendessen zu sich genommen, Schach oder Go gespielt, sich unterhalten oder einvernehmlich geschwiegen hatten. Erleichterung durchflutete Light und spülte für den Moment das anhaltende Gefühl der Einsamkeit fort, als er die gedämpften Geräusche eines Fernsehers wahrnahm. Wie in jener Nacht vor zwei Tagen hockte L in der Mitte der Couch. Dieses Mal schlief er nicht, sondern hatte seine Aufmerksamkeit dem Anschein nach auf den Bildschirm gelenkt, wo gerade die Spätnachrichten liefen. In den Armen vor seinen angewinkelten Beinen hielt er etwas an sich gepresst, offenbar ein Kleidungsstück, auf das er seinen Kopf bettete.

„Kannst du nicht schlafen, Light-kun?“, fragte L leise, ohne aufzuschauen. „Warum bist du nicht in deinem Zimmer?“

„Warum bist du nicht in deinem?“

Die Nachrichtensprecherin verkündete soeben, dass aktuell noch keine weiteren Morde von Kira zu verzeichnen seien. Nach einer Pause, die nur von ihrer neutralen Stimme erfüllt war, gaben die beiden Männer gleichzeitig zur Antwort:

„Dort ist es so still.“

Sie tauschten einen flüchtigen Blick. L legte geruhsam das Kleidungsstück über die Sofalehne. Mit plötzlichem Schmerz stellte Light fest, dass es sich dabei um seine eigene Sweatjacke handelte, mit der er L in der vorletzten Nacht zugedeckt hatte. Betreten ging er zum Sofa hinüber und ließ sich in seitlicher Haltung neben seinem Freund nieder.

„Komm her“, forderte er L auf und winkte mit der Hand auf und ab. Als dieser zuerst nur mit Verwunderung reagierte, zog Light ihn unmissverständlich an der Schulter rücklings zu sich heran. Während L herüberrutschte, setzte Light einen Fuß auf die Couch, um den Detektiv zwischen seine Beine zu ziehen und ihn sanft von hinten zu umarmen. Widerstandslos ließ sich L zurücksinken und schmiegte sich in Lights Arme. Im Fernseher flackerten indessen zahlreiche Bilder vorbei und tauchten die auf dem Tisch verteilten Schokoladenpuzzle und eingepackten Tafeln abwechselnd in blasses Licht. Bilder von Verbrechern, von Politikern, von Kriegen in fernen Ländern.

„Light-kun“, sagte L leise, „du tust mir weh.“

„Entschuldige.“ Seine Arme entkrampfend ließ Light seinen Freund los. Er hatte nicht bemerkt, wie fest er L umklammerte. Jetzt drückte er ihn ein wenig von sich, griff zurückhaltend an den Saum des weißen Oberteils und fragte: „Darf ich?“

L drehte sich nicht herum, hielt seinen Kopf weiterhin gesenkt, sodass Light nichts von dessen Gesichtsausdruck zu erkennen vermochte. Doch nach einem kurzen Moment nickte L schweigend und löste die Hände von seinen an den Körper gezogenen Knien, damit Light ihm, einen flüchtigen Blick durch den Raum und zur Tür werfend, das Oberteil über den Kopf streifen konnte. Eine Sekunde später landete das weiße Shirt auf der Lehne bei der Sweatjacke. Seinen Freund am Arm festhaltend zeichnete Light sacht mit den Fingerkuppen die Konturen von Ls Halswirbeln, Schulterblättern und Rippen nach. Mit fahrigen Bewegungen öffnete er die Knöpfe seines Hemdes, schob es sich leicht über die Schultern nach hinten und schloss L daraufhin wieder in seine Arme, sodass sich ihre nackte Haut berührte. Mittlerweile war im Fernseher der Wetterbericht zu sehen, diverse Tabellen, die anhand von Illustrationen den meteorologischen Tagesverlauf anzeigten.

„Alles in Ordnung?“, fragte L behutsam.

„Ja“, antwortete Light tonlos, „ich will nur deinen Herzschlag spüren.“

„Am Freitag ist mit starken Regengüssen zu rechnen“, drang gedämpft eine Stimme aus den Lautsprecherboxen. Aufmerkend schaute Light auf die dünnen Finger seines Freundes, die auf den vom Jeansstoff bedeckten Knien ruhten, nahm eine von dessen Händen in die eigene und hob sie an.

„Hast du schon wieder auf deinen Fingern herumgebissen?“ Ärgerlich betrachtete Light die teils blutigen Nagelbetten. „Ich habe doch gesagt, du sollst das sein lassen.“

„Und du, Light-kun?“ Den Griff zärtlich erwidernd drehte L die Hand seines Freundes herum, sodass auf dem Handrücken die rot geschwollenen Fingerknöchel zu sehen waren. „Konntest du mal wieder deine Wut nicht zügeln?“

Light entgegnete nichts. Stattdessen verhakte er ihre Finger ineinander und hielt die Hand seines Freundes fest. Die andere Hand ließ er nach vorn über Ls Brustkorb gleiten und drückte sie auf die Stelle, wo er deutlich dessen Herz spüren konnte. Dann vergrub er sein Gesicht in dem schwarzen Haar und atmete tief ein. Light fühlte das Pochen an und in seiner eigenen Brust. Und er zählte jeden Herzschlag von L.

An einem toten Punkt

An einem toten Punkt

 

Vorsichtig bewegte sich L in Lights Umarmung, doch es genügte, um diesen aus der Schläfrigkeit zu holen, in die er gerade abzugleiten drohte. Die beiden Männer waren in ihrer Position tiefer auf das Sofa gerutscht. Light fühlte sich träge und erhitzt zugleich. Es war erstaunlich, wie beruhigend Ls Nähe auf seinen Gemütszustand wirken, wie sie ihn aber auch gleichermaßen mehr erregen konnte als jede andere bisher erlebte Intimität. Nicht, dass Light vorher jemals in Erwägung gezogen hätte, mit einem Mann intim zu werden. Er hatte nie darüber nachgedacht. Normalerweise mochte er Frauen, ohne Zweifel. Trotzdem hatten Scharfsinn, Direktheit und Provokation, die ganze eigentümlich einfühlsame, kindliche oder erwachsene Persönlichkeit von L etwas unbestreitbar Attraktives an sich, was nicht hinter der Tatsache zurückstand, dass Light sich keinesfalls wünschte, L würde eine Frau sein. Vermutlich hätte es im Grunde nichts geändert, aber irgendwie war selbst der ursprünglich abstoßende, auf seltsame Art pervertierte Fakt, dass L ebenso ein Mann war, dass seine Brust flach, seine Muskulatur sehnig und kraftvoll war, dies alles wurde Teil eines Umstands, der Light sogar noch stärker an seinem Feind reizte. Etwas, das L genauso definierte wie all seine Eigenheiten und charakterlichen Merkmale, vielleicht aufgrund des ausgewogenen Kräfteverhältnisses zwischen ihnen. Dieses gesamte Zusammenspiel hatte Light offensichtlich schon gereizt, als sie in seiner Erinnerungslosigkeit lediglich Freunde gewesen waren. Oder es zumindest zu sein versuchten. Jetzt allerdings jagte der irreal erscheinende Gedanke, dass der Meisterdetektiv L widerstandslos in Kiras Armen lag, sich quasi freiwillig in seine Macht begeben hatte, eine zusätzliche Welle der euphorischen Begeisterung durch seinen Körper.

L machte Anstalten, sich zu befreien und aufzustehen. Reflexartig wurde er fester gepackt und daran gehindert.

„Was ist, Light-kun? Willst du nicht, dass ich gehe?“ Ls Stimme klang kratzig und tief. Nach kurzem Überlegen fügte er bitter hinzu: „Willst du mich etwa weiter kontrollieren?“

„Nein“, kam prompt die Antwort. Auch Light überlegte einen Moment, bevor er seine Aussage revidierte. „Das heißt, eigentlich schon. Ich will nicht, dass du gehst, aber nicht in erster Linie, um dich zu kontrollieren. Du weißt, die Sache mit der Kontrolle habe ich längst aufgegeben, obwohl ich dennoch gern auf dich aufpassen würde.“

„Befürchtest du, ich könnte das Notizbuch des Todes benutzen, sobald du nicht mehr auf mich Acht gibst?“

„Solltest du es versuchen, Ryuzaki, solltest du das Heft wirklich benutzen wollen, wirst du entweder dein Leben oder deinen Verstand verlieren.“ Light ließ zu, dass sich L in seinen Armen herumdrehte. Schweigsam und fragend musterten ihn die großen dunklen Augen, als warteten sie auf eine Erläuterung. „Entweder du machst weiter“, erklärte Light daraufhin, „oder du bist innerhalb von dreizehn Tagen tot.“

„Basierend auf dieser These, was vermutest du in Bezug auf Kira? Ist er bereits gestorben oder hat er...“ Bevor L seine Frage aussprechen konnte, legte Light einen Finger auf die blassen Lippen, dann zog er ihn an sich und küsste ihn sanft. Zuerst schien L zurückweichen zu wollen, jedoch erwiderte er die Zuwendung bald ebenso sehnsüchtig. Ihr inniges Spiel vertiefend schmeckte Light ungewöhnlicherweise keinen Zucker, sondern Minze auf Ls Zunge, vermutlich derselbe Geschmack wie sein eigener, weil die beiden Männer die gleiche Zahncreme verwendeten, die in der Ermittlungszentrale zur Verfügung gestellt wurde.

„Keine Schokolade heute?“, fragte er in einer kurzen Atempause und machte eine Kopfbewegung hinüber zum Tisch, zu den dort verteilten, unangetasteten Schokoladentafeln zwischen den ähnlich gestalteten Puzzlestücken. L schenkte der Geste keine Beachtung, suchte stattdessen unentwegt nach dem Mund seines Freundes.

„Ich wollte eigentlich etwas anderes.“

„Was?“ Light grinste belustigt in den Kuss. „Besser als Süßigkeiten?“

„So könnte man sagen.“

Eine Sendung über moderne Kunst in Osaka flimmerte über den Bildschirm. Die umstehenden Lampen tauchten die nächtlichen Räumlichkeiten in gedämpftes Licht. Ohne den Kontakt ihrer Lippen je lang zu unterbrechen, wanderte Ls Hand über den Oberkörper seines Partners, dessen warme, leicht gebräunte Haut, schließlich an der Seite entlang über dessen Hüfte und Hosenbein, bis er Light mit seinen spinnenartigen Fingern in der Kniekehle packte, um ihn vollständig in eine liegende Position zu ziehen. Mit der anderen Hand drückte er ihn an der Schulter hinab auf das Sofa und beugte sich in typisch gekrümmter Haltung über ihn. Das war zwar nicht ganz die Lage, in die Light gebracht werden wollte, doch im Moment hatte er nicht vor zu protestieren. Er gab sich den sinnlich forschenden Berührungen des Anderen und seiner eigenen nervösen Aufregung hin, während sich ihre Lippen hungrig vereinten. Konventionen spielten keine Rolle mehr, das hatten sie noch nie.

„Was ist mit Misa?“, fragte L ruhig, vielleicht ein wenig spöttisch, was bei seiner tonlosen Stimme schwer zu bestimmen war.

„Oder Kiyomi oder Mayu oder Yuri oder Shiori?“, fügte Light gleichgültig hinzu. „Ich bin vielleicht keine besonders treue Seele.“

„Bei deiner moralischen Einstellung?“

„Lassen wir das Thema“, unterband Light jede Diskussion und verführte seinen Freund, die Hand in dessen Nacken legend, erneut zu einem intensiven Kuss. Weiterzureden musste zwangsläufig in einer Lüge oder einem Schlagabtausch enden. Dabei blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Die Worte des Polizeiinspektors hatten Light einerseits zwar gezeigt, wie wenig Yagami Soichiro, trotz empathischer Gutmütigkeit, hinter die Fassade zu sehen vermochte. Andererseits war Light bewusst geworden, dass er in der Tat sein Ziel aus den Augen zu verlieren drohte. Kira wollte Gerechtigkeit, uneigennützig und um jeden Preis. Seine Zweifel, ob er L wirklich umbringen sollte, waren unangebracht und egoistisch. Sicher, noch war Kira nicht vollkommen zu einem Gott auferstanden, solange sein Widerpart am Leben war. Als Mensch kam Yagami Light manchmal gegen eventuelle Sentimentalitäten nicht an. Aber es änderte nichts.

„Light.“ Er öffnete die Lider und begegnete Ls eindringlichem Blick. Die Augen des Detektivs wirkten wie stets weit und tief, so finster wie ein Abgrund, doch erkannte Light nun bei genauerer Betrachtung, dass dessen Iris gar nicht vollständig schwarz war, sondern zerbrochen in verschiedene Abstufungen von Grau. Fasziniert versank Light in dieser Beobachtung, während er widerstandslos unter seinem Feind liegen blieb. „Ich habe das wirklich nicht aus Rache getan.“

Light brauchte einen Moment, um zu begreifen, was L meinte. Dann antwortete er schlicht:

„Ich weiß.“

„Du hast mal gesagt, ich wäre nicht nur einer von Millionen, solange du an meiner Seite bist. Wie...“

„Du erinnerst dich echt an alles“, schnitt Light ihm das Wort ab. Konnte dieser Kerl nicht endlich den Mund halten? Doch L dachte nicht einmal daran und fragte:

„Warum bist du hier?“ Genervt seufzte Light. Bevor er allerdings über eine passende Entgegnung nachsinnen konnte, sprach L bereits weiter, als habe er es sich anders überlegt. „Nein, sag nichts. Das weiß ich im Grunde und deine Antwort wäre nicht ehrlich genug, um mich zufriedenzustellen. Meine Frage müsste eher lauten... warum tust du das?“

„Warum tust du es denn?“

„Das habe ich dir bereits gesagt, Light-kun.“

Verärgert drückte Light den Anderen von sich, um in eine aufrechte Position zu gelangen. Der Meisterdetektiv wollte es offenbar seinem analytischen Wissensdurst folgend nicht anders. Da L weitere Lügen zu hören wünschte, sollte er sie gern bekommen.

„Frag mich lieber, warum ich überhaupt damit angefangen habe, Ryuzaki.“ Das aufgeknöpfte Hemd wieder über seine Schultern ziehend, ohne es zu schließen, stützte Light in lässiger Haltung einen Arm auf sein angewinkeltes Bein. Er strahlte gelangweiltes Desinteresse aus, wenngleich er innerlich aufgewühlt war und sich zunehmend unwohler fühlte. Wieso konnte es nicht einmal leichter sein? „Lass es uns auf meine überstrapazierten Nerven schieben, ausgelöst durch meinen Wunsch, dir zu zeigen, dass mein Verlangen nach Freundschaft von Beginn an echt und im Gegensatz zu deinen diesbezüglich getätigten Äußerungen nicht vorgetäuscht war. Der Verdacht, Kira zu sein, hat mich verrückt gemacht, ich war verzweifelt und wollte dich davon überzeugen, mir glauben zu können, mir zu vertrauen. Aber es ist zwecklos. Ich habe es aufgegeben.“

Verbittert senkte Light den Kopf, als hätte er das, was er seinem Freund gerade gestand, unzählige Male zu akzeptieren versucht und wäre letzten Endes doch daran gescheitert. L begutachtete das Mienenspiel seines jungen Partners, während dieser sich erklärte. Es war zu perfekt, zu glaubhaft. Meinte Light es ernst? Oder hatte er sich bereits dermaßen von seinen Lügen überzeugt, dass mittlerweile kaum mehr ein Unterschied zur Wahrheit bestand? War es vielleicht möglich, dass Light tatsächlich aussprach, was er fühlte und dachte, dies alles aber nur akzeptieren konnte, indem er sich vormachte, es sei nichts weiter als eine Lüge?

„Was ist mit dir, Ryuzaki? Du hast dich damals ziemlich gegen meinen Übergriff gewehrt... es tut mir leid, was da passiert ist, was ich getan habe. Aber daraufhin bedrängtest du mich plötzlich deinerseits, obwohl ich keine weiteren Annäherungen gestartet habe und lediglich eine Erklärung dafür verlangte, weshalb du so rücksichtslos mit deiner eigenen Person umgehst. Nachdem du einmal erkanntest, was ich von dir wollte, hättest du dich mir womöglich sogar hingegeben, aus Opferbereitschaft oder wie auch immer ich das nennen soll. Dabei müsstest du wissen, dass ich so etwas Unredliches niemals tun würde. Stattdessen warst du es, der mich schon fast genötigt hat.“

„Nicht, Light-kun.“ Die ruhige Stimme des Detektivs klang leise und dumpf. „Behaupte bitte nicht, ich hätte dich zu der Sache in der Dusche gezwungen. Auch wenn wir beide meinten, es sei unvernünftig, beruhte es trotzdem auf Gegenseitigkeit.“

„Ja, auf Gegenseitigkeit, das ist das Stichwort. Etwas aus Kalkül zuzulassen, das ist etwas völlig anderes als von sich aus damit zu beginnen. Und es fühlte sich nicht an, als wäre deine Reaktion geschauspielert, Ryuzaki. Es fühlt sich auch jetzt nicht so an.“ L durchbohrte ihn fragend mit seinen totengleich erstarrten Augen, in denen ganz schwach eine schmerzliche Nuance durchschimmerte. Im Weitersprechen streckte Light die Hand nach ihm aus, berührte ihn jedoch vorerst nicht. „Trotzdem kam danach nichts mehr von deiner Seite. Abgesehen davon, dass du mich nicht mehr bedrängtest, wirktest du zurückgezogen und in dich gekehrt. Was war los, Ryuzaki? Hat dich irgendetwas verunsichert? Wusstest du nicht weiter, nachdem wir Higuchi erwischten und er gestorben ist? War das wieder dein persönliches Erreichen eines toten Punktes?“

„Du hast Recht, Light-kun, ich habe gezögert.“ Nachdenklich auf seinem Daumennagel herumbeißend nahm L die Worte des Anderen sehr präzise wahr, ging aber nicht weiter darauf ein. Von dieser Verschwiegenheit provoziert überbrückte Light den Abstand zwischen ihnen und griff unwirsch nach Ls Hand, zog sie von dessen Lippen fort, damit dieser nicht mehr daran herumkauen konnte. Hatte L nicht selbst das ganze Thema zur Sprache gebracht? Und jetzt wollte er gar nicht reagieren? Ungehaltener als beabsichtigt fuhr Light ihn an.

„Wozu dieser Angriff, nachdem ich dir meine Zuneigung für Misa offenbarte, als hätte ich dir irgendeinen Anlass dazu gegeben?“

„Hast du das etwa nicht?“ Noch immer schwang unbestechliche Ruhe in Ls raunender Stimme mit, während er bei dem von Light festgehaltenen Arm die Hand zur Faust ballte, ohne sich aus dessen Griff befreien zu wollen. „Du bist mir ausgewichen, Light-kun. Dein Verhalten wirkte sogar noch gespielter als sonst. Du weißt, ich habe meinen Verdacht noch nicht fallen gelassen und gehe weiterhin davon aus, dass du Kira bist. Zwar bist du es vermutlich nicht in der Zeitspanne gewesen, als Higuchi die Morde verübte, aber nach seinem Tod, das hast du selbst auf meine Bitte hin deduziert, würdest du die Kraft des Tötens zurückerlangen können, früher oder später. Wen also sollte ich in der weiteren Ermittlung verfolgen? Natürlich den eigentlichen Kira. Denjenigen, den ich schon von Beginn an verfolgte, der mich auf seine Fährte gelockt hat, indem er mit mir spielte und mir auf kindische Weise Informationen über sich preisgab, damit ich ihn finde.“

„Du hast vorhin das Gespräch mit meinem Vater belauscht, nicht wahr?“ Light unterdrückte ein Grinsen, als er sich gedanklich seine folgenden Worte zurechtlegte. Am Handgelenk holte er seinen Gegner näher zu sich heran. „Kira hat dich in die Irre geführt, L. Offenbar ist er ganz anders, als du ihn einschätzt. An irgendeinem Punkt konnte er durch dein sorgfältig ausgeworfenes Netz schlüpfen, weil du anhand deiner Mutmaßungen und deines Täterprofils nur noch besessen auf mich fixiert warst, nachdem Kira eine falsche Spur gelegt und dich wissentlich auf mich angesetzt hat. Er musste dir einen Verdächtigen liefern, um von sich selbst abzulenken. Und diesen Trick hat er nicht zum ersten Mal angewendet. Du hast mir doch die Bilder von den Verbrechern gezeigt, mit deren Hilfe dir Kira Nachrichten zukommen ließ. Und während du damit beschäftigt warst, dieses dämliche und völlig sinnlose Rätsel zu lösen, hat er seelenruhig deinen Köder geschluckt, nämlich die FBI-Agenten.“

In mitleidvoller Sanftheit legte Light seine Arme in den Rücken des Detektivs, fasste ihn an den Lenden und zog ihn in eine ebenso liegende Position, in welcher er sich kurz zuvor selbst auf dem Sofa befunden hatte. Dann strich er L scheinbar tröstlich durch das dichte Haar und über die Wangen. Dieser starrte ihn im stummen Erschrecken an.

Ein Teil von Yagami Light, der göttliche Kira labte sich einen Moment an dem Schmerz, den er in den dunklen Augen seines Feindes fand, während sein menschliches Überbleibsel den Kummer über seine eigene Grausamkeit verbarg.

„Was war das für ein Gefühl, als du erfahren hast, dass sie alle tot sind, L? So viele gute Menschen, die deinetwegen über die Klinge springen mussten. Hast du gedacht, dass Kira dich reingelegt hat? Oder verlief nicht vielmehr alles nach Plan, sodass du nun deine Angel einholen und deinen Fang begutachten konntest? Du hast Kiras Persönlichkeit doch schon längst analysiert. Du hast seine Reaktionen vorausgesehen und ihn provozieren können. Aber Kira konnte das genauso gut wie du, L. Er hat deine Psyche verstanden und dich mit mir in die Irre geleitet, weil ich deinem Ideal von einem Gegner entspreche. Zugegeben, das schmeichelt mir in gewisser Weise, weil ich damit für dich eine Bedeutung habe.“ Light schüttelte den Kopf und schmunzelte bitter, bevor sich sein Gesicht zu einem fast flehentlichen Ausdruck wandelte, während seine Stimme in jugendliche Zweifel gefärbt war. „Aber es verletzt mich auch! Es ist furchtbar, mir vorstellen zu müssen, dass ich für dich nur eine Rolle spiele, weil du eine perverse Anziehungskraft in der Möglichkeit ausmachst, ich könnte Kira sein.“

Energisch schloss Light den dünnen Körper des Meisterdetektivs in seine Arme und drückte ihn fest an sich, spürte dessen Anspannung und sogar ein leichtes Zittern, das von den Händen ausging, die L reglos auf Lights Schultern gelegt hatte, ohne ihn damit näher an sich zu ziehen oder wegzustoßen.

Die ganze Situation hatte eine euphorisierende Wirkung auf Light. Andererseits vibrierte in seinem Inneren nicht nur ein zurückgehaltenes Lachen, das ihm Übelkeit und Hysterie bescherte, gleichfalls kreisten in seinem Kopf, zahlreich und unermüdlich, seine besitzergreifenden Gedanken. Ich will dich haben, L, und ich werde dich bekommen, auch wenn ich dir dafür das Blaue vom Himmel herunter lügen muss.

Seinen vertrauten Feind zärtlich umarmend beendete Light seine Worte in gutmütiger, beherrschter Tonlage:

„Darum habe ich mich dagegen gesträubt, das hier zwischen uns weiter geschehen zu lassen, bis der Fall gelöst ist. Ich wollte sicher sein, dass du es ernst meinst und es echt ist.“

„Denkst du etwa, ich würde aus irgendeiner Perversion heraus nur mit Kira solche Dinge machen wollen, dass ich das überhaupt könnte, wenn ich es wüsste? Habe ich dir nicht deutlich genug gezeigt, dass es mir um dich geht, Light?“ Ein ungläubiges Lachen entkam dessen Kehle.

„Du bist dir sicher, dass ich Kira bin. Was macht es da für einen Unterschied, ob du es weißt oder nicht? Deine Deduktionen führen dich zu einem Schluss, der für dich wahr sein muss. Sobald man alles Unmögliche ausgeschlossen hat, ist das Übriggebliebene die Wahrheit, ist es nicht so? Muss ich dich erst an deine eigenen Worte erinnern, Sherlock?“

„Light, bitte...“

„Warte, ich weiß, wie es weitergeht.“ In nüchterner Lebhaftigkeit entließ Light den unter ihm liegenden Meisterdetektiv aus seiner Umarmung, nahm dessen Gesicht in die Hände, küsste seine Lider, seine Schläfe und sagte schließlich leise in sein Ohr: „Dein Geist ist eine Maschine, L, die unentwegt läuft und läuft und sich selbst in Stücke reißt, wenn sie nicht mit dem Räderwerk gekoppelt ist, wenn sie also gleichsam kein Problem zu bearbeiten hat. Darum verfällst du in Depressionen, wenn du an einem toten Punkt angelangst. Ich habe es in den zwei Monaten, bevor wir auf Yotsuba stießen, vielfach gesehen, deine Tatenlosigkeit und Langeweile. Das Leben ist so banal. Was hat es für einen Reiz, wenn nicht den des Spieles? Emotionen sind bloß Schwäche oder Teil der Kalkulation. Erfahrungen bedeuten den Tod, denn je mehr wir die Welt begreifen, desto weniger vermag sie uns zu überraschen und zu beleben. Das eigene Opfer lohnt sich nur, wenn das Ziel hoch genug ist. Doch die Zeitungen und Nachrichten sind geistlos, die meisten Menschen leicht zu durchschauen, jedes Rätsel schnell geknackt. Wagemut und Romantik scheinen für immer aus der Welt des Verbrechens entschwunden zu sein. Und dann kommt Kira daher mit seiner größenwahnsinnigen Idee einer perfekten Welt. Selbstverständlich konnte L nicht widerstehen, ständig auf der Suche nach dem nächsten Kick. Auf perfide Art beißt du dich nicht deshalb an mir fest, weil ich optimal dem Profil von Kira entspreche, sondern weil dich diese Prämissen niemals zur Konklusion führen werden. Ich bin nicht Kira, aber anstatt diese Tatsache zu akzeptieren, machst du weiter und weiter und weiter, um dich mit einem Problem befassen zu können, das sich niemals lösen lässt.“

„Das ist eine haltlose Vermutung.“

L wollte sich befreien, drückte seine Hände gegen den nackten Oberkörper seines Freundes, welcher ihn jedoch jählings an den Handgelenken packte und diese auf dem Sofa rechts und links von seinem Kopf festhielt, unnachgiebig, ohne brutal zu sein. Schwer atmend blickten die beiden Männer einander in die Augen.

In Bemühung um Analytik erklärte L:

„Zuallererst will ich einen Fall immer zur Lösung bringen. Der Weg mag zwar ebenso das Ziel sein, weshalb ich zusammen mit der Auflösung des Problems oft das Interesse daran verliere, aber ohne Ziel hätte der Weg erst recht keinen Sinn. Sonst bliebe ich lieber stehen und würde gar nichts mehr machen, anstatt mich fortwährend abzumühen. Sollte ich nicht zweifelsfrei belegen können, dass du Kira bist, würde ich aufgeben.“

Lächelnd beugte sich Light zu seinem Freund hinab und wisperte auf dessen Lippen, wobei er ihn nur flüchtig streifte:

„Dann gib auf.“

Wahre Lügen

Wahre Lügen

 

„Das kann ich nicht.“ Von L gesprochen klangen die Worte unbedeutend und emotionslos. „Ich kann nicht aufgeben.“

Ohne weitere Regung ließ er sich auf dem Sofa festhalten, starrte seinem jungen Partner nur eindringlich in die Augen und wartete ab. Seufzend richtete dieser sich auf, um den Detektiv besser betrachten und gleichsam mit den folgenden Gedanken konfrontieren zu können.

„Ryuzaki, du weißt, dass ich in den letzten zwei“, begann Light langsam, „nein, drei Monaten gegen deinen Verdacht angekämpft habe. Ich zweifelte an mir selbst, an meinem Verstand, sogar heute noch. Als du mich entlassen hast und wir aneinandergekettet waren, genauso wie am Anfang meiner Inhaftierung, stets habe ich gedacht, all meine Deduktionen müssten mich am Ende zu meiner eigenen Person führen, genauso wie sie dich dorthin geführt haben. Selbst Kiras Entscheidungen, seine Art zu töten, lassen mich glauben, dass ich auf ähnliche Weise richten würde. Trotzdem habe ich schon vor drei Monaten, allein in dieser verfluchten Zelle, in die du mich eingesperrt hast, in die ich mich selbst in meinem Irrsinn habe einsperren lassen, wieder Mut gefasst und daran festgehalten, dass es nicht sein kann. Warum zweifle ich dann sogar heute noch? Etwa deshalb, weil du mir ständig vor Augen führst, wie logisch diese Schlussfolgerung wäre? Weil du mit deiner These Recht behalten willst und sie mir aufzwingst? Oder weil du das Interesse an mir verlieren könntest, wenn ich nicht Kira bin? Und dann willst du mir weismachen, du würdest dich nicht auf mich einlassen, sobald du dir sicher bist, dass es stimmt? Mir kommt es ganz im Gegenteil so vor, als wäre das für dich der ultimative Nervenkitzel.“

Durch Ls unbedarfte Gelassenheit, seine stumme Hinnahme, hatten sich die Aggressionen im Inneren von Light aufgelöst. Er schaffte es, emotional Fuß zu fassen und seine übliche Beherrschung zurückzuerlangen. Als er lediglich Schweigen auf seine Aussagen erntete, weil L es nicht für nötig zu erachten schien, seinen Freund eines Besseren zu belehren, fügte sich auch Light in jenes unausgesprochene Einverständnis. Er ließ sich von den dunklen Augen gefangen nehmen, bedachte mit seinem Blick die offene, gerade Haltung des Meisterdetektivs, die so ungewöhnlich für ihn war und die erst Light ihn zu zeigen nötigte. Sogar jetzt, in seiner lässigen Zurückgezogenheit, wirkte L begehrenswert. Die Gefühle brannten auf Lights Haut wie saurer Regen. Erneut beugte er sich hinab. Trunken vom Gift seiner eigenen Lügen, der unleugbaren Wahrheit dahinter, merkte er voller Zuneigung, wie die Atmung seines Freundes stockte, doch er wollte ihm keine Gelegenheit geben, überhaupt Luft zu holen, und küsste ihn stattdessen noch inniger. Unter seinem Griff spürte er die Sehnen von Ls angespannten Handgelenken genauso wie seinen Puls.

„Du würdest mich doch töten, wenn du erfährst, dass ich Kira bin, oder nicht?“

„Das habe ich nicht gesagt.“ Die beiden Männer tauschten sich nur leise zwischen ihren Küssen aus. „Für die Verurteilung gibt es unser Rechtssystem. Wenn ich das selbst übernehmen würde, wäre ich nicht besser als Kira.“ Light musste grinsen.

„Aber L, du bist nicht besser als Kira“, raunte er mit milder Nachsicht. Er verlagerte sein Gewicht, welches er bisher über die Arme ausgeübt hatte, auf die Knie, um den nackten Oberkörper seines Partners zu erkunden. Unter den zärtlichen Berührungen atmete L schwerfälliger. Sein lebloser Blick wirkte unkonzentriert, fast scheu. „Außerdem macht es keinen Unterschied. Kira würde dann also vom Rechtssystem getötet werden, weil du ihn überführt hast. Deiner Deduktion zufolge bedeutet das, ich werde sterben müssen. Durch deine Hand.“ Einen Arm des Detektivs leicht anhebend, küsste Light die Innenseite von dessen Handgelenk. „Du hast es selbst gesagt. Du wirst mich töten. Oder würdest du mich verschonen? Wenn ich dir sage, dass ich Kira bin, wäre der Fall schließlich gelöst. Du hättest dein Ziel erreicht. Müsstest du mich trotzdem erst dem Justizsystem ausliefern? Oder würdest du mich weitermachen lassen? Würdest du dich auf meine Seite stellen?“

„Auf keinen Fall.“ Stechend durchbohrten ihn die tiefschwarzen Augen und vermittelten Light mit eindeutiger Entschiedenheit, wie wenig L dazu bereit war, einen solchen Gedanken auch nur in Erwägung zu ziehen. „Außerdem sind diese Fragen völlig unerheblich. Du würdest dich mir, wenn du Kira bist, niemals offenbaren, weil ich dir keinen Beweis dafür liefern könnte, dass du mir vertrauen kannst.“

„Und wenn ich dich besiege, indem ich deinen Namen herausfinde, möglicherweise den Namen von Watari?“ Erst die Nennung des alten Mannes, der sowohl Butler als auch Mentor des Meisterdetektivs zu sein schien, rang L eine ungläubig erschrockene Reaktion ab. „Was wäre, wenn ich dich unter Druck setze, zusammen mit Misa, deinem vermeintlich zweiten Kira, die mir als Sicherheit dienen würde, sodass dir die Hände gebunden sind? Du müsstest deine Ideale nicht verraten, du hättest den Fall gelöst. Du müsstest einfach nur hinnehmen, dass du gegen Kira verloren hast. Und ich würde Gnade walten und dich am Leben lassen, bis du begreifst, dass Kiras Ideale richtig sind.“

„Ich würde dich hassen, wenn du das tust.“

„Ach?“ Light lächelte bitter. „Nur wegen meines Sieges? Ich dachte, du würdest mich allein aufgrund der Tatsache hassen, dass ich Kira bin. Aber wenn du gewinnst, wäre es völlig in Ordnung, mich an dich zu ketten, obwohl ich dann in der gleichen Situation wäre wie du?“ Eine Hand unter den Körper des Anderen bringend, hielt Light seinen Partner im Rücken fest, während er dessen Lenden hinab über den Bund der Jeans glitt und die Hand in eine von Ls hinteren Hosentaschen schob, wo er ihn sanft packte und stärker an sich presste.

„Es gibt keinen Weg“, versicherte Light nachdrücklich. „Keiner von uns beiden würde seine Ideale hintergehen und aufgeben. Vielleicht liegt mein Vater richtig und es geht dir tatsächlich nicht mehr um Gerechtigkeit. Also hör endlich damit auf, in mir Kira sehen zu wollen. An dieser Vorstellung ist nichts Gutes, nichts Erstrebenswertes. Es wird uns beide zwangsläufig ins Verderben stürzen, wenn es so wäre.“

Eine Weile schauten sie einander unverwandt in die Augen, dicht an dicht die Haut und Wärme des anderen spürend, bis L seinen Blick zur Seite schweifen ließ, sodass er sich in der Leere verlor.

„Entschuldige, Light-kun.“

Einen kurzen Moment erfüllte Light ein vermeintliches Siegesgefühl, das jedoch binnen Sekunden von einer unangenehmen Kälte verdrängt wurde. Seinem selbstsüchtigen Verlangen sollte er nur so weit nachgeben, wie es die Durchsetzung seines Plans nicht gefährdete. Am Ende hatte die Gerechtigkeit mehr Bedeutung als alles andere. Er durfte nicht mehr zweifeln, auch wenn er zu schwach war, um den Meisterdetektiv eigenhändig umzubringen. Dessen Tod stand ohnehin längst fest. Solange konnte Kira ihn hinters Licht führen und sich mit L vergnügen, bevor er ihn hinrichten ließ.

Das Zittern seiner Hände unterbindend strich Light sacht über den Brustkorb seines Freundes, dessen gespenstisch weiße Haut, die sich abzeichnenden Rippenbögen und weiter hinab über dessen Bauch. Als Light sich anschickte, seine Finger unter den Jeansstoff gleiten zu lassen, fasste L ihn rabiat am Handgelenk und hinderte ihn daran.

„Warum willst du plötzlich nicht mehr?“, fragte Light kühl.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht will, Light-kun. Allerdings habe ich auch nicht gesagt, dass es mir... darum geht. Ich wollte nicht, dass du dich von mir distanzierst. Dein ständiger Sinneswandel irritiert mich. Außerdem habe ich nach wie vor keine Antwort erhalten.“

„Ist das denn so wichtig?“ Noch immer sprach Light teilnahmslos und kalt. „Versuchst du dich gerade herauszureden, weil du dich fürchtest?“

„Ja, vielleicht“, gestand L ungerührt. „Im Gegensatz zu deiner Vermutung jagt mir die Vorstellung, dass du Kira bist, nämlich eher Angst ein, als dass es mich anturnt.“

„Du lügst schon wieder.“

„Ich würde lieber warten, bis der Fall gelöst ist. Solltest du nicht Kira sein, wäre das doch kein Problem, nicht wahr, Light-kun?“

„Und was ist, wenn du vorher stirbst?“

„Das wäre in der Tat ungünstig.“ Gleichmütig lächelte L sein typisch befremdliches Lächeln. „Aber diese Befürchtung könnte dich anspornen, mich zu retten.“

Lautlos schmunzelnd schüttelte Light den Kopf, gleich darauf nickte er. Innerlich schwankte sein emotionaler Zustand zwischen absolutem Chaos und Nichts. Noch war Yagami Light menschlich. Noch hatte er sich nicht gegen seine erbärmlichen Schwächen gewappnet. Einstmals in seiner Jugend, bevor er das Death Note fand, wünschte er sich manchmal, unbeschwert und glücklich zu sein. Allerdings hätte er dafür wahrscheinlich genauso dumm und gedankenlos sein müssen wie der Rest dieser stumpfsinnigen Menschheit. Es war alles so langweilig. Die Welt um ihn herum wirkte verdorben, sinnlos, verkehrt. Er konnte das seltsam tote Gefühl in seinem Inneren nicht mehr abschütteln. Es schnürte ihm die Kehle zu, jedes Mal wenn er sich die Oberflächlichkeit seiner Mitschüler vor Augen führte, die Absurdität massenmedialer Vernetzung, Unterdrückung von Minderheiten, Verworrenheit internationaler Beziehungen, Armut, Zerstörung, Krieg. Würde es etwas ändern, wenn man kämpfte oder sich vergnügte? Würde es etwas ändern, wenn man jemanden hasste oder liebte?

Es gibt nichts Komischeres auf Erden als das Unglück. Light war in diesem Moment wirklich zum Lachen zumute. Doch seine Mimik blieb leer. Kiras Herz war erkaltet.

Im beruhigenden Klang seiner monotonen Stimme meinte L:

„Vielleicht habe ich Todesangst davor, jemanden zu lieben, der mich umbringen will.“

„Was redest du da?“, entwich es Light fassungslos, zusammen mit einem Lachen, das in unterdrückte Panik gefärbt war. Ruckartig wollte er sich von seinem Freund entfernen, doch dieser hielt ihn resolut fest und zog ihn zurück auf das Sofa.

„Nicht weglaufen. Komm her.“ Seinen jungen Partner an den Schultern packend drehte L die Konstellation ihrer Körper erneut, sodass Light wieder rücklings unter ihm lag. Dieses Mal zeichnete stummes Entsetzen die braunen Augen.

„Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun“, versuchte L ihn zu beschwichtigen, während er den Kopf auf dessen Brust bettete und reglos hinüber zum Tisch schaute, wo die Schatten der Puzzleteile im flackernden Licht des Fernsehers tanzten. Für einen Moment herrschte Stille, bis L leise feststellte:

„Dein Herz rast, Light-kun.“

Ohne etwas sagen zu können, doch von Widerwillen getrieben, geriet Light in Bewegung, nervös darum bemüht, sich von dem Anderen zu befreien. Was hatte er damals zu L gesagt? Er wollte nur ein bisschen Spaß haben? Solange er seine Ideale nicht hinterging, konnte das schließlich mit der Tilgung seiner Langeweile und dem Streben nach Glück vereinbart werden. Aber was änderte das an der Sinnlosigkeit des Daseins? L und Kira kämpften bereits seit einem Jahr gegeneinander. Bald war das Spiel aus. Der Spaß vorbei.

„Du solltest wissen, dass du nicht allein bist“, erklärte L behutsam, wobei er sich ein wenig aufrichtete, um das ausdruckslos erstarrte Gesicht des Jüngeren zu mustern, der den Blick nun in zurückgewonnener Beherrschtheit erwiderte.

„Das weiß ich.“

„Ja, du weißt es, aber du fühlst dich nicht so. Das ist ein Unterschied.“ L legte Nachdruck in seine Worte. „Du bist nicht allein, Light-kun. Du bist einsam.“

„Ich habe doch dich, Ryuzaki.“ Wenn auch nicht mehr lange, fügte Light zynisch in Gedanken hinzu. „Du hast gesagt, wir beide sind nicht nur durch Handschellen aneinandergekettet. Vielmehr sind auch unsere Schicksale miteinander verbunden.“

„Und du hast gesagt, solange uns die Handschellen verbinden, gehen wir gemeinsam in den Tod.“ Bedauernd schien L seinen Freund an ihre jetzige Situation erinnern zu wollen. „Aber wir sind nicht mehr miteinander verbunden.“

„Zumindest nicht mit Handschellen.“

Kurzzeitig wollte L nachhaken, um Genaueres über Lights Aussage zu erfahren. Nach einer Pause entschied er sich jedoch anders und fragte stattdessen:

„Wünschst du sie dir zurück?“

„Manchmal schon“, antwortete Light sofort. Die jungenhafte Sanftheit und Kälte war noch immer nicht aus seiner Stimme verschwunden, als er L zurück in seine Arme zog. Zärtlich durch das schwarze Haar streichend ließ er dessen Kopf in seiner Halsbeuge verweilen. „Manchmal wünsche ich mir, dass es einfacher wäre zwischen uns.“

 

Hellgraues Morgenlicht verfing sich in den Rillen der Deckensparren, an den eingebauten Leuchten und halbkugelförmigen Überwachungskameras. Im Widerhall der Stille schaute Light irritiert hinauf. Eine weitere unbekannte Zimmerdecke.

Deutlich spürte er das Gewicht eines fremden Körpers auf sich lasten. Er bewegte sich vorsichtig, um den Blick senken zu können. L schien noch immer zu schlafen. Mit seinen entspannten, blassen Gesichtszügen sah er, trotz der dunklen Schatten unter seinen Augen, unglaublich jung aus. Light hob eine Hand und strich durch das wirre dichte Haar, ließ die weichen Strähnen gedankenversunken zwischen seinen Fingern hindurch gleiten. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass um sie herum absolute Geräuschlosigkeit herrschte. Der Fernsehbildschirm zeigte sich stumm und geschwärzt wie ein inhaltloser Rahmen. Womöglich hatte eine automatische Selbstausschaltung das Programm auf dem Monitor gelöscht. Als Light den Kopf zur Seite wandte, bemerkte er allerdings, dass auch die Süßigkeiten und Denkspiele abgeräumt worden waren. Hatte Watari den Raum betreten, während sie schliefen?

Jene Hand vor das Gesicht hebend, mit der er nicht durch das Haar seines Freundes streichelte, überprüfte Light das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Der Morgen war nicht mehr jung. Der heutige Tag war datiert auf den vierten November. Es wurde Zeit, aufzuwachen.

Müde regte sich L, stützte sich sowohl auf dem Sofa als auch dem Brustkorb des anderen Mannes ab, um sich hochzustemmen. Flüchtig berührten sie einander zum letzten Mal, bevor L mit spitzen Fingern nach dem weißen Oberteil angelte und es ungelenk überstreifte. Er kratzte sich am Hinterkopf, stutzte kurzfristig, dann schlüpfte er aus den Ärmeln wieder heraus und zog sein Shirt, es auf die Rückseite drehend, richtigherum an. Diesen Beobachtungen Einhalt gebietend lenkte Light seine Aufmerksamkeit von dem Detektiv weg auf sein eigenes Hemd, dessen Knöpfe er geflissentlich zu schließen begann. Derweil stand L auf und trottete mit hängenden Schultern zum Fenster hinüber. Lässig lehnte er sich auf das langgezogene Fensterbrett, welches freigeräumt von jeglichen Gegenständen, schmucklos und sauber die Unterkante der doppelt verglasten Scheibe bildete. Ein Vorhang des Schweigens hatte sich zwischen den beiden ausgebreitet, von welchem Light glaubte, dass er ihn selbst nicht würde zerreißen können. Schließlich fing jedoch L unvermittelt und leise zu sprechen an, ohne sich hierbei umzuwenden:

„Auch wenn du dich manchmal so fühlst, Light-kun, niemand von uns ist allein. Wenn wir ausatmen, atmet ein anderer unseren Atem ein.“ Der Meisterdetektiv hauchte gegen die Fensterscheibe, woraufhin er an jene von einem grauen Schleier beschlagene Stelle ein „L“ malte. „Das Licht, das mich erleuchtet, erleuchtet auch meinen Nachbarn.“ Mit in der Luft schwebendem Zeigefinger betrachtete er den Buchstaben einen Moment, bis er den senkrechten Strich seines Namens mit einer leichten Kurve verlängerte, zwei waagerechte Linien hinzusetzte und am Ende das Schriftzeichen abwärts mit einem Haken zu einem Abschluss brachte, wodurch das Kanji für Lights Namen entstand. „Alles hängt miteinander zusammen, in einer Verbindung, für die man keine materiellen Fesseln benötigt. Dadurch bin ich mit meinem Freund genauso verbunden wie mit meinem Feind. Somit gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir und meinem Freund.“

Während die Linien auf dem kalten Glas langsam verblassten, ergänzte L nach einer Pause:

„Oder zwischen mir und meinem Feind.“

 

„...nach jeglichen Gesichtspunkten wie ihrer Geburtsstätte oder Berufsgruppe. Wir achten darauf, ob es Anhaltspunkte gibt, die...“ Aus dem Hintergrund jene Instruktionen des jüngsten Ermittlers vernehmend, welcher in gewissenhafter Manier den Polizisten diverse Aufgaben erteilte, beschäftigte sich L ungebrochen mit der Befragung des Todesgottes. Mittlerweile machte er keinen Hehl mehr daraus, dass er sich nicht auf die ziellosen Abwege begeben würde, auf die Light die restlichen Mitglieder der Sonderkommission geleitet hatte. Sollte er doch alle anderen in die Irre führen. Und wenn schon. Seit den Geschehnissen der letzten Tage hatte L noch mehr Gewissheit erlangt. Er würde sich nicht von Light täuschen lassen.

„Todesgötter können also von ihrer Welt aus einen Menschen töten, ohne dessen Welt zu betreten“, spekulierte L gegenüber Rem.

„Das ist korrekt.“

„Wie?“, wollte er wissen, während er an einem Softeis leckte.

„Wir können...“, antwortete Rem zögernd, „zu euch herunterschauen.“

„Also hast du, bevor du das Buch an Higuchi gabst, ab und zu aus der Welt der Todesgötter in die Menschenwelt geblickt, richtig?“

„Ja, schon.“

„Und warum hast du das Buch Higuchi gegeben?“

„Ich habe es ihm nicht gegeben. Ich habe es nur fallen gelassen und Higuchi hat es zufällig aufgelesen.“

Rem versuchte, so gut es ging, den Fragen des Meisterdetektivs auszuweichen. Es irritierte sie, dass dieser sich so vehement auf sie konzentrierte, anstatt zusammen mit Yagami Light und den anderen Personen auf eine Richtung hinzuarbeiten, die Misa eindeutig entlastete. Mitunter fühlte Rem sich, sogar in ihrer Funktion als übermächtiges, todbringendes Wesen, von diesem sogenannten Ryuzaki in die Enge getrieben.

„Oh, Misamisa ist da!“, rief Matsuda erfreut. „Light-kun darf hier ja sein Handy nicht benutzen. Da bleibt der armen Misamisa wohl nichts anderes übrig, als persönlich vorbeizuschauen.“

Sofort drehte sich Rem um und verfolgte auf dem Bildschirm, wie das blonde Mädchen sich abwartend vor dem gläsernen Eingangstor positionierte. Skeptisch bemerkte L die Ablenkung und Erschrockenheit des Todesgottes. Rem schien ihr schlitzförmiges Auge auf Misa oder vielmehr auf etwas hinter ihrer Gestalt gerichtet zu haben, während sich Light bereits auf den Weg gemacht hatte, um seine vermeintliche Freundin zu empfangen. Aufs Schärfste beobachtete L den Todesgott, blickte zur Überwachungsaufnahme und wieder zurück. Als Lights Gestalt von der Kamera eingefangen wurde, sich die Glaspforten öffneten und Misa in das Gebäude eintreten konnte, ging ein neuerlicher Ruck durch das skelettartige Monstrum.

„Misas Lebensjahre wurden erneut reduziert“, raunte Rem bedrohlich.

„Lebensjahre?“, fragte L leise. „Was bedeutet das?“

Doch Rem blieb stumm und durchbohrte mit den Augen hasserfüllt den Rücken des jungen Mannes, der Misa soeben zur Begrüßung in seine Arme schloss.

Alter Ego

Alter Ego

 

„Lange nicht gesehen, Ryuk.“

Das todbringende Geschöpf mit dem immerwährenden Grinsen und dem von schwarzen Fetzen umhüllten Leib kicherte furchteinflößend. So trafen sie einander endlich wieder. Der Herrscher einer neuen Weltordnung und sein Todesgott, der ihm vom Schicksal selbst als Begleitung zur Seite gestellt worden war und der Kira mit der Kraft des Mordens das größte Geschenk seines Lebens gemacht hatte.

„Es hat ein bisschen gedauert, aber es sieht so aus, als würden wir bald zu einem Abschluss kommen.“

„Light... es...“, begann Misa unsicher, während sie sich mit beiden Händen an ihrer Tasche festklammerte, „es tut mir leid.“

„Hm? Was ist denn, Misa?“ In Lights Stimme schwang sanfte Besorgnis mit, als ahnte er nicht, welches Geständnis ihr auf der Seele lag. Natürlich wusste er ganz genau, was sie ihm nun beichten würde. Laut den Anweisungen in seinem Brief hätte sie den echten Namen Hideki Ryugas längst aufschreiben müssen. Da der Detektiv nach wie vor lebte, war jener Fall eingetroffen, den Light mittlerweile insgeheim erhofft hatte.

„Ich kann mich an Hideki Ryugas Namen nicht erinnern!“, platzte es aus Misa heraus. „Ich komme einfach nicht darauf... es tut mir leid.“

„Ach so“, reagierte Light mit Milde, obzwar ein wenig Betroffenheit vortäuschend, „das ist sehr schade.“ Gleich würde Misa ihm sicherlich erzählen, dass sie deshalb mit Ryuk einen erneuten Handel eingegangen war.

„A... aber ich habe mit Ryuk das Augenlicht getauscht.“

„Was?! Das darfst du doch nicht“, rief Light in gespieltem Erschrecken, „dadurch verringert sich doch deine Lebenszeit!“

„Nein, ist schon in Ordnung.“ Das Mädchen schüttelte energisch die blonden Haare. „Ich möchte dir nützlich sein.“

„Misa, mehr noch als ich dich, die du den Tausch des Augenlichts für mich vorgenommen hast, für meine Zwecke verwenden möchte, fühle ich, dass es mir jetzt viel wichtiger ist, mit dir so lange wie möglich gemeinsam in einer idealen Welt zu leben.“ Besonders lang würde diese Zeit ohnehin nicht andauern, dachte Light amüsiert, zumindest nicht für Misa, schließlich hatte sich der Rest ihres Lebens schon zum zweiten Mal halbiert.

„Light, ich bin ja so froh.“ Sie schmiegte sich vor Freude weinend in seine Arme, während Ryuk das Geschehen grinsend verfolgte. Ließ sich dieses Mädchen wirklich so leicht blenden? Oder kümmerte sie sich nicht darum, ob die Liebe ihres Erretters ernst gemeint war, solange er ihr nur das Gefühl gab, geliebt und gebraucht zu werden? „Es wäre bestimmt viel einfacher gewesen, wenn ich mich an den Namen erinnern könnte, nicht wahr? Es tut mir so leid!“

„Ist schon in Ordnung“, redete Light beruhigend auf sie ein und lächelte dabei verschlagen. Im Grunde genommen war es auf diese Weise besser. Die Ungewissheit, dass L in jeder Sekunde der letzten Tage hätte sterben können, sobald Misa dessen Namen in das Death Note eintrug, kam Light nun in aller nervenzerreißenden Deutlichkeit zu Bewusstsein. Warum hatte er diese Tatsache derart verdrängt? Schon am heutigen Morgen hätte Light beim Erwachen seinen geliebten Feind, erkaltet im ewigen Schlaf, in seinen Armen liegend vorfinden können.

Doch nun brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Ls Tod würde nicht unerwartet geschehen. Noch hatten sie Zeit. Bei diesem Gedanken überflutete ihn, zusammen mit der zurückgewonnenen Kontrollmöglichkeit, unwillkürlich auch eine Welle der Erleichterung. Jeder Schritt, der den Meisterdetektiv fortan näher an sein Grab heranführte, würde ein Schritt sein, den Kira ihn sanft bei der Hand nehmend zu überwinden half. Er konnte L demnach so lange festhalten, wie er nicht bereit war, ihn gehen zu lassen.

Nachdem Light seine Mitstreiterin weiter beschwichtigt hatte, erklärte er ihr, wie sie fürderhin vorgehen sollte. An diesem Abend noch würde der zweite Kira wieder zu morden anfangen.

„Ich werde mich darum bemühen, dein Opfer nicht umsonst werden zu lassen, Misa.“ Nachdenklich legte Light die Stirn in Falten. „Es ist schwierig, die Sicherheitsvorkehrungen bis zu L zu überwinden, darum habe ich mir bereits einen anderen Plan überlegt. Falls du dennoch die Gelegenheit bekommen solltest, musst du besonders vorsichtig sein. Womöglich sind in diesem Fall ein paar weitere Vorkehrungen nötig. Also hör mir genau zu.“ Er lächelte Misa aufmunternd an, hütete sich allerdings davor, ihr zu offenbaren, welche andere Möglichkeit er sich ausgedacht hatte, um L zur Strecke zu bringen. Sicher würde sie den Verlust von Rem für Light verschmerzen, aber es war besser, wenn sie ihre ritterliche Vorstellung von ihm behielt.

Es war wie in einer Partie Schach oder Go. Um wirklich gewinnen zu können, durfte man nicht nur über den nächsten und übernächsten Zug nachdenken, man musste weit im Voraus planen und auch die möglichen Spielzüge seines Gegners einkalkulieren. Selbstverständlich würde Light diese zusätzliche Absicherung nicht benötigen. Er brauchte nur einen kleinen Rückhalt für den Notfall.

 

Auf dem größten der Überwachungsmonitore wurde ein Ausschnitt des innersten Stadtplans von Tokyo angezeigt, in dessen Zentrum jene in der Bucht künstlich aufgeschüttete Insel Odaiba lag, die vornehmlich als Gewerbegebiet diente. Daneben waren auf den kleineren Bildschirmen jeweils Übersichten der tödlichen Unfälle und Krankheiten aufgeführt, die sich vor einem Jahr ereignet hatten. Lediglich auf dem letzten Monitor in der rechten oberen Ecke konnte man beobachten, was sich im Erdgeschoss des Fahndungsgebäudes zutrug, wo die beiden einstigen Hauptverdächtigen dicht beieinander standen und sich bloß zu unterhalten schienen.

L entging nicht, mit welch finsterem Blick Rem das Szenario verfolgte, ebenso wie er selbst es tat. Soeben nahm Light das blonde Mädchen liebevoll in die Arme, wobei diese, wenngleich älter als ihr fester Freund, durch ihre kleine Statur noch unschuldiger und kindlicher wirkte als sonst. Konnte Light tatsächlich so plötzlich seine Meinung geändert und Gefühle für Amane Misa entwickelt haben, obwohl er sie zwei Monate lang höflich abgewiesen hatte? In der Rolle Kiras gäbe sein Verhalten hingegen keinerlei Rätsel auf. Dann würden selbst die anderen Frauen, mit denen er sich getroffen hatte, eine nachvollziehbare Funktion erfüllen. Konnte die Behauptung, dies sei alles nur zum Vergnügen geschehen, mit seinem ernsthaften Charakter in Einklang gebracht werden? L musste sich davor hüten, voreilige Schlüsse zu ziehen, nur weil ihm Lights Erklärungen sowie zugegebenermaßen auch seine eigenen diesbezüglichen Beobachtungen, die er im Moment durch die Überwachungskamera anstellte, auf äußerst irrationale Weise missfielen. Was konnte zudem der Grund für die offensichtliche Abneigung des Todesgottes sein? Immerhin war L nicht der Einzige, der mit stechenden Pupillen auf die Kameraaufzeichnung starrte und das Beisammensein der zwei vermeintlich ersten Kiras missgestimmt beobachtete, leider ohne eine ausschließlich kalkulierte Rechtfertigung dafür vorweisen zu können. War es vielleicht sogar denkbar, dass sich in dieser Hinsicht die Motivation von Todesgott und Meisterdetektiv einander ähnelte?

Als Light seine sogenannte Freundin vor die Eingangstür begleitete, um sie zu verabschieden, schob sich L frustriert einen Löffel seines mit Früchten garnierten Puddings in den Mund. Die Fingerspitzen seiner anderen Hand blätterten indes durch die Seiten des Death Notes, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Glastisch lag. Jenes nachweislich nicht aus der Menschenwelt stammende Material fühlte sich fast wie normales Papier an, von glatter Struktur, aber trotzdem ein wenig rau oder eher vergilbt. Wenn man über die Seiten fuhr, hatte man das Gefühl, ein leichter Staubfilm bliebe an der Haut haften. Auch die Tinte, in welcher die Regeln geschrieben worden waren, bestand aus chemisch unbekannten Elementen.

„Rem“, gewann L die Aufmerksamkeit des Todesgottes zurück und tippte mit dem Löffel auf die unzähligen Namen im Death Note, „hierauf kann man vermutlich mit jedem Schreibwerkzeug einen Effekt erzielen, nehme ich an?“

„Ich verstehe nicht, wie die Frage gemeint ist.“

„Füllfederhalter, Bleistift, Kugelschreiber, das würde alles funktionieren, um einen Menschen zu töten?“

„Ja. Alles, womit man einen Namen schreiben kann.“

„Unsichtbare Tinte?“

„Das weiß ich nicht. So etwas habe ich noch nie probiert.“

„Blut?“

Rem musterte den Detektiv irritiert und wiederholte bloß:

„Alles, womit man einen Namen schreiben kann.“

Nach einem weiteren Löffel Pudding und den nächsten umgeblätterten Seiten hielt L argwöhnisch inne. Im Hintergrund passierte Light gerade die Fahrstuhltüren, während L den Löffel beiseite legte, das Death Note an den Kanten zwischen den Fingerspitzen hochhob und es dem Todesgott zeigte.

„Aus der Seite hier in diesem mörderischen Notizbuch ist eine Ecke herausgerissen. Kann es sein, dass ein Mensch, dessen Name auf den ausgerissenen Teil geschrieben wird, ebenfalls stirbt?“

Angespannt vernahm Light, wie der Meisterdetektiv in gewohnter Scharfsinnigkeit genau jene Fragen stellte, die ihm auf Dauer zum Verhängnis werden würden. Wirklich clever, L, räumte er seinem Gegner respektvoll ein, aber das wird dir nichts bringen, weil du nicht weißt, dass Rem auf meiner Seite ist und dichthalten wird. Und in der Tat antwortete die Todesgöttin schlicht:

„Ich habe das noch nie versucht, deswegen weiß ich das auch nicht.“

Aus zusammengekniffenen Augen begutachtete L skeptisch zuerst das skelettierte Geschöpf, dann das Heft in seinen Händen. Es war offensichtlich, dass Rem ihm auswich. Lag es zweifellos an irgendwelchen überirdischen Regeln, wonach ein Shinigami sich nur demjenigen anvertrauen durfte, der das Death Note selbst benutzte? Was hatte ein Gott des Todes bei Zuwiderhandlungen denn schon zu befürchten?

„Wie sieht es damit aus, dass Todesgötter nur Äpfel essen?“, forschte L weiter nach, wobei er das Buch zurück auf den Tisch fallen ließ und sich ein Stück Nashi einverleibte.

„Das ist nicht wahr!“, verneinte Rem entschieden. „In unserer Welt hat man sich das Essen so ziemlich abgewöhnt. Es gibt kaum Nahrungsmittel und die Verdauungsorgane der Todesgötter sind degeneriert. Wir haben uns eben so weit entwickelt, dass wir es nicht mehr nötig haben, etwas zu essen.“

L nickte verstehend. Das stellte eine gar nicht so uninteressante Information dar. Der Detektiv fragte sich, ob es Zufall gewesen war, was Kira ihm damals zur Ablenkung vermittelt hatte. Auf einem Obststück kauend wandte er sich nun lauter, obzwar etwas undeutlich sprechend, an seinen jungen Partner, der in der Mitte des Raumes stehen geblieben war.

„Du bist ja schon wieder da, Light-kun.“ Aufmerkend reagierte der Angesprochene lediglich mit einem schweigenden Blick. „Da hast du nun endlich deine Freiheit zurückerlangt und bewegst dich trotzdem nicht aus der Zentrale heraus. Selbst wenn Misa-san dich besuchen kommt, stehst du nur einige Minuten mit ihr in der Eingangshalle herum. Dabei kannst du doch im wahrsten Sinne des Wortes draußen die freie Liebe praktizieren.“

Einen Moment sein Schweigen wahrend registrierte Light den unverhohlenen Sarkasmus in Ls Stimme.

„Mir steht der Sinn noch nicht so recht nach Liebe“, formulierte er dann gleichfalls einen Seitenhieb auf ihre vorangegangene nächtliche Diskussion, indem er die Worte des Anderen benutzte. „Ich würde lieber warten, bis der Fall gelöst ist.“

Ein lautlos spöttisches Schmunzeln von sich gebend versenkte L seinen Löffel erneut in der weichen Puddingmasse. So viel zu der Aussage, Light habe seine Kontrolle längst aufgegeben. Es konnte sich doch unmöglich allein um eine Maßnahme handeln, mit welcher der Meisterdetektiv daran gehindert werden sollte, die Funktionalität des Notizbuchs zu verifizieren. L war nicht bewusst, dass er auf der Basis seiner unzureichenden Informationen gar nicht in der Lage war, den Grund hierfür in der Anwesenheit der Todesgöttin zu erahnen, die dem derzeitigen Besitzer des Death Notes hätte folgen müssen, sollte dieser sich zu weit entfernen.

Nichtsdestotrotz durfte Light, unabhängig davon, dass er noch so viel Zeit wie möglich mit seinem Freund verbringen wollte, diesen darüber hinaus als Feind keine Sekunde aus den Augen verlieren. Aber war das überhaupt machbar? Grübelnd setzte er sich an eines der Datenverarbeitungsgeräte und betätigte mit raschen Bewegungen die Silbenzeichen der Tastatur. Vor wenigen Minuten noch hatte er Zeit mit Misa verbracht und generell konnten die beiden Gegner, seitdem sie nicht mehr mit Handschellen verbunden waren, gar nicht unentwegt beisammen sein. Außerdem hatte Light bewiesen, dass man selbst dann in der Lage war, einen Mord zu begehen. Woher sollte er die Sicherheit nehmen, dass L weder der Polizei noch Aiber oder Wedy Anweisungen erteilt hatte?

„Es war also Zufall, als Higuchi dieses Heft aufhob“, sprach der Detektiv soeben auf Rems zuvor geäußerte Erklärung an. „Wieso sollte ein Todesgott überhaupt so ein Notizbuch in der Menschenwelt fallen lassen?“ Während er an einem Stück Netzmelone herumknabberte, das er mit seinen Fingerspitzen an den Enden festhielt, überlegte Rem.

„Das hat keine besondere Bewandtnis“, antwortete sie schließlich langsam. „Einfach so. Aus Neugier. Oder zum Beispiel aus Langeweile.“

„Langeweile?“, mischte sich Herr Yagami empört ein, der bis eben noch von seinen Mitarbeitern dazu beglückwünscht wurde, zum stellvertretenden Direktor vorgeschlagen worden zu sein. „Unerhört! Unsere Welt soll in Angst und Schrecken geraten, weil jemand Langeweile hat?!“ Stumm lauschte Light der Unterhaltung, ohne sich dabei umzudrehen.

„Daran ist nichts Oberflächliches, Yagami-san“, hörte er L mit ruhiger Stimme sagen. „Ganz im Gegenteil verbirgt sich darin eine starke Trieb- und Hemmkraft. Langeweile resultiert aus dem Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins. Was könnte schlimmer sein? Unterschätzen Sie das nicht.“

Daraufhin schwieg der Chefinspektor. Light starrte nachdenklich auf die Buchstaben und Hiragana der Tasten zwischen seinen reglosen Fingern. Am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, wie L weiterhin auf Rem eindrang, erwartungsgemäß derart präzise und unnachgiebig, wie es für ihn typisch war, sogar bei der Befragung eines todbringend göttlichen Wesens. Dennoch würde der Meisterdetektiv keine Chance haben gegen die Übermacht seiner Gegner. Ein Lächeln, das den restlichen Anwesenden verborgen blieb, schlich sich auf Lights Lippen, verschwand allerdings sogleich wieder, während sich seine Augenbrauen ernst senkten. Eine Übermacht? Würde Kira auf diese Weise von Angesicht zu Angesicht gegen L gewinnen? Light sträubte sich gegen den unterschwelligen Wunsch, seinem Widerpart durch mehr Fairness den nötigen Respekt zu zollen. Das war doch Unsinn. Alles geschah nach Kiras Plan und somit nach seinem Willen und Wirken. Wen auch immer er zur Umsetzung dieses Plans verwendete, jeder war nicht mehr als ein Medium, eine Waffe oder ein Werkzeug seines eigenen Handelns. Es war eine unumstößliche Tatsache, dass trotz ihrer mentalen Verbundenheit auch L mit einer erfolgreichen Lösung des Falles Kira ans Messer liefern musste. Einer der beiden Kämpfer würde wohl oder übel sterben müssen, und zwar durch die Hand des anderen.

„Wenn ihr Menschen tötet“, wollte L nun in teilnahmsloser Stimmlage von Rem wissen, „tut ihr das dann auch aus Langeweile?“

„Manchmal schon.“ Sie überlegte, ob diverse Offenbarungen über die Welt der Todesgötter schädlich sein konnten, doch eigentlich hatte keine Information in dieser Richtung etwas mit Misa zu tun. Außerdem lenkte eine solche Thematik womöglich diesen merkwürdig aufdringlichen Mann von weiteren, tatsächlich heiklen Fragen ab. Aus diesem Grund erläuterte Rem ausführlicher: „Das Interesse an euch ist unter uns mittlerweile sehr gering ausgeprägt. Zwar ist es nötig, ab und zu jemanden zu töten, aber es verschafft uns nicht zwangsläufig Genugtuung oder etwas Ähnliches. In den meisten Fällen fehlt uns der Bezug zu unserem Opfer. Deshalb kann es so gut wie ausgeschlossen werden, dass wir vorsätzlich und nicht völlig willkürlich morden.“

„So gut wie?“, wiederholte L fragend, doch Rem blieb desinteressiert und war nicht gewillt, weiter darauf einzugehen. Genervt kniff der Detektiv die Augen zusammen. „Du sagst, es sei nötig, dass ihr Menschen ermordet. Warum?“

Die schlitzförmige Pupille durchbohrte L scharf. Dieser ließ sich davon nicht abschrecken, während er abwartend den Rest seines Puddings auflöffelte.

„Wir sind Todesgötter“, antwortete Rem schlicht. „Wir morden nicht, wir töten. Das liegt in unserer Natur.“

„Das heißt dann wohl, das Töten ist die Voraussetzung für eure Existenz“, stellte L gleichmütig fest. „Könntet ihr etwa nicht existieren, wenn ihr keine Menschen umbringt?“ Er ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen, legte den Löffel beiseite und biss stattdessen nachdenklich auf seinen Daumennagel. Murmelnd kombinierte er die eben vernommenen Fakten. „Wie Raubtiere, die zum Überleben ihre Beute erlegen. Shinigami besitzen degenerierte Verdauungsorgane. Obwohl sie Nahrung zu sich nehmen können, sichert das nicht ihren körperlichen Haushalt. Zwar handelt es sich um übernatürliche Gegebenheiten, doch wenn man den Energieerhaltungssatz auf diese irrealen Sachverhalte ausdehnt, könnte man davon ausgehen, dass selbst ein Shinigami nicht ohne die Zufuhr von Energie auskommt. Energie, extrahiert aus einem Menschenleben.“

Rem reagierte nicht auf die Spekulationen des Meisterdetektivs. Sie stritt sie allerdings auch nicht ab. Ein neugieriges Lächeln legte sich auf Ls Lippen, als er fragte:

„Wenn ein Shinigami keine Menschen mehr tötet, verhungert er dann?“

Die Formulierung kam Rem seltsam vor, dennoch traf jene Vermutung genau ins Schwarze. Anhand ihrer Mimik konnte L erkennen, dass er richtig lag. Es war spannend, zu beobachten, wie man mit Verhörstrategien sogar einem tödlichen Monster Informationen entlocken konnte. L war auf seiner Laufbahn schon einigen Vertretern dieser Spezies begegnet, auch wenn sie sich normalerweise in einem Menschenkostüm versteckten.

„Das heißt, selbst Todesgötter können sterben?“

Wieder erfolgte keine Reaktion, doch L störte sich nicht daran, denn glücklicherweise gehörte Rem zu jener Kategorie von Persönlichkeiten, die bei einer Vernehmung auf scheinbar bewiesene Indizien hereinfielen, wenn man sie nur mit genügend suggestiver und provozierender Selbstverständlichkeit vortrug.

„Wie geschieht das?“, wollte L auf enervierende Art wissen. „Sobald eure Zeit gekommen ist, was geschieht dann mit einem Shinigami?“

Light hätte eingreifen können. Er starrte auf den Computerbildschirm, ohne ihm wirklich Beachtung zu schenken, während er aufmerksam der Befragung lauschte. Was Rem über die Welt der Todesgötter verriet, konnte ihm sicher nicht gefährlich werden. Mit dieser Entschuldigung tröstete er sich darüber hinweg, dass er seinem Partner nicht dazwischenfunken wollte, weil er ebenfalls gespannt war, ob L es schaffte, Rem zu knacken.

„Ihr seid doch auf Menschen angewiesen, nicht wahr? Was würde passieren, wenn euch die Leute ausgehen, die ihr über die Klinge springen lasst? Geht ihr in Flammen auf?“ L begleitete seine Aussage mit einer übertriebenen pantomimischen Untermalung. „Oder verabschiedet ihr euch mit einem großen Knall?“

„Wir zerfallen“, antwortete Rem endlich mit schneidender Stimme. „Wir zerfallen zu Staub.“

Mitten in seiner Geste hielt L inne. Er betrachtete mit weit geöffneten Augen das grauenerregende Geschöpf und meinte dann:

„Das klingt betrüblich.“ Seine Arme senkend langte er nach der von seinem Pudding gepflückten Kirsche, die als Letztes auf dem fast leeren Dessertteller lag. „Zum Töten von Menschen können Todesgötter auf unsere Welt herabschauen“, fasste er zusammen, wobei er die Kirsche am Stiel in der Luft baumeln ließ. „Das Augenlicht zu besitzen heißt, den Namen eines Menschen bloß anhand seines Gesichtes zu kennen. Verstehe ich das richtig, Rem, dass du zum Beispiel von mir den wahren Namen weißt?“

Bei diesen Worten hatte Light das Gefühl, sein Herz würde ins Straucheln geraten. Er drehte sich auf dem Stuhl herum und konnte gerade noch sehen, wie Rem bedächtig nickte.

„Und du könntest meinen Namen einfach laut aussprechen?“, fragte L unbekümmert weiter. „Du könntest ihn zum Beispiel ihm dort verraten?“ Er deutete mit seiner hängenden Kirsche auf Light. „Oder dem Mädchen, das vorhin noch hier war?“

„Nein!“, entgegnete Rem entschieden. Böse starrte sie den Detektiv an, der mit seinen Fragen offensiv auf Misa abzielte. „Todesgöttern ist es nicht gestattet, den Namen oder die Lebenszeit von Menschen zu verraten. Das würde unter euch nur Verwirrung stiften.“

„Lebenszeit?“, bohrte L aufhorchend nach. „Ihr wisst auch über unsere Lebenszeit Bescheid?“ Einen kurzen Moment schloss Light in Selbstironie die Augen. L war echt unglaublich. Würde man ihm genügend Zeit zur Verfügung stellen, brächte er wahrscheinlich auch noch das letzte Detail aus Rem heraus, die seinen Fragen hilflos ausgeliefert zu sein schien. Obwohl es ihm selbst an den Kragen gehen konnte, waren es diese Fähigkeiten, für die Light den Meisterdetektiv bereits bewundert hatte, als er ihn lediglich aus den Erzählungen seines Vaters kannte.

Nachdem er wie erwartet keine Antwort erhalten hatte, fuhr L fort:

„Ein Shinigami benötigt demzufolge, ebenso wie ein menschlicher Benutzer, Gesicht und Namen einer Person.“

„Das ist korrekt“, gab Rem nach kurzem Zögern zu.

„Du meintest, die Regeln seien überall dieselben, auch jene, die für die Menschen verfasst wurden. Das bedeutet, die Death Notes sind ursprünglich zum Gebrauch für die Todesgötter bestimmt, richtig?“ L ließ die Kirsche über dem Notizbuch kreisen wie ein Wahrsager sein Pendel über einer geografischen Karte. „Ähnlich einem ganz normalen Menschen braucht ihr zum Töten ein solches Heft hier.“

„Und ich dachte ja“, warf Matsuda erstaunt ein, „so ein Todesgott könnte jemanden einfach mit einem bösen Blick zur Strecke bringen.“ Als Rem den jungen Polizisten mit einem ebensolchen Blick bedachte, duckte dieser sich ängstlich hinter seine Kollegen. Ihr grimmiges Schweigen indes war dem Meisterdetektiv Antwort genug.

„Nein, Matsuda-san.“ L steckte sich die Kirsche mitsamt Stiel in den Mund und redete nuschelnd weiter. „Ich bin mir sicher, dass meine Vermutung zutrifft.“

„Warum gerade auf diese Weise?“ Herr Yagami rückte nachdenklich seine Brille zurecht. „Wozu ein Name?“

Ein unverständliches Brummen von sich gebend schien L noch auf etwas herumzukauen. Er beugte sich über seinen Dessertteller und spuckte die Überreste der Kirsche darauf. Irgendwie hatte er es geschafft, den Stiel der roten Frucht um ihren Kern zu knoten. Sofort wandte Light seinen Blick ab. Er drehte sich auf dem Stuhl herum, starrte angespannt auf den Desktop seines Computers und auf irgendein Programm, das dort geöffnet war. Derweil erhob sich L abrupt, nahm das Death Note an einer Ecke hoch und trug es mit schleppenden Schritten zu einem freien Computer hinüber, während er erklärte:

„Ein Name kann von höchster Bedeutung sein, Yagami-san. Da wir in erster Linie kommunikative, das heißt sprachliche Existenzen sind, verleiht in diesem Sinne erst die Bezeichnung einem Subjekt Wirklichkeit. Ohne Namen besitzt nichts eine Substanz.“ L hockte sich unweit des Studenten auf einen Drehstuhl und tippte im Sprechen einige Male scheinbar wahllos gegen das Mikrofon neben der Tastatur. Aus dem Augenwinkel schaute Light verstohlen zu ihm hinüber. Dessen Aussagen hatten ihn unwillkürlich an eines ihrer Gespräche erinnert, das sie vor mehreren Wochen geführt hatten, eine der zahlreichen Unterhaltungen ihres einvernehmlichen Verstehens. Damals hatte Light in seiner Wut, die er angesichts der Tatenlosigkeit des Meisterdetektivs empfand, die Kontrolle verloren und ihn aufgebracht im Badezimmer unter kaltes Wasser gestellt. Es war das erste Mal, dass er seinen Freund umarmte. Jetzt schien das alles schon Ewigkeiten her zu sein. Doch hatte sich seitdem in einiger Hinsicht nichts geändert.

„Nun zu der Verwendung eines derartigen Notizbuches...“, fuhr L teilnahmslos fort, „oft ist das Wort die stärkste und grausamste Waffe des Menschen. Was ein einzelnes Buch anrichten kann, ist für uns unbegreiflich. Allein religiöse Schriften wie die Bibel haben es geschafft, in ihrem Namen Tausende dahinzuraffen. Das Einzige, was man dafür benötigt, ist die Macht einer solchen Waffe und eine einfache Rechtfertigung. Derweil steht ein Todesgott über all dem wie der Herr der Fliegen und schaut zu, was selbst aus Kindern werden kann, wenn man ihnen das Steuer überlässt. Erst dann offenbart sich die Grausamkeit und Verzweiflung des Menschen.“ L wedelte mit dem Heft zwischen seinen Fingern in der Luft herum, bis er es achtlos neben sich auf den Tisch fallen ließ, um nach seiner Kaffeetasse zu greifen. „Dieses Notizbuch ist die wohl tödlichste Waffe der Welt. Und sie zerstört am meisten denjenigen, der sie sich zunutze machen will.“

Schweigend vernahm Light die Worte des Meisterdetektivs. Abgesehen von einem leichten Lächeln zeigte er hierbei eine fast vollkommen ausdruckslose Miene. Du irrst dich, L. Nicht das Death Note zerstört mich, dachte er voll bitterer Ironie. Du tust es.

Warten auf Godot

Warten auf Godot

 

Erhellt vom weißen Monitorlicht entnahmen die feingliedrigen Finger aus der grünen Pappschachtel zwischen Mikrofon und Tastatur ein paar weitere mit Matcha gefüllte Getreidekissen. Die linke Hand verwendend baute L auf dem aufgeschlagenen Death Note eine Art Brunnen, während er mit dem Zeigefinger der rechten auf den Tasten des Computers herumtippte. Eine Legion von Würfeln reihte sich am oberen Rand des Desktops auf, jeder einzelne mit sechs Punkten, wobei einige der Augenzahlen blind waren.

Unkonzentriert versuchte Light seine Aufmerksamkeit den eigenen Datenpaketen zu widmen, deren Auswertung, wie er wusste, völlig sinnlos war. Häufiger stahl sich sein Blick zu dem Anderen hinüber, der gerade an einer der drei Ecken eines Matchakissens knabberte, die Würfelkette auf dem Bildschirm begutachtend, bis er sich die Süßigkeit aus Getreide in den Mund schob und darauf herumlutschte. Konnte dieser Kerl nicht ganz normal essen wie jeder andere Mensch auch?

Nervös spähte Light über die Schulter zu den polizeilichen Mitgliedern der Sonderkommission hinter sich, die allesamt in ihre Aufgaben vertieft waren. Eben noch hatte Matsuda, der schon seit einiger Zeit müde und gelangweilt wirkte, unter den Anwesenden Kaffee verteilt. Auch neben den beiden jüngsten Ermittlern stand nun ein kleines Tablett mit zwei Tassen, einer Zuckerdose und mehreren Kondensmilchbechern. Gewohnheitsmäßig beförderte Light mit einer zierlichen Zange fünf Stück Zucker in eine der Tassen, rührte gedankenversunken in der schwarzen Flüssigkeit herum und füllte anschließend den Rest des Kaffees mit Milch auf. Danach schob er die Tasse zur Seite über den Tisch.

„Danke, Light-kun.“

Als handelte es sich um winziges Puppengeschirr, hielt L wie üblich die Kaffeetasse beim Trinken lediglich mit Daumen und Zeigefinger am Henkel fest. Bevor er sie wieder absetzte, leckte er vom Außenrand der Tasse den letzten Tropfen des Getränks. Blinzelnd wandte Light seine Augen wieder ab und starrte auf den Rahmen seines Monitors.

„Alles in Ordnung bei dir?“ Den Kopf leicht schieflegend schaute L ihn fragend an. Seine Worte hatte er so verhalten gesprochen, dass keiner der anderen sie hätte hören können.

„Ja, meine Konzentration lässt wohl einfach nach.“ Light lächelte beschwichtigend. „Wir sitzen schon den ganzen Nachmittag an diesen Listen und konnten leider noch keine Auffälligkeiten oder Abweichungen ausmachen. Ohne Erfolg nach etwas zu suchen, von dem man nicht weiß, was es ist, lässt einen gedanklich schnell abschweifen.“

„Und woran hast du gedacht?“

„An deine Aussage von vorhin“, antwortete Light nach einer Sekunde des Zögerns, „bezüglich der Langeweile.“

L verschränkte die Arme über seinen angewinkelten Knien, bettete den Kopf darauf und betrachtete seinen Ermittlungspartner eingehend. Schließlich meinte er gleichmütig:

„Aus Langeweile bestand früher mein Angstkuchen.“ Light öffnete den Mund, um nachzuhaken, verharrte dann jedoch irritiert mitten im Atemzug, woraufhin L mit desinteressierter Stimme fortfuhr. „In meiner Kindheit wurde ich einmal dazu aufgefordert, in einem Kreisdiagramm meine Ängste und Sorgen aufzumalen, jeweils in der prozentualen Verteilung ihres Ausmaßes. Die Größe des Kuchenstücks bestimmte über die Wichtigkeit des Inhalts.“ Beim Reden begann L aus den dreieckigen Matchakeksen kleine Pyramiden zu bauen. „Zu Anfang fiel mir rein gar nichts ein. Doch dann schrieb ich nur ein einziges Wort in den Kreis, ohne die Torte dabei anzuschneiden. Langeweile.“

„Kann man davor Angst haben?“

„Ich war zwar schon immer ein intelligentes Wunderkind, aber trotzdem bei weitem nicht so schlau wie jetzt. Damals wusste ich nicht, wie ich es anders benennen sollte.“

Eine Papiertüte in den Händen tragend kam Watari durch den Raum auf seinen Schützling zu. Er stellte sich zwischen die beiden jungen Männer, holte mit geruhsamen Bewegungen einen Becher hervor und setzte ihn neben der Tastatur ab. Ohne aufzusehen sagte L lediglich:

„Deusne adest?“ Watari nickte, faltete geflissentlich die Tüte zusammen und verließ die Runde genauso schweigend, wie er sie betreten hatte. „Vielleicht würde ich heute meinen Kuchen teilen“, knüpfte L an die vorige Unterhaltung an, während er den Plastikdeckel von dem Becher entfernte. In den darin befindlichen grünen Milchshake stach er, vertieft in seine Überlegungen, einen Strohhalm und saugte daran. Geistesabwesend heftete Light den Blick auf dessen Lippen. „Mittlerweile würde auf einem Stück davon vermutlich, mit Zuckerguss geschrieben, Niederlage stehen. Oder Verlieren. Oder Verlust.“

„Und wenn Kira aus Langeweile mit dem Morden angefangen hätte?“

„Auf einem stünde bestimmt auch Atemnot.“ Verwundert hielt L inne und schaute zu seinem Freund hinüber, musterte dessen dem Anschein nach unberührbaren Ausdruck. Schließlich lächelte der Detektiv offen und unpassend. „Selbst wenn ein derartiges Empfinden der Auslöser für Kiras Handeln sein sollte, so wird es doch niemals der einzige Grund gewesen sein. Man kann aus Langeweile anfangen, Menschen umzubringen. Aber niemand würde aus Langeweile versuchen, die Welt zu verbessern.“

 

Ein kalter Lufthauch wehte in das Treppenhaus. Zwar fuhr der Fahrstuhl bis in das oberste Stockwerk des Gebäudes, doch auf das Dach mit den zwei Helikopterlandeplätzen gelangte man nur über die letzten Stufen im ansonsten weitestgehend unbenutzten Treppenaufgang. Light hielt seinem Freund die Sicherheitstür auf, während er unbestimmt, als wollte er seine Worte an niemanden richten, hinein in die rauschende Stille der abendlichen Stadt sagte:

„Hier kann man wenigstens noch atmen.“

Nach draußen gelangend hob L den Kopf, um mit seinen geweiteten Augen das Firmament einzufangen. Sobald die Sonne hinter den Hochhäusern verschwand, zeigte sich der Himmel über Tokyo sogar ohne Wolken fast immer sternenlos. Künstlich grelles Licht von Neonröhren und Straßenlaternen verschluckte das Leuchten der Sterne, manchmal sogar das des Mondes. Light schaute nicht hinauf in die Unendlichkeit des bedeutungslosen Weltalls oder hinab auf die verrottenden Fundamente der Stadt oder in die Ferne zum vermeintlich hoffnungsvollen Horizont, der nichts weiter war als ein Strich in der Landschaft. Stattdessen hielt er mit den Augen seinen Freund fest, der direkt neben ihm stand und den er nun leise sagen hörte:

„Ich hatte auch das Gefühl, dort drin zu ersticken.“

„Und jetzt sind wir schon wieder hier gelandet, Ryuzaki.“

„Es gibt nicht viele Orte, an denen man sich verstecken kann. Wenn du mich einmal suchen solltest, Light-kun, weißt du wahrscheinlich immer, wo du mich findest.“

Der Wind frischte auf. Irgendwo hinter dem dunkelgrauen Schleier über den Wolkenkratzern zuckten Blitze durch die statisch aufgeladene Atmosphäre. Ein Donnergrollen hallte in die anbrechende Nacht.

„Ob es regnen wird?“, mutmaßte Light flüsternd.

„Heute sicher nicht mehr. Das ist nur ein Gewitter. Der eigentliche Sturm kommt erst noch.“

L senkte den Kopf und sah seinen Freund unergründlich an. Der Wind zerzauste sein schwarzes Haar. Er harrte völlig stumm aus, wartete lediglich ab, als kümmerte er sich nicht darum, wie viel Zeit ihm noch blieb. Als wartete er geduldig auf das Ende.

„Ryuzaki, diese merkwürdige Sache, von der du vorhin gesprochen hast“, begann Light vorsichtig, den Schmerz in seiner Kehle ignorierend, „das Kreisdiagramm über die Angst...“

„Merkwürdig?“ L kratzte sich verwundert am Hinterkopf. „Stimmt, das klang wohl ein bisschen merkwürdig.“

„Was denkst du, was...“ Im selben Moment, als ihm die Stimme versagte, verachtete sich Light bereits dafür, für seine Schwachheit und das Fehlen seiner unberührbaren emotionalen Kälte. Er festigte seinen Stand, um die haltlose Unsicherheit seiner Beine nicht mehr fühlen zu müssen. „Was würde wohl auf den Bruchstücken von Kiras Diagramm stehen?“

„Meinst du, dass dort wirklich noch etwas steht, Light-kun?“

„Kira ist ein Mensch. Hat nicht jeder Mensch vor irgendetwas Angst?“

„Vielleicht...“ Ein ferner Blitz zerteilte die Wolkenwand. Dumpf begleitete das wenig später einsetzende Donnern die ruhige Stimme des Meisterdetektivs. „Vielleicht steht dort dasselbe wie bei mir.“

„Verlust?“

L starrte seinen Partner aus großen Augen an, hielt ihn gefangen, als wollte er ihn an seinem eigenen Erstaunen teilhaben lassen.

„Interessant, dass du gerade das auswählst, Light-kun. Auf einem Bruchstück von Kira... steht möglicherweise auch eine Vier.“ Zuerst runzelte Light verständnislos die Stirn, doch im nächsten Moment begriff er und nickte. Ohne etwas zu erwidern, vernahm er die folgenden Worte von L. „Du meinst, Kira sei menschlich und sollte deshalb auch noch Angst verspüren können. Erinnerst du dich, als wir hinterfragten, ob Kira ein wildes Tier sei? Ein Tier empfindet instinktiv Todesangst. Aber das ist nicht vergleichbar mit der Gewissheit des eigenen Ablebens, mit Reue oder Mitleid. Ich habe nie ein wildes Tier gesehen, das Selbstmitleid empfand. Ein Vogel, der erfroren ist, wird tot von seinem Ast fallen, ohne jemals Selbstmitleid empfunden zu haben.“

Die Luft wurde dünner. Man konnte sie kaum mehr atmen. Selbst hier, auf dem Dach der Welt, glaubte Light mittlerweile zu ersticken. Nie zuvor hatte er gleichzeitig so viel Macht und Hilflosigkeit verspürt wie in den letzten Tagen. Mit rauer Stimme fragte er:

„Soll L denn so rücksichtslos und unbeteiligt mit seinem eigenen Leben umgehen?“

„Ich frage mich, ob Kira das tun sollte.“

Ein jugendliches Lachen entkam Lights Kehle. Es erschien ihm normal, auf diese Weise zu reagieren, doch schon im selben Atemzug machte ihn sein eigenes Verhalten ratlos. Warum lachte er jetzt darüber? Weil er keine Antwort wusste, verstummte er sogleich. Unbeirrt sprach L weiter.

„Ein Geschöpf ist im Normalzustand zielgerichtet auf das Leben an sich. Aber alles muss einst vergehen. Deshalb strebt jedes gesunde Wesen danach, sich auch darüber hinaus zu erhalten, etwas Besonderes zu bewahren, sozusagen ein Denkmal seiner selbst zu errichten, das den Exitus überdauert, und sei es auch nur durch das eigene Erbgut. Die Ironie will es, dass wir erst unsterblich werden können, wenn wir tot sind. Dafür zählt nicht das, was wir sind, sondern das, was wir hinterlassen.“

„Und was ist das, Ryuzaki?“ L schenkte seinem Hauptverdächtigen einen rätselhaften Blick. Dann wandte er sich von ihm ab.

„Unter den Zaza, einem anatolischen Volksstamm, gibt es eine Redensart“, antwortete er nach einer gedankenversunkenen Pause. „Das Tier stirbt, der Sattel bleibt übrig. Der Mensch stirbt, übrig bleibt ein Name.“ Die Hände in den Hosentaschen vergraben gab sich L schutzlos dem stürmischen Wind preis, der an seiner Kleidung zerrte. Mit leeren Augen verfolgte er das Unwetter hinter den Balustraden. „Was meinst du, Light-kun, was geschieht, wenn wir durch Kiras Macht sterben?“

Kälte durchflutete Lights gesamten Körper, floss in seinen Adern wie Eiswasser. Bereits jetzt gewährte er dem winterlichen Frost Zutritt und hoffte, er möge alles, was er berührte, jede einzelne Zelle abtöten und bloß angenehme Taubheit und Unempfindlichkeit zurücklassen, bis jedes Leid, selbst sein eigenes, ihn mit Glückseligkeit belohnte und mit dem Gefühl, am Leben zu sein. Unter den Füßen der beiden Männer breitete sich die gläserne Festung ihres Refugiums aus. Entrückt senkte Light den Kopf und erkannte auf dem Boden des Daches einen haarfeinen Riss.

Desinteressiert blendete er jeden fremden Eindruck aus, fixierte allein die Gestalt seines Freundes und widmete ihm seine ganze Aufmerksamkeit. Lights Beine bewegten sich, ohne dass er seine Handlungen bewusst steuerte. Er trat an L heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter, sodass dieser ihm tiefgründig in die Augen sah. Schmerzlich lächelnd erwiderte Light diesen Blick, bevor er L kurzentschlossen an sich zog und ihn fest umarmte. L schien das Verhalten seines Mitstreiters zu verwirren. Er hob reflexartig die Arme, dann jedoch ließ er sie kraftlos wieder fallen, während er den Körperkontakt erduldete, die qualvolle Innigkeit von Lights Nähe ertrug und sich zugleich darin verlor.

„Wenn solche übernatürlichen Dinge wie Todesgötter existieren“, gab Light derweil leise zur Antwort, „gibt es sicher auch den Himmel oder zumindest irgendein Jenseits, in dem wir uns wiedertreffen.“ Es erfüllte ihn mit Genugtuung, wie leicht die Lüge über seine Lippen kam. Er genoss das Gefühl von Ls Körper in seinen Armen. Innerlich richtete er an ihn, nachsichtig und behutsam, seine unausgesprochenen Gedanken. Der Himmel ist ein irrationales Traumgespinst, L. Ein Ort, an den weder du noch ich gehen können. Uns bleibt nur das, was wir jetzt haben. Mir bleibt nur, dich festzuhalten, bis ich dich aufgeben muss.

„Willst du mich aufmuntern“, fragte L tonlos, „oder dich über mich lustig machen?“ Light öffnete seine bislang geschlossenen Augen und erfasste die dunkelgraue Finsternis über der erleuchteten Stadt. „Was zählt, ist nicht die Zukunft, sondern immer nur der kurze Ausschnitt unserer Gegenwart, Light-kun.“ Als Light seine Umarmung lösen wollte, hinderte L ihn daran, indem er ihn seinerseits festhielt und an sich drückte. „Die meisten Menschen leben nicht, sie existieren bloß, lassen sich von einem Moment zum nächsten treiben und akzeptieren, was um sie herum geschieht, anstatt selbst etwas in die Hand zu nehmen und dabei vielleicht alles zu riskieren. Um wirklich zu leben, muss man streben und kämpfen und Schmerz ertragen. Leben und Schmerz sind untrennbar miteinander verbunden.“ Seinen Kopf seitlich gegen den seines Freundes lehnend strich L mit einer Hand über dessen Nacken und bemerkte dabei Lights Angespanntheit. Seufzend fügte er seinen Worten hinzu: „Darum will ich gegen Kira gewinnen. Unsere Welten stehen im Krieg miteinander. Ein Krieg, den sonst niemand verstehen kann. Ob Freund oder Feind, man braucht jemanden, der einen versteht, um glücklich zu sein.“

 

Kalkweiß, lang und ein wenig knochig, so erinnerten die Finger des Meisterdetektivs stets an die Gelenke eines Skeletts. Light verfolgte mit emotionsloser Miene, wie Ls Fingerspitzen, die unter dem Saum des ausgeleierten Ärmels hervorlugten, verspielt an der Wand entlangstrichen, während die beiden Männer gemeinsam die Treppen hinabstiegen. Die nackten Füße des Älteren erzeugten kaum ein Geräusch auf den Stufen. Erst jetzt fiel Light auf, dass L nicht einmal draußen Schuhe getragen hatte. Draußen... als Light diese Lüge über das Jenseits erzählte.

Warum hatte er das getan? Er nahm an, dass er für diesen Moment seine eigene Überlegenheit auskosten wollte, durch das Wissen darüber, wie es wirklich war. Wollte er L tatsächlich verhöhnen oder ihm, ganz im Gegenteil, sogar Mut zusprechen? Obwohl er sich darüber im Klaren war, dass dieser ihm nicht glauben würde? L musste schließlich davon ausgehen, dass Light nur Spekulationen anstellte, doch dessen eigenes Verhalten war ihm oft genug selbst unverständlich. Light schwankte unentwegt zwischen infantiler Überheblichkeit und erwachsener Empathie. Von einem Moment auf den anderen verlachte er L oder fühlte auf unerträgliche Weise mit ihm.

„Ryuzaki“, begann er nachdenklich, „ich hätte wissen müssen, dass du an so etwas nicht glaubst, auch wenn die Existenz der Todesgötter und ihrer Notizbücher schon irreal genug ist, um jede Menge Zweifel an der rationalen Erkenntnisfähigkeit zu hegen, an der man sich vorher orientierte.“

„Hm.“

„Um an ein Jenseits zu glauben, müsste man überhaupt erst annehmen, dass wir eine Seele besitzen oder irgendeine vom Körper unabhängige Identität, die über unseren physischen Zerfall hinaus fortbesteht.“

„Hm.“

„Aber gerade das entbehrt jeglicher Logik.“

Als sie den Treppenabsatz erreichten und in einen breiten Korridor gelangten, rechts eine langgestreckte Fensterfront, links etliche vom Gang abzweigende Flure und Türen, gab L schließlich ein tiefes Seufzen von sich. Bis zum Schluss also sollten sie mit Analytik jede Menschlichkeit töten. Bis zum Schluss Komplizen sein. Nach kurzem Überlegen reagierte L mit ruhiger Stimme auf die Worte seines Ermittlungspartners.

„Ich kann an die Existenz der Seele glauben, wenn ich ihre Eigenschaften anders definiere und sie nicht als vom Körper unabhängig agierend beschreibe. Das Denken und Fühlen, die ganze Bildung der Identität und der Glaube an die Eigenverantwortlichkeit der Handlungen, all das ist ein Resultat körperlicher Prozesse. Die Seele ist die Gesamtheit dieser Identität, aus dem Körper entspringend, ohne diesen in die Festlegung einzubeziehen.“

„Das scheint mir eine sehr buddhistische Betrachtungsweise zu sein, Ryuzaki“, stellte Light fest. „Darin wird ein empfindungsfähiges Wesen negiert. Man würde bei dieser Annahme von einer falschen Vorstellung irregeleitet werden, denn die Ansammlung von Elementen sei bar eines Ich. In gleicher Weise, wie eine Anzahl von Holzteilen die Bezeichnung Wagen erhält, so geben wir Elementen den Namen eingebildeter Wesenheit. Trotzdem findet auch hier das Thema überhaupt erst Eingang in die Debatte, sodass es sich dabei kaum um ein allein monotheistisches Problem handeln kann. Menschen denken sich eine Seele und ein Jenseits aus, sobald sie Angst haben, nichts weiter zu sein als ein Resultat biochemischer Prozesse.“

„Darum hat besonders das Christentum, in Vertretung durch die katholische Kirche, sich so vehement gegen die Auslöschung des Dualismus gewehrt. Wer immer aber hartnäckig darauf bestehen sollte, zu behaupten, zu definieren oder zu meinen, dass die rationale oder intellektive Seele nicht die Form des menschlichen Körpers an sich und wesentlich sei, der müsse als Häretiker betrachtet werden.“

Gleichauf schritten die beiden Ermittler den Korridor entlang, in gewohnter Einstimmigkeit und Vertrautheit, ohne die störende Gegenwart Fremder. Nachgiebig half L seinem Partner bei ihrem gemeinsamen Schauspiel, als brauchte er es ebenso, um sein Gleichgewicht zu erhalten und den bevorstehenden Fall in weite Ferne zu rücken. So konnte sich auch Light vormachen, sie wären wieder zusammen in der Universität, blendeten alles um sich herum aus und spielten Freunde.

„Darin steckt aber nicht nur ein Dualismus, sondern eher eine Dreieinigkeit des Menschen.“

„Aus Körper, Geist und Seele, das stimmt, Light-kun. Ginge man tatsächlich von der Geschichte der Bibel aus, dann wären wir alle die Nachfahren Kains, da Abel starb, bevor er sich fortpflanzen konnte. Kain war der erste Sohn, in ihm lebte die Erbsünde fort. Es heißt, dass vor dem Geistlichen immer erst das Seelische geboren wird, und da der Mensch aus dem verdammten Geschlecht abstammt, müssen wir als Adams Nachfahren zunächst böse und fleischlich sein. Nicht jeder böse Mensch indes wird gut. Niemand jedoch wird gut, der nicht zuvor böse war.“

„Wenn du das so formulierst, müsste ich eigentlich entschieden widersprechen, Ryuzaki. Manch einer wird erst böse, weil er in seiner Güte enttäuscht worden ist. Aber ich glaube, ich verstehe, was du damit sagen willst. Ohne das Böse wüssten wir nicht, was es bedeutet, gut zu sein. Obwohl oft behauptet wird, Kinder würden die gleichen Fehler machen wie ihre Eltern, weil sie es nie anders gelernt haben, halte ich das bloß für eine aus der Sozialisation geschlossene Pauschalisierung. Oft versuchen nämlich gerade diejenigen, die Leid erfahren haben, andere vor dem Leid zu beschützen, das sie selbst verursachen.“

L bedachte Light mit einem traurigen Blick. Sie hatten den Hauptüberwachungsraum fast erreicht, wo sie sich für die letzten Stunden des Tages, zusammen mit den anderen Mitgliedern der Sonderkommission, mit dem sinnlosen Bearbeiten von Akten beschäftigen würden, auf der Suche nach nicht existenten Hinweisen. Bevor sich ihre Zweisamkeit wieder auflöste, sagte L zum Schluss, scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen:

„Glückliche Menschen können so grausam sein.“

Sinn im Wahn

Sinn im Wahn
 

Gib Acht, Gott schaut zu. Sorgfältig waren ihre Fingernägel mit dunkler Farbe lackiert. In den Straßen, getränkt in Schwärze, halte bitte meine Hand. Der rüschenbesetzte Saum ihres Kleides bedeckte die zierlichen Gelenke. Selbst wenn ich auf mich allein gestellt und weit entfernt bin, kann er mich immer erreichen und finden. Reglos ruhte ihre halb geöffnete Hand auf den linierten Seiten. Er kommt und bringt mir alles bei, was er weiß. Daneben lag jener weinrote Füllfederhalter, an dessen goldener Spitze noch die letzte Tinte schimmerte. Selbst wenn ich mich nicht mehr erinnern sollte, wird er es mich lehren, wieder und wieder. Darunter breiteten sich auf dem einst weißen Papier zahlreiche Namen aus, aufgereiht wie in einem Totenregister.

Doch was, oh bitte was soll ich tun, irgendwann, wenn ich alles weiß?

 

„Mach nicht so ein sorgenvolles Gesicht, Light.“ Herr Yagami lächelte seinem Sohn aufmunternd zu. „Wir werden bestimmt schon bald etwas finden. Noch sind keine weiteren Morde verübt worden.“ Noch. Allerdings würde sich das bis morgen geändert haben, dessen war sich Light sicher. Ausdruckslos sah er den älteren Mann an.

„Ja, Vater. Ich werde mich anstrengen, um L eine Hilfe zu sein.“

„Glaub mir, das bist du. Deinetwegen sind wir überhaupt erst auf die Spur von Yotsuba gekommen, auch wenn die Ergreifung Higuchis nur ein Teilsieg war. Die Freude, über etwas gesiegt zu haben, darauf folgt gewiss eines Tages die Trauer der Niederlage, so heißt es doch. Das gilt auch für Kira.“

„Ja, so wird es sein.“

„Eine solch wahnwitzige Idee kann und darf sich niemals durchsetzen. Das wäre närrisch und naiv. Wir alle sind Narren. Keiner hat das Recht, den anderen seine eigentümliche Narrheit aufzuzwingen.“

„Ja, du hast Recht.“

Der Chefinspektor legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. Automatisch lächelte dieser. Sie verabschiedeten sich voneinander, wie jeden späten Abend.

Der eigentlich unschuldige Narr war Yagami Soichiro. Warum nur wollte er nicht verstehen? Light hoffte inständig, sein Vater würde niemals gezwungen sein, für das Gute etwas abgrundtief Böses zu tun.

„Ist das nicht traurig“, kommentierte das Blendwerk seines Todesgottes in gespieltem Bedauern, „dass dein Vater die Ideale nicht versteht, die er dir selbst beigebracht hat? Er findet es schlecht, was du tust. Er verurteilt dich. Deinen Tod würde er gerecht finden. Er würde dich eigenhändig töten, wenn er wüsste, dass du Kira bist.“

„Irgendwann wird er begreifen.“ Light hörte die Worte im Kopf, als würden sie laut ausgesprochen werden, ohne dass sich sein Mund bewegte oder auch nur ein einziger Ton seiner Kehle entwich. Welche dieser Stimmen gehörte seiner Wahnvorstellung? Welche war seine eigene? „Irgendwann werden alle zu verstehen lernen.“

Gemessenen Schrittes wandte er sich in die Richtung des zentralen Überwachungsraums. Alle ungefährlichen, leicht lenkbaren Individuen der Sonderkommission hatten sich für diesen letzten Abend verabschiedet. Nur eine einzige Person sollte jetzt noch dort sein.

„Andere können zurzeit nicht über meine Idee entscheiden, dafür muss sie erst mehr Gestalt annehmen und sich von mir und meiner leitenden Funktion lösen. Sie muss quasi ein Eigenleben entwickeln. Solange diese Idee noch wächst, kann sie nicht über mir stehen, denn Kira selbst ist die Idee. Allein ich weiß, wie das Ende hiervon aussehen soll. Um die Welt zu säubern von allem Schlechten und Bösen.“

„Ich sagte doch schon einmal“, erinnerte ihn der Todesgott nüchtern und amüsiert, „dass du am Ende, wenn du dir die Welt unterworfen hast, als Einziger übrig sein wirst.“

„Du verstehst nicht, Ryuk. Meine Idee bedeutet nicht die Unterordnung des Ganzen unter einen Einzelnen, sondern die Hingabe des Einzelnen für das Ganze.“

Ein schmutziges und begeistertes Lachen grollte in der Kehle des düsteren Geschöpfes, sodass sich der schattenhafte Leib krümmte und schüttelte. Es dauerte eine Weile, bis Ryuk seine Stimme wiederfand.

„Das habe ich schon einmal gehört, Light. Es ist noch nicht lange her, zumindest in Lebensaltern eines Todesgottes gerechnet, da fanden sich viele meiner Artgenossen vor dem Tor zu eurer Welt ein. Das machen wir immer, wenn bei euch spannende Zeiten herrschen. Was du eben gesagt hast, hörte ich fast wortwörtlich gesprochen von einem nicht weniger charismatischen Menschen. Sein Traum von einer reinen Welt platzte 1945. Mal sehen, wie lange deiner braucht.“

Mit finsterer Miene schloss Light kurzfristig die Augen. Lächerlich. Kira würde niemals jemanden aufgrund seiner Herkunft, Rasse, Sexualität oder irgendeiner anderen individuellen Eigenschaft verurteilen. Ganz im Gegenteil, Globalität und multikulturelle Akzeptanz waren wichtige Faktoren für den Frieden auf der gesamten Welt, denn durch den Schutz Kiras würden auch die Kriege zwischen den Nationen zurückgehen. Überall würden die Menschen sich einander die Hände reichen. Einzig und allein eine schlechte Persönlichkeit, der fehlende Wunsch, sich gegenüber seinem Nächsten aufrichtig und gutherzig zu verhalten, nur das konnte jemanden als böse entlarven und würde durch Kira gerichtet werden.

Darüber hinaus hatte niemand etwas zu befürchten, der sich ihm nicht offensiv widersetzte.

Light betrat den Hauptüberwachungsraum und hielt inne. Wie meist zu dieser späten Stunde war das Oberlicht gedämpft, zur Hälfte ausgeschaltet und lediglich die Front der Computerbildschirme erhellte die Szenerie. Zwischen den elektronischen Geräten lagen Akten und Pläne verstreut. Keine Menschenseele war mehr anwesend.

Seufzend drehte Light sich um. Täusche ich mich oder läufst du vor mir davon, L?

Er setzte sich wieder in Bewegung, während er dem Schattenriss seiner eigenen Gedanken innerlich erklärte:

„Ich unterwerfe die Welt nicht, ich führe sie nur auf den richtigen Weg. Es geht mir nicht darum, eine auf Angst basierende Diktatur aufzubauen, weil es genau das ist, was wir jetzt schon haben. Nein, ich will, dass die Menschen glücklich sind und dass ihr Glück nicht von Einzelpersonen verhindert wird, die sich durch ihre Skrupellosigkeit herausnehmen, über andere zu entscheiden. Ich will, dass nicht mehr das Gesetz des Stärkeren herrscht, sondern jenes der Gerechtigkeit und Gutmütigkeit. Wenn ich mein Ziel einer perfekten Welt erreicht habe, wird es mitnichten so sein, dass ich als Einziger übriggeblieben bin. Vielmehr ist Yagami Light die erste Person, die hinter Kira verschwinden muss, um diese Welt überhaupt erst zu erschaffen.“

Light war bei dem frei zugänglichen Wohn- und Essbereich neben der Küche und den Konferenzräumen angelangt, blieb jedoch tief durchatmend ein paar Sekunden vor der Tür stehen, bevor er in den mittlerweile vertraut gewordenen Aufenthaltsraum eintrat. Auf der Schwelle verharrend erfasste er mit kühlen, braunen Augen die Kommoden, Stühle, Zierpflanzen und jene um den Glastisch angeordnete Sitzgruppe. Durch die Fensterscheiben fiel der trübe Schein der Nacht in die Finsternis der Räumlichkeiten. Verwirrt versuchte Light zu begreifen, was er sah. Keine einzige Lampe war eingeschaltet. Der Fernseher zeigte sich schwarz und stumm. L war nicht hier.

Zurück auf dem Gang wanderte Lights Blick ohne Ziel über den Boden des Korridors.

„Es klingt vielleicht komisch, wenn ein Todesgott das sagt, aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, überhaupt am Leben zu sein.“ Fast ein Jahr war vergangen, seit Light einstmals diese Worte von Ryuk gehört hatte. Doch dieses Mal sprach die Stimme in seinen Gedanken weiter. „Dir ging es doch genauso, nicht wahr, Light?“ Er öffnete eine nahegelegene Tür und spähte in einen leeren Konferenzraum. „Du hast gesagt, dir sei gleichermaßen langweilig gewesen.“ Die nächste Tür bot ebenfalls nur einsame Schwärze. „Dabei sah dein Gesicht so verbittert aus, als hättest du in Wirklichkeit sagen wollen, dass du dich auch nicht mehr richtig lebendig fühltest.“ Eine weitere Tür, ein weiterer leerer Raum. „Als würdest du nicht mehr wissen, wofür du eigentlich lebst.“ Noch eine Tür und erneut umfing ihn Finsternis, mit jedem Schritt ein wenig mehr. Reiß dich zusammen. Hör auf, dich wie ein Idiot zu verhalten. Light zwang sich, ruhiger zu atmen. Seine Hand zitterte auf der Klinke des nächsten Zimmers. Aufgrund seiner Erinnerung wusste er nur allzu genau, was sich hinter dieser Tür befand. Hier hatte L ihn gestern gefragt, ob er ihm seinen wahren Namen verraten sollte.

„Misa wird mit dem Morden für Kira fortfahren“, gluckste Ryuk zufrieden. „Morgen ist es so weit, dass man es in der Zentrale erfahren wird. Du wirst seinen Namen gar nicht brauchen.“

Die Klinke herunterdrückend öffnete Light die Tür.

„Hörst du das nicht?“

„Kirchenglocken?“

„Nein, es sind Schreie. Und das Ticken einer Uhr. Tick. Tack. Tick. Tack...“

In keinem einzigen dieser Räume, nirgends war L zu finden. Die Flure wirkten wie ausgestorben. Seitdem Light seine Sicherheitskarte liegen gelassen hatte, sodass er sein einstiges Zimmer nicht mehr betreten konnte, war L nie mehr lange dort gewesen. Stattdessen hockte er stets irgendwo auf einem Stuhl, Sessel oder Sofa und döste für ein paar wenige Stunden, falls sein Körper nach Schlaf verlangte. Hatte Watari nicht gesagt, L habe keinen Grund mehr, in einem Bett zu übernachten? Besaß er etwa plötzlich doch einen?

Schmucklose Wände, grell und künstlich erhellt. Geputzte Böden, endlose Gänge, steril und menschenleer. Glatte Flächen von kaltem Fensterglas, wie schwarze Löcher oder glanzlose Augen.

Unruhig stand Light endlich vor dem Zimmer seines Freundes. Hier hatte er ihn eigentlich zuallerletzt vermutet. Langsam hob er den Arm, unterband das heftige Schlagen seines Herzens und klopfte etwas verhalten an.

„Ryuzaki?“

Er hielt den Atem an, eher unbeabsichtigt als bewusst, um auch noch das leiseste Geräusch zu registrieren. Deutlich vernehmbar klopfte er noch einmal.

„Ryuzaki?“

Nichts war zu hören. Niemand öffnete. Light merkte gar nicht, dass er einige Minuten gedankenverloren und regungslos vor der Tür stehen blieb, ohne wirklich zu begreifen.

„Er ist nicht da“, stellte Ryuk unbekümmert fest. „Vielleicht liegst du falsch und er existiert schon gar nicht mehr.“ Von hinten beugte sich die Imagination seines Todesgottes nah zu ihm herab. „Weißt du, welcher Tag heute ist, Light? Hast du vergessen, wie Rem deinen Plan in die Tat umgesetzt und für dich denjenigen getötet hat, den du selbst nicht töten konntest? Was für ein glorreicher Sieg, den man einem anderen überlässt, um sich selbst nicht die Hände schmutzig zu machen.“ Raunend hörte Light die kratzige Stimme dicht an seinem Ohr. „Oder sich nicht vom Zittern der eigenen Hände abhalten zu lassen?“

„Verschwinde, Ryuk.“

Er hätte diese verfluchte Karte nicht hergeben dürfen, dann wäre die elektronische Sicherheitssperre kein Hindernis gewesen. Was hatte er sich damit nur beweisen wollen?

„Führe mich nicht in Versuchung“, zitierte Ryuk wispernd. „Das ist es doch, was du eigentlich verhindern wolltest.“

Wie fremdgesteuert holte Light seine eigene Sicherheitskarte aus der Hosentasche und zog sie mechanisch durch die Magnetstreifenerkennung. Entgegen einer diffusen Hoffnung verriet ihm das dumpfe Surren und ein rotes Aufleuchten am Gerät, dass es nicht funktionierte. Konnte es sein, dass sich L in diesem abgeschotteten, unerreichbaren Käfig befand, in den sie sich zusammen eingesperrt hatten? Zwei Monate lang verbunden und isoliert, miteinander gefangen und gemeinsam einsam. Wohin war diese Zeit nun entschwunden?

„Meinst du wirklich, L würde sich vor dir verstecken?“ Die Frage klang spöttisch. „Er war doch schon immer angriffslustig, nicht wahr?“ Im Augenwinkel meinte Light zu sehen, wie sich die furchteinflößende Pranke des Ungeheuers neben seinem Körper anhob. Eine der Krallen deutete hinüber zu seiner eigenen Zimmertür. Das war doch nicht möglich. Konnte es sein, dass...?

Unsicher auf den Beinen schritt Light voran, im Gehen seine Sicherheitskarte mit bebender Hand umschließend. Kurz darauf ertönte jener längst gewohnte Signalton. Dieser Ton sollte das einzige Geräusch in der ansonsten allumfassenden Stille bleiben. Im Inneren des Zimmers brannte kein Licht. Es war leer. Niemand war hier. Und Light kam es vor, als würden die Wände näher rücken.

„Los, erinnere dich“, flüsterte Ryuk. „Sind nicht schon Wochen und Monate vergangen, seit du Ls Identität übernommen hast? Du hast ihn annektiert und ausgehöhlt. L lebt schon seit langer Zeit nicht mehr. Und du irrst noch immer durch die Gänge deines neuen Imperiums und suchst nach ihm.“

„Lass mich in Ruhe.“

Light machte auf dem Absatz kehrt. Vorerst unschlüssig, dann zielgerichtet lief er den Weg zurück. Seitengang um Seitengang. Abzweigungen. Fahrstuhltüren. Dreiundzwanzig Stockwerke, vom Fundament bis zum Firmament, nur erstickende Leere und Einsamkeit. Der einzige Platz in diesem Gefängnis, der Light jetzt noch einfiel, wo er seinen Atem wiederfinden konnte, war das Dach dieser verrottenden Welt. Um Luft ringend stieß er im obersten Geschoss die Sicherheitstür auf.

„Es gibt nicht viele Orte, an denen man sich verstecken kann. Wenn du mich einmal suchen solltest, Light-kun, weißt du wahrscheinlich immer, wo du mich findest.“

Warum hast du das gesagt, L? Den schneidenden Nachtwind auf der Haut fühlend überquerte Light den verlassenen Helikopterlandeplatz. Er legte die Hände auf das niedrige, den Rand des Daches umfassende Geländer und stützte sich schwerfällig auf. Unter ihm erstreckte sich das Lichtermeer Tokyos. Lights Fingerknöchel begannen zu schmerzen, je stärker er sich an dem Metall zwischen seinen Händen festklammerte. Warum versteckst du dich jetzt vor mir? Willst du, dass ich verrückt werde? Wieso tust du mir das an?

„Der Tod ist kein Abenteuer“, meinte Ryuk abwesend, während er sich gleichfalls gegen die Absperrung lehnte, „er ist einfach nur trostlos und langweilig.“ Light erinnerte sich daran, wie er einst als Kind die Geschichte vom Nimmerland und den verwunschenen Jungen gelesen hatte. Peter Pan nahm an, der Tod sei bestimmt ein furchtbar großes Abenteuer. Vielleicht hob man ihn deshalb ganz bis zum Schluss der Geschichte auf. Jeder hatte dieses Krokodil mit der verschluckten Uhr im Nacken sitzen. Und jeden Tag hörte man das Ticken lauter. Doch irgendwann würde die Uhr stehen geblieben sein. Man würde es nicht mehr kommen hören.

„Was denkst du, warum es mich ständig aus dem Reich der Todesgötter in die Menschenwelt zieht?“, rief Ryuk dem jungen Mann hinterher, der wieder Kurs auf das Treppenhaus genommen hatte. „Nichts ist so interessant und lächerlich wie die heuchlerische Krankheit des menschlichen Daseins. Und nirgends offenbart sich dieser Irrsinn besser als im Kopf eines Genies. Wir Shinigami leben nicht. Das versucht nur ihr Menschen.“ Auf dem oberen Absatz fiel die Tür hinter Light ins Schloss. Die Neonröhren, welche sich durch den Bewegungsmelder automatisch einschalteten, blendeten unangenehm in seinen Augen. Lautlos wandelte Ryuk durch das feste Material hindurch, das ihn nicht aufzuhalten vermochte. Für den Bruchteil eines Moments hätte Light fast darüber lachen können, da dieses Monstrum ja nicht einmal echt war, sondern nur den Einbildungen seines Verstandes entsprang. Den eigenen Gedanken konnte man wohl kaum entkommen.

Einen Fuß auf die Stufen setzend spürte Light plötzlich seine Beine nicht mehr. Er stemmte sich mit einer Hand an der Seite ab, um sein Gewicht halten zu können, und glitt hinunter auf den Treppenabsatz. Schwer atmend sank er gegen die Wand, lehnte Schulter und Stirn dagegen.

„Na? Keine Kraft mehr?“ Ryuk ließ sich nachlässig neben ihm nieder. „Euer Leben ist Krieg und jeder Tag ist ein Kampf. Du, Yagami Light, befindest dich bereits am Rande zum Wahnsinn, zerrissen zwischen deiner Intelligenz, die dich ermüdet und verzweifeln lässt, und den gespaltenen Wahrheiten deiner Persönlichkeit.“ Betrübt barg Ryuk das Kinn in seinen Handflächen. „Du bist kurz davor, durchzudrehen. Aber du merkst es nicht einmal.“

Light machte die Augen zu, lauschte auf den Widerhall seiner Atemzüge im stillen Treppenhaus. Sogar durch seine geschlossenen Lider konnte er sehen, wie das Flurlicht nach einer Minute erlosch.

Es hatte keinen Zweck. Er konnte L nicht finden. Er musste zurück. Zurück in sein Zimmer. Schwankend erhob sich Light, festigte seinen Stand und schritt weiter hinab in die Tiefe.

 

Einer wie der Andere. Otoharada Kuro So gesehen ist die Welt voll von Leuten, die man besser umbringen sollte. Shibuimaru Takuo Das Böse muss besiegt werden. Ned Anderson Um eine Welt der Gerechtigkeit zu erschaffen. Haley Belle Was ist schon Unschuld? Matsushiro Nakaokaji Sie ist nur ein Vorwand für Dummköpfe und ein Zufall für die Glücklichen und Unwissenden. Nijita Kyu Für sie wie für uns alle ist Unschuld die Spitze des Eisbergs, der aufragt über dem Berg der Sünden. Hans Belmel Und der in ihrem Namen begangenen Verbrechen, die wir mit uns herumschleppen. Lind L. Taylor Und das Leben, was ist das? Lee Tanahan Eine kleine kümmerliche Insel im endlosen, majestätischen Ozean des Todes. Girela Sevenster Die Welt will betrogen werden. Fridge Copen Also soll sie betrogen werden. Yoda Tamikichi Wer nicht zu heucheln weiß, der weiß auch nicht zu herrschen. Freddi Guntair Diese Gesellschaft ist als Ganzes irrational. Shirami Masaaki Ihre Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen. Nikola Nasberg Ihr Friede wird durch die beständige Kriegsdrohung aufrechterhalten. Gottam Yesoud Ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden. Raye Penber Um die Welt zu reinigen, sind Opfer unerlässlich. Asaji Mainichi Um das Gute in die Welt zu bringen, muss ein Gott geboren werden. Tayoshi Murao Es geschehe Recht, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht. Pian Brotise Auch wenn alles daran zugrunde gehen sollte. Bec Santan Edwerd Simms Tim Bortam Nusumi Kogoro Arire Weekwood Nanbarumi Karuto Bess Seklett Lian Zapack Naomi Misora Dabit Becom Kiichiro Osoreda Toors Denote Maikel Kitan Maefuto Suji Knick Staek Albert Brofir Masaichi Nanamemaru Beyond Birthday Take Majime Ale Funderrem Akinaka Tomitetsu Spoat Jier Clasic Jans Sterens Kyosuke Higuchi L…

„Seid still.“

„Um die ist es doch nicht schade.“

„So seid doch still.“

„Die Welt ist besser ohne sie dran.“

„Seid endlich still.“

„Wenn die Menschen ein wenig ehrlicher wären, dann würden sie zugeben, auf wen sie verzichten könnten und ohne wen die Erde ein besserer Ort wäre. Du machst diese hässliche Welt schön, Light. Du machst sie perfekt.“

„Oh Gott, bitte nicht...“

Wie versteinert ruhte Light mit dem Rücken auf dem Bett in seinem Zimmer und starrte an die Decke. Ein düsterer Schatten schwebte über seiner unbewegten Gestalt.

„Das Leben ist nicht so, wie man sich das vorstellt.“

Ryuk fing an zu kichern, bevor er wenig später in wildes Gelächter ausbrach.

„Du hast alles dafür getan, dich durch dein Tun nach und nach selbst krank zu machen“, meinte er dann glucksend. „Du bist schon lange nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber jetzt, nach deinem genialen Plan und der langen Zeit mit L, hast du vollends den Verstand verloren.“

„Nein“, widersprach Light kühl, „noch nicht.“

„Das stimmt, noch nicht ganz. Aber du leistest hervorragende Arbeit. Jetzt willst du also den einzigen Menschen töten, der wirklich dein Freund hätte sein können.“

„Du irrst dich. L ist nicht mein Freund.“

„Auch damit hast du Recht. Er ist viel mehr als das.“

„Ich muss ihn töten. Es wird mir eine Ehre sein, ihm das Leben zu entreißen.“

„Viel Spaß dabei, Yagami Light. Damit wirst du dir dein eigenes Grab schaufeln.“

Ein dünner Faden, getränkt in rotes Blut, schien ihm die Kehle zuzuschnüren. Light versuchte zu schlucken, zu atmen.

„Lieber tot als leer. Es ist besser, kurz und schmerzhaft zu leben, als in dieser Einöde zu ersticken. Wenn ich nicht mit L kämpfen würde, hätte ich ihn niemals so intensiv kennen gelernt. Ihn zu töten ist das höchste Glück und die größte Qual, die ich uns beiden bescheren kann. Wenn mich niemand aufhält, werde ich nicht stehen bleiben. L wird das mit Sicherheit genauso sehen. Keiner von uns beiden kann jetzt noch umkehren. Wir können nicht anders. Danach, wenn ich Ls sterbenden Körper ehrerbietig in meinen Armen halte, wird mich bis zu meinem eigenen Tod nichts mehr berühren. Und erst dann, sobald mich der Tod erlöst, werde ich wieder Angst verspüren können.“

Schlagartig verkrampfte sich sein Leib, wurde geschüttelt von einem überraschend einsetzenden Lachen, das durch eine unmittelbare Erkenntnis befreit wurde, die Light gerade ereilt hatte und die ihn auf erschreckende Weise amüsierte.

„Aber wer weiß, was dann noch von mir übrig ist.“

Leise lachend rollte er sich zur Seite, zog die Beine an den Körper und vergrub seine zitternden Hände in seinem Haar.

Wo bist du, L? Ich kann dich nicht finden. Warum lässt du mich allein? Warum gerade jetzt?

„Hilf mir.“

Verloren

Verloren

 

Künstliches Licht wurde in den ovalen Gläsern der Brille reflektiert, die Watari nun ein wenig nach unten schob, um sich mit den Fingern die Partie zwischen seinen Augen zu massieren. Erschöpft lehnte er sich in dem Drehstuhl zurück und blickte nachdenklich neben sich auf den Tisch, auf ein paar vom Monitorlicht beschienene Seiten linierten Papiers, als das Geräusch einer sich öffnenden Tür ihn aufmerken ließ.

Im Eingang zu Wataris persönlichem Überwachungsbereich stand ein junger Mann mit zerzausten schwarzen Haaren, die ihm in das blasse, zu Boden gewandte Gesicht fielen. Seine Kleidung war leger, zwar sauber, aber zerschlissen und eigentlich viel zu groß für seinen dürren Körper.

„Was ist los, Ryuzaki?“, wollte Watari wissen. „Kann ich Ihnen helfen?“

Der junge Mann blieb stumm, stand nur weiterhin, dem Anschein nach unentschlossen, im Raum und rührte sich nicht. Irgendwie wirkte er verloren, wie ein Kind, das seine Eltern nicht fand.

„Was ist denn?“, fragte Watari erneut, diesmal unverkennbar besorgt. Er versuchte, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, während er um Unverfänglichkeit bemüht weitersprach. „Sie sehen müde aus. Nun gut, mir war es gleichfalls nicht vergönnt, in den Genuss von Schlaf zu kommen. Soeben bin ich mit den Aufzeichnungen fertig.“

Während sich Watari die faltigen Hände aneinander rieb, um sie ein wenig zu wärmen, musterte er den Anderen geduldig vom wirren Haarschopf bis hinab zu den nackten Füßen. Die Klimaanlage in diesem Gebäude war eindeutig zu kalt eingestellt, was in erster Linie der technischen Ausstattung zugutekam, keineswegs den hier befindlichen Menschen. Hoffentlich erkältete sich der tatkräftige, selbstvergessene Detektiv nicht, wenn er ständig barfuß durch die Gegend lief. Vielleicht sollte sein Mittelsmann und Helfer ihnen einen guten, heißen Earl Grey zubereiten.

Noch immer zeigte der Jüngere keinerlei Regung. Nach einer langen Pause berichtete Watari sanftmütig:

„Er hat nach dir gesucht, L.“

Obwohl es so schien, als reagierte der Angesprochene auch auf diese Aussage nicht, meinte Watari dennoch zu erkennen, wie L aufhorchte. In behutsamer Rücksicht fragte der alte Mann:

„Du bist dir sicher, dass dieser Junge Kira ist?“

Endlich, ein stummes Nicken. Watari drehte sich auf dem Stuhl herum und ließ einen sorgenschweren Blick über die Monitore schweifen. Er schaute wieder zurück auf seinen Schützling.

„Das mit dir und Yagami Light ist kein Teil einer Ermittlungsstrategie, nicht wahr?“

L schüttelte seinen gesenkten Kopf.

„Ich verstehe“, meinte Watari daraufhin. Er lächelte gutmütig, einerseits nachsichtig, andererseits auch voller Kummer.

 

Mit dem Morgengrauen wurden die Schatten der Nacht vom fahlen Zwielicht der Dämmerung vertrieben. Leblos lag Light auf dem Bett und blickte aus erkalteten Augen ins Nichts, ohne zu wissen, wie lange er sich schon nicht mehr bewegt hatte. Sein Körper fühlte sich bleischwer an. Er konnte sich nicht entsinnen, ob er irgendwann eingeschlafen oder ununterbrochen wach geblieben war. Langsam drehte er den Kopf zur Seite und starrte auf die Datumsanzeige des Funkweckers. Fünfter November. Konnte es denn stimmen, dass L erst gestern bei ihm gewesen war, dass sie auch heute wieder zusammen sein würden? Oder entsprach es wirklich bloß einer Wunschvorstellung, dass der Meisterdetektiv noch lebte und Kira ihn nicht schon längst getötet hatte, um dessen Stelle einzunehmen?

Ruhelos erhob sich Light. Er trug, wie er nun feststellen musste, noch immer die Kleidung vom Vortag. Wie erbärmlich. Er benahm sich wie ein Volltrottel. Es war ihm zeitweilig, so kam es ihm in missbilligender Weise zu Bewusstsein, sogar angemessen erschienen, hinüberzulaufen und diese vermaledeite Tür einzutreten, hinter der sich L wahrscheinlich verkroch.

Mit fahrigen Bewegungen entkleidete er sich, entnahm dem Schrank frische Sachen und ging ins Badezimmer. Seine Handlungen waren automatisiert, abwesend. Er musste sich zusammenreißen. Er musste sich verhalten, wie es von Yagami Light, dem vorbildlichen Sohn und gewissenhaften Studenten, erwartet wurde.

„L hasst es, wenn du das tust.“ Und wieder holte sie ihn ein, diese Stimme, die ihm schonungslos seine eigenen Gedanken offenbarte. Ryuk saß im Schneidersitz, den Kopf in die Handflächen gestützt, auf dem Wannenrand und beobachtete ihn. „Er will nicht, dass du dich verstellst.“ Da war L aber auch der Einzige. Light ignorierte die Worte, seine braunen Augen waren leer, seine Mimik ausdruckslos. Doch genauso wenig, wie er das Denken abschalten konnte, war er in der Lage, den Gott des Todes abzuschütteln.

Vollständig angezogen, sauber und ordentlich wie stets, stand Light vorm Spiegel und legte bedächtig seine Armbanduhr an. Wenigstens die Fassade war somit wieder perfekt.

Vor der Zimmertür, die hinaus in den Flur führte, blieb er noch einen Moment stehen. Er entspannte seine Glieder, öffnete und schloss seine Hände und atmete tief durch. Heute würde die Sonderkommission von dem Neubeginn der Ermordungen erfahren und L würde alles daran setzen, um den Täter zu überführen. Aufgrund seiner natürlichen Skepsis und logischen Schlussfolgerungen sollte sein Verdacht erwartungsgemäß erneut auf Misa fallen. Wenn alles nach Plan verlief, begriff Rem mit Sicherheit, dass sie heute vor eine Wahl gestellt wurde. Und dass ihre Entscheidung jemanden mitten ins Herz traf.

Bevor er sein Zimmer verließ, warf Light einen letzten Blick zurück in die Leere des Raumes und die Außenwelt hinter dem Glas. Gegen die Fensterscheiben schlug leichter Nieselregen.

 

Als er den Hauptüberwachungsraum betrat, hockte L in gewohnter Manier auf einem Stuhl zwischen den Polizisten und war damit beschäftigt, umständlich am Verschluss einer Kekspackung zu zupfen. Light überkamen gleichzeitig Gefühle von Erleichterung, Zuneigung und unbändigem Hass. Wo war L gewesen? Warum hatte er ihn allein gelassen? Wie konnte er jetzt so seelenruhig hier herumsitzen? Noch einmal würde das nicht passieren. Noch einmal würde L nicht so einfach verschwinden können. Light würde ihn an sich reißen und festhalten, damit er nicht mehr davonlaufen konnte. Er würde L besiegen und ihm zeigen, wer in diesem Spiel die Regeln bestimmte. Er würde ihn vereinnahmen und nie wieder gehen lassen. L gehörte ihm, ihm ganz allein!

Von seiner geballten Faust ausgehend spürte Light ein Stechen in den angespannten Sehnen und der Handinnenfläche, in die er seine Fingernägel bohrte. Er musste sich beruhigen, einen kühlen Kopf bewahren, seinen sich überschlagenden Gedanken Einhalt gebieten. Kurz senkte er seine Lider, biss die Zähne aufeinander und gemahnte sein schmerzhaft pochendes Herz zu mehr Selbstbeherrschung.

„Du willst ihn nicht hergeben?“ Ryuks Frage klang ironisch. „Glaubst du etwa, wenn du diesen Buchstaben dein Eigen nennst, dass du ihn dadurch am Leben erhalten kannst? Sobald Kira in einer Doppelrolle den Platz von L einnimmt, wirst du ihn noch mehr auslöschen, als wenn du ihn nur getötet hättest. Falls kaum jemand davon erfährt, dass L stirbt, dann ist es, als hätte er nie existiert. Begreifst du wirklich, was das heißt, Light? Verstehst du überhaupt, was es bedeutet, L zu besiegen? Indem du gewinnst, verlierst du ihn.“

Ungerührt überhörte Light seine eigenen Bedenken, durchquerte in selbstbewusster Haltung den Raum und wünschte seinem Vater sowie den anderen Polizisten einen guten Morgen, bevor er sich leise und gefasst mit seiner Begrüßung an den Meisterdetektiv wandte.

„Ryuzaki.“

„Light-kun.“ Ohne hochzuschauen gab L gleichermaßen knapp eine Antwort, während er mit spitzen Fingern einen mit Schokoladencreme gefüllten Keks in Pandaform zu erhaschen versuchte. Light hätte sich am liebsten für die lächerlich übertriebene Empfindung geohrfeigt, die Ls tonlose Stimme in ihm auslöste.

Jedoch durchschnitt Aizawa mit seinen folgenden Worte den scheinbaren Frieden.

„Ah, die Aktualisierung der globalen ICPO-Verbrecherkartei ist... das kann doch nicht...“

„Was...?“ Schockiert beugte sich Chefinspektor Yagami nach vorn, um Einblick auf den Computerbildschirm erlangen zu können. „Etwa schon wieder Morde an Straftätern?“

Ein Grinsen huschte über Lights Mundwinkel. Misa hatte ihre Aufgabe offenbar zu seiner Zufriedenheit erfüllt. Am vorigen Abend waren lauter Verbrecher getötet worden, die erst nach Higuchis Tod in den Nachrichten auftauchten. Während L in sich gekehrt zu überlegen schien, äußerte Light die Vermutung, mit dieser Neuigkeit sei es wohl bestätigt, dass ein weiteres Death Note in der Menschenwelt existieren müsste.

„Es fing in dem Moment wieder an, als Amane Misa auf freien Fuß gesetzt wurde“, stellte L fest.

„Oder seit Higuchi tot ist“, relativierte Light sofort, obgleich ihm die korrekte Schlussfolgerung des Meisterdetektivs direkt in die Hände spielte. „Misa hat mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun. Da sie schon einmal unter Verdacht stand, würde sie doch, selbst wenn sie die Fähigkeiten des zweiten Kiras hätte, nicht so bescheuert sein, sie gerade jetzt zu benutzen.“ Und eben weil es so offensichtlich war, würde selbst Rem begreifen, dass Misa wieder in Gefahr schwebte. Light bemerkte, wie sich das skelettartige Geschöpf straffte. Offenbar sorgte sie sich bereits. Dann lief auch der Rest wie geplant. Es war kaum notwendig, in die Unterhaltung zwischen den Polizisten einzugreifen und sie in die gewünschte Richtung zu lenken. Im Gegensatz zu L ergriffen diese ausnahmslos Partei für Misa, bestätigt durch die gefälschte Regel jener dreizehn Tage. Die kumulative Wirksamkeit von Kiras Handlungen war von nun an nicht mehr aufzuhalten, selbst wenn er es gewollt hätte. Ls Tod stand quasi schon fest. Sein Tod war unabwendbar. Unvermeidlich.

Euphorie und Grauen durchströmten Light. Er hätte lauthals darüber lachen können, dass L bereits jetzt verloren hatte. Dass er L bereits jetzt verloren hatte.

„Können wir überhaupt jemanden festnehmen, der einfach nur Namen in ein Heft geschrieben hat?“, gab Light in gespielter Skepsis zu bedenken.

„Einen Beweis gäbe es in der Tat nicht“, antwortete L ruhig, „jedenfalls nicht allein durch die Festnahme einer Person, die ein Notizbuch des Todes besitzt und verwendet hat, es sei denn, man probiert das Heft selbst aus. Aber das ist mir auch ziemlich egal. Ich will nur den Fall lösen. Den Rest überlasse ich der Justiz.“

„Hey, es wird doch wohl nicht nötig sein, das Heft auszuprobieren?!“ Obwohl er unterschwellig häufig die derzeitigen Gesellschaftsveränderungen befürwortete, fiel Matsuda nun empört in die Debatte ein. „Kira hat sich doch auf jeden Fall strafbar gemacht! Er hat Namen um Namen in das Heft eingetragen und gewusst, dass es funktioniert. Wenn die Existenz des Notizbuchs nicht publik gemacht werden darf, muss sein Benutzer einfach exekutiert werden.“

„Das ist nicht gerade die feine Art“, meinte Aizawa, „aber die da oben werden sich vermutlich etwas in der Richtung einfallen lassen.“

„Sollte Kira vor Interpol die Morde durch das Buch zugeben, wird er wohl einem internationalen Gerichtshof ausgeliefert und nach Völkerstrafrecht verurteilt“, vermutete L desinteressiert. „Wahrscheinlich erhält er dafür die Todesstrafe oder eine lebenslängliche Haftstrafe. Sollte er seine Taten nicht zugeben, werden sie ihn seinen eigenen Namen in das Buch schreiben lassen. Das meinen Sie doch, nicht wahr?“ Teilnahmslos stellte der Detektiv ein paar der Pandakekse Rücken an Rücken gegeneinander. Die dunklen Augen starr auf seine Süßigkeiten gesenkt, mit denen er soeben die aufgeschlagenen Seiten des Death Notes vollkrümelte, beendete L die Diskussion in ungewohnt schneidendem Tonfall. „Darüber sollte man sich den Kopf zerbrechen, wenn wir Kira gefasst haben. Nicht jetzt.“

„Merkwürdig“, kommentierte Ryuk ehrlich überrascht. „Plötzlich klingt L so handzahm. Dabei wollte er dich anfangs persönlich zum Schafott geleiten. Vielleicht würde er dich echt verschonen. Warum probierst du es nicht aus, Light? Sag ihm, dass du Kira bist. So, wie du es schon einmal getan hast, aber ohne einen neuerlichen Rückzieher zu machen. Wie er wohl reagiert? Das wäre bestimmt lustig. Was würdest du dann zu deiner Rechtfertigung vorbringen, wenn du aufgibst?“ In Ryuks Stimme mischte sich das Vibrieren eines unterdrückten Lachens, das kurz darauf aus ihm herausbrach. „Es war nicht meine Hand! Der Wahnsinn hat es getan, so glaubt mir doch!“ Er lachte und lachte, über alle Maßen amüsiert von dieser Vorstellung. „Sie werden dich umbringen, Light. Du musst L töten. Entweder du oder er.“

 

„Und, wie kommst du voran?“

„Alles wie immer.“

„Bei dir heißt das, du arbeitest fleißig und bringst in der Uni die besten Leistungen.“ Light glaubte sogar, nur aus der Stimme seiner Mutter ihr Lächeln herauszuhören, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Sie war stolz auf ihn, weil er sie nie enttäuschte. „Das freut mich, Light. Auf meinen Sohn kann ich mich immer verlassen.“

„Das sagst du noch? Trotz der Sache mit Vater und Misa?“

„Ach, Junge...“ Seine Mutter seufzte. „Ich muss gestehen, ich war ja auch nicht ganz begeistert, weil ich mir einfach eine andere Frau an deiner Seite vorgestellt habe. Aber heutzutage ist das eben so, dass die jungen Leute sich ihre Partner selbstständig aussuchen. Dein Vater sollte nicht so engstirnig sein. Ich hoffe doch, ihr klärt das bald.“

Ziellos sprang Lights Blick von einer Vertiefung der Chesterfieldcouch zur nächsten, während er die Hand gedankenversunken über das rotbraune Leder gleiten ließ. Sein Vater hatte ihn vorhin gebeten, sich zu Hause zu melden. Pflichtbewusst wie stets war Light dieser Aufforderung nachgekommen. Mit gespielter Zuversicht in der Stimme antwortete er:

„Womöglich dauert es gar nicht mehr lange, bis die ganze Sache aus der Welt geschafft ist.“

Statisches Knacken und Rauschen beeinträchtigte kurzfristig die telefonische Verbindung, als würde am anderen Ende der Leitung eine Hand auf den Hörer gelegt werden.

„Sayu, turn hier nicht so luftig gekleidet herum.“

„Sayu ist da?“, fragte Light erstaunt. „Müsste sie jetzt nicht in der Schule sein?“

„Sie hat sich eine Erkältung zugezogen, das unvorsichtige Ding.“ Im Hintergrund war eine helle Mädchenstimme zu hören, kurz darauf sprach Lights kleine Schwester in den Telefonhörer.

„Brüderchen, bist du das?“ Sie klang ein wenig heiser und hustete, allerdings eher aufgrund kindlicher Aufregung. „Du kommst gar nicht mehr nach Hause, Light. Ich vermisse dich total.“

„Weil du niemanden mehr hast, der dir bei deinen Hausaufgaben hilft?“, bemerkte Light schmunzelnd. „Was muss ich von Mutter hören, kaum passe ich mal nicht auf dich auf, wirst du krank?“

„Ist nicht schlimm, wirklich! Morgen ist Wochenende und nächste Woche bin ich bestimmt wieder fit. Dabei wollte ich aber eigentlich mit meinen Freundinnen nach Shibuya.“ Eine ermahnende Bemerkung ihrer Mutter folgte, die Light wegen der fernmündlichen Überbrückung nicht ganz verstehen konnte. „Ja, schon gut. Light, du wohnst doch jetzt mit Misamisa zusammen, nicht? Wie ist das so in wilder Ehe? Hey!“ Ihr Mutter nahm ihr das Telefon wieder aus der Hand.

„Also wirklich, du weißt nicht einmal, wovon du da redest, Kind. Außerdem... bist du barfuß? Zieh dir wenigstens Socken an! Kein Wunder, dass du krank wirst.“

In Lights Gedächtnis tauchte ein Bild auf, nackte Füße unter dem zerschlissenen Saum einer Jeanshose, feingliedrige Finger und ein blasses Gesicht unter rabenschwarzem Haar. Aus unerfindlichen Gründen setzte sein Herzschlag für eine Sekunde aus.

Sayu nörgelte etwas Unverständliches, schien jedoch neben ihrer Mutter zu verweilen, die nun bekümmert fortfuhr:

„Es stimmt, Light, wir bekommen dich überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Weihnachten wirst du sicher mit Misa-san verbringen. Irgendwann erhalte ich von dir nur noch die übliche Neujahrskarte.“

„Unsinn, Mutter.“ Light lachte leise und herzlich, wenngleich ihn das Gespräch auf undefinierbare Weise traurig stimmte. Mit jedem weiteren Wort verstärkte sich der Schmerz in seiner Kehle.

„Tja, du wirst eben auch erwachsen“, sinnierte seine Mutter melancholisch.

„Er war doch schon seit der Mittelschule erwachsen.“ Sayu hatte den Telefonhörer erneut an sich gebracht. „Ich bin stolz auf dich, Brüderchen. Streng dich an. Du packst das!“

„Und du gehst jetzt erst einmal ins Bett“, schimpfte ihre Mutter besorgt. „Ich muss leider Schluss machen, sonst bringe ich deine Schwester gar nicht mehr dazu, sich auszuruhen.“

„In Ordnung. Ich verstehe das“, erwiderte Light mit milder Rücksicht.

„Sayu, willst du dich noch von deinem Bruder verabschieden? Pass bitte auf dich auf, Light.“

Bevor er antworten konnte, erklang zum Schluss noch einmal die klare Stimme seiner kleinen Schwester.

„Ich hab dich lieb, Brüderchen. Wir sehen uns später. Bis dann!“

Light hielt den Telefonhörer noch eine Weile locker in der Hand.

„Ich euch auch“, sagte er dann tonlos, obwohl auf der anderen Seite der Leitung längst aufgelegt worden war.

Solche Menschen wie Sayu, Sachiko oder Soichiro, die einen derart arglosen und unverfälschten Charakter besaßen, waren diejenigen, die Kira beschützen wollte. Doch schon sehr früh hatte Light mit kalter Gewissheit eine unabänderliche Tatsache erkannt. Wenn er einen Fehler machte und sein Vorhaben zu scheitern drohte, dann konnte es sein, dass Kira sogar seine eigene Familie, die ihm nahestehenden Personen töten musste. Unabhängig davon, wie sehr er sie liebte.

 

Zurück im Hauptüberwachungsraum fiel Lights Blick sofort auf den leeren Stuhl vor der Front aus Computermonitoren, auf welchem L vorhin noch gesessen hatte, bevor sein junger Ermittlungspartner den Raum zum Telefonieren verließ. Einige der Pandakekse lagen vereinzelt auf dem Tisch und dem geöffneten Notizbuch des Todes, wie gefallene Soldaten auf einem Schlachtfeld.

„Wo ist Ryuzaki?“

„Er hat irgendetwas geredet“, entgegnete Matsuda, ohne seine angestrengte Aufmerksamkeit von den Unterlagen in seinen Händen zu lösen, „er wolle frische Luft schnappen oder so.“

Lights Miene verfinsterte sich. Bedachten Schrittes drehte er sich um und wandte sich zum Gehen. Langsam war es mehr als offensichtlich, dass der Detektiv ihm aus dem Weg ging. L suchte also Luft zum Atmen. Um nicht zu ersticken. Hoffentlich würde Light ihn diesmal dort finden, wo er ihn vermutete.

Während er den Raum verließ, hörte er hinter sich ein leises Wispern:

„Auf den Namen der Toten schreitend kenne auch ich den Vogel des Totenreiches nicht.“

Apotheose

Apotheose

 

Unaufhörlich fiel dichter Regen hinab auf das Meer der millionenschweren Stadt. Hochhäuser, Radiotürme und Baukräne stachen grotesk ihre Spitzen in den stählernen Himmel. Von oben sah Tokyo unter der Flut aus Gebäudekomplexen aus wie entvölkert, als sei sich keine dieser in Seenot befindlichen Seelen der eigenen Existenz und Sterblichkeit bewusst. Doch zwischen den anonymen Menschenmassen hörte man manchmal ein Flüstern aus den Löchern in der Menge. Hinter dem Rauschen des Regens ertönte ganz deutlich ein Glockenklang, das Geräusch von beruhigender Stille.

Jemand rief nach ihm. Zuerst dachte L, sein Gehör würde ihm einen Streich spielen. Den Kopf zur Seite wendend erkannte er jedoch, dass es Light war, der nach ihm rief. Dieser stand unter dem Dachvorsprung bei der Treppenhaustür und wartete auf eine Reaktion. L legte eine Hand an die Ohrmuschel, um mit der Geste zu vermitteln, dass er nicht verstanden hatte.

„Was machst du denn hier draußen, Ryuzaki?“, sagte Light etwas lauter. Auch wenn der tosende Regen die Worte fast verschluckte, konnte L sie anhand der Lippenbewegung ausmachen. Trotzdem legte er lächelnd eine Hand ans Ohr und wiederholte seine Geste. Ob Light wohl aufgeben würde? Oder war es ihm das wert, um seinem vermeintlichen Freund sogar jetzt keine Ruhe zu gönnen? Geh zurück, Light. Ich will jetzt nicht mit dir reden. Lass mich allein. Der Meisterdetektiv nahm an, sein Gesichtsausdruck müsste gewiss einiges über seinen emotionalen Zustand verraten, auch wenn er nicht wusste, was sein junger Tatverdächtiger darin zu lesen vermochte. L war schließlich selbst nicht klar, ob er dessen Gesellschaft mied oder danach verlangte. Was auch immer Light zu sehen glaubte, es veranlasste ihn dazu, ohne langes Zögern in den starken Regen hinaus und seinem Partner entgegen zu treten.

„Was machst du hier draußen, Ryuzaki?“

Wieder diese jungenhafte, unbedarfte Stimme, mit der Light sicherlich schon etliche Menschen um den Finger gewickelt hatte. Man wollte ihm unweigerlich Vertrauen schenken. Ein Dämon hinter der Maske aus schönen Lügen.

„Ich weiß nicht recht“, antwortete L gedankenverloren und konzentrierte sich erneut auf jenes Geräusch zwischen den Regentropfen. „Das Glockengeläut ist heute ungewöhnlich laut.“

Light musterte ihn irritiert und folgte dem abwesenden Blick des Meisterdetektivs, der nicht zum ersten Mal von dieser merkwürdigen Sache sprach. Was konnte er damit nur meinen?

„Ich höre nichts“, stellte Light kühl fest.

L reagierte gleichermaßen verwundert. Wie konnte man dieses Geräusch missachten? Oder war es möglich, dass man es vielleicht gar nicht wahrnahm? Es war ein Klang, der ihn an seine Kindheit erinnerte, an London und den Big Ben, aber auch an die Glocken der Kathedrale von Winchester, jenes Schlagen der Zeit und das Spiel des Wechselläutens, das man deutlich vom Waisenhaus aus hörte. In Begleitung dieser Erinnerung überkamen L zugleich Heimweh und Fernweh. Er hatte es noch nie gemocht, seine schützenden vier Wände zu verlassen, allerdings tauschte er sie oft und gern gegen andere ein, mit der Außenwelt bloß mittels elektronischer Geräte verbunden und durch Watari, der wie ein Schatten zu keiner Zeit von seiner Seite wich. Doch selbst England fühlte sich nie richtig nach einem Zuhause an. L reiste lieber von einem Ort zum nächsten. Solange er sich nicht mit einem Fall beschäftigte, gab es etwas, das diesem Gefühl von Heimweh vermutlich am ähnlichsten war. Dieses Etwas, das manche Menschen empfanden, wenn sie stundenlang aus dem Fenster eines Fahrzeugs heraus die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, wenn sich bei Nacht die Lichter der Großstadt im Wasser spiegelten oder wenn ein trommelnder Regenschauer den Klang der Stille verbarg. Es war das Bewusstsein, sich nirgends als in der Fremde zu Hause zu fühlen.

Dennoch unterschied sich das hiesige Geräusch von den Kirchenglocken, die L normalerweise vernahm. Es entsprach keinem musikalischen Zusammenspiel, sondern eher einem Solo. Ein hohles, blechernes Ausklingen, das zu vibrieren, zu sirren schien. Unerbittlich, ganz anders als ein bloßer Uhrenschlag. Nur das stetige Hämmern dieses einzelnen Tons. Dieser einzigen Glocke.

„Ich frage mich, was das ist“, sagte L zerstreut. „Vielleicht eine Hochzeit? Oder irgendeine Zeremonie? Oder vielleicht...“ Die Totenglocke? Jenes gusseiserne Instrument, das in der Kirchturmspitze neben seinen Brüdern und Schwestern ruhte, meistens unbewegt und stumm. Nur zum Abschied, als letztes Geleit und zum Gedenken an einen Verstorbenen, erhob diese Glocke ihre Stimme.

„Ryuzaki, was redest du da?“, riss ihn Lights Frage aus seinen Gedanken. „Du bist völlig durchnässt, merkst du das nicht? Geh wieder rein.“

„Entschuldige“, entgegnete L etwas unbeholfen und verwirrt. Er hatte nicht mitbekommen, wie er abdriftete. „Alles, was ich sage, hat wohl keinerlei Inhalt. Du solltest am besten nichts darauf geben.“ Betreten senkte er den Kopf. Von seinen herabhängenden, pechschwarzen Haaren tropfte unablässig das Wasser, durchtränkte seine ohnehin schwere Kleidung. Light betrachtete den Meisterdetektiv ernst, der verloren im strömenden Regen stand. Der Anblick bescherte ihm ein übermächtiges Gefühl, das er selbst nicht benennen konnte, nicht einmal als positiv oder negativ. Lächelnd schloss Light die Augen und genoss die Hilflosigkeit seines Freundes, die Genugtuung über seinen eigenen Sieg und den Schmerz über die unentrinnbare Niederlage seines Feindes. Zwischen den ganzen widersprüchlichen Emotionen blieb zum Schluss nur ein einziges Gefühl eindeutig und klar: seine unhaltbare, unerträgliche Zuneigung für L.

„Stimmt, du redest sehr viel Unsinn, Ryuzaki“, erwiderte Light schließlich mit Milde und Hochmut. „Würde man alles ernst nehmen, käme man nie an ein Ende. Ich weiß das mittlerweile nur zu genau.“

„Äh... ja, entschuldige.“

L starrte hinab auf die glatte Fläche aus Wasser und Beton zu seinen Füßen. So musste er dem Anderen wenigstens nicht ins Gesicht schauen. Am Ende hatte er keine Wahl mehr. Er konnte nur danebenstehen und zusehen, wie sich Light zerstörte. Dabei wollte er diese eiskalte Innigkeit und den sanften Hass in dessen Augen gar nicht sehen. Er konnte es nicht ertragen. Andererseits sollte er wohl dankbar für jeden Funken Ehrlichkeit sein, der ihm entgegengebracht wurde, und sei er auch noch so unbarmherzig. Lächelnd hob L den Kopf.

„Ich glaube, dahingehend sind wir einander ziemlich ähnlich, Light-kun.“ Unverwandt hielt er den Blick seines jungen Freundes fest. „Hast du denn vom Tag deiner Geburt an jemals die Wahrheit gesagt?“

L wusste mit absoluter Gewissheit, welche Antwort er erhalten würde. Er kannte diese wohlüberlegten, kalkulierten Worte zur Genüge. Nichtsdestotrotz reichte ihm der kurze Moment des Schweigens, jener Bruchteil einer Sekunde, in welchem er es schaffte, den Riss in Lights Maske ausfindig zu machen und hinter dessen Fassade zu gelangen. Die Erkenntnis, die er dabei gewann, machte L unsagbar müde. Auf einmal fühlte er sich viel älter, als er eigentlich war.

„Jeder Mensch lügt“, erklärte Light gelassen, nachdem er sich gefangen hatte. „Niemand kann sich davon freisprechen und auch ich bestreite nicht, dass ich manchmal lüge. Wer könnte so perfekt sein, es nicht zu tun? Aber ich würde immer versuchen darauf zu achten, nicht die Gefühle eines Menschen mit meinen Worten zu hintergehen oder ihm Schaden zuzufügen. Wenn du eine Antwort von mir haben willst, Ryuzaki, das ist sie.“

L schmunzelte bitter.

„Ich wusste, dass du das sagen würdest.“

Nicht einmal jetzt konnte Light ihm einen Gefallen tun und ehrlich sein. Erstaunlicherweise verursachte diese Tatsache, trotz der vorigen Gewissheit, in Ls Brust einen Schmerz, auf den er nicht vorbereitet war und der stärker zu sein schien, als dass er es allein hätte bewältigen können. Eine interessante Erfahrung. Wahrscheinlich war es besser, nicht dagegen anzukämpfen. Ein letztes Mal wollte er sich dieser undefinierbaren Traurigkeit hingeben. Die Namen und Worte, die einst hinter ihm standen, waren ohnehin längst verstummt. Nichts davon konnte ihn weiterhin schützen. Alles schwieg.

Nur die Totenglocke verkündete bittersüß den Grabgesang.

Schweigend suchten und trafen sich die Blicke der beiden Kontrahenten, die über die zukünftige Gerechtigkeit der Welt entscheiden sollten. Keiner von ihnen war jetzt noch bereit, sich abzuwenden. Hätte L sich umgedreht, um zurückzuschauen, dann wäre nichts mehr übrig geblieben. Die Jagd war an ihr Ende gelangt, weil der Ausgang seine Bedeutung verlor. So wenig wie eine Niederlage hätte ihn jetzt noch sein ursprüngliches Ziel glücklich machen können. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er nichts mehr wünschen konnte, nichts erhoffte, nichts mehr wollte. Kaltes Wasser strömte über die Fugen des Helikopterlandeplatzes in das Gitternetz der metallischen Verkleidungen, hinaus mit all dem Unrat, über den Rand des Daches und hinab in die Straßen der Stadt. Es war seltsam, fast schon komisch. Denn irgendwie schien zusammen mit dem Regen alles zu verschwinden. Alles löste sich auf, was die beiden Männer einst zu sein versuchten, aber niemals hätten sein können: Rivalen, Mitstreiter, Feinde, Freunde. Nichts von alldem konnten sie wirklich füreinander sein und doch waren sie am Ende dieser Kette aus Selbstbetrug und Fremdverleugnung füreinander alles. Den letzten Rest wusch nun der Regen hinfort, als hätte es ein Vorher oder Nachher nie gegeben. Übrig blieb, reingewaschen von jeglicher Falschheit, lediglich ein einzelnes allumfassendes Gefühl, das sie wechselseitig in den Augen des Anderen erkannten. Gefangen in ihrer Situation hätte in jenem Moment kein Wissen schlimmer sein können als diese Erkenntnis.

Warum wirkte der Weg vor ihren Füßen plötzlich so schmal, so überraschend kurz? Gleich darauf fiel es L ein. Bevor Kira ihn zwang, aus seinem Schutzwall herauszutreten, hatte er sich ja immer versteckt. So fühlte man sich wohl, wenn es keinen Ausweg mehr gab.

Ironisch lächelnd schüttelte der Meisterdetektiv den Kopf. Es war genug. Er musste nicht zusehen, wie die letzte Bedeutung im Rinnstein ertrank, nachdem er in Light dieselben Zweifel und Gefühle erkannt hatte, die er selbst seit Wochen zu verdrängen versuchte.

„Lass uns zurückgehen“, sagte er deshalb zu seinem Widerpart, dem Grund für das bisher unbekannte Gleichgewicht, das beide durch ihre Beziehung zueinander hatten erfahren dürfen und welches sie bald unwiderruflich verlieren mussten.

 

Auf den Steinstufen bildeten sich kleine Pfützen, die sie von dem Herbstregen mit hereingetragen hatten. Lights Schuhe standen auf dem oberen Treppenabsatz, genauso durchweicht wie seine Socken. Die konnte er für heute wohl vergessen. Von seiner triefenden Kleidung tropfte noch immer das Wasser, obwohl er sie, so gut es ging, am Eingang zum Treppenhaus ausgewrungen hatte. Er war genervt, aufgewühlt und noch immer verwirrt von der letzten Nacht, dem derzeitigen Stand der Ermittlungen und dem Verhalten des Meisterdetektivs. Was zum Teufel war los mit L? Zynisch dachte Light, dass er anscheinend nicht der Einzige war, der hier langsam den Verstand verlor.

„Oh, du hast einiges abbekommen“, bemerkte L dem Anschein nach betroffen. Er stand schräg hinter Light, der auf den Stufen sitzend damit beschäftigt war, seine Haare zu trocknen und abwertend entgegnete:

„Das ist deine Schuld.“

„Du hast Recht. Tut mir leid.“ Die Entschuldigung klang ehrlich, doch Light wollte nicht darauf hereinfallen. Das emotionale Chaos in seinem Inneren machte es ihm schon schwer genug, seine Beherrschung und Distanz zu wahren. Er musste die Kontrolle behalten, über sich selbst, über den Fortgang dieser Geschichte, aber vor allen Dingen über L und seine konfusen Gefühle zu ihm. Sonst konnte er sich gleich freiwillig ans Messer liefern.

Eine sanfte Hand umschloss sein Fußgelenk und ließ Light erschreckt hochfahren.

„Was tust du da, Ryuzaki?!“

„Ich will dir nur helfen“, erklärte dieser ohne Hintergedanken. „Es ist meine Schuld, dass du dich jetzt in diesem Zustand befindest. Lass mich als Wiedergutmachung deine Füße reinigen.“

„Du... du musst das nicht tun.“

„Das ist schon in Ordnung. Ich werde sie auch gleich massieren.“ Auf den Treppenstufen kniend fuhr L gleichmütig mit einem Handtuch über Fußgewölbe und Ferse seines Freundes. „Du weißt, ich bin gut darin.“ Was auch immer er damit meinte, Light wurde unwillentlich daran erinnert, wie er vor einer schieren Ewigkeit von L auf das Bett niedergedrückt worden war, damit dieser ihm den Rücken massieren konnte. Obzwar nur diffus und nicht vollständig bewusst, doch Light hatte schon damals bemerkt, dass er das Gefühl von Ls Händen auf seiner Haut als weit intensiver empfand, als es eine normale Freundschaft ihm gestattete. Wann hatte das alles bloß seinen Anfang genommen? An welchem Punkt hätte er es noch aufhalten können?

Er versuchte seiner Stimme einen belanglosen Anstrich zu verleihen, als er entgegnete:

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

„Verstanden, Light-kun. Das werde ich.“

Die Zurückhaltung, mit der L den nackten Fuß zwischen seinen Händen behandelte, verwandelte sich schnell in leichte Gewalt. Er verstärkte den Druck seines Daumens an den empfindlichen Stellen von Lights Fußsohle, sodass dieser unbeabsichtigt zusammenzuckte und sein Bein zurückziehen wollte. Jedoch hielt L ihn ungerührt fest und meinte beruhigend:

„Du wirst dich daran gewöhnen.“

Reflexartig schluckte Light schwer, um den Schmerz und die Trockenheit in seiner Kehle zu vertreiben, obwohl ihm das schon lange nicht mehr gelang. Es kam ihm vor, als würde L ihn mit seiner Geste der Hilfsbereitschaft, dem mit Sorgfalt erwiesenen Dienst, nicht nur dort berühren, wo Light tatsächlich dessen Hände spürte. Seit damals hinterließ jede Berührung, jeder Blick und jedes Wort von L ein Brennen auf und unter seiner Haut, gegen das er sich nicht wehren konnte.

Einige Tropfen benetzten die Oberseite seines Fußes. Aufmerksam werdend schaute Light hinab und betrachtete seinen Gefährten tiefgründig. Weinte L etwa? Nein, das war nur das Wasser, das von seinen Haarspitzen tropfte.

„Du bist doch selbst ganz nass, Ryuzaki“, gab Light jungenhaft und sanft von sich, wobei er rasch nach dem Handtuch neben sich griff. Behutsam fing er das Wasser auf, trocknete jenes dichte, schwarze Haar, das er so sehr lieben gelernt hatte.

„Entschuldige“, sagte L leise.

Light hätte über den Anblick triumphieren können. L zu Kiras Füßen, gebeugt und bald besiegt. Doch es passte so wenig zu dem, was sich ihm bot, dass er nicht einmal daran dachte, seinen Feind in üblicher selbstherrlicher Denkweise derart zu desavouieren. L sah in diesem Moment nicht aus wie ein Unterworfener oder ein Diener. Er strahlte keinen Spott, nicht einmal Zynismus, sondern allenfalls Fürsorglichkeit aus. Als würde er alles unter den Schutz seiner Fittiche nehmen wollen. Genau wie Kira.

„Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht“, hörte Light seinen Todesgott flüstern, „und Gott ist in ihm verherrlicht.“

Zuerst deutete Light die Worte anders, als habe sich L dem Plan Gottes gefügt, gleichsam Kira als Gott anerkannt. Aber dann drängte sich ihm ein anderes Bild auf, die Apotheose des göttlichen Sohnes und die Reinigung seiner Nächsten. Beim letzten Abendmahl hatte Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen. Auch Judas, demjenigen, der ihn verraten sollte. Zu diesem Zeitpunkt wusste Jesus bereits, dass er sterben würde.

L wusste es.

Mit dieser Erkenntnis kam sich Light nur für die Dauer jenes kurzen Moments vor wie Judas.

Sogar jetzt machte sich L noch über ihn lustig, dachte er grimmig und amüsiert zugleich. Doch war es das wirklich, was dieser ihm zeigen wollte? Sie fühlten beide, dass es innerhalb kürzester Zeit vorbei sein konnte. L schien keine Furcht, sondern allenfalls Bedauern darüber zu empfinden. In seiner melancholischen Gelassenheit, als sähe er dem Tod ohne Angst entgegen, wirkte er trotz Haltung und Position unbestreitbar erhaben. Er wirkte erwachsen, aber gleichzeitig auch so erschreckend jung und verletzlich. Gerade jetzt besaß er eine ganz eigene Art von faszinierender Anziehungskraft. Light wandte unruhig den Kopf zur Seite. Gerade jetzt wollte er L mehr als jemals zuvor.

Dann durchbrach dessen tonlose Stimme erneut die Stille zwischen ihnen.

„So einsam... bald getrennt voneinander zu sein.“

Nicht verstehend schaute Light seinem Freund offen und direkt in die Augen. L betrachtete das hübsche, fast schuldlose Gesicht. Light vermittelte einen Eindruck von Unbescholtenheit, als würde er nicht begreifen, was ihm gerade gesagt worden war. Das Licht tränkte sein Haar in goldbraune Farbe, sodass es aussah, als umgäbe sein Haupt ein Heiligenschein. In diesem Augenblick, so fiel L mit schmerzlichem Erstaunen auf, sah Light wirklich aus wie ein Gott.

Das Mobiltelefon klingelte. Nach einem kurzen, zögerlichen Innehalten stand L auf und holte das Gerät aus seiner Hosentasche.

„Ja?“

Auch Light erhob sich. Misstrauisch begutachtete er Ls gekrümmten Rücken, wobei er sich darauf konzentrierte, etwas von der Unterhaltung mitzubekommen, die jener wahrscheinlich mit Watari führte.

„Verstanden“, beendete der Detektiv das Telefonat knapp und legte auf. „Lass uns gehen, Light-kun.“

Unheilvolle, euphorisierende Panik strömte über Lights Nacken, erfüllte jeden Winkel seines Inneren. Sollte es jetzt ein Ende finden? Würde es gleich für immer vorbei sein? Wollte er das wirklich akzeptieren? Wie in Trance folgte Light seinem Freund. Seinem Feind. Seinem...

Durcheinander schüttelte er den Kopf, trat hinter L in den Fahrstuhl und hatte, ohne sich darüber richtig im Klaren zu sein, dessen Handgelenk bereits umschlossen, bevor dieser den Knopf für die Etage betätigen konnte, auf welcher sich der Hauptüberwachungsraum befand.

„Warte“, hörte Light sich sagen. Seine Augen suchten blindlings nach Ls glanzlosen Pupillen. In beidseitigem Erschrecken hielten sie einander mit den Blicken fest, wandten sich nicht ab, ließen sich nicht los.

Letzte Aufgabe

Letzte Aufgabe

 

Ls Handgelenk festhaltend hob Light bedacht seinen anderen Arm empor zu der Schalttafel des Fahrstuhls und drückte wie fremdgesteuert einen der dortigen Knöpfe. Flüchtig spähte L zur Seite, fing danach wieder die braunen Augen ein und stellte, als sich der Fahrstuhl bereits in Bewegung setzte, neutral fest:

„Ich glaube nicht, dass das die richtige Etage ist, Light-kun.“

„Unsere Sachen sind völlig durchnässt“, erklärte dieser spontan, im Grunde genommen unschlüssig, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was er überhaupt sagte. Mit eingefrorener Mimik, den Blick nicht von L lösend, deutete er hinab auf ihre Kleidung und die Wasserlachen auf dem Boden. „Es wäre besser, sie zu wechseln.“

„Du sorgst dich wohl um meine Gesundheit“, reagierte L mit kühlem Sarkasmus. „Wie umsichtig von dir.“

Über Lights Mund huschte ein Lächeln, das fast hilflos wirkte und sofort wieder verschwand, als wüsste er sich selbst keinen Rat. Er befreite L aus seinem Griff und erlaubte sich uneingeschränkt, das Erstbeste auszusprechen, das ihm in den Sinn kam.

„Sogar meine Schuhe sind klatschnass und werden es wahrscheinlich noch bis morgen sein. Ich sehe doch, dass es dir genauso geht, Ryuzaki. Willst du dich mit deinen nassen Klamotten auf einen Stuhl oder das Sofa setzen? Die anderen werden darüber sicher nicht begeistert sein. Wir sollten uns umziehen und später Watari fragen, ob er unsere Sachen zum Trocknen aufhängt. Einverstanden?“

Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Mechanisch hielt Light eine Hand in die Lichtschranke und wartete ab, obgleich ihn L mit stechenden Pupillen durchbohrte.

„Die anderen werden sich höchstens fragen, wo wir bleiben, Light-kun.“

„Sie werden uns kaum weglaufen.“

Unentschlossen verharrte L an Ort und Stelle, in seiner Lähmung nicht fähig dazu, vorwärts zu gehen oder zurück. Seine Miene zeigte eine gefährliche Ahnung. Letztlich senkte er seine müden, dunkel umschatteten Augenlider und trat an Light vorbei in den Gang hinaus. Er vermittelte den Eindruck, als habe er sich in sein Schicksal gefügt. Gemeinsam schritten sie den Flur entlang, hinterließen Spuren des Novemberregens auf dem grünen Linoleumboden. Der Weg kam L endlos vor. Eine grüne Meile lang.

Gerade als sie die Zimmertür zu Lights Räumlichkeiten passierten, fasste dieser ihn an der Schulter. Bestätigt schloss L kurz die Augen, als ein Signalton erklang. Er hatte damit gerechnet. Er hatte es erwartet. Hatte es erhofft? Keine Kompromisse duldend wurde er in den Raum geschoben. Mit einem gedämpften Klacken fiel die Tür hinter ihm zu.

„Das ist nicht mein Zimmer, Light-kun.“

„Wo warst du?“ Der Blick, mit dem Light von ihm Geltung verlangte, war genauso eisig wie seine Stimme.

„Was meinst du?“, fragte L gleichgültig.

„Stell dich nicht dumm!“ Rigoros packte Light den Stoff des weißen Oberteils und stieß L gegen die Tür. Ihre Gesichter kamen sich so nah, dass jeder den Atem des Anderen auf der Haut spüren konnte. Raunend ergänzte Light: „Gestern Nacht.“

„Bei Watari“, antwortete L ohne Umschweife. „Ich hatte eine Bitte.“

„Was für eine Bitte?“, wollte Light wissen, aber L zauderte, lenkte demonstrativ seine sonst so eindringlichen Pupillen zur Seite, hinaus aus dem Fenster, auf den anhaltenden Starkregen, der prasselnd gegen das Glas schlug. Light wurde energischer. „Was sollte das? Was hast du Watari gesagt? Worum hast du ihn gebeten?“

„Das weißt du doch“, entgegnete L entschieden. „Oder möchtest du das hören, was du nicht weißt?“

„Ryuzaki!“

„Ich bat um Verzeihung.“ Der Satz entwich L in beißender Strenge. Kaum hatte er ihn ausgesprochen, verlor sich sein Blick ziellos in einer Leere, die vielleicht nur er allein näherrücken sah. Auch seine Stimme büßte an Nachdruck ein, je mehr er in seinen Gedanken versank. „Ich habe ihm gesagt, dass es mir leidtut. Und er verhielt sich plötzlich wieder wie mein Mentor. Er sah mich an und antwortete...“ Die Worte erstarben. L brachte sie nicht zu einem Abschluss, als hätte er vergessen sie überhaupt jemals begonnen zu haben.

„Was?“, erkundigte sich Light zunehmend ungehalten, wobei er L leicht schüttelte. „Was hat er geantwortet?“ Langsam fokussierte L seinen jungen Freund. Ihn so aufgebracht und hitzig zu erleben war erstaunlich beruhigend. Dadurch wirkte Light annähernd menschlich.

„Mors certa, hora incerta“, gab L ihm schlicht zur Antwort. „Der Tod ist gewiss, ungewiss ist seine Stunde.“

„Mehr nicht?“ Irritiert lockerte Light seinen Griff, ging in sich gekehrt einen Schritt zurück. „Warum...?“

„Es gibt Dinge, die man nicht beeinflussen kann“, meinte L reserviert, „gegen die man keine Macht besitzt. Tod, Elend, Unwissenheit... um sich dennoch ein wenig Glück zu erhalten, ist der Mensch auf die Idee gekommen, an all das einfach nicht zu denken.“

„Und die Menschen, die dennoch daran denken, die all das Leid nicht vergessen können, sind automatisch unglücklich?“

„Bist du denn glücklich, Light-kun?“

„Ja, natürlich“, versicherte dieser sofort, mit starren Augen, einem erstarrten Lächeln. „Ich bin glücklich.“

Der Ausdruck, mit dem L ihn bedachte, war gütig und duldsam, auf entmutigende Weise trostlos. Light wandte sich ab. Er hatte nicht vor, sich unnötig lang der Nachsichtigkeit seines Freundes auszusetzen. Mit sorgfältig bemessenen Bewegungen schlüpfte er aus seinen Schuhen und den nassen Socken, stellte sie gerade und ordentlich nebeneinander an die Seite. Das vom Unwetter überdeckte Schweigen verdeutlichte seine sowohl abweisende als auch ohnmächtige Haltung.

„Du willst erfahren, was Watari mir gesagt hat?“, fragte L zaghaft. Eine Pause verstrich, in der sich beide zu sammeln versuchten, ohne einander anzusehen. Schließlich redete L in seiner angenehm ruhigen Art weiter. „Auch wenn das gesamte Weltall den Menschen vernichtet, wäre er doch mehr als das, was ihn vernichtet. Denn der Mensch weiß, dass er stirbt. Das Weltall aber weiß nichts davon. Unsere ganze Würde besteht also im Denken, in unseren Erinnerungen und Gefühlen. Daran müssen wir uns aufrichten, nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können.“ Stumm zeigte Light keinerlei Regung, obwohl er jede Aussage von L aufnahm und in seinem Inneren verwahrte. „Lebewesen spüren Furcht, wenn sie direkt bedroht werden. Furcht vor dem Tod allerdings kennen wir nur, weil wir wissen, dass es eine Zukunft gibt... da gibt es etwas, das auf uns wartet, und etwas, das wir zurücklassen.“

„Was bringt dir das aber, wenn du tot bist?“, meldete sich Light abwertend zu Wort, den Blick nach wie vor im Nichts verlaufend. „Wenn dein Leben zu Ende ist, spielt es keine Rolle mehr, was du davor getan hast.“

„Richtig. Das ist die schwerste und doch einfachste Erkenntnis, die der Mensch in seinem Leben erlangen muss. Auch Kira wird dereinst begreifen und akzeptieren müssen. Aber er wird es nicht können.“ Ls Stimme wurde so leise, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war. „Er wird es nicht akzeptieren können.“

„Wozu soll Kira es akzeptieren?“ Light fiel nicht auf, wie viel kaltblütiger er sprach, als er es eigentlich beabsichtigte. „Welche Meinung auch immer wir über den Tod haben mögen, sie ist völlig wertlos. Der Tod hat nicht von uns verlangt, ihm einen Tag freizuhalten.“

„Aber die Menschen wählen ihn sich durch die Art, wie sie leben“, entgegnete L in aller Deutlichkeit. „Demut stirbt im Bett, Hochmut am Galgen. Und so treffen auch wir beide unsere Wahl.“ L präzisierte nicht, auf welche zwei Personen er mit seinem letzten Satz anspielte. Meinte er sich selbst und Yagami Light? Oder L und Kira? Verwirrt dachte Light, dass es dazwischen ja gar keinen Unterschied gab. Und dass sie beide sich dessen bewusst waren.

„Das klingt, als hättest du es schon längst akzeptiert.“

„Würde dir das nicht gefallen?“ Inhaltlich war Ls Frage zweifellos spottend gemeint, gleichwohl klang sie aus seinem Mund lediglich rhetorisch, beinahe unverfänglich. Er erwartete längst keine Stellungnahme mehr. Der Meisterdetektiv hatte resigniert. Sein ausdrucksloses Gesicht zeigte Leere. Akzeptanz. Ignoranz. Light triumphierte darüber und hasste es zugleich, diesen Selbstverlust in L entdecken zu müssen, der nun abwesend und dumpf fortfuhr: „Habe ich geschlafen, während die anderen litten, meine Ohren vor den Hilferufen verschlossen? Oder überdeckte der Glockenklang die Schreie? Sie zerreißen das Schweigen, zerstören die Trugbilder und Träume, deren Saat uns die Todesgötter einpflanzen, denn es gibt sie wirklich. Womöglich schlafe ich sogar jetzt in diesem Moment. Wenn ich morgen erwache, was wird mir von dem heutigen Tag geblieben sein? Was wird wahr sein von alldem? Was... werde ich verloren haben? Vielleicht betrachtet man mich später oder sogar jetzt und man sagt sich, er schläft, er weiß von nichts, weck ihn nicht auf. Gönn ihm eine Pause, nur diese eine kurze Pause, das tut ihm nicht weh. Lass ihn schlafen. Vielleicht wacht er ja nie wieder auf.“

„Was redest du da?“ In verzweifelter Wut packte Light seinen Freund an den knochigen Schultern. „Warum gibst du auf?!“ L starrte ihn an. Er starrte ihn an, wie er es seit ihrer ersten Begegnung schon so oft getan hatte. Bei oberflächlicher Betrachtung hätte man meinen können, dass er Light ebenso neugierig beobachtete wie sonst auch. Aber dem war nicht so, bei weitem nicht. L sah durch seinen Hauptverdächtigen hindurch. Er nahm ihn gar nicht wahr.

„Ich kann nicht mehr weiter, Light.“

„Nein...“, hauchte dieser in lautlosem Schrecken. „Das ist nicht dein Ernst. Du lügst.“

„Ich will nur wissen, wann der Krieg vorbei ist. Noch höre ich die Schreie, das hohle Klirren und Rauschen des Himmels und in den Sanduhren das Rieseln der Asche. Ich sehe noch die Menschen, bei den Kirchen, hinten am heiligen Hain, liegen sie im Schmutz der Erde, in einer Reihe und dazwischen die blechernen Eimer, gefüllt mit den Resten von...“

„Ryuzaki! Hör auf mit dem Blödsinn. Komm zu dir... Sieh mich an, L.“

„Sag mir nur, wann der Kampf vorbei ist. Mehr will ich nicht.“

Den Mund öffnend rang Light um Worte, um Selbstdisziplin, um Sauerstoff. Sein Hals brannte unerträglich und erschwerte ihm das Atmen, sodass er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen und qualvoll an dem Stein in seiner Kehle ersticken zu müssen. Während er L eingängig musterte, fuhr er nervös durch das vom Regen feuchte Haar. Noch immer mochte er das Gefühl der weichen Strähnen zwischen seinen Händen, die glatte Haut unter seinen wunden Fingerkupppen. Jetzt, da er L wieder berühren konnte, kam Light zu Bewusstsein, wie sehr er das alles vermisst, wie sehr er sich danach gesehnt hatte. Schmerzlich zeichnete er mit den Daumen die dunklen Schatten unter den kurzen Wimpern nach, strich über die aschgrauen Wangen, die schmalen Lippen, die markante Linie des Kinns, den Kehlkopf und entlang am Schlüsselbein. All das war viel zu vertraut. Mit leicht zitternden Händen hob er sanft, aber bestimmt Ls Kopf an und fragte jungenhaft:

„Warum willst du nicht mit mir zusammen kämpfen?“

Was war es, das in den glanzlosen Augen lag? Erwartung oder Hoffnung? Schmerz, Kälte, Resignation? Oder einfach gar nichts mehr? Light ahnte nicht, dass seine Worte den Anderen beinahe aus der Fassung brachten. L war sogar danach, schmunzelnd den Kopf zu schütteln und seinen jungen Partner nachsichtig in den Arm zu nehmen.

Verdammt, Light... wie kannst du nur so unglaublich kindlich sein?

„Wofür?“, fragte L mit einem Lächeln, das aussah, als wäre ihm zum Weinen zumute. „Wofür denn, Light?“

„Gegen Kira“, sagte dieser nach einer langen Pause und verstand im ersten Moment seine eigenen Worte nicht. Dann wurde er sich darüber im Klaren, dass er sich soeben aus einer heiklen Situation gerettet hatte. Gerettet? Light konnte sich nicht erklären, warum sich sein Inneres anfühlte, als würde es von einer unbarmherzigen Faust zu einem winzigen Klumpen zusammengedrückt werden.

„Das war nicht meine Frage“, stellte L korrigierend fest. „Oder wie meinst du, dass du gemeinsam mit mir gegen Kira ankämpfen willst? Möchtest du das wirklich?“ Light ging nicht darauf ein, verstand nicht einmal, was L ihm zu sagen versuchte. Sie hatten bereits darüber gesprochen. Es gab keine Möglichkeit für Light, sich seinem Gegenüber zu offenbaren und ihn ehrlich zu fragen, ob er ebenfalls für die Gerechtigkeit kämpfen, ob er sich auf Kiras Seite stellen würde. Unmöglich. L hatte ja selbst die absurde Vorstellung, dass er für die Gerechtigkeit einstand, obwohl er sich so offensichtlich gegen sie, gegen Kira, richtete.

Seufzend legte sich ein bitterer Ausdruck auf Ls Gesicht, als er keine Antwort erhielt.

„Es reicht nicht, einfach aufzugeben, der Kampf wäre damit nicht beendet. Das wäre, als wollte man Zeit gewinnen, indem man seine eigene Uhr anhält. Wieso kann ich die Worte nicht aus deinem Mund hören, Light? Warum können wir diese Farce nicht einfach beenden? Warum kannst du mir nicht ganz offen die Wahrheit sagen? Im Moment wünsche ich mir nichts mehr als das. Ich habe doch schon längst verloren.“

Obwohl Light wusste, wie wenig diese Aussage ernst gemeint war, wie sehr es wieder nur eine Lüge war, weil sich L niemals als Verlierer sah, sagte er kühl:

„Du magst verloren haben, aber aufgegeben hast du noch lange nicht.“

„Aber du hast es“, betonte L. „Du hast aufgegeben.“

„Nein!“

Zornig griff Light nach dem Kragen des weißen Oberteils und zerrte daran, die Hand zur Faust geballt. Ohne loszulassen stieß er L rücklings gegen die Kommode, die zwischen Tür und Bett an der Wand stand. L gab einen knappen Schmerzenslaut von sich. Im nächsten Moment fasste Light ihn rechts und links an der Rückseite seiner Oberschenkel, zog ihn dabei fest an sich und hob ihn hoch, um ihn auf der Kommode abzusetzen. Überrascht stützte L seine Hände auf die Holzkanten des Möbelstücks und stemmte sich zurück, während Light ihm die Beine auseinanderzwang und sich dazwischen an ihn drängte. Was hatte es für einen Sinn, die Beherrschung nicht zu verlieren, wenn gerade Zurückhaltung untypisch und suspekt erscheinen musste? Light verlor doch nur absichtlich die Beherrschung, um glaubhafter zu wirken. Richtig, er musste glaubhaft wirken. Er hatte noch alles unter Kontrolle. Alles unter Kontrolle.

„Niemand gibt hier auf, hörst du?! Niemand! Warum begreifst du nicht, dass wir auf derselben Seite sind und es schon immer waren? Verstehst du nicht? Ich helfe dir, wo ich nur kann, Ryuzaki, aber ich schaffe es nicht ohne dich.“ Warum begreifst du nicht, dass du nicht fliehen sollst? Gib nicht auf! Du musst gegen mich kämpfen. Du darfst nicht weglaufen. Du kannst deinem Tod nicht entkommen. Du kannst mir nicht entkommen! Wag es nicht, das noch einmal zu versuchen. Lass mich nicht noch einmal allein.

Mühselig brachte L einen Arm zwischen ihre dicht aneinandergedrängten Körper und bohrte seinen Ellbogen in Lights Brustkorb. Mit aller angestauten Aggressivität und Leidenschaft drückte dieser ihn hart gegen die Wand und hatte, bevor er auch nur zur Besinnung kommen konnte, bereits die Hand an dessen Hals gelegt. Die schwarzen Augen des Detektivs waren vor Erwartung weit geöffnet.

„Was ist, Light-kun?“, fragte L leise. „Willst du zudrücken?“

Salz und sein Preis

Salz und sein Preis

 

„Nein, natürlich nicht.“

Atemlos antwortete Light mit einem falschen Lächeln und verfluchte sich im selben Moment für seine Unachtsamkeit. Um zu gewinnen und Light als Kira zu entlarven, würde L sich sogar töten lassen, das wussten sie beide. Weil er sich dennoch nicht verraten wollte, glitt Light mit den Fingern den Hals seines Freundes entlang bis in dessen Nacken, zog ihn am Hinterkopf zu sich und küsste ihn stürmisch. L durfte sich nicht noch einmal so leicht von ihm entfernen. Er durfte ihm auf keinen Fall entrinnen. Er durfte nicht. Er konnte nicht! Kira würde es nicht zulassen. Dafür hätte er jede Ausrede gelten lassen, die sich sein Kopf unentwegt aufs Neue zurechtspann, um sein eigenes Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen.

Sofort wurde seine heftige Zuwendung von L erwidert. Aus jenem plötzlichen Impuls konnten keine Zweifel erwachsen, aber auch keine Zärtlichkeit. Ihr Kuss glich anfangs eher einem Kampf, in dem keiner unterliegen wollte. Light biss unsanft in Ls Unterlippe, bevor er wieder dessen Zunge suchte, herausforderte, zurückdrängte. Obwohl er Zucker hasste, liebte er diesen süßen Geschmack von L, seine Lippen, die sich ein bisschen spröde, aber trotzdem weich anfühlten, seinen Geruch, seine Haut, seine Stimme. Light spürte das dichte Haar zwischen seinen Fingern und die angewinkelten Beine rechts und links seines Körpers, die ihn eng umschlangen. Ihm wurde schwindlig davon. Es machte ihn verrückt. Er wollte mehr.

L vertiefte den Kuss in zunehmender Verzweiflung und zog seinen jungen Partner mit Händen und Füßen näher an sich. Ungestüm zerrte er an dem durchnässten Hemd, das Light aufgeknöpft über einem schwarzen Shirt trug, streifte es ihm von den Schultern, bevor seine spinnenhaften Finger nach vorn zu dessen Brust und tiefer wanderten. Zwischen ihren aneinandergeschmiegten Unterkörpern rieb L mit sanftem Druck über den Hosenstoff im Schritt seines Freundes, sodass dieser mit stockender Atmung den Kuss löste. Ungläubig schloss Light die Augen. Was passierte hier? Was taten sie nur? Resolut machte sich L an der Gürtelschnalle zu schaffen, während der Andere seine Handlungen abwechselnd erlaubte oder rabiat unterband, um selbst die Oberhand zu gewinnen. Als L bereits den Gürtel und die oberen Hosenknöpfe geöffnet hatte, langte Light nach dessen Handgelenken, hielt ihn grob zurück und streifte ihm im Gegenzug das weiße Shirt über den Kopf, bevor er sich seines eigenen klammen Oberteils entledigte. Die zwei Kleidungsstücke landeten achtlos auf dem Boden. Durch das Regenwasser waren die Körper der beiden Männer noch immer durchnässt und ausgekühlt. Vielleicht ein wenig zu brutal presste Light seinen Freund an sich, um dessen nackte Haut auf der eigenen zu spüren. Er merkte, wie L sich gleichfalls an ihn klammerte und ihm dabei schmerzhaft die Finger in den Rücken bohrte. Doch es reichte nicht. Es reichte einfach nicht.

„Ich habe Angst“, wisperte Light gedankenlos, erneut die Lippen seines Feindes suchend, „dich zu verlieren, L.“

„Ist das so?“

Kaum konnten sie sagen, wann ihr Kuss plötzlich nicht mehr auf siegreiche Inbesitznahme abzielte, sondern zugleich auf vertrauensvolle Hingabe. Light öffnete Knopf und Reißverschluss der ausgewaschenen Jeans, bevor er L, der sich an ihm festhielt, stärker an sich drückte und dessen Becken leicht anhob, um ihn von der letzten Kleidung zu befreien. Dieser zog ihn daraufhin sofort wieder an sich, verringerte den Abstand zwischen ihnen, der sie zu weit voneinander entfernte. Dabei glitt er mit den Fingerkuppen das Rückgrat seines Freundes entlang hinab über dessen Lenden, schob ihm mit Händen und Fersen die Hose von den Hüften. Ungeduldig schüttelte Light die restlichen Sachen von seinen Beinen, ließ sich erneut in die Arme schließen und in einen weiteren sehnsüchtigen Kuss verwickeln, warmer Atem auf der Haut, Zucker auf den Lippen und unter den Händen ein unkontrollierbarer Herzschlag. Viel zu lange, so kam es beiden vor, hatten sie darauf verzichten müssen, den Körper des Anderen unmittelbar zu spüren, durch kein störendes Stück Stoff getrennt.

„L...“ Unentwegt flüsterte Light den Namen seines gehassten Freundes, seines geliebten Feindes, jenen Namen, der unaufhörlich in seinen Gedanken kreiste. „L... ich will...“

Er bekam kaum Luft. Den Kuss unterbrechend ermahnte er sich vergeblich, nicht weiterhin übermäßig hastig, sondern langsamer, gelassener zu atmen. Warum scheiterte er daran? Warum scheiterte er an sich selbst? Es kam ihm vor, als würde sein stechendes Herz sich anschicken, seine Rippen wie die Gitterstäbe eines Gefängnisses aufzustoßen. Rastend sank Light mit dem Kopf gegen die Stirn seines Gegenübers. L schien es ähnlich zu gehen. In den dunklen Augen lag das gleiche Gemisch aus Panik, Sehnsucht und Zuneigung. Aus nächster Nähe begegneten sich ihre Blicke.

Bevor Light wirklich begreifen konnte, schenkte L ihm ein bestätigendes Nicken, nur ganz leicht und zurückhaltend, doch es genügte, um jenen unbedacht sagen zu lassen:

„Komm, ich halte dich.“

L schlang die Beine noch fester um ihn, legte seine Hände in dessen Nacken, sodass Light ihn von der Kommode herunterheben und zum Bett tragen konnte, wo sie gemeinsam in die Laken fielen. Wie im Rausch versuchten sie, mit jeder Faser ihres Seins den Anderen wahrzunehmen, das fremde Ich nicht mehr fremd sein zu lassen, während sie einander fieberhaft küssten, berührten, umarmten, niederrangen, den nackten Körper des Anderen mit dem eigenen erspürend. Unvermindert prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben und malte schlierenartige Schatten auf ihre erhitzte Haut. Es misslang, das Geschehen wieder unter Gewalt zu bringen. Light schaffte es nicht, den Affekt zu kontrollieren. Was war los? Wollten sie nicht endlich zur Vernunft kommen? Konnten sie es nicht?

Ohne zu wissen, wie ihm geschah, rollte sich L über ihn, schob sich zwischen Lights gespreizte  Beine, bevor dieser aufbegehren konnte, langte nach dessen Handgelenk und hielt es direkt neben ihren Gesichtern fest. Reglos betrachteten die beiden Männer einander in dieser Lage, wobei L mit ostentativer Gewissenhaftigkeit über die edle Armbanduhr strich, die Light auch jetzt noch trug. Sein Daumennagel fand die Einkerbung des Verschlusses und öffnete ihn. Geflissentlich wurde das funktionale Schmuckstück vom Handgelenk gelöst und auf den Nachtschrank gelegt. Die braunen Augen stahlen sich zu der Uhr hinüber, glänzendes Metall, ein poliertes Ziffernblatt, niemals zum Stillstand kommende Zeiger und im Kern jenen winzigen Fetzen des Todes, den jedes zeitmessende Instrument in seinem Inneren verbarg. Obwohl es lediglich eine Uhr war, die ihm abgenommen wurde, als sei es der letzte Fremdkörper zwischen ihren entblößten Leibern, fühlte sich Light plötzlich entwaffnet.

Während sein Blick noch an der Armbanduhr haftete, merkte er benommen, wie er in den Kniekehlen gepackt wurde, das auf ihm lastende Gewicht seines Freundes, Hände, die über die Innenseite seiner Oberschenkel und zwischen seine Beine glitten. Zu keinem klaren Gedanken fähig schloss Light die Augen. Er blendete das Bild dieser Uhr, Mordinstrument und Symbol für das Zerrinnen der Zeit an sich, aus und ließ die Berührungen geschehen, wehrte sich nicht dagegen, als L die Knie von unten gegen seine Oberschenkel drückte, sodass Light seine Fußballen auf dessen Hüften abstützte. Erschrocken aufkeuchend krallte er sich im Stoff der Bettdecke fest, als er neben Ls stimulierendem Griff auch die Finger von dessen zweiter Hand wieder spürte, die vorsichtig in ihn eindrangen. Benebelt schüttelte Light den Kopf, wollte protestieren, den Anderen in seinem Handeln stoppen. Als sich die Finger tief in ihm zu bewegen begannen, gemeinsam mit dem Rhythmus seiner Stimulation, konnte Light nicht anders, als flach atmend den Kopf in den Nacken zu werfen, verzweifelt darum bemüht, dieses unerträglich intensive Gefühl aufzuhalten. Niemand sonst hätte das mit ihm tun dürfen. Nein, selbst seinem einzig wirklichen Freund durfte er das nicht erlauben. Gerade ihm durfte er es nicht erlauben. Denn gerade das Bewusstsein darum, dass es L war, dessen Hände er an und in sich spürte, behutsam und fest zugleich, machte ihn vor Verlangen wehrlos. Für L hätte er sogar seinen letzten Halt aufgegeben und sich fallen gelassen, sich ihm hingegeben. Doch das durfte nicht passieren. Er durfte die Kontrolle nicht verlieren.

„Nein...“, brachte Light erstickt hervor, unterbrochen von einem mühsam zurückgehaltenen Stöhnen. Er stemmte seine Hände gegen Ls Schultern, versuchte ihn von sich zu schieben. Dieser schien den schwachen Protest allerdings zu ignorieren.

„Hast du...“, sagte Light angestrengt. „Hast du nicht gemeint, du wolltest mich zu nichts zwingen?“

„Es kommt mir nicht so vor, als müsste ich dich zu irgendetwas zwingen, Light.“

Zärtlich küsste L seinen Oberkörper, leckte über sein Schlüsselbein und seine Kehle, wobei er ihm die Beine durch den Druck seiner Arme noch stärker in eine angewinkelte Position nötigte. Jede seiner Berührungen war zu sanft, zu schmerzvoll, zu innig. Light kam es vor, als würden ihn seine eigenen Empfindungen innerlich verzehren. Sein Puls raste. In seinem Kopf drehte sich alles. Hitze breitete sich bis in den letzten Winkel seines Inneren aus. Das lief ganz und gar nicht, wie er sich das vorgestellt hatte. Wenn er nicht bald etwas unternahm, war es zu spät.

Als er spürte, wie sich die Finger aus ihm entfernten, die Erregung des Anderen an der eigenen erfühlend, gewann das Entsetzen die Oberhand über seine Ergebenheit.

„Es reicht“, stieß Light bestürzt hervor, „hör auf.“

„Was ist?“, flüsterte L milde in sein Ohr. „Hast du davor etwa auch Angst?“

Auf eine Antwort verzichtend spannte Light unter einigem Kraftaufwand seinen Körper an, um die Fußballen aufsetzen und sich abstützen zu können. Tatsächlich gewährte ihm L jene stumm erbetene Freiheit. Manchmal, das dachte Light daraufhin so boshaft wie liebevoll, war der Meisterdetektiv, der für Außenstehende vorgeblich weder Takt noch Skrupel besaß, eben doch weitaus gutmütiger, als die meisten ihn einschätzten. Gutmütiger als der ganze Rest dieser unwichtigen Menschen, die ihren Tod im Gegensatz zu ihm verdient hatten. L verdiente den Tod nicht. Stattdessen musste sich der Tod eigentlich erst ihn verdienen, denn L war zum Sterben viel zu wertvoll. Aber ebendieser Wert machte sein Ableben auch umso kostbarer, umso mehr verlockend.

Sich aufrichtend trafen sich erneut ihre Lippen, ihre Hände, ihre Haut. Derweil versuchte Light in seinem wirren Verstand eine Möglichkeit zu erarbeiten, wie er die Macht zurückerlangen konnte, um sich selbst nicht durch die eigene Fügsamkeit zu hintergehen. Warum war es auch so verflucht schwierig, L zu bändigen? Kurzentschlossen fasste Light ihn bei den Schultern, drehte ihn mit dem Rücken zu sich und küsste sacht seinen Nacken, wobei er ihn auf harmlose Weise von hinten mit den Armen umfing. L schien nichts zu ahnen, widersetzte sich nicht, als sich fremde Hände und Beine zwischen seine Schenkel schoben und ihm die Oberarme in den Rücken gezogen wurden, wo sein Partner sie in den Armbeugen festhielt. Als Light sich sicher sein konnte, L an den sehnigen Muskeln über dem Ellbogen ausreichend im Griff zu haben, glitt er zielgerichtet mit der freien Hand nach vorn zu dessen Körpermitte. Ohne Gegenwehr ließ sich L zurück gegen Lights Brust sinken, gab sich arglos und hingebungsvoll dessen Berührungen preis. Dieser küsste den schwarzen Haarschopf, die Schläfe unter jenen weichen Strähnen, die ihn leicht an Hals und Wange kitzelten.

Jedwede Reaktion beachtend intensivierte Light seine Bemühungen, bis er schließlich merkte, wie L seine Haltung straffte und schonend seine Arme befreien wollte. Das Einzige, was er damit unter dem verstärkten Griff an seinen Armbeugen bewirkte, war eine Hemmung seiner Blutzufuhr. Nachgebend legte L seine Hände rechts und links seines Körpers auf die Oberschenkel seines Freundes, doch als sich seine Atmung weiter beschleunigte, tat Light dies auch mit seiner Stimulation. Erneut versuchte L sich loszumachen. Ohne Erfolg.

„Warte...“, bat er beinahe stimmlos. „Light, ich...“

„Schon okay.“

Die sonst so gleichgültige Stimme derart unbeherrscht und rau zu hören, genau zu spüren, wie L sich an ihm festklammerte, sich in seinen Armen aufbäumte, jagte eine erneute Welle der Erregung durch Lights Körper und ließ ihn gleichfalls hektisch atmen. Noch bevor sich L hätte fangen können, wurde er hinab auf das Bett befördert. Im nächsten Augenblick landeten seine Beine auf Lights Schultern. In dieser Position war der Meisterdetektiv, Kiras einstiger Jäger und Gejagter, ihm ausgeliefert. Außer Atem, noch immer stoßweise um Luft ringend, starrte er Light ein bisschen beleidigt an.

„Das war gemein von dir.“

„Tut mir leid.“ Light lächelte, sowohl siegesgewiss als auch entschuldigend. „Ist das in Ordnung für dich?“

„Egal wie, ich will einfach nur...“ L zögerte, presste abwägend die Lippen aufeinander, als dächte er skeptisch darüber nach. „Es spielt keine Rolle, Light“, sagte er dann in unerschütterlicher Selbstverständlichkeit. „Ich würde alles tun.“

Light konnte nur noch verlieren, wenn er aufgab. L dagegen musste gerade deshalb verlieren, weil er nicht aufgab. Darum ließ er los. Denn noch war keiner von beiden tot. L wollte spüren, dass er noch am Leben war. Hass, Zuneigung, Angst und den zerreißenden Schmerz, den das Gefühl des Lebens mit sich brachte. Er wollte nur jenen einen Menschen vollkommen spüren und sich vergewissern, dass auch dieser noch nicht tot war.

„Ruhig“, flüsterte Light stockend. „Ganz ruhig, L. Verkrampf dich nicht so.“

„Entschuldige.“

„Nein, schon gut. Ich will dir nur nicht wehtun.“

„Sicher, dass du das nicht willst?“

Light lachte leise und antwortete nicht.

Endlich hatte er, wonach es ihm die ganze Zeit verlangte. L musste spüren, wie Kira in ihn eindrang, ihn in Besitz nahm. Er hatte es nicht nötig, den Meisterdetektiv unter seine Gewalt zu zwingen, weil dieser sich dem Gott der neuen Weltordnung willig hingab. Nun hatte Kira vollends über L obsiegt. Er besaß alles von ihm, bestimmte sein Leben und bald auch seinen Tod, vereinnahmte sein Denken, sein Herz und nun auch seinen Körper. L hätte Kira niemals widerstehen können.

Dennoch suchte Light vergeblich nach Verachtung in den schwarzen Augen. Was er fand, war eine Mischung aus Trauer und Hingabe. Was hatte sich Kira in seinem Gegner erhofft? Hass? Angst? Das Eingeständnis einer Niederlage? Vermeintliche Wut stieg in Light auf, veranlasste ihn dazu, sich noch härter in den Anderen hineinzustoßen. Doch die Gewalt war nur ein Ausdruck seiner unhaltbaren Zuneigung und Verzweiflung.

Zugleich trafen die fordernden Bewegungen in L einen Punkt, der diesen seinen verfluchten, niemals stillstehenden, immer arbeitenden Verstand vergessen ließ. Er gab sich diesem schmerzhaften Gefühl hin, das wie ein Großbrand durch seinen Körper tobte, und spannte dabei unbeabsichtigt sämtliche Muskeln an. Dadurch entlockte er dem Anderen ein entsetztes Keuchen. Augenblicklich hielt Light inne, um die aufkommenden Emotionen zu unterbinden, die ihn seine Kontrolle verlieren lassen konnten. Seine Kontrolle? Hatte er die überhaupt noch? Light biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich darauf, seine Atmung, seinen Pulsschlag, das ganze Chaos in seinem Inneren zu beruhigen. Er schloss die Augen und versuchte sich keinen Millimeter mehr zu bewegen.

„Light“, flüsterte L schwer atmend, „hör nicht auf.“

L wollte weder seinen Partner noch das Gefühl, das dieser in ihm auslöste, so schnell verlieren, umschlang ihn stärker mit seinen Beinen, glitt mit den Händen dessen Rückgrat hinab, um ihn an den Lenden festzuhalten, und begann, soweit möglich, gezielt seinen Unterkörper zu bewegen. Er konnte nur erahnen, was er Light damit antat. Das durfte nicht geschehen. Niemand durfte Kira ein Gefühl aufzwingen, dem er sich nicht freiwillig aussetzte. Als sich Light aggressiv und panisch von L loszumachen versuchte, legte dieser eine Hand in seinen Nacken und zog ihn unnachgiebig zu sich hinab, um ihn innig zu küssen.

„L, was...?“, keuchte Light halb wütend, halb verzweifelt auf die Lippen seines Feindes. „Nein, ich kann nicht...“

„Wieso nicht?“ Ein erneuter stechender Blick aus den schwarzen Augen brachte Light in Erklärungsnot, obwohl beide wussten, dass es keine Antwort geben würde. L hielt seinen jungen Partner erstaunlich gut fest, seine Hände lagen schwer wie Bleigewichte auf Lights Rücken, sodass ihm keine Chance mehr blieb, seinen eigenen Gefühlen zu entkommen. Abwehrend griff Light in seinen Nacken, um dort die Hand von sich zu lösen. Obwohl ihm dies gestattet wurde, hatte er darüber hinaus keine Kraft mehr. Sein Körper schien jeden Widerstand aufzugeben. Nach Halt suchend verhakte er seine schweißnasse Hand mit der seines Freundes und sank mit dem Kopf auf dessen Schulter. Direkt an seinem Ohr flüsterte L kaum hörbar:

„Bitte... zerstöre mich. Töte diese erbärmliche Schwäche in mir.“

In diesem Moment gab Light auf. Alle Zweifel über Bord werfend steigerte er seinen Rhythmus erneut, seine Brutalität, seine Zärtlichkeit. Er wurde grausam und sanft zugleich. Er sehnte sich danach, seinem vertrauten Feind wehzutun, ihm mehr Schmerzen zuzufügen, als er ertragen konnte, um ihm zu vermitteln, wie er selbst sich fühlte. Er wollte L vernichten, ihn mit all seiner Leidenschaft, seinem Hass und seiner Liebe zerbrechen, wie auch er selbst an seinen Gefühlen zerbrach. Er wollte ihm Halt spenden, wo er selbst unter seinen Füßen nach dem Halt suchte, den er längst verloren hatte. Zum ersten, einzigen und letzten Mal wollte er jenen Menschen spüren, den er und der ihn mit seiner bloßen Existenz in den Tod trieb. Sie suchten gemeinsam nach Kontrollverlust in der tödlichen Umarmung des Anderen. Warum hatte Light diesen wünschenswerten Schmerz nicht gefühlt, als er noch ein unbedarfter Schüler gewesen war? Das Leben hatte ihn angeekelt und gelangweilt. Es war völlig bedeutungslos gewesen, nur ein Staubkorn unter unzähligen anderen. Allerdings sollte es diesem Staubkorn bestimmt sein, in das Getriebe der dekadenten Welt zu geraten. Erst mit dem Death Note gab es endlich ein Ziel. Erst mit dem Kampf gegen L erhielt alles einen Sinn. Light wusste nun, was es bedeutete, am Leben zu sein. Was es bedeutete, den Tod zu bringen und dabei jedes Mal ein bisschen mehr zu sterben. Er hasste sich selbst für das, was sein Körper, was der letzte Rest seines noch nicht getöteten, menschlichen Geistes empfand. Wie konnte er so die Kontrolle verlieren? Nie zuvor hatte er einen anderen Menschen derart intensiv gespürt. Doch wie konnte ein einzelner Mensch es schaffen, dass ein Gott das Leben mehr spürte als die Unsterblichkeit? War Light vielleicht selbst nur ein Mensch? Lächerlich! Was war das Individuum und das Glück des Einzelnen schon wert im Vergleich zu der Ungerechtigkeit der Welt? Wieso nur erschienen ihm plötzlich seine Ideale so unbedeutend und klein? Er wollte doch nur die Menschen beschützen. Er musste sie schützen, weil niemand sonst dazu in der Lage war. Und dafür musste er sich selbst aufgeben. Aber im Augenblick war es egal. Nur für diesen Augenblick. Nur dieses letzte Mal noch. Durfte er das überhaupt? Es war doch nicht falsch, was er tat? Was wollte er eigentlich? Was war richtig? Hatte er verloren? Nein, es konnte keine Niederlage sein. Ganz im Gegenteil, es war ein Sieg. Mit jener letzten Schlacht, der letzten Selbstaufgabe, ließ er seine schwache menschliche Hülle zurück und legte endgültig ein göttliches Gewand an. Er unterwarf den Gott der alten Weltordnung und machte ihn sich zum Untertan. Er machte ihn sich zu Eigen. Er erniedrigte ihn. Er schaffte es nicht. L schaffte es nicht, ihn zu besiegen. Er musste verlieren. Er musste L verlieren. Er wollte nicht mehr. Nicht mehr als das. Light wollte nur diese blasse Haut berühren, bis seine Fingerspitzen für immer taub waren. Er wollte die rissigen Lippen küssen, bis er auf seinen eigenen gar nichts mehr fühlte, wollte mit Salz für das süße Gift bezahlen, das ihn am Leben hielt, bis er ganz zum Schluss keinen Zucker mehr schmeckte. Niemals wieder. Er konnte nicht weiter. Er konnte nicht...

„...das Letzte zerstören, das von Bedeutung ist“, vernahm Light den Klang seiner brüchigen Stimme. „Ich könnte es nicht.“

L fixierte unentwegt das Gesicht seines Freundes, um jedes Detail von dessen Mienenspiel in sein Gedächtnis einzubrennen. Mühsam atmend blickte er hinauf und sah über sich auf einmal wieder den gutherzigen Jungen von damals, unbedarft und durch seine Ideale geschwächt, angreifbar und noch voller Unschuld. Lights Lippen zitterten. In seinen Augen lag die Last seiner Selbstaufgabe, als er bebend sagte:

„Jede deiner Schwächen würde ich tragen und auslöschen, L. Aber ich würde dich niemals zerstören wollen... bitte versteh mich.“

„Sag nichts mehr.“ L wollte nicht hören, was nur halb Wahrheit, halb Lüge war.

„...trage... so sehr“, flüsterte Light zusammenhangslos, „...ertrage... nicht.“

Er hielt die Hand seines Freundes, die ineinander verschränkt war mit seiner eigenen, derart fest umklammert, bohrte seine Fingernägel rücksichtslos in dessen Handrücken, dass es L so vorkam, als würden ihm die Gelenke brechen. Kein Zentimeter durfte sie mehr voneinander trennen. Kein Unterschied durfte mehr zwischen Kira und L bestehen. Kein Unterschied zwischen L und Light.

„Was ist los?“ L lächelte hilflos und strich behutsam ein paar der braunen Haarsträhnen aus jenem jugendlichen Gesicht, das selbst in völliger Verzweiflung schön aussah. „Wo bist du nur? Light, hörst du mich? Bleib hier. Bleib bei mir. Lass mich dir helfen.“

Ihn mit seiner freien Hand im Nacken festhaltend drückte L den Jüngeren an sich, starrte empor in die Leere, die sich bedrohlich näherte und sie unaufhaltsam einhüllte. Indem sie zur Kapitulation nicht bereit waren, gaben die beiden Gegner auf und begrüßten gemeinsam die kommende Sinnlosigkeit, die sie bereits jetzt zu ersticken begann. Die beiden Feinde streckten die Waffen, indem sie diese geladen und entsichert aufeinander richteten und warteten, bis der Erste fiel. Aber dicht an seinem Ohr vernahm L noch das leise Flüstern seines einzigen Freundes:

„Vergib mir, L. Ich liebe dich so sehr. Bitte vergib mir.“

Die Konturen der Umgebung flackerten. Was hatte er gesagt? Vielfach überlagerten sich die Worte, die er eben gehört hatte, in seinen Ohren, bevor L sie endlich verstand. Light wirkte wie umnachtet, als wäre er in seiner eigenen leeren Welt gefangen, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Er bemerkte gar nicht, was er sprach. Stattdessen schien er mit aller Kraft gegen irgendwelche unsichtbaren Dämonen, gegen seinen düsteren Begleiter anzukämpfen, um den Verstand nicht zu verlieren.

Und zum ersten Mal glaubte L ihm vorbehaltlos.

Doch er wünschte sich, von all den Wahrheiten, um die er Light so häufig bat, hätte er nicht gerade diese eine hören müssen.

Mord eines Messias

Mord eines Messias

 

Als eine Hand ihn sacht an der Wange berührte, fand Light verwirrt in die Realität zurück. Er versank in der Schwärze der scheinbar leblosen Augen und versuchte sich bewusst zu machen, dass diese sich bald für immer schließen würden. Auch wenn er noch atmete, war L schon längst tot, daran konnte selbst Kira nichts ändern. Jene Gewissheit kam Light so seltsam unwirklich vor, dass er sie gar nicht richtig begriff. L würde für den Rest seines Lebens nicht mehr an seiner Seite sein, außer er nähme als Wahnvorstellung den Platz von Ryuk ein. L bliebe fortan immer unerreichbar für ihn. L würde sterben. L würde tot sein. L war bereits tot. Wie auch immer Light es in seinen Gedanken formulieren mochte, nichts davon klang irgendwie nachvollziehbar oder logisch. Eines jedoch konnte er nicht leugnen: dass allein der Versuch, es ansatzweise zu verstehen, ihm unaussprechliche Qualen bereitete.

Behutsam strichen die vertrauten, blassen Fingerspitzen über Lights erhitztes Gesicht, unter seinen Wimpern entlang über die Wange hinab, während die beiden Männer einander unverwandt in die Augen sahen. Nach jenem langen Moment der intimen Verbundenheit hörte Light den Älteren schwermütig sagen:

„Was hast du dir nur angetan?“

Aufschreckend wich Light zurück. Zwar versuchte L nach ihm zu greifen, ihn aufzuhalten, festzuhalten, doch Light machte sich heftig wie ein verwundetes Tier von ihm los, kam auf die Beine und stolperte rückwärts vom Bett weg, fort von seinem Gegenüber. In der Bewegung erstarrt, der Eine mitten im Zimmer, der Andere alleingelassen auf den zerwühlten Laken, verband sie jetzt nur noch ihr Blickkontakt. Für Light brannte sich das Bild von L unauslöschlich wie ein Stigma in sein Herz. Der nackte, ungemein anziehende Körper, das rabenschwarze Haar, durcheinandergebracht von seinen eigenen Händen, das markante Gesicht und die sonst so blassen Lippen, leicht gerötet von ihren hungrigen Küssen. Light konnte kaum glauben, wie jemand auf ihn zur gleichen Zeit derart erwachsen, hilflos und verführerisch wirken konnte.

L fixierte ihn ungebrochen, bis er schließlich, ganz langsam und im Anflug einer düsteren Ahnung, den Kopf schüttelte. Deutlich las Light in den tiefgründigen Augen einen vergeblichen Wunsch: Bitte, tu das nicht. Komm wieder her zu mir. Kehr um.

Sehnsüchtig stellte sich Light vor, wie seine Beine nicht mehr von seinem Verstand gesteuert in Bewegung gerieten, wie er von L zurück auf das Bett gezogen und in die Schutz versprechenden Arme geschlossen wurde, wie er in dessen Obhut die Kontrolle abgab, sich fallen ließ, während er L wieder in sich spürte, dieses Mal ganz und gar, ohne Rückhalt, ohne Zweifel, bis Light endlich weder Angst noch diese alles zerfressende Einsamkeit mehr empfand.

Verstört wandte Light sich ab, als befände er sich auf der Flucht. Und genau so fühlte er sich auch. In vorgemachter Erleichterung fand seine nach einem Ausweg trachtende Hand die Türklinke zum Badezimmer.

„Light!“

Es war zu spät. Das Geräusch einer Tür, die zufiel und verschlossen wurde, durchschnitt die Stille. Mit ausgestrecktem Arm saß L reglos auf dem Bett, kämpfte gegen diese furchtbar zermarternde Machtlosigkeit an, die ihm die Kehle zuschnürte und wie ein eisernes Gewicht auf seinem Brustkorb lastete. Resignierend schaute er hinab auf die Hand, mit der er Lights Wange berührt hatte. Ein einzelner, durchsichtiger Tropfen schimmerte noch an der Kuppe seines Zeigefingers. L leckte ihn fort und nahm einen Geschmack wahr, den er noch nie gemocht hatte. Er schmeckte Salz.

Erschöpft sank er zurück und blieb wie erschlagen auf dem Rücken liegen. Der Schweiß auf seiner Haut begann zu trocknen und hinterließ ein unangenehm kaltes Gefühl. L fühlte sich elend. Nutzlos. Sein ganzer Körper tat weh. Er war müde, so müde. Er würde jetzt gern schlafen und im Schlaf alles vergessen. Schlafen, nichts weiter, und darin das Leid und die Vielzahl der naturgegebenen Erschütterungen enden lassen, die Erbteil jedes sterblichen Leibes sind. Aber vorher hatte der von der Gesellschaft auf Distanz lebende Meisterdetektiv noch eine Aufgabe zu erfüllen. Er konnte sich noch nicht ausruhen. Er musste noch einen Kampf bestreiten und durfte sich nicht scheuen, zu gewinnen oder zu verlieren.

Gleich, wenn er wieder etwas Kraft in seinen Gliedmaßen spürte, würde er aufstehen, seine Sachen aufsammeln, sich ankleiden, in sein eigenes Zimmer hinübergehen und sich noch einmal dem Schauer des kalten Wassers aussetzen, alles Schritt für Schritt, ohne dass ihn seine zwecklosen Gedanken aus dem Konzept brachten, einfach immer nur alles Schritt für Schritt. Gleich, wenn er wieder etwas Kraft hatte.

Den Kopf zur Seite drehend hob L schwach eine Hand und nahm Lights Armbanduhr vom Nachtschrank. Er fuhr mit dem Daumen über das runde Glas des Ziffernblatts und über die Verstellräder an der Seite. Es war längst Zeit.

Bevor L sich letztlich aufrichtete, um voranzuschreiten, hob er die Uhr seines Freundes an die Lippen und küsste sie sanft.

 

Light lehnte rücklings an der Badezimmertür, seine Atmung ging schwer, sein Körper bebte. Das versiegelte Holz in seinem Rücken, die gekachelten Wände um ihn herum, das alles gemahnte ihn an eine Endstation. Die letzte Ausfahrt hatte er soeben verpasst. Es war schwer zu glauben, doch wurde ihm jetzt im vollen Umfang klar, wohin seine Entscheidung, die er vor einem knappen Jahr gefällt hatte, ihn wie erwartet führen musste; weil er den Himmel auf Erden erschaffen wollte, hatte er sich sein eigenes Leben zur Hölle gemacht.

Den Kopf zur Seite an das kühlende Material der Tür schmiegend schaute Light im Spiegel in seine eigenen Augen. Sofort wandte er sich wieder ab. Er konnte seinem eigenen Blick nicht standhalten. In verblüfftem Erkennen hob er eine Hand an sein Gesicht, strich zitternd über seine Wange, denselben Weg entlang, den L ihm eben vorgezeichnet hatte. Danach betrachtete er ungläubig seine tränennassen Fingerspitzen.

„Light-kun“, drang auf einmal die Stimme des Älteren gedämpft durch die Tür. Leicht zuckte Light zusammen. In seinen desorientierten Gedanken fragte er sich unsinnigerweise, warum L erneut dieses Suffix verwendete. Wollte er den Abstand zwischen ihnen wiederherstellen? Freudlos fiel Light daraufhin ein, dass man kaum egoistischer und erbarmungsloser eine Mauer hätte aufbauen können als durch dieses kindische Verhalten, das er selbst an den Tag legte. Es schien allerdings vielmehr so, als wollte L ihm beruhigend vermitteln, dass sich nichts geändert hatte, dass noch alles in Ordnung und gar nichts zwischen ihnen kaputt war, obwohl doch alles um sie herum so offenkundig in Trümmern lag. Light wollte etwas erwidern, vielleicht eine Entschuldigung oder irgendetwas, das ihnen beiden eher gerecht wurde. Aber jedes Wort blieb ihm im Hals stecken.

„Der Kampf gegen Kira ist noch nicht vorbei“, erklärte L schließlich, nachdem er keine Antwort erhielt. Wie gelähmt machte Light die Augen zu, als ihm bewusst wurde, dass dessen Tonfall weder wütend noch belehrend war. L klang in seinen Ohren einfach nur grenzenlos unglücklich. „Einer von uns beiden wird heute verlieren und wahrscheinlich...“ Eine Pause entstand, in der Light zu wissen glaubte, dass sein Freund genauso nach Atemluft suchte wie er selbst. „Wahrscheinlich werde nicht ich das sein.“ Ganz leise hörte Light hinter sich einen dumpfen Laut. Es klang, als hätte L seine Stirn gegen die Tür gelehnt. „Light-kun... es tut mir leid. Ich werde jetzt gehen.“

Weiterhin zurückgelehnt, die Glieder wie eingefroren, sein Kopf vom Chaos leergefegt, konzentrierte sich Light auf jedes Geräusch in der Stille, bis er schlussendlich kaum hörbar vernahm, wie eine Tür geschlossen wurde. Vermutlich für immer.

Ein amüsiertes Kichern nahm plötzlich den Platz des Schweigens ein. Light hob den Kopf und erkannte die wahnhaft eingebildete Imagination von Ryuk. Das diabolische Grinsen ließ den Todesgott noch furchteinflößender erscheinen.

„So hast du dir das wohl nicht vorgestellt, wie?“

„Keine Sorge“, entgegnete Light kühl. „L wird dafür bezahlen.“

„Hahaha! Nein, Kleiner“, meinte Ryuk unter Gelächter, während er bereits wieder in der Wand verschwand. „Nicht er! Du wirst es.“

Das Lachen des Todesgottes wurde vielfach von den Kacheln des Badezimmers zurückgeworfen. Der Widerhall wurde lauter und lauter, schwoll an zu einem ohrenbetäubenden Kreischen und Hämmern, das nur der neugeborene junge Gott in seinem Kopf hören konnte, während er merkte, wie der Boden unter seinen Füßen wankte und die kalten Wände um ihn herum durch den Lärm erschüttert wurden, zu zerbersten drohten, doch ihre eisige Umarmung konnte nicht zerstört werden. Ein Beben fuhr durch Lights Körper, seine geschwächten Beine gaben unter ihm nach. Er rutschte an der Tür in seinem Rücken hinab, zog die Knie an die Brust und vergrub den Kopf in seinen Armen.

Und dann fing auch Light leise zu lachen an, während er am ganzen Körper zitterte.

 

Jetzt und ehedem blickten die glanzlosen Pupillen starr und leer aus dem Spiegelglas zurück. L hatte das nie sonderlich oft getan, seinem Ebenbild im Spiegel zu begegnen. Es interessierte ihn schlichtweg nicht. Er konnte keinen rechten Bezug zu sich selbst und dieser Person ihm gegenüber herstellen.

Auf dem Toilettendeckel lagen, ordentlich gefaltet von Wataris alten Händen, frische Sachen aus dem Kleiderschrank, die üblichen ausgewaschenen Jeans und eines der zerschlissenen Oberteile, sorgsam von dem älteren Mann gepflegt, aber dennoch über die Jahre etwas mitgenommen. Aus dem Zusammenhang seiner Überlegungen gerissen dachte L, dass hoffentlich sein Mentor nicht für einen Fehler würde bezahlen müssen, den sein Schüler möglicherweise beging.

Im Badezimmer war es still. Lediglich aus der Duschkabine hörte man ein stetes Tropfen. L strich sich über das Gesicht, um das Wasser wegzuwischen, das von seinen Haaren herablief. Immer und immer wieder wischte er über seine von dunklen Schatten unterlegten Augen, aber das Wasser hörte nicht auf, von seinen Haaren herabzurinnen und Bahn um Bahn über seine Wangen zu laufen und an seinem Kinn herabzutropfen. Er brauchte noch mehr kühles Wasser. Dabei wusste er, dass keine Flut, kein Meer gereicht hätte, um seinen Durst zu stillen, um seinen Hunger nach Lights Geschmack zu befriedigen und den Schmerz auf seiner brennenden Haut oder in seinem Inneren zu lindern, den dieser bei ihm hinterlassen hatte.

 

Jetzt und ehedem blickte die braun zerfurchte, im Badezimmerlicht fast rot erscheinende Iris starr und leer aus dem Spiegelglas zurück. Light kam es mehr und mehr so vor, als könne er bei der Konfrontation mit seinem Abbild sein eigenes Ich nicht mehr erkennen. Er konnte keinen rechten Bezug zu sich selbst und dieser Person ihm gegenüber herstellen. Das war nicht Yagami Light, den er dort sah, sondern Kira.

Als stünde er nach wie vor unter dem Einfluss seiner Empfindungen, ließen Light seine Erinnerungen einfach nicht los, das Gefühl von L in seinen Armen, genauso widerspenstig wie leidenschaftlich, seine gleichfalls unnachgiebigen Hände, seine tiefe Stimme und die schmerzhaft enge Hitze seines drahtigen Körpers. Aufgewühlt fuhr Light durch sein Haar und drängte zwanghaft seine Gedanken beiseite. Er musste es vergessen. Er musste es vergessen. Doch noch immer hatte er diesen unwiderstehlichen Geschmack auf der Zunge.

„Es ist nur gerecht“, flüsterte er stockend. „Ich verliere bloß, was ich ohnehin nie verdient habe.“

„Wirst du ihn nicht vermissen?“, fragte Ryuk fröhlich grinsend hinter ihm.

„Das tue ich jetzt schon. Umso mehr ist es ein Beweis dafür, wie wenig ein einzelnes Leben wert ist.“

„Also ist dir L egal?“

„Ryuk, ich rede nicht von L. Ich spreche von mir selbst. Mein eigenes Dasein ist unbedeutend im Vergleich zu dem Ideal, das ich anstrebe. Je mehr ich zu opfern bereit bin, desto stärker offenbart sich die Bedeutung dieses Kampfes. Egal wie wichtig mir ein Mensch ist, für die gerechte Sache kann ich keinen verschonen. Für wen würde ich gerade nur diese mir nahestehenden Personen retten, obwohl dafür die Gesamtheit leiden muss? Doch nur für mich und mein persönliches Glück. Es wäre selbstherrlich, von anderen ein Opfer zu verlangen, das ich selbst nicht erbringen will. Niemand sonst kann das tun, was ich zu tun bereit bin, um eine neue Welt zu erschaffen, in der das Gute herrscht, auch wenn ich dafür Böses tun muss. Was es auch kostet, dafür opfere ich mein Leben, meine Seele, meinen Verstand und die Menschen, die ich liebe. Niemand außer mir wäre dazu imstande. Niemand außer mir würde so weit gehen.“

„Da hast du wohl Recht, Light. So viel Grausamkeit hätte nicht einmal ich dir zugetraut. Wenn man den Namen eines Menschen ins Death Note schreibt, stirbt er über kurz oder lang. Dann wartet nur das Nichts auf ihn. Das, was du da gerade mit dir selbst anstellst, ist weitaus barbarischer.“

Daraufhin lachte Light heiter und fremd.

„Ich sehe, Ryuk, du hast mich verstanden. Gerade weil mir L so viel bedeutet, ist sein Tod der wichtigste von allen. Denn damit wird Gott über den Menschen triumphieren. Kira wird über Yagami Light triumphieren.“

Ein letztes Mal drehte er sich um und lächelte das unschuldige Lächeln von damals, als er noch ein Schüler gewesen war und erklärt hatte, dass er die Welt retten und von allem Bösen befreien wollte. Mit warmherziger Zuversicht sagte er:

„L zu vernichten ist der beste Weg, um alles in mir abzutöten.“

 

Seine Hand zitterte nicht mehr, als sie die Türklinke umschloss, denn was er berührte, war irreal und abgestumpft. Seine Beine wankten nicht mehr, als er die Schwelle überschritt, denn der Boden unter seinen Füßen war robust mit Leichen gepflastert. Als er auf den Gang trat, atmete er eine Luft, die geschwängert war vom zahlreich ausgehauchten Leben. Das Monster in ihm hatte die Macht zurückgewonnen. Er war nicht länger Mensch, sondern Gott.

Vor seiner Zimmertür hielt Light aufmerkend inne. Den Gang hinab, mit dem Rücken zur Wand, hockte L mit über den Knien verschränkten Armen zwischen den Türen. Es schien, als habe er gewartet. Light versuchte sich daran zu erinnern, dass seine Beine nicht mehr wanken sollten, als er zu dem Detektiv hinüber und neben ihm in die Hocke ging. L hatte seinen leicht zur Seite geneigten Kopf auf die Arme gebettet. Unter dem schwarzen Haar bildeten seine blassen Gesichtszüge einen noch stärkeren Kontrast zu den dunklen Schatten, die Zeugnis seines Schlafmangels waren. Seine Augen hatte er geschlossen.

„Ryuzaki?“, fragte Light leise und hob zaghaft eine Hand. Er versuchte sich zu ermahnen, dass seine Hände längst taub sein sollten, als er durch das wirre dichte Haar strich, dessen Strähnen noch ein wenig nass waren und das sich zwischen seinen Fingern viel zu weich anfühlte. Auf diese Empfindung konzentriert, gleichzeitig dagegen ankämpfend, wurde Light plötzlich hart am Handgelenk gepackt. Eindringlich starrte L ihn an, fasste seinen jungen Partner unvermittelt im Nacken, um ihn an sich zu ziehen, sodass dieser überrascht das Gleichgewicht verlor und neben ihm auf die Knie ging. Vergebens sagte sich Light immer und immer wieder, dass er den Geschmack von Zucker lange vergessen hatte, während er ihn jetzt allzu deutlich auf den vertrauten Lippen seines Freundes schmecken konnte. L verlangte mit seiner Zunge derart innig Einlass in seinen Mund, küsste ihn solchermaßen erregend und intim, dass Light glaubte, er wolle ihm die Luft zum Atmen rauben. Sein Herz sollte ein Vakuum sein, in welchem kein Schmerz, sondern Allmacht pulsierte, anstatt schuldbeladen und gewaltsam in seiner Brust zu schlagen. Doch schließlich dachte Light gar nichts mehr und nahm lediglich unbewusst wahr, wie er halb auf dem Boden sitzend gegen die Wand gedrückt wurde, während sein Gegenüber ihn fordernd in Beschlag nahm, indem er ihm einen allerletzten Kuss aufzwang, den Light entwaffnet geschehen ließ. Dabei hatte er geglaubt, sie würden nach allem, was zwischen ihnen passiert war, einander nie wieder auf diese Weise berühren.

„Lauf nicht noch einmal weg“, raunte L ausdrücklich, nachdem er den Kuss gelöst hatte und nur noch sein warmer Atem auf Lights Lippen brannte.

„Das werde ich nicht“, antwortete dieser ernst, mit fester Stimme und einer Entschlossenheit, die sich in seinem Blick widerspiegelte. „Nicht mehr. Allerdings beruht das auf Gegenseitigkeit, Ryuzaki.“

„Muss es wohl.“

Light setzte zum Sprechen an, doch wurde ihm dies von dem Älteren verwehrt, der ihm entschieden einen Finger auf den Mund legte.

„Keine Entschuldigungen, Light-kun.“

Nach einer kurzen Pause nickte jener verstehend und entgegnete, mehr rhetorisch als fragend:

„Denn sie können nichts ungeschehen machen und nichts erklären, nicht wahr?“

„Keines von beidem ist nötig.“

„In Ordnung.“ Als würde er in Totenstarre verfallen, rann ein eisiger Schauer über den gesamten Körper des jungen Mörders, der sich mit kalten Händen an seinem nächsten Opfer oder dem baldigen Richter seiner Sünden festhielt. „Bedeutet das auch, du würdest mir ohnehin nicht vergeben?“

„An Reue kann Absolution nichts ändern, solange man sich selbst niemals verzeiht.“

„Ein Leben begleitet von ewiger Schuld“, erinnerte sich Light gedankenversunken an ein japanisches Gedicht, das aus den Tiefen seines Gedächtnisses an die Oberfläche drang. „Löscht man seine Schuld nicht aus, so kann selbst eines guten Menschen Seele nicht vergolten werden. Wie viel weniger noch die eines Verbrechers.“

Quo vadis?

Quo vadis?

 

„Ryuzaki“, hallte Wataris Stimme aus dem Lautsprecher, nachdem sich L auf einen der Drehstühle vor die Computerfront gehockt und über das Mikrofon bei seinem Mittelsmann Meldung gemacht hatte. „Laut FBI wurde von den Vereinigten Staaten bestätigt, dass sich zurzeit Insassen im Gefängnis befinden, die unseren Anforderungen genügen sollten. Bisher wurde über sie nichts in der Öffentlichkeit bekannt gegeben, sodass auch Kira keine Kenntnis von ihnen besitzen sollte. Sie haben sich zu unserem Experiment bereit erklärt.“

„Sehr gut, Watari. Machen Sie sich jetzt bitte auf den Weg.“

„Was soll das?“, raunte Matsuda fragend seinen Kollegen zu, als wüssten sie im Gegensatz zu ihm hinreichend über die Umstände Bescheid. „Was hat er vor?“

Sogar unter der steinernen Fassade verfinsterte sich Lights Miene. Er war gemeinsam mit seinem Partner in den Hauptüberwachungsraum zurückgekehrt und stand nun direkt hinter ihm, in unheilvoller und zugleich euphorischer Erwartung.

„Wir werden das Heft ausprobieren“, erklärte L konsequent, „um seine Funktionstüchtigkeit zu verifizieren. Zu diesem Zweck habe ich Watari mit verschiedenen Ländern verhandeln lassen.“ Er tippte mit seinem Kaffeelöffel auf die offenen Seiten des Death Notes. „Wir verwenden dieses Notizbuch zur Vollstreckung der Todesstrafe.“

„Das ist unmöglich!“, rief Aizawa daraufhin empört. „Wir wissen doch auch so, dass es funktioniert!“

„Wer soll denn derjenige sein, der einen Namen einträgt?!“, schaltete sich Matsuda aufgebracht ein. „Der wäre doch in alle Ewigkeit dazu verdammt, im Rhythmus von dreizehn Tagen unaufhörlich weitere Menschen in den Tod zu schicken!“

L blieb völlig unbeeindruckt. Mit einer Hand ließ er seinen Löffel über dem Death Note hängen, die andere hob er mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger zu einem scheinbaren Siegeszeichen in die Luft und erläuterte:

„Deshalb werden uns zwei Insassen zur Verfügung gestellt. Derjenige, der den Namen des anderen Verurteilten einträgt, wird jemand sein, der sowieso hingerichtet werden soll. Beiden wurde ein Angebot unterbreitet. Falls der Eine durch das Heft nicht sterben respektive der Andere nach dreizehn Tagen noch leben sollte, wird ihnen demgemäß die Todesstrafe erlassen.“

Anhand dieses Vorhabens war für Light eindeutig der Beweis geliefert, dass L seinen ursprünglichen Verdacht nach wie vor nicht aufgegeben hatte. Wenn ihn die anderen Mitglieder der Sondereinheit nicht davon abbringen konnten, dann war sein Schicksal hiermit besiegelt.

Tatsächlich redeten die untergebenen Polizisten in allgemeiner Ablehnung beharrlich auf ihn ein. Der Chefinspektor blieb derweil schweigend im Hintergrund stehen, obwohl Zwiespalt und Betroffenheit überdeutlich sein Gesicht zeichneten. Nach langem Überlegen mischte er sich schließlich an L gerichtet in die Auseinandersetzung ein. Sein Tonfall klang dabei auf väterliche Weise ermahnend.

„Ryuzaki, auch wenn es Todeskandidaten sind, es sind trotzdem Menschen, mit deren Leben wir bei einem solchen Vorgehen spielen, als wären sie rein gar nichts wert. Ist dir das klar?“ Erstaunt registrierte Light den ungewohnt vertrauten Ton, den sein Vater dem Meisterdetektiv gegenüber an den Tag legte. Dieser antwortete ruhig und emotionslos:

„Yagami-san... es gibt weit mehr Leben, über die wir uns jetzt Gedanken machen sollten.“

„Gibt es keinen anderen Weg?“

Die Frage stand dräuend mitten im Raum wie ein Schiff auf offener See zwischen Skylla und Charybdis. Unbewegt starrte L auf den Monitor und jenen in altenglischer Schrift geschriebenen Buchstaben. Light hielt den Atem an und meinte sogar hören zu können, wie die feinen Knochen von Rems Skelettstruktur unter ihrer Anspannung leise knackten. L jedoch schwieg.

„Opfer sind wohl unvermeidlich“, lenkte Herr Yagami endlich aus tiefstem Ernst ein. „Aber wenn das Notizbuch ausprobiert wird, dann möchte ich Zeuge sein. Das ist meine Bedingung.“

„Vater.“ Light traute seinen Ohren nicht und auch Rem schien abwägend zu zögern. Offenbar zweifelte sie noch, ob ein Eingreifen unumgänglich war oder wann der richtige Moment dafür gekommen sei. Warum verschwendete sie unnötig Zeit? Wollte sie etwa möglichst wenig Zeugen anwesend wissen oder hatte ihr die Situation nicht genügend verdeutlicht, dass Misa in höchster Gefahr schwebte?

„Danke für Ihr Zugeständnis“, erwiderte L schlicht und gab damit zum Vorschlag des älteren Mannes seine Zustimmung, ohne seinen ins Leere laufenden Blick zu heben oder sich aus seiner Erstarrung zu lösen.

„Ich werde nach Amerika fliegen“, erklärte Herr Yagami daraufhin fest.

„Ganz allein?“, fragte Light kritisch. „Lass mich mit dir kommen, Vater.“

„Nein, du bleibst hier bei Ryuzaki.“ Der Chefinspektor legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter und lächelte entschlossen. „Keine Sorge, er ist zwar nicht sehr zuverlässig, aber ich werde Matsuda mitnehmen.“

„Ich mag unzuverlässig sein“, rief dieser eifrig, „aber ich kann gut mit Waffen umgehen.“

„Ach, und wie sieht es hier oben aus, Matsuda-san?“, fragte Aizawa sarkastisch, wobei er mit dem Zeigefinger gegen die Stirn seines Kollegen tippte. „Geistig unbewaffnet. Ich weiß nicht, ob es so klug wäre, ihn allein mit dem Chef auf die Reise zu schicken. Mogi-san und ich sollten besser helfen. Es wissen nur sehr wenige von dem Notizbuch des Todes und das sollte vorerst auch so bleiben. Ich bin dafür, dass so viele Eingeweihte wie möglich zum Schutz dieses Heftes abgeordnet werden.“

„Sie haben Recht“, gestand Herr Yagami seinem Untergebenen zu. „Wir dürfen nicht zulassen, dass eine dermaßen tödliche Waffe in falsche Hände gerät.“

„Einverstanden“, bestätigte L das Gesagte und fegte mit einer Handbewegung die zerstreuten Pandakekse vom Death Note.

 

Der schwarze Umschlag des Buches hob sich kaum von der anthrazitfarbenen Polsterung des Stahlkoffers ab, in welchem es soeben verstaut wurde. Klackend schloss Herr Yagami den Deckel über dem Death Note. Nur er selbst sowie der Meisterdetektiv kannten den Zahlencode, um den Koffer zu öffnen und an seinen todbringenden Inhalt zu gelangen.

Alle Anwesenden versammelten sich um den breitflächigen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes, auf dem ein Plan der japanischen Großstadt ausgebreitet war.

„Zuerst gehen Sie zum Tokyo Bay Heliport“, instruierte L das Team der Polizisten, während er an die genannte Stelle auf der Karte ein hellgrünes Konpeito legte, eines jener kugelförmigen Zuckerstücke, das durch seine abstehenden Hörnchen wie ein kleiner Stern aussah. „Von Yokota wird sie ein Militärflugzeug nach Washington bringen. Alles Weitere hat Watari für Sie in die Wege geleitet.“

„Verstanden.“ Mit Handschellen befestigte Herr Yagami den Koffer an seinem Handgelenk und nickte den Umstehenden zu. „Ich verabschiede mich.“

 

Im Konvoi fuhren die mit verdunkelten Scheiben ausgestatteten Automobile aus der Tiefgarage heraus. Von den Kameras eingefangen waren sie bald aus dem Blickfeld der Bildschirme im zentralen  Überwachungsraum verschwunden, in dem sich jetzt nur noch die beiden jüngsten Mitglieder der Sonderkommission befanden. Rem hatte sich in einiger Entfernung zu den beiden Männern in den Hintergrund zurückgezogen und observierte die Szenerie aus ihren schlitzförmigen Pupillen. Auf seinem Stuhl sitzend rollte sich L weg von der langgezogenen Armatur, hinüber zu dem großen Arbeitstisch, um nach seiner Tasse zu angeln.

„Endlich allein, Light-kun.“ Er starrte seinen Hauptverdächtigen über den Rand der Kaffeetasse an. „Jetzt gibt es nur noch uns beide.“

„Was hast du vor?“ Herablassend verschränkte Light die Arme vor der Brust und begegnete dem stechenden Blick mit kühler Selbstsicherheit. L hatte keine Hemmungen, seinen Plan nun, da außer ihnen niemand mehr anwesend war, zu offenbaren.

„Watari wird gleich mit Amane Misa hier auftauchen.“

„Das war ja klar.“ Abfällig stieß Light die Luft zwischen seinen Zähnen aus, als könne er nicht glauben, dass L sich noch immer mit solchen Unsinnigkeiten beschäftigte. Rem studierte indes misstrauisch zuerst den Detektiv, dann schaute sie warnend auf Light hinab, der mittlerweile fragte: „Warum Misa?“

„Aus irgendeinem Grund war bei ihr die 13-Tage-Regel außer Gefecht gesetzt.“ L stellte seine Tasse ab, erhob sich lässig vom Stuhl und trottete, die Hände in den Hosentaschen, zum Sofa hinüber. „Zwei Kiras, zwei Notizbücher und die Tatsache, dass Amane die Briefe an die Polizei geschickt hat, ferner ihre unverhohlene Sympathie für Kira.“ In seiner üblichen Haltung ließ L sich auf den Sitzpolstern nieder. „Und kaum wird Amane freigelassen, beginnen die Morde von vorn. Nur ein Dummkopf würde so viele Indizien ignorieren, nicht wahr, Light-kun? Glücklicherweise bin ich kein Dummkopf oder wohlwollend genug, um diesen Hinweisen nicht nachzugehen. Da du mich so gut kennst, ist dir das sicher bewusst. Ich bin davon überzeugt, dass Amane Misa der zweite Kira ist und dass sie sich jetzt im Besitz des zweiten Notizbuchs befindet. Das ist derzeit die einzig logische Schlussfolgerung.“

„Wenn das so wäre“, widersprach Light gefasst, „hätte sie deinen Namen dann nicht gleich aufgeschrieben, nachdem sie freigelassen wurde?“

„Unter der Prämisse, dass sie während der Inhaftierung ihre Erinnerungen verlor, gilt das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für meinen Namen, sollte sie ihn vorher gekannt haben. Immerhin wurde sie sofort nach unserem ersten Treffen festgenommen und hatte keinerlei Gelegenheit, ihn einzutragen. Vermutlich kann sie sich einfach nicht erinnern.“

Light senkte schmunzelnd den Kopf.

„Stimmt, Frauen sind so vergesslich.“

„Ich werde ihr Gedächtnis etwas auffrischen“, erklärte L trocken, „und ihr mein Gesicht einfach noch einmal zeigen.“

„Ryuzaki, aber…!“

„Sobald sie mich sieht“, unterbrach der Detektiv seinen Ermittlungspartner, „wird sie versuchen, mich mit dem Notizbuch zu töten. Du willst mir doch helfen, oder? Dann halte sie fest, sobald sie meinen Namen zu schreiben beginnt. Ganz einfach.“

„Ganz einfach?“, griff Light skeptisch die Formulierung auf. „Ist das nicht ein bisschen knapp? Wie viel Zeit kann man schon brauchen, um einen Namen aufzuschreiben? Ist deiner etwa so lang?“

„Das kommt darauf an“, meinte L mit einem kindlichen Lächeln, „inwieweit dieses Heft einen zweiten, dritten und vierten Vornamen benötigt.“

„Ja, sicher.“ Light verdrehte spöttisch die Augen und erhaschte dabei zufällig einen Blick auf Rem, die abwechselnd die beiden Männer scharf musterte und abzuwarten schien, ob Misas vermeintlicher Beschützer die Intentionen des Meisterdetektivs noch zu entkräften vermochte.

„Wir müssen es tun“, postulierte L entschieden, „um an das zweite Notizbuch zu gelangen.“

„Misa könnte deinen Namen rein theoretisch überall aufschreiben.“

„Hier sind in allen Ecken Kameras, die jeden Zentimeter des Gebäudes erfassen. Wenn sie etwas unternimmt, wird uns das nicht entgehen.“

„Vielleicht bringt sie das Buch gar nicht mit.“

„Sie wird. Das ist die beste Gelegenheit für sie, mich zu töten. Denkst du etwa, Amane würde durch zu langes Warten ein neuerliches Scheitern riskieren? Ich bin mir sicher, sie wird es sofort tun, um nicht Gefahr zu laufen, wie beim letzten Mal vorher geschnappt zu werden. Das Risiko ist ihr mittlerweile garantiert zu hoch. Je schneller sie mich umbringt, desto besser.“

Der Schlagabtausch zwischen den beiden Männern verebbte. An seine Stelle trat ein unangenehm spannungsgeladenes Schweigen, dem die Todesgöttin lauernd beiwohnte, ohne dabei ihre Aufmerksamkeit von Light abzulenken. Dieser seufzte kapitulierend.

„Einverstanden, Ryuzaki. Ich werde Misa aufhalten und dann werden wir sie gemeinsam dazu bringen, uns zu verraten, wer der erste Kira ist.“

„Dieses Mal allerdings“, fügte L schneidend hinzu, „wenn wir den Beweis haben, dass sie mich töten wollte, werden wir Amane Misa zum Sprechen zwingen müssen. Egal mit welchen Mitteln.“

„Darum geht es dir also in Wirklichkeit.“ Abschätzig sah Light seinen Gegner an, während er im Augenwinkel die Bewegungen von Rems Silhouette nicht außer Acht ließ. „Jetzt verstehe ich, warum du meinen Vater in die Staaten geschickt hast.“ Er atmete tief ein, als fiele es ihm schwer, die folgenden Worte auszusprechen. „Wenn wir Misa noch einmal hierher holen, kann es sein, dass sie diesmal dabei sterben muss.“

„Korrekt“, antwortete L ungerührt. „Aber wie dein Vater sagte, sind Opfer unvermeidlich. Wir haben keine Wahl.“

Die Göttin des Todes trat bedrohlich einen Schritt vorwärts.

Als L dies bemerkte, wandte er ihr seinen schräg gelegten Kopf zu und fragte arglos:

„Stimmt was nicht, Shinigami?“

 

Anhand der Kameraübertragung konnten die beiden Ermittler beobachten, wie der Rolls-Royce des Meisterdetektivs die Einfahrt zur Tiefgarage herunterkam. Der ergraute Herr hinter dem Steuer überwand die standardisierten Sicherheitsvorkehrungen, indem er durch das Autofenster eine Schalttafel bediente, bevor er seinen Fingerabdruck scannen ließ. Watari parkte den Wagen direkt vor dem Eingang des unterirdischen Aufzugfoyers. Danach öffnete er im Stil eines Chauffeurs die hintere Fahrzeugtür.

Auf dem Monitor war erkennbar, wie Misa aus der Limousine stieg, sich auf ihren schwarzen Plateauschuhen aufrichtete und ihren ältlichen Begleiter etwas fragte, was dieser dem Anschein nach höflich bejahte. Hierauf nickte die blonde Fernsehikone mit einem unbefangenen Lächeln. Auch Watari lächelte freundlich. Misa zupfte ein wenig ihren Tüllrock unter der schwarzen Lederjacke zurecht, bevor sie sich hinter dem alten Mann in das Innere des Gebäudes begab. Mit einer Hand umklammerte sie den Henkel einer rüschenbesetzten Tasche.

Das Geschehen auf dem Bildschirm betrachtend fragte Light ruhig:

„Ryuzaki, was wird passieren, wenn ich dich nicht retten kann?“

„Hört mein Herz auf zu schlagen, wird ein spezieller Sensor es sofort registrieren und Yagami-san darüber informieren.“ L hob eine Hand, an deren Zeigefinger ein klippartiges Gerät befestigt war, von dem aus ein Kabel bis hin zu einer Apparatur verlief, die scheinbar seine Vitalfunktionen überprüfte. Auf einem der linken Monitore verbildlichte eine leuchtende Schnur aus geraden und gezackten Linien seine Herzfrequenz. „Sollte ich sterben, wird dein Vater das Death Note verbrennen und es demnach für immer zerstören.“

„Aber was ist mit der letzten Regel?“, fragte Light alarmiert. „Wenn wir das Buch vernichten, werden wir alle dabei draufgehen.“

„Ich habe die anderen Mitglieder bereits über diese Gefahr aufgeklärt. Sie wissen Bescheid. Jeder einzelne von ihnen ist allzeit bereit, dieses Risiko einzugehen. Selbst Aizawa, der ungern seine Frau und seine Tochter im Stich lassen würde, meinte, ein solches Opfer sei es wert, solange dadurch die Welt von dieser unglückseligen Waffe befreit werden könnte. Und was dich anbelangt...“ L sprach ohne Schuldbewusstsein und lächelte dabei unangemessen optimistisch. „Du erfährst es eben jetzt von mir. Mach dir keine Sorgen, Light-kun. Es wird schon alles gut gehen.“

„Ich fasse es nicht, dass du sie da mit hineinziehst“, stieß Light mit einem verständnislosen Kopfschütteln aus. „Ich war immer bereit, mein Leben hierfür zu geben. Da wir jedoch alle das Death Note berührt haben, lässt du den anderen bei deinem Plan überhaupt keine Wahl.“ Und demzufolge ließ er auch Kira keine Wahl. Sobald L tot war, musste Light von jenen Menschen, die ihm am wichtigsten waren, gezwungenermaßen noch einen weiteren innerhalb kürzester Zeit töten. L sagte nichts dazu und trank stattdessen teilnahmslos seinen Kaffee.

„In Ordnung“, willigte Light schließlich ein. „Da ihr alle bereit seid, euer Leben aufs Spiel zu setzen, werde ich es euch gleichtun. Wenn du richtig liegst, Ryuzaki... dann lass uns Misa fangen und sie als zweiten Kira überführen, selbst wenn es uns oder ihr das Leben kosten sollte.“

Voller Hass bohrte sich Rems katzenhaft verengte Pupille in den Nacken des jungen Mörders, während ihre Gelenke knirschten wie ein festgezurrter Galgenstrick um den Hals eines Erhängten. Das war das letzte Zeichen. Der letzte Beweis. Damit war bestätigt, dass Yagami Light vor niemandem Rücksicht nahm, weder vor seiner Familie noch vor seinen Freunden und erst recht nicht vor Misa. Rem wusste, was dieser bösartige Mensch, der ein Gott sein wollte, von ihr verlangte. Und sie verstand, was sie nun zu tun hatte.

„Sie kommen“, sagte Light tonlos, als die Kameraübertragung aufzeigte, wie der alte Mann und das blonde, unschuldig wirkende Mädchen den Fahrstuhl betraten. Kurz spähte Light zu der Todesgöttin hinüber und nickte ihr kaum merklich zu.

Gehorsam setzte sie sich in Bewegung. Im Vorbeischreiten verursachte Rem keinen einzigen Laut. Nahezu andächtig ließ sie die beiden Männer zurück. Während Lights Blick abwesend und starr am Geschehen auf dem Bildschirm haftete, hob L die leere Kaffeetasse schräg in die Luft über seinen geöffneten Mund, um ihr womöglich noch einen letzten Tropfen zu entlocken. Seine andere Hand verkrampfte sich um das kleine, elektronische Gerät an seinem Finger. Aus dem Augenwinkel bemerkte L, wie jenes kreidebleiche, infernalische Geschöpf sich von ihnen entfernte und durch die Wand in den Nebenraum glitt.

Vierzig Atemzüge, vierzig Herzschläge, vierzig Schritte des tickenden Uhrzeigers, Sekunde um Sekunde bis zum Tod. Noch waren die Sekunden stark und feierlich betont und jede, die von der Uhr heruntersprang, rief: sie sei das Leben, das unerträgliche, unerbittliche Leben.

Die Fahrstuhltüren schoben sich beiseite. Der Fuß des alten Mannes suchte nach Gleichgewicht auf dem schwankenden Grund, die faltige Hand vergraben im Anzugstoff direkt über seinem Brustbein. Doch die Welt geriet aus den Fugen.

„Watari?“ Als der alte Mann im Flur vor dem Fahrstuhl zusammenbrach, erfasste kaltes Grauen den Meisterdetektiv. In diesem Moment, da L den Namen seines engsten Vertrauten rief, klang seine Stimme ungemein jung und verletzlich. „Watari!?“

Ein verschlagenes Lächeln zierte Lights Lippen. Also erledigte Rem praktischerweise auch das gleich für ihn. Damit kam seine stärkste Figur zum Zug, seine machtvolle Dame auf dem weiß und schwarz gekachelten Schachbrett dieses Spiels, um seine Feinde zu beseitigen, erst den Gefolgsmann, dann den König und endlich... Schachmatt.

„Shinigami?“, flüsterte L fragend. Der Löffel zwischen seinen Fingerspitzen zitterte, vibrierte leicht und entglitt anschließend, wie in Zeitlupe, seinem Halt. Leergefegt von jedem Gedanken, sein Kopf ein Vakuum, sein Herz in Aufruhr, sah Light seinen Partner fallen. Ohne eine bewusste Entscheidung oder Kontrolle darüber geriet sein Körper in Bewegung. Er stürzte nach vorn, um L aufzufangen und ihn gleichsam davor zu bewahren, hart auf dem Boden aufzuschlagen. Am Schulterblatt spürte Light die Hand seines Freundes, die sich krampfhaft in seinen Rücken grub und an seiner Kleidung zerrte. Im Todeskampf klammerte L sich an ihn, wie er sich kurz zuvor noch in Ekstase an ihn geklammert hatte.

„Du hast...“, sprach er mühsam, „den Shinigami...“

„Rem ist ein gutmütiger Todesgott“, erklärte Light sanft und hielt L schützend in seinen Armen. „Ich habe deinen Namen nicht gebraucht. Aber so nehme ich dir wenigstens nicht alles, mein Freund.“

„Light.“

„Du musst mich verstehen. Ich kann nicht anders.“

Boshaft, verwirrt und entrückt lächelnd schaute Kira auf seinen Todfeind herab. Nein, du kannst mich nicht besiegen. Du kannst es nicht. Nicht einmal du hast es geschafft.

L spürte einen dumpfen Schmerz an seinem Handrücken, der offenbar daher rührte, dass sein Arm kraftlos auf den Boden gefallen war. Sein Kopf und all seine Gliedmaßen waren plötzlich so fürchterlich schwer. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand gewaltsam die Augenlider niederdrücken. Was von nun an geschah, entzog sich seinem Einfluss. Würde Light aufgehalten werden können? Würde er… L konnte nicht mehr klar denken. Er hörte nur noch diesen ohrenbetäubenden Glockenklang und eine zarte Stimme aus der Stille. Wehr dich nicht dagegen. Lass dich fallen. Schlaf ein. Nun endlich kannst du schlafen. Schlafen...

„Sayonara, L.“

Und so starb L, der größte Detektiv der Welt. Und mit ihm starb der letzte Funken Menschlichkeit in Yagami Light. Denn der alte Gott war besiegt. Ein neuer Gott war geboren.

Jede Sekunde, die sie aneinander gekettet waren, hatte die Einsamkeit noch deutlicher hervortreten lassen. Wie viele Tage und Wochen ihnen auch geblieben waren, es hatte nicht gereicht. Selbst wenn sie ein ganzes Leben gehabt hätten. L konnte Kira nicht aufhalten.

Er konnte Light nicht retten.

 

Salz ist die Essenz des Lebens. Kein Mensch kann ohne Salz überleben, es ist für unsere Existenz lebensnotwendig. Doch in zu hoher Konzentration kann Salz tödlich sein. Allein die Menge macht das Gift und alles wird im Übermaß zur letalen Dosis. Das gilt für Macht genauso wie für Freude oder Trauer.

Auf Zucker hingegen kann man verzichten, weil er zum Überleben nicht notwendig ist. Er ist kein Grundstoff, sondern ein Suchtmittel. Von Zucker kann man niemals genug bekommen. Das Einzige, was Zucker einem Menschen geben kann, ist das Gefühl, glücklich zu sein.

Light wusste, wie sich diese Erkenntnis anfühlte. Jedes Mal war das Verlangen danach stärker geworden, drängender und unbezwingbarer, je häufiger er den Zucker von Ls Lippen gekostet hatte. Doch nun hatte er seine Sucht bekämpft. Es blieb ihm fortan nichts weiter übrig, als die Entzugserscheinungen zu überwinden.

Alle Hindernisse, jede Gefahr und jedes Streben nach Glück, alles war aus dem Weg geräumt. Nichts konnte ihm jetzt noch etwas anhaben. Niemand konnte ihn erreichen, ihm nahekommen. Niemand konnte ihn verletzen. Light würde von nun an überleben. Existieren.

Aber er würde sich nie wieder am Leben fühlen.

Schlafes Bruder

Schlafes Bruder

 

Du warst ein würdiger Gegner, L. Falls du mich jemals als deinen Freund anerkannt haben solltest, wenn ich wirklich dein erster Freund gewesen sein sollte, dann warst du wohl gleichfalls mein einziger und letzter.

Das Elektrokardiogramm gab einen grellen Pfeifton von sich. Leblos hing der Meisterdetektiv in seinen Armen. Light spürte das dichte, schwarze Haar in seinen Handflächen. Es fühlte sich so weich an wie sonst auch. Der Pfeifton schrillte beständig weiter. Sofort befreite sich Light von seinem getöteten Freund und ließ das geringe Gewicht des noch warmen Körpers zu Boden gleiten. Der Pfeifton schrillte beständig weiter. Light wollte mit seinen zitternden Fingern jenes schneeweiße Handgelenk berühren, an dem er noch immer die Spuren der Metallfessel zu sehen glaubte, wollte auf dem Brustkorb nach einem Puls, auf den blassen Lippen nach Atem suchen, den er niemals wieder finden würde. Der Pfeifton schrillte beständig weiter. Stattdessen wich Light zurück, erhob sich halb und taumelte zwei, drei, vier Schritte rückwärts. Es sah aus, als würde L bloß schlafen. Der Pfeifton schrillte beständig weiter. Bis die anderen zurückkamen, musste Light seinen Freund hier allein lassen. Allein in diesem selbstgezimmerten Käfig aus Stahlbeton und Glas. Der Pfeifton schrillte unerträglich laut.

Light hielt es nicht mehr aus. Sein Sieg hatte in ihm eine Hysterie ausgelöst, die ihn kaum nüchtern denken ließ. Seine Mundwinkel schmerzten von dem Lachen, das in seiner Kehle brannte und nach Freiheit schrie. Genauso wie das rasende Herz zwischen seinen Rippen.

 

Asche zu Asche. Staub zu Staub. Feiner Sand breitete sich bis an den Rand der Maschinen und Kühlanlagen aus, die im Raum nebenan aufgebaut waren. Mit der Aussage, L könne seinen vollständigen Namen für sich bewahren, hatte Light sogar richtig gelegen. Selbst wenn er der Versuchung hätte nachgeben wollen, er würde ihn niemals erfahren. Dieses Geheimnis konnte er nicht lüften, denn Rem hatte ihr Death Note offenbar zerstört. Nur das schmutzige Grau ihrer Überreste verteilte sich über den Boden.

Den eigenen Namen sollte L mit ins Grab nehmen.

 

„Light, du hast es geschafft!“ Freudestrahlend lief Misa durch den Gang auf ihren Freund zu, aus dem hinteren Teil des Gebäudes kommend, wo sich die Fahrstühle befanden, die im Gegensatz zum Personalaufzug nicht direkt in den Hauptüberwachungsraum mündeten. „Der freundliche Herr ist einfach umgefallen. Ist er ohnmächtig? Das warst du, oder?“

„Misa, das Death Note.”

„Äh, ja... hier.“ Sie holte aus ihrer rüschenbesetzten Tasche ein paar gefaltete Blätter Papier hervor. „Wie du wolltest, habe ich aus dem Heft nur wenige Seiten herausgerissen. Die Seite, auf die ich gestern die Namen der Verbrecher schrieb, habe ich heute Morgen gleich verbrannt. Das hier ist alles, was ich jetzt noch besitze.“

Wortlos nahm Light das linierte Papier an sich.

„Hast du L getötet?“ Unvermittelt war Ryuk neben ihnen aufgetaucht. Zuerst wollte Light ihn ignorieren, in der Annahme, es handle sich sowieso nur um eine seiner konstruierten Illusionen, bis ihm jedoch einfiel, dass sein Todesgott dieses Mal echt sein musste.

„Lange nicht gesehen, Ryuk“, begrüßte er ihn. „Ich würde gern behaupten, dass ich mich über das Wiedersehen freue, obwohl du mir in letzter Zeit ziemlich auf die Nerven gingst.“

Verdutzt zeigte der Todesgott mit einer seiner beringten Pranken auf sich selbst. Dessen Irritation ignorierend antwortete Light kühl:

„Ja, ich habe gewonnen. Jetzt muss ich nur noch eine einzige Arbeit erledigen.“

Daraufhin führte er Misa allerdings nicht in den zentralen Ermittlungsbereich, sondern in eine lichtdurchflutete Lobby, die als Empfangshalle diente. Er wollte ihr den Anblick eines weiteren Leichnams ersparen. Vielleicht wollte er sich das auch nur selbst ersparen.

 

Der Kugelschreiber wanderte akkurat zwischen den Zeilen über das Papier. Ein fließender Strom aus gebogenen und geraden Linien, die zusammen ein sauberes Bild an Schriftzeichen ergaben.

„Das ist...“, hauchte Misa bestürzt, während sie ihrem Freund über die Schulter schaute, um zu sehen, was dieser auf die Seiten des Death Notes schrieb.

Yagami Soichiro

„Das ist der Name deines Vaters...“

Herzinfarkt

„Light... warum?“

Er täuscht eine schlüssige Erklärung vor und bringt das Death Note zurück...

„Warum schreibst du den Namen deines Vaters auf?“

...übergibt es seinem Sohn...

„Es wird helfen, eine neue Welt zu erschaffen“, antwortete Light mechanisch.

...und stirbt.

„Aber, Light... er ist dein Vater! Wieso?!“

„Würdest du bitte still sein?“, zischte dieser genervt. „Für die höhere Sache sind Opfer unerlässlich. Wie wichtig Personen auch sind, wir können sie leider nicht verschonen.“

Es war dieselbe Aussage, die er gedanklich seinem imaginären Todesgott gegenüber geäußert hatte, als es um den Tod von L ging. Der Tod von L. Es war ganz leicht, das zu denken. Light fühlte nichts dabei. Er hatte L getötet. Es war egal geworden, wen er als nächstes tötete. Es war alles egal. Jetzt konnte er auch seinen Vater umbringen. Und am besten den ganzen Rest der Welt hinterher. Wenn er könnte, würde er in diesem Moment die gesamte Menschheit auslöschen, damit die Realität der Außenwelt dem entsprach, was er innerlich fühlte. Zu dumm, dachte Light zynisch, dass er selbst der Auserwählte war, der allein die Welt vor ihrem Untergang retten konnte.

„Es gibt kein Zurück mehr“, sagte er kalt.

 

Schweigend saß das blonde Mädchen in einem der schwarzen Ledersessel und sah sich abwartend in dem großen Raum mit dem spiegelglatt gefliesten Boden und der Fensterfassade um. Rem hatte sich für sie geopfert, weil Light keine Alternative sah, um Misa zu retten. Aus Liebe zu sterben, das war der schönste Tod, den Misa sich vorstellen konnte. Sicher war es auch für einen Shinigami erfüllender, dieses wertvollste aller Geschenke kennen gelernt zu haben, anstatt ein Leben in trostloser Ödnis zu verbringen, selbst wenn es das eigene Ende bedeutete. Nachdem sie ihre gesamte Familie verlor, wusste Misa, wie einsam und zerrissen man sich fühlen konnte, wenn man niemanden mehr hatte, der einem wichtig war.

Verstohlen huschte Misas Blick zu ihrem Freund hinüber. Light hatte schon seit geraumer Zeit kein Wort gesagt, die braunen Augen nur reglos auf den Glastisch vor sich gerichtet, auf jene dort befindlichen Seiten, die lediglich zerfurcht waren von einigen unscheinbaren Zeichen, die nichtsdestotrotz einem Menschen das Leben raubten. Bestimmt war er deshalb so in sich gekehrt und traurig, weil er seinen eigenen Vater töten musste.

Da Light sein Vorgehen für richtig erachtete, wollte Misa ihn nicht unnötig reizen und blieb deshalb stumm.

Endlich hörten sie den festen Schritt von Herrenschuhen näherkommen. Beide erhoben sich, als Yagami Soichiro, Chefinspektor und leitender Ermittler im Fall gegen Kira, seinem Sohn gegenüberstand, dem er einstmals die Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit gelehrt und der hierauf begonnen hatte, aus Selbstjustiz massenhaft Menschen hinzurichten.

„Vater“, fing Light ernst zu sprechen an. Er seufzte schwer, bevor er fortfuhr. Ihm war bewusst, dass Yagami Soichiro bei der Aushändigung des Heftes sterben musste. Sobald Light das Death Note berührte, beging er einen Vatermord. „Ich habe stets zu dir aufgeschaut. Du warst ein Vorbild für mich und für andere. Dafür respektiere ich dich noch heute... das werde ich immer tun.“ Light lächelte schmerzlich, wohingegen der Gesichtsausdruck des älteren Mannes keinerlei Emotion verriet. „Es hat mich stolz gemacht, dein Sohn zu sein. Du hast unbeirrbar gegen die Ungerechtigkeit gekämpft. Darum weiß ich, dass du verstehen wirst, was ich jetzt tun muss.“

Einen Moment schloss Light die Augen und atmete tief durch.

„Vater... es tut mir leid. Bitte gib mir das Death Note. Es ist Zeit.“

Mit ausdrucksloser Miene öffnete Herr Yagami den in seine Obhut gegebenen Stahlkoffer, sodass dessen Deckel nach vorn klappte und Einblick in seine dunklen Innenwände geboten wurde. Dort, verborgen hinter der robusten Schale der Verkleidung und gebettet auf einer anthrazitfarbenen Polsterung, hätte das tödliche Notizbuch liegen müssen. Doch der Koffer war leer.

„Wo ist das Death Note?“, fragte Light dumpf und versuchte zu begreifen, was er nicht sehen konnte. Er versuchte zu sehen, was er nicht begriff.

„Light, ich habe alles mitbekommen“, sagte sein Vater verbittert und ließ den Koffer mit einem lauten Knall fallen, „jeden einzelnen deiner Sätze, das Videomaterial, deine Gespräche, genauso wie das, was du bedauerlicherweise auf diese Seiten geschrieben hast.“ Er deutete, nur ganz schwach zitternd, mit einem Fingerzeig hinüber zu dem Tisch in der Mitte der Sitzgruppe. Im nächsten Augenblick waren weitere Schritte zu hören, die restlichen Polizisten, Matsuda, Aizawa und Mogi, tauchten rasch hinter ihrem Vorgesetzten auf und umzingelten Light mit gezogenen Schusswaffen. Aizawa packte Misa an den Armen, drehte ihr die Hände auf den Rücken und legte ihr Handschellen an. Danach wurden ihr zügig und fest die Augen verbunden.

„Light!“ Das blonde Mädchen schrie und wand sich, doch Aizawa hielt sie geschickt in Gewahrsam, woraufhin ihre Gegenwehr bald abflaute. Überrascht ruckte Lights Blick umher, von einem Gesicht zum anderen, überall konfrontiert mit Vorwurf, Enttäuschung und Verachtung. Was war geschehen? Warum verlief nicht alles nach Plan?

„Hör zu, mein Sohn“, offenbarte ihm der Chefinspektor schwermütig, „du bist verhaftet.“

„Aber das Death Note...“ Verwirrt schüttelte Light den Kopf. Wieso machte Yagami Soichiro nicht das, was ihm durch die Macht des Heftes befohlen worden war? Wie hätte er bei klarem Verstand die Instruktionen ignorieren können? Sein Auftrag war doch unmissverständlich formuliert.

Abrupt drehte sich Light um, starrte auf die linierten Blätter des Papiers, von dem er geglaubt hatte, es sei nicht irdischen Ursprungs.

„Eine Fälschung“, stieß er wütend aus. „Misa, du hast mich betrogen!“

„Das ist nicht wahr!“, verteidigte sie sich panisch. „Wieso hätte ich das tun sollen?! Du musst mir glauben, Light. Es ist mir egal, ob du gut oder böse bist. Ich werde dich immer lieben!“

„Sie hat dich nicht betrogen, Light-kun.“

Der Schlag seines Herzens setzte aus. Diese Stimme.

„Du müsstest wissen, dass Misa-san das niemals tun würde.“

Seine Brust zog sich zusammen, bevor der Muskel zwischen seinen Rippen heftig schmerzend erneut pulsierte. Light bemühte sich darum, durch seine zugeschnürte Kehle Luft zu bekommen. Das war nicht möglich. Er halluzinierte. Es war bloß ein Traum. Eine weitere Wahnvorstellung. Die Wirklichkeit war dem Irrsinn anheimgefallen und er war früher als erwartet durchgedreht. Er musste verrückt geworden sein. Anders war das hier nicht denkbar. Er hatte den Verstand verloren, irgendwann, ohne es zu merken.

„Ryuzaki?“, hörte er sich selbst sagen, während sich in seinem Kopf alles drehte.

„Es tut mir so leid.“ Ein blasses Gesicht unter pechschwarzem Haar, dürre Finger auf dem Geländer des oberen Ganges, nackte Füße unter dem zerschlissenen Saum einer Jeanshose. Es war nur eine Illusion, eine Ausgeburt des zerrütteten Geistes, der Lights Sinne vernebelte. „Wir hätten Freunde sein können, weißt du?“

Light wurde schwarz vor Augen. Übelkeit und Schwindel bemächtigten sich seiner. Unter der Handfläche spürte er kühles Leder, die Lehne eines Sessels, worauf er sich unbewusst gestützt hatte, um irgendwo Halt zu finden, nachdem er schwankend einen Schritt zurückgetaumelt war. Das war nicht real. Nichts hiervon konnte wahr sein. L war tot. Kira hatte ihn umgebracht. Er konnte nicht mehr am Leben sein. Light hatte sich damit abgefunden. Die Person, die dort vor ihm stand, konnte gar nicht L sein.

„Es stimmt, das Papier, von dem du dachtest, es sei tödlich, ist aus einem völlig harmlosen Material.“ Barfuß kam der junge Mann die Treppe herunter. Die Hände schob er auf typische Weise in die Hosentaschen. Seine angenehm ruhige Stimme drang nur gedämpft zu Light hindurch. War das wirklich L? „Vom Tag ihrer Freilassung an habe ich Amane Misa durch Wedy beschatten und die Seiten des Death Notes fälschen lassen.“

Misa zerrte vergeblich an den Fesseln und Händen, die sie festhielten. Wiewohl sie durch die Stoffbinde nichts zu sehen vermochte, wandte sie sich in jene Richtung, aus der sie die bekannte Stimme Ryuzakis vernahm, und rief aufgelöst:

„Aber die Verbrecher sind doch gestorben!“

„Weil wir die Seiten erst in der letzten Nacht ausgetauscht haben“, entgegnete L milde. „Diese letzten paar Opfer waren unvermeidlich, um einen stichhaltigen Beweis gegen dich in der Hand zu haben, der belegt, dass du der zweite Kira bist, Misa-san. Und somit wurde mir auch bestätigt, dass ein ausgerissenes Stück Papier die gleiche Wirkung entfaltet wie das Notizbuch selbst. Übrigens war die Seite, die du heute Morgen vernichtet hast, ebenfalls eine Fälschung. Die echte befindet sich in unserem Besitz, wohlgemerkt, verfasst in deiner Handschrift und versehen mit deinen Fingerabdrücken.“

Allmählich gewann Light seine Selbstbeherrschung zurück. Misa war also von Anfang an beschattet worden. Vermutlich hatte L bereits kurz nach Higuchis Festnahme diesen Auftrag unter der Hand erteilt, ohne dass die Polizisten im Ermittlungsteam oder Light etwas davon mitbekamen. Zwar hatte Light Misa eingebläut, eine Weile zu warten, bevor sie das Death Note ausgrub, aber aller Wahrscheinlichkeit nach war sie rund um die Uhr bewacht worden. Das erklärte, warum Yagami Soichiro nicht gemäß seiner Bestimmung gehorcht hatte. Allerdings erklärte es nicht, weshalb L noch lebte.

Der Detektiv las in Lights Gesicht, wie es hinter dessen Stirn arbeitete.

„Das eigentliche Problem war der erste Kira“, erläuterte L, während er am unteren Treppenabsatz angelangt war. „Ich wusste seit Monaten, dass ich Kira nur überführen konnte, indem ich ihn auf frischer Tat ertappte.“

Nun standen sie sich gegenüber, der Meisterdetektiv und sein Hauptverdächtiger, einander gleichermaßen Freund wie Feind. Die Identität Kiras war enthüllt und dennoch empfand Light weder Angst noch Schmach. Stattdessen konnte er nach wie vor kaum glauben, dass ihn nur wenige Schritte von L trennten.

„Du müsstest tot sein“, entfloh Light ein ungläubiges Wispern.

„Dafür fühle ich mich allerdings noch ziemlich lebendig.“

„Aber wie...?“

„In amerikanischen Kriminalserien mag es üblich und ausreichend sein, den Tod eines Menschen mit einem kurzen Wimpernschlag abzusegnen. In der Realität sollte man das lieber anhand der Vitalfunktionen überprüfen, findest du nicht auch? Hast du das denn getan, Light-kun?“

Die Augenbrauen senkend starrte Light seinen Widersacher an. Er war sich sicher gewesen, dass eine Prüfung nicht nötig war, weil sein Plan keine Alternative hätte möglich machen sollen. Er war zu sehr von sich selbst überzeugt gewesen.

Nein, das stimmte nicht. Wozu verleugnete er es vor sich selbst? Er hatte es durchaus tun wollen. Aber er konnte nicht.

„Du warst immer sehr vorsichtig“, gestand L ihm zu. „Wir waren nie in der Lage, dir etwas nachzuweisen. Darum mussten wir dich über den zweiten Kira erreichen und dafür sorgen, dass du direkt in der Zentrale in Aktion trittst. Anstatt in den Hubschrauber zu steigen, blieben die anderen hier und haben alles beobachtet. Bis zum Schluss jedoch wollte Yagami-san es nicht wahrhaben.“

Lights Augen glitten zur Seite und fingen den Blick des älteren Mannes ein. Yagami Soichiro, Vater und Vorbild seiner Kindertage. Mittlerweile war Light schon lange kein Kind mehr. Er konnte sich nicht erinnern, seit wann ihn das permanente Streben nach Perfektion und das ständige Sammeln neuer Erkenntnisse nicht weiter mit Freude über die bald selbstverständlich gewordene Anerkennung der ihm wichtigen Menschen erfüllte. Je mehr Wissen er in sich anhäufte, desto leerer fühlte er sich. Light wusste nicht einmal mehr, wann er angefangen hatte, seiner Familie den idealen Sohn bloß vorzuspielen. Auf absurde Weise war er beinahe froh darüber, dass Yagami Soichiro zum ersten Mal sah, was sein eigener Sohn unter der Maske aus erlogener Pflichterfüllung tatsächlich war.

Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte nur L gesehen, was sich in seinem Inneren verbarg.

Finster schaute Light wieder zurück in dessen blasses Gesicht und meinte:

„Das war ziemlich riskant.“

L zuckte unbeteiligt mit den Schultern.

„Ich habe einfach auf deine Selbstsicherheit gesetzt und darauf, dass du dich von der inszenierten elektronischen Aufzeichnung ablenken lässt. Zusätzlich diente der vermeintliche Sensor dazu, mir selbst ein Narkotikum zu injizieren, das mich kurzzeitig außer Gefecht setzte und meine vegetativen Reaktionen hemmte. Zugegeben, mich selbst zu anästhesieren war riskant. Leider sind meine schauspielerischen Fähigkeiten bei weitem nicht so gut ausgeprägt wie deine.“

Abfällig seufzend senkte Light den Kopf. Trotzdem ergab das Ganze einfach kein klares Bild.

„Wir haben die gefälschten Seiten für dich gar nicht benutzt.“ Verständnislos versuchte er zu begreifen, was bei Rem, seiner Marionette, falsch gelaufen war. „Eine Person, deren Name in das Death Note geschrieben wird, stirbt unausweichlich. Egal was man tut, selbst wenn das Heft danach zerstört wurde, diesem Schicksal kann niemand entkommen. Es sei denn...“ Der Name wurde bereits vorher eingetragen.

In plötzlichem Erschrecken starrte Light dem Detektiv in die müden schwarzen Augen.

„Hast du...“, begann er stockend, „hast du deinen Namen etwa selbst...?“

Light sprach seine Worte nicht zu Ende. Es kam ihm vor, als hätte er etwas scheinbar Verlorenes wiedergefunden, nur um es kurz darauf erneut zu verlieren. Wenn er jetzt versagte, ohne dass es etwas an Ls Tod änderte, dann war seine Niederlage erst recht umsonst. In diesem Fall hatte niemand gewonnen. Das durfte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein!

„In der Tat“, setzte L leise zu einer Antwort an.

Ad Rem

Ad Rem

 

„Das hätte ich tun können.“ Indem er dies einräumte, nickte L leicht. „Doch wie du schon einmal festgestellt hast, finde ich immer irgendeinen Weg, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Hast du denn gesehen, dass mein Name irgendwo eingetragen steht?“

„Das konnte ich nicht.“ Light begriff langsam gar nichts mehr. Sein Herz flatterte wirr, auf konfuse Weise genauso hoffnungsvoll wie unzufrieden, während sich seine Gedanken überschlugen. Was gab es denn sonst für eine Möglichkeit, der Wirksamkeit des Notizbuchs zu entgehen? „Rems Death Note war zerstört und das echte...“

In der nächsten Sekunde zeichnete sich Verstehen auf Lights Gesicht ab.

„Rem“, sagte er finster. „Das war eine Finte.“

„Deine Schlussfolgerungen sind wie immer blitzschnell“, stellte L sachlich fest und fügte etwas lauter hinzu: „Nun, Rem?“

Ein scharfes Zischen von Flügeln, die durch die Luft schnitten, begleitete das Erscheinen der Todesgöttin, deren skelettartige Gestalt sich aus der Decke schälte. Mit bedrohlich ausgebreiteten Schwingen rauschte sie hinab und gesellte sich zu ihnen. Rem würdigte Light keines einzigen Blickes. Stattdessen inspizierte ihre katzenhafte Pupille unter dem vergilbten Weiß ihres Verbandes jenes blonde Mädchen, das hilflos, gefesselt und blind von den Polizisten festgehalten wurde. Trotz der Zweifel, die Rem verstimmten und sie unruhig werden ließen, informierte sie den Detektiv darüber, was ihr Augenlicht offenbaren sollte.

„Unverändert.“

„Rem, nein!“, schrie Misa aufgebracht, als sie die Stimme ihrer Todesgöttin vernahm. Eine Welt schien für sie zusammenzubrechen. Sie hatte Rem vertraut. Sie hatte geglaubt, dass sich jemand für sie so aufgeopfert hatte, wie sie selbst bereit war, sich für ihren Liebsten zu opfern. Aber jetzt war das genaue Gegenteil geschehen. Jetzt war Misa indirekt für das Scheitern von Kira verantwortlich. Dabei war dieser Junge, in den sie sich verliebt hatte, ihr Licht, ihre Hoffnung, jener errettende Funke, der ihr einstmals den Lebenswillen zurückgegeben hatte. Obwohl sie ihm helfen und alles für ihn geben wollte, war sie ihm letztendlich zum Verhängnis geworden.

Unter dem fest verknoteten Stoffband, das ihr die Sicht versperrte, füllten sich Misas Augen mit Tränen.

„Warum hast du…?“ Sie versuchte zu sprechen, doch klang jedes Wort dünn und zitternd. „Ich dachte, du würdest mich...“

„...lieben, Misa?“, fragte Rem mit sanfter Rücksicht. „Das tue ich auch, obwohl ich nicht beurteilen kann, ob man die Empfindungen eines Shinigami mit denen eines Menschen vergleichen kann. Dennoch musste ich gerade aus diesem Grund so handeln. Misa... ich will nur das Beste für dich.“ Aus der normalerweise eintönigen Stimme der Todesgöttin war deutlich ihre Trauer zu vernehmen. „Mir wurde versichert, dass dir nichts geschieht, wenn du festgenommen wirst.“

Weinend brach Misa zwischen den Polizisten zusammen. Sie schüttelte vehement ihren Kopf, als könne sie nicht akzeptieren, was soeben geschah. Light betrachtete sie verständnislos. Die Gesamtsituation wirkte auf ihn zunehmend absurd und irreal. Indessen huschten, angesichts der Aufgelöstheit des blonden Mädchens, kurzfristig Besorgnis und Bedauern über Ls Miene, jedoch verflog dieser Eindruck rasch, als er sich mit seinen weiteren Ausführungen an Light wandte:

„Was das Notizbuch anbelangt, das dein Vater bei sich hatte...“

Das Gefühl der Unwirklichkeit und des Entsetzens verstärkte sich erneut, als Light bemerkte, wie der ergraute Herr im Anzug, steter Schatten des Meisterdetektivs, in gewohnt seriöser Haltung durch den Raum auf diesen zuschritt und ihm ein schwarzes Notizbuch, einige Akten sowie ein paar linierte Seiten Papier überreichte.

„Danke, Watari.“ Leise setzte L fragend hinzu: „Alles in Ordnung?“

„Meine alten Knochen vertragen solch einen Sturz nicht sonderlich“, antwortete jener mit höflicher Kritik, „und der Stromschlag war gleichfalls nicht sehr angenehm.“

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich immer zu solch drastischen Mitteln greife. Mir fiel auf die Schnelle nichts anderes ein, womit ich Ihnen vorhin ein Zeichen hätte geben können.“

„Keine Sorge, es geht mir gut“, beschwichtigte Watari seinen Schützling. Die linierten Blätter, die L mittlerweile zusammen mit den Akten und dem Notizbuch zum Tisch hinüber trug, hatte der alte Mann bereits am heutigen Morgen, erfüllt von Melancholie und Skepsis, in seinem persönlichen Überwachungsbereich betrachtet, nachdem er mit dem Kontrollieren der Videoaufzeichnung fertig und kurz bevor der Detektiv zu ihm gekommen war. Die vorige Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Aus seiner Erschöpfung heraus war Watari in jenen Minuten des ersten Ausruhens regelrecht versunken gewesen in die Betrachtung dieses vom Monitorlicht beschienenen Papiers, den echten Seiten des Death Notes. Schwermütig hatte er sich gewundert, wie etwas derart Unscheinbares der Auslöser für die nachfolgende Katastrophe sein konnte.

„Aber Rems Überreste...“, raunte Light derweil und verfolgte L mit seinen Augen.

„Ein Kübel Sand und Kaminasche“, antwortete dieser schlicht.

„Wann hast du…?“

„Wir hatten genügend Zeit, etwas Derartiges vorzubereiten, während du mit deiner Familie telefoniert hast. Dass ein Todesgott sterben kann und was mit ihm geschieht, habe ich gestern von Rem erfahren. Ihr Death Note hingegen wurde von Watari nicht rekonstruiert. Darum konntest du es auch nicht finden.“

„Sollte ich deshalb mit meiner Mutter telefonieren?“, stellte Light nachdenklich die Frage in den Raum. „Und heißt das, du hast mich ebenfalls absichtlich weggelockt, als du... draußen im Regen...?“ Light stockte und fixierte in sich gekehrt die Bodenplatten zu seinen Füßen. Hierauf ließ L eine Pause verstreichen, ging mit seinen folgenden Worten jedoch nicht auf die These ein.

„Du hast zweifelsohne mitbekommen, wie ich Rem unentwegt befragte. Ein Shinigami schreibt Menschen auf, obwohl die meisten dieser Wesen laut Rem sich nicht für unsere Welt interessieren. Warum machen sie es trotzdem? Um sich die Langeweile zu vertreiben oder um ihr Überleben zu sichern? Viele Dinge haben im Grunde ihrer Existenz einen an Naturgesetzen orientierten, kalkulierten Sinn, der sich empirisch deduzieren lässt, sonst hätten auch die Regeln der Shinigami keine Daseinsberechtigung. Sie können sterben, das habe ich, wie du weißt, herausgefunden. Rem erklärte außerdem, Todesgöttern sei es nicht gestattet, einem Menschen den Namen eines anderen zu verraten, um keine Verwirrung zu stiften. Ich habe mich gefragt, was wohl die Bestrafung dafür sein könnte, es trotzdem zu tun, was einen Shinigami denn davon abhielte. Ich vermutete, wenn Rem dir meinen Namen verraten sollte, dann würde er zur Strafe zu Sand zerfallen.“

„Todesgötter mischen sich nicht in unsere Belange ein“, wies Light entschieden ab und sah wieder zurück in Ls regloses Gesicht. „Wieso hätte Rem das tun sollen?“

„Ja, wieso hätte der Shinigami das wohl tun sollen...?“ Die Entgegnung klang, trotz der stimmlichen Monotonie, ein wenig ironisch. „Ich teilte ihm gestern mit, dass ich heute die beiden Kiras überführen würde und dass ich nicht beabsichtigte, den zweiten Kira seiner Taten für schuldig zu erklären, weil er vom ersten nur benutzt worden war. Um einen großen Fisch zu angeln, hängt man einen kleineren an den Haken und nimmt dabei in Kauf, den Köder zu verlieren.“ L wedelte unwirsch mit einer Hand in der Luft herum, als wollte er seine eigene Bemerkung beiseite wischen. „Was ich damit sagen will... es war quasi ein Deal, den man einem Kleinkriminellen unterbreitet, um an seinen Boss zu gelangen. In Rems Beisein habe ich beiläufig auch erwähnt, wir würden im Nebenraum aus Versehen einen Eimer Sand und Asche auskippen. Wenn ihm irgendwann danach sei, könne er sich das heute gern anschauen.“

Light ignorierte den spöttischen Tonfall seines Gegners und überlegte stattdessen, was er am gestrigen Abend vom Ermittlungszentrum wahrgenommen hatte. Keine Menschenseele war dort gewesen. Doch wie sah es mit einem überirdischen Wesen aus? Er war so sehr von Ls Fehlen in Beschlag genommen, dass er nicht darauf geachtet hatte, ob sich Rem oder das Death Note noch dort befunden hatten.

„Ich nahm das Notizbuch an mich“, fuhr L gleichmütig fort, „woraufhin mir der Shinigami umgehend folgte, vielleicht nicht allein wegen der Gebundenheit an das Heft, sondern auch zur Bewachung meiner Handlungen. Es ist dir sicherlich bewusst, Light-kun, dass es in diesem Gebäude einige Zimmer gibt, zu denen nur Watari und ich Zugang haben. So hatte ich Gelegenheit, ein Gespräch mit dem Todesgott zu führen, das zwar wie stets zum größten Teil ein Monolog war, aber dennoch genügend Aufschluss gegeben haben sollte.“

„Warum?“, wollte Light wissen, wobei er sich ermahnte, mehr Kälte als Neugier an den Tag zu legen. „Was war dieses Mal anders als bei deinen anderen Befragungen?“

„Ein Todesgott ist genauso gut oder schlecht im Verstecken seiner Emotionen, wenn man sie denn als solche bezeichnen kann, wie ein Mensch.“ Als besäße seine Aussage inhaltlich einen doppelten Boden, durchdrang L den Jüngeren sowohl scharf als auch bitter. „Darüber hinaus gibt es sogar noch weitere Gemeinsamkeiten. Schon seit längerem hatte ich in dieser Richtung eine schwammige Vermutung, weil ich mich auf die Abweichungen konzentrierte, also auf all das, was keinen rechten Sinn ergab. Wie zum Beispiel konnte Kira Druck auf Higuchi ausüben, um ihn zu kontrollieren, sodass er Kriminelle tötete, obwohl er sich herzlich wenig um Gerechtigkeit zu kümmern schien? Erst recht, wenn Higuchi nur per Zufall in Besitz des Heftes kam, wie Rem dies behauptete? Wie sollte Kira ihm einen Befehl oder auch nur eine Nachricht zukommen lassen, damit dieser wusste, was zu tun war, und wieso hätte sich Higuchi überhaupt daran halten sollen? Die einzige Verbindung war der Todesgott, von dem Higuchi das Heft erhielt und der ihm offensichtlich klar machen musste, was Kira von ihm zu tun verlangte. Zum Zweiten...“ Vornübergebeugt, eine Hand erhoben, an der er in seiner Aufzählung bereits zwei Finger abgezogen hatte, blätterte L mit der anderen zügig durch die Akten, die er auf dem Tisch gestapelt hatte. „Wie konnte Misa-san damals, als sie Higuchi ein mehr oder minder nützliches Geständnis abrang, ihn von ihren Fähigkeiten überzeugen, damit er ihr abkaufte, sie sei der zweite Kira? Am Tag zuvor war sie bei Yotsuba vorstellig, musste dem Todesgott demnach sehr nahe gewesen sein. Bereits am Abend fiel mir eine Veränderung an ihr auf und am nächsten Tag befreite sie sich eigenmächtig aus Mogi-sans Aufsicht. Das waren verdächtig viele Zufälle auf einmal. Natürlich war Higuchi nicht gerade intelligent, doch selbst er hätte einen Beweis gefordert. Ich habe Watari die Zeit überprüfen lassen, in der Misa-san sich abgeseilt hat, und tatsächlich...“ L hob ein Aktenpapier hoch, mit der Fotografie eines korpulenten, glatzköpfigen Mannes. „Kaneboshi Ginzo, korrupt genug, um als verbrecherisch zu gelten, und genau die Art von Person, die Higuchi für einen Mord aussuchen würde. Kommt dir der Name bekannt vor, Misa-san?“

Das Mädchen presste die Lippen aufeinander und schwieg beharrlich.

„Ich würde dir ja gern die Augenbinde abnehmen lassen, damit du dir das Foto anschauen kannst, aber ich fürchte, bei deinen jetzigen Fähigkeiten wäre das ein fataler Fehler. Der Genannte verstarb in der fraglichen Zeit von einigen Stunden an einem Herzinfarkt, doch sein Name“, erläuterte L und tippte dabei auf das Death Note, „steht nicht in dem Notizbuch von Higuchi. Das allein hätte ein Zufall sein können, aber ich habe Wedy neben dem Verwanzen der Autos darum gebeten, ein Backup seines medialen Bewegungsprofils zu erstellen. Er war mit Kaneboshi bekannt und hat dessen Leibwächter im entsprechenden Zeitraum sogar angerufen. Wozu hätte er das sonst tun sollen, wenn nicht zur Überprüfung seines Todes? Hätte Misa-san jedoch den Mord selbst ausgeführt, hätte sie ein Notizbuch des Todes besitzen müssen oder zumindest ein Stück daraus. Aber woher, wenn nicht von dem Shinigami selbst? Zudem, wenn der zweite Kira seine Erinnerungen und sein Death Note zurückerhalten hätte, wäre ihm sicher auch das Augenlicht erneut zugänglich gewesen, spätestens durch einen zweiten Handel, sollte die Wirkung des ersten aufgehoben worden sein. Misa-san war danach allerdings weiterhin in der Zentrale. Sie hätte meinen Namen sehen müssen. Nein, viel höher war die Wahrscheinlichkeit, dass nicht sie selbst, sondern wiederum der Todesgott den Mord für sie beging. Doch warum? Das war ein äußerst merkwürdiger Umstand, den ich lange nicht verstehen konnte.“

Zwischen seinen zusammengekniffenen Lidern starrte L ins Leere, als würde er seine eben beschriebene Irritation noch einmal durchleben.

„Ich habe mir von da an“, fuhr er fort, indem er wiederum Light eindringlich musterte, „sobald du geschlafen oder mir keine Beachtung geschenkt hast, noch einmal die Videoaufzeichnung ihrer Gefangenschaft angesehen. Misa-san flehte uns an, getötet zu werden. Ich dachte damals, sie würde den Verstand verlieren, aber mit dem Gedanken daran, dass ihr Todesgott bei ihr war und sie nicht zu uns, sondern zu ihrem Todesgott sprach, ergab plötzlich auch das einen Sinn. Warum starb sie trotzdem nicht? Ein Shinigami tötet Menschen nach Gutdünken. Warum sollte er Skrupel haben, Misa-san zu töten? Ich schaute mir die Aufnahme Schritt für Schritt an, all die Stunden des Schweigens oder Flehens. Es war, als würde ich ein Telefongespräch vom Nebenraum aus belauschen, von dem ich nur die eine Hälfte hören konnte. Aber am Ende... verstand ich es.“

„Mir schwirrt der Kopf“, flüsterte Matsuda seinen Kollegen zu. „Wie kann Ryuzaki nach so einer Gedankenkette noch irgendetwas verstanden haben?“

„Rems unübersehbares Aufschrecken gestern bei Misa-sans Erscheinen“, resümierte L, „nicht zuletzt die Aussage über ihre Lebenszeit, all dies gab mir schon fast Gewissheit, dass Todesgötter womöglich doch nicht so unbeteiligt sind, wie sie erscheinen. Erst ganz zum Schluss, bevor eine Veränderung mit Misa-san vorging, war ich in der Lage, in den Videoaufnahmen den letzten Hinweis zu erkennen.“ Nachdenklich senkte L sowohl Stimme als auch Blick. „Damals hielt ich es bloß für einen Lufthauch, der durch Misa-sans Haare strich. Doch in diesem Moment wurde mir alles klar.“ Er schaute auf und fixierte Rem in sanfter Überraschung. „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Und was ich sah, war keine Gleichgültigkeit. Higuchis Shinigami hatte erstaunlicherweise eine starke Bindung zum zweiten Kira, nicht zum ersten. Eine wesentlich stärkere Bindung, als man hätte annehmen können. Auch wenn Rem kaum ein Wort sagte, war er mir in dieser Hinsicht eine große Hilfe.“

„Sie“, mischte sich die Todesgöttin knapp ein.

„Hm?“ L blinzelte irritiert.

„Ich bin ein Weibchen.“

„So? Entschuldigung.“ Sich aufrichtend schob L die Hände zurück in die Hosentaschen und ging auf seinen jungen Delinquenten zu. In seine Ausführungen vertieft umkreiste er ihn, sodass sich Light klopfenden Herzens so vorkam, als wäre er eine vom Jäger in die Enge getriebene Beute. „Du hattest Recht, Light-kun. Rem ist sehr einfühlsam und weichherzig. Warum hatte sie uns alle aus dem Ermittlungsteam nicht schon längst aus dem Weg geräumt, obwohl sie unendlich viele Gelegenheiten dazu hatte? Was du wolltest, war Rem unbestritten egal. Es ging allein um Amane Misa. Du musstest Rem dazu antreiben, es zu tun. Darum hast du den Verdacht auf Misa-san mit Absicht verstärkt. Ein weiteres Indiz, mit dem ich Rem in der vergangenen Nacht eine Erkenntnis vermitteln konnte, nämlich dass du skrupellos genug bist, um Misa-san jederzeit für deine Zwecke über die Klinge springen zu lassen. Ich teilte ihr mit, du würdest vermutlich einen solchen Plan anstreben. Sollte Rem als Teil dieses Plans sogar draufgehen, indem sie dir zum Beispiel verbotenerweise meinen Namen verriet, hätte sie nicht einmal mehr die Möglichkeit, Misa-san weiterhin zu beschützen. Ich fragte sie, ob sie das verantworten könne, wenn Misa-san ihr doch so wichtig sein sollte. Dies alles würde sich für Rem aber erst anhand deines heutigen Vorgehens zeigen. Darum erhielt ich von ihr weder eine Versicherung noch irgendeine Antwort.“

„Warum, Rem?!“, rief Misa fast hysterisch, nachdem sie in den letzten Minuten lediglich stumm  geweint hatte. „Ich kann ohne Light nicht leben!“

„Doch, das kannst du“, widersprach Rem in gelinder Schwermut. „Ich bin mir jetzt sicher, dass du es kannst. Yagami Light war damals überzeugt, du würdest seinetwegen den Tod wählen, wenn du ihn verlierst, und ich habe mich von ihm blenden lassen. Aber er irrt sich, denn mir wurde eine Option eröffnet, dies zu überprüfen.“

„Die Augen eines Shinigami“, bestätigte L mit einem Nicken, „das bedeutet, ein Mensch kann sehen wie ein Shinigami. Kennt er das Gesicht, kennt er auch den Namen der Person. Allerdings ist das nicht das Einzige. Rem sagte etwas davon, Misa-sans Lebenszeit habe sich erneut halbiert.“

„Wegen der Namen, die sie eingetragen hat?“, fragte Matsuda im vermeintlichen Begreifen, worauf Light unmerklich die Augen verdrehte. „Damit könnten die Verbrecher gemeint sein, die gestern an Herzversagen starben, indem allgemein der Besitz des Heftes die Lebenszeit durch jeden Eintrag eines Namens verringert.“

„Bei der Masse an Opfern?“, entkräftete Aizawa unwirsch die Argumentation seines Kollegen. „Falls Amanes Lebenszeit sich aus einem solchen Grund bereits mehr als einmal um die Hälfte verkürzte, hätte Kira selbst schon längst tot sein müssen!“

„Oh, ja stimmt.“ Kurzzeitig ließ Matsuda seine Waffe ein wenig sinken.

„Außerdem passt es nicht zu Kiras Persönlichkeit, sich selbst derart ins Aus zu befördern“, ergänzte L und blieb vor Light stehen, um dessen ernsten und unnahbaren Blickkontakt zu erwidern, den die beiden Kontrahenten im Zuge der folgenden Erklärung kein einziges Mal trennten. „Erstens glaube ich, dass Kira, ähnlich wie ich, an seinem Leben hängt und es nicht sinnlos aufs Spiel setzt. Und zweitens braucht die Umsetzung seines Plans zur Verbesserung oder Vollendung der Menschheit oder der Kreation einer neuen Weltordnung unbestreitbar Zeit, die Kira nicht hätte, wenn er mit dem Notieren der Namen sein eigenes Leben vermindert.“

„Nun gut“, willigte Matsuda ein. Er wirkte ungewöhnlich introvertiert, als wollte er sich mental von der Situation distanzieren, um sich emotional nicht davon angreifen zu lassen. „Es gibt eine weitere Variante, die berücksichtigt, dass genau die Hälfte der Lebenszeit betroffen ist. Sobald man Eigentümer eines solchen Notizbuchs wird, könnte sich die Lebenszeit halbieren, quasi als Preis, den man zu Beginn bezahlen muss.“

„Das würde Sinn ergeben“, gestand L dem Polizisten zu, „wenn Misa-san einstmals ihr Besitzrecht aufgegeben und das Death Note danach wiedererlangt hat. Aber auch dieser Schluss stößt mich ab. So etwas hätte durchaus in den Regeln stehen können und Kira hätte das Buch mit dem Wissen darum vermutlich nicht verwendet. Nein, es ist etwas anderes.“

L sprach zügig und ohne Betonung, während er ungebrochen in die braunen Augen seines Partners schaute, selbst dann noch, als er sich im Folgenden an die Todesgöttin wandte.

„Rem, du bist meinen Fragen bezüglich des Handels aus dem Weg gegangen. Du meintest, du könntest mir nicht sagen, welchen Preis er fordert. Warum sollte Kira auf eine solch machtvolle Waffe verzichten, wenn ihm der Preis dafür nicht zu hoch erschien? Warum hat Higuchi so lange gewartet und den Handel erst abgeschlossen, als er kaum noch eine Wahl hatte? Der zweite Kira besaß das Augenlicht, weil er für den ursprünglichen Kira alles getan hätte. Amane Misa würde ohne Zweifel ihr Leben für Yagami Light geben. Oder auch nur...“ L machte eine bedeutungsschwere Pause, die seinen nächsten Worten mehr Nachdruck verlieh. „...die Hälfte davon. Und das sicherlich auch ein zweites Mal.“

Lights Mimik ermöglichte keinerlei Aufschluss darüber, inwieweit L mit seinen Mutmaßungen richtig lag. Natürlich war dem jungen Mörder so nicht beizukommen. Den Bruchteil einer Sekunde umspielte ein leichtes Lächeln die Mundwinkel des Meisterdetektivs.

„Wie auch immer“, redete L scheinbar teilnahmslos weiter, „allein aufgrund einer kopflos geäußerten Aussage konnte ich meine Hypothese nur auf Vermutungen bauen. Was aber die viel wichtigere Erkenntnis war, die ich aus meinen Überlegungen und später sogar aus meinen Befragungen gewinnen konnte, ist die Tatsache, dass Todesgötter über die Lebenszeit eines Menschen Bescheid wissen. Genau das ist es, was ich Rem gestern näherzubringen versuchte, damit sie stillhielt, sobald es ernst wurde und sich bewahrheitete, dass Kira sie benutzen will, um mich zu töten.“

„Es stimmt“, pflichtete diese ihm bei, „ich weiß, wie viel Zeit Misa noch bleibt.“

Jetzt endlich löste L die leer wirkenden Augen von seinem Delinquenten und richtete sie stattdessen auf die Todesgöttin.

„Wenn ich dich anlüge, Rem, oder wenn es nicht stimmen sollte, dass Misa-san es verkraftet, Yagami Light zu verlieren, dann wirst du es anhand ihrer Lebenszeit überprüfen können. Sogar einen Selbstmord müsstest du erkennen können. Und wenn das so ist, dann kannst du es noch immer aufhalten, indem du alle tötest, die Misa-san Schaden zufügen wollen, einschließlich mir selbst.“

„Das ist nicht möglich“, verneinte Rem. „Du denkst zwar auf selber Ebene wie Yagami Light, aber du hättest ni...“

„Wie konntest du dir sicher sein, dass Rem dich nicht tötet?“, fuhr Light ihr dazwischen.

„Das konnte ich nicht“, antwortete L sofort. Er trat näher an Light heran, starrte ihm unverwandt in die Augen und senkte seine ungewohnt sanft klingende Stimme. „Ich konnte nicht darauf vertrauen, Rem überzeugt zu haben. Diesmal habe ich nicht gelogen, Light-kun. Ich wusste es wirklich nicht.“

Nach wie vor wirkte das Geschehen auf ihn schwer greifbar, doch was Light hätte greifen können, befand sich direkt vor ihm, in seiner Reichweite. Er hätte nur seine Hand ausstrecken müssen, um L zu berühren und sich zu vergewissern, dass dieser tatsächlich kein Trugbild war. Light versuchte sein Herz zur Raison zu rufen und sich daran zu erinnern, in welch misslicher Lage er sich eigentlich befand.

„Mit Rem zu sprechen“, erklärte L verhalten, „ihr Zugeständnisse zu machen und sie davon zu überzeugen, was für Misa-san das Beste sein würde, war der einzige Ansatz, den ich hatte, um an sie heranzukommen. Sollten meine Schlussfolgerungen nämlich stimmen, dann stand nur Rem der Umsetzung meines Plans im Weg.“

„Der zweite Kira muss nicht zwangsläufig mit der Todesstrafe belegt werden“, entgegnete Light etwas lauter, damit auch die Todesgöttin es hören konnte. „Es kann genauso gut sein, dass Misa lebenslang im Knast landet. Was soll das für ein Leben sein? Das ist nicht besser als der Tod. Hast du daran nicht gedacht, Rem? Du könntest schlichtweg übers Ohr gehauen worden sein.“

„Bestimmt nicht“, versicherte L scharf, „denn um Misa-san zu schützen, kann Rem völlig unberechenbar handeln. Wenigstens mich könnte sie aus Rache töten, wenn Misa-san inhaftiert werden sollte. Ich habe auch jetzt noch Angst, dass sie außer dir und Misa-san alle hier Anwesenden umbringt. Darum bleibt mir gar keine andere Wahl, als Misa-san zu verschonen, zumal sie, sobald dieser Fall vollständig abgeschlossen ist, keine wissentliche Verantwortung mehr für ihre Verbrechen übernehmen kann. Auch diesen Sachverhalt ließ ich vorher Watari mit den Polizisten besprechen und meinen Vorschlag diesbezüglich von ihnen absegnen.“

Während Rem dem Schlagabtausch der beiden Männer beiwohnte, grub sie sich verärgert ihre knochigen Krallen in die kreidebleichen Handteller. Ohne Respekt wagten es diese zwei schwächlichen Menschen, die Todesgöttin zu benutzen und sie auf irgendeinem absurden, imaginären Kriegsschauplatz wie eine Spielfigur hin- und herzuschieben, um sie gegeneinander ins Feld zu führen. Am liebsten hätte Rem auf der Stelle ihrer beider Namen in das Death Note eingetragen. Nach dem, was die Todesgöttin bisher von der diesseitigen Welt zu sehen bekam, bestand die größte Macht und das stärkste Band zwischen den Menschen offenbar allein aus Lügen.

„Du solltest aufpassen, Light-kun“, ermahnte L seinen Partner mit einem flüchtigen Seitenblick auf das bedrohliche Geschöpf, „dieser Argumentation zufolge kann es genauso gut sein, dass Rem nur dich aus Eifersucht oder Wut tötet.“

„Ich hasse dich genug, Yagami Light“, ergriff die Genannte nun die Initiative, „um es wirklich zu tun. Aber ich weiß nicht, ob das einen Effekt auf Misas Lebenszeit haben würde.“

„Also verändert tatsächlich nur der Eingriff eines Shinigami respektive Death Notes die natürliche Lebensspanne eines Menschen“, fiel L verstehend ein. „Interessant.“

„Yagami Light.“ Die Todesgöttin baute sich vor dem jungen Mann auf, der kürzlich vorgehabt hatte, sie durch seine hintertriebenen Manipulationen zu vernichten. Zu ihrem Missfallen brachte dieser ihr jedoch keine Furcht, sondern nur seine übliche Arroganz entgegen. „Du wirst Misa niemals lieben. Und wenn ich sehe, wie sehr du hasst und zerstörst, was du liebst, dann ist das auch gut so. Aber ich werde Misa nicht aus den Augen lassen. Es war mein Fehler, dir damals zu offenbaren, dass ich mein Leben für sie opfern würde.“

„Opfern?“, fragte L neugierig. „Ich verstehe... deshalb wäre es dir nicht möglich, alle Leute hier umzubringen, weil du dafür gar keine Zeit hättest. Wie ich es vermutet habe, ist das die Konsequenz eines Regelverstoßes, die Auslöschung eines Shinigami, habe ich Recht? Aber warum? In Higuchis Wagen konntest du doch auch für Misa-san töten, nicht wahr?“

„Ja, das war ich.“ Rems Halswirbel gaben ein leises Knacken von sich, als sie in einer Geste der Bagatellisierung ihre Schultern nach oben bewegte. „Ein unbedeutender, wahlloser Tod, der nichts mit Misas Überleben zu tun hatte.“

„Mit ihrem Überleben...?“ Die schwarzen Augen des Detektivs weiteten sich interessiert. „Im Gegensatz dazu habe ich anscheinend Misa-sans Leben bedroht, zumindest sollte dir das suggeriert werden. Dennoch funktionierte das nicht, weil ich dir bereits versprach, Misa-san nichts zu tun, wenngleich du mir gestern noch kein Vertrauen schenktest. Heute hast du dich offenbar für das kleinere Übel entschieden, mit der besseren Aussicht für Misa-san.“

Die Todesgöttin deutete ein schwaches Nicken an. L musterte sie eine Weile mit aufgerissenen Augen, bis er sich wieder seinem Delinquenten zuwandte und beinahe verblüfft sagte:

„Nicht viele Menschen würden sich trauen, den Tod auszutricksen, indem sie versuchen, ihn umzubringen. Kluger Schachzug, Light-kun. In diesem Fall haben dich die Todesgötter allerdings hintergangen. Denn am besten begegnet man dem Tod, indem man sich mit ihm anfreundet.“

Unter der Zeit

Unter der Zeit

 

Es gibt kein Entrinnen vor den Tagen und Stunden. Kein Entrinnen vor dem Gestern und Heute. Ein Meilenstein auf der ausgetretenen Spur der Jahre. Wenn Kira nur etwas mehr Zeit bliebe, um sein Werk zu vollenden, dann würde er gewiss nicht versäumen, es mit dem Stempel der Gegenwart und Zukunft zu brandmarken. Beides erschien ihm so alltäglich wie klar. Kira würde darin den Menschen einen viel größeren Platz einräumen, einen unermesslich ausgedehnten Stellenwert, anstatt sie mit jenem beschränkten Raum zu versöhnen, der ihnen spärlich zugeteilt ward. Er würde das Leid der Menschen lindern, sogar auf die Gefahr hin, ihnen das Aussehen von Ungeheuern zu geben und sich selbst in das Gewand des Bösen zu kleiden.

Ins Visier genommen von den japanischen Polizisten verharrte Light unbewegt in der Mitte der Halle und überlegte, ob es noch eine Chance gab, dieser Situation zu entkommen. In seinem Inneren hatte sich die deformierte Unberührbarkeit seiner Person wie ein flüssiges Tuch aus Ruhe und Gelassenheit über seine Gliedmaßen gelegt. Es gab vielleicht eine Chance. Er hatte noch Zeit. Er hatte noch immer seine Armbanduhr.

Unterdessen trottete L im Weitersprechen zu der Sitzgruppe hinüber.

„Auf meiner Suche nach einem Ausweg aus der verzwickten Lage, in die du mich manövriert hast, musste ich mich in vielerlei Hinsicht mit dem Tod auseinandersetzen, was ich im Übrigen nicht nur auf Rem bezogen meine.“ Ungelenk stieg L auf einen der schwarzen Ledersessel und legte die Hände auf seine angewinkelten Knie. Light verzog keine Miene, obwohl ihm bewusst war, wovon der Andere sprach.

„Unter deiner Anleitung war auch Misa-san äußerst vorsichtig“, sagte L ein wenig verdrossen, „weshalb wir sie spät abends, nachdem sie ihre mörderische Stellvertreterarbeit erledigt hatte, im Schlaf zusätzlich betäuben mussten, um das Death Note unbehelligt auszutauschen.“

„Das ist unrechtlich“, kritisierte Light gegenüber den anwesenden Polizisten. Sie würden der Beweisführung des Meisterdetektivs sicherlich nicht hinreichend und in allen Einzelheiten folgen können. Womöglich zweifelten sie sogar jetzt noch an Lights Schuld, unter der Vorannahme, er sei von Kira manipuliert worden. „Ihr habt das zugelassen?“

„Wir wussten nichts davon“, rechtfertigte sich Matsuda unnötigerweise. „Ryuzaki hat das ganz allein durchgeführt und wir haben erst heute...“

„Das Death Note fanden wir ohnehin nicht“, unterbrach L den überflüssigen Wortschwall. Nichtsdestotrotz genügte Light diese Information. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren die hier anwesenden Personen die einzigen, die vom Ermittlungsstand und der derzeitigen Situation wussten. Kira musste sie bloß alle umbringen. „Auf deine Anweisung hin besaß Misa-san nur ein paar ausgerissene Seiten, was zugegeben auch ein Vorteil war, da es sich innerhalb der kurzen Zeit für Watari als einfacher zu fälschen herausstellte als ein vollständiges Buch. Beim Berühren der Seiten...“

„...war es unumgänglich, dass der Todesgott sichtbar wurde“, folgerte Light an Ls Stelle, „was euch wiederum den Beweis über die Echtheit des Papiers lieferte und nachdem...“

„...Misa-san gestern gegangen war“, fuhr L bestätigend fort, „und im Bewusstsein der Informationen, die ich daraufhin von Rem erhalten hatte, teilte ich Watari mit, er solle Wedy unterstützen und sich über die Anwesenheit des Todesgottes erkundigen.“

„Nachdem Misa...?“ Aufmerkend durchdachte Light das Geschehen des gestrigen Abends und suchte zugleich nach einem Weg, Zeit zu schinden. „Hast du Watari nicht bloß gebeten, dir von McDonalds einen Matcha-Milchshake mitzubringen?“

„Äh, ja“, gestand L etwas zerstreut, „das auch. Es ist wohl nichts Ungewöhnliches, wenn man ein bisschen gegen ein Mikrofon tippt, schätze ich.“

Light schloss verstehend die Augen und seufzte leise.

„Morsezeichen? Das kam mir nicht in den Sinn.“ Er tat, als würde er ernsthaft darüber nachgrübeln. Im Moment hatte er noch relative Bewegungsfreiheit. Seine Hände waren nicht gefesselt, aber den in seiner Armbanduhr versteckten Trumpf konnte er jetzt schlecht verwenden. „Zudem deine Angewohnheit, manches auf Latein oder Altgriechisch zu sagen, was ich nur bedingt übersetzen konnte.“ Würde man ihm die Uhr bald abnehmen oder hatte er später noch Gelegenheit, sie zu benutzen? Sollte er sein Mordwerkzeug besser vorher entfernen und es irgendwo am Körper verbergen? Da jedoch mittlerweile alle über das Death Note Bescheid wussten, würde selbst der kleinste Schnipsel verdächtig erscheinen. Hinzu kam die Tatsache, dass sich auf dem Papier nach wie vor Higuchis Todesurteil befand, geschrieben mit dem Blut seines Mörders.

„Wie ich dir bereits mitteilte“, erwiderte L, „habe ich in meiner Ausbildung verschiedene Sprachen erlernt. Gestern wollte ich von Watari wissen, ob der Gott des Todes wie erwartet bei Misa-san war. Du dachtest, du könntest verhindern, dass ich Aufträge erteile. Aber genauso wenig wie ich verhindern oder bemerken konnte, dass du Higuchi umbringst oder dich unbemerkt mit Misa-san austauschst, genauso konntest du mich nicht rund um die Uhr bewachen, an allen sieben Tagen der vergangenen Woche, in jeder Minute der vierundzwanzig Stunden eines Tages.“

Das entsprach unglücklicherweise der Wahrheit. Allerdings würden Light ebenfalls einige Lücken vergönnt sein, sobald man ihn in Haft nahm. Sicher, er kannte Ls wahren Namen nicht und konnte ihn noch nicht töten. Hätte der Meisterdetektiv seinen eigenen Namen in das Death Note eingetragen und es seinem Hauptverdächtigen triumphierend unter die Nase gerieben, selbst dann hätte Light mit diesem Wissen rein gar nichts anfangen können. Eine Person konnte nur einmal durch die Macht des Notizbuchs sterben.

„Sogar in deiner Anwesenheit“, fuhr L in der Zwischenzeit fort, „gab es weitere Optionen, über einen Computer zu kommunizieren. Würfelspiele zum Beispiel.“

Light runzelte die Stirn, als ihm die bislang vergessene Anomalie wieder einfiel.

„Diese merkwürdigen Sechserwürfelketten... Brailleschrift?“ Es konnte sein, dass nur zwei der Polizisten ihn abführten. Idealerweise konnte er dabei auf der Rückbank eines Streifenwagens unbemerkt an seine Uhr gelangen. Wenn er es geschickt anstellte, schaffte er es, mit dem winzigen Papierstück seine Freilassung zu bestimmen. Das sollte nicht schwieriger sein als die Ermordung Higuchis im Hubschraubercockpit. Danach würde Light weitersehen. „Und jetzt rückst du damit heraus wie ein Ganove, der seinen Masterplan verrät, um seinen Sieg auszukosten, oder wie darf ich das verstehen?“

„Kurz nachdem ein Gangster seinen Plan verrät“, formulierte L erstaunt, „wird er doch letzten Endes immer aufgehalten. Bist du da nicht ein wenig zu hoffnungsvoll?“

Unbewusst zuckten Lights Finger in Richtung seines Handgelenks, während sich die beiden Männer eindringlich taxierten, bis L schließlich leise sagte:

„Ich meine das auch in Bezug auf das, was du vermutlich gerade über deine Armbanduhr denkst, Light-kun.“

Aus der Fassung gebracht riss jener die Augen auf, seine Hand schnellte zu dem Tötungswerkzeug, zur gleichen Zeit, wie auch einer der Polizisten seine Waffe sofort im Anschlag hatte.

„Nein, Matsuda-san!“, rief L in aggressiver Panik. „Lassen Sie das!“

Unentschlossen, beinahe verstört wechselte Matsudas Blick von dem Meisterdetektiv zu Yagami Light, dem Sohn seines Vorgesetzten, den er stets bewundert und von dem er eigentlich angenommen hatte, er würde ihn kennen. Seine Beine zitterten, dagegen blieb die Schusswaffe in seinem verkrampften Griff völlig ruhig. Auf der Hut und höchst angespannt nickte Matsuda ruckartig, um zu zeigen, dass er sich unter Kontrolle hatte.

L hob in einer Geste der Jovialität die Hand und bedeutete Light damit, er solle sich an seinem Vorhaben nicht gehindert fühlen. Dieser zog daraufhin in unheilvoller Ahnung viermal rasch hintereinander an dem seitlich angebrachten Verstellrad seiner Uhr. Leise klickend sprang unter dem Ziffernblatt die präparierte Rückseite hervor. Entgegen seiner Erwartung war das winzige Schubfach in der Armbanduhr jedoch nicht leer. Darin befand sich ein sorgsam gefaltetes Stück Bonbonpapier.

Verfluchte Scheiße, wie konnte er das wissen? Und wann hat er...?

„Ich frage mich“, mutmaßte L, wobei er zwischen zwei Fingern ebenjenes vermisste Notizblatt hochhielt, „was uns ein Bluttest darüber verrät, um wessen Blut es sich hier handelt. Damit haben wir nicht nur einen Indizienbeweis, Light-kun.“

Regungslos und von einem Moment auf den anderen ohne Hintertür oder Handlungsspielraum stand Light wie erstarrt im Kreis der Sondereinheit.

„Legen Sie ihm bitte Handschellen an, Mogi-san“, forderte L den breitschultrigen Polizisten auf, welcher dienstbeflissen an Light herantrat, um ihn festzunehmen. Dieser wand sich unter der übermächtigen Kraft des stämmigen Mannes.

„Komm, sei vernünftig“, sagte Mogi ruhig, packte ihn versiert an den Armen und drehte sie Light auf den Rücken. Das längst vertraute Geräusch der sich schließenden Handschellen hallte in dessen Ohren nach wie eine in Rotation versetzte Revolvertrommel.

„Ryuk!“, brüllte Light zornentbrannt. „Ryuk, du hast mich verraten!“

„Ich habe dir gesagt, ich stehe auf keiner Seite.“ Der kratzige, stets leicht amüsierte Stimmklang kündigte den Todesgott bereits an, bevor dieser neben dem Eigentümer des Death Notes auftauchte.

„Wenn du keine Partei ergreifst, hättest du mich niemals verraten dürfen!“

„Nicht ganz, Light. Ich habe dir geholfen, sobald ich dafür etwas bekam und sei es auch nur meinen Spaß. Zu dem Zeitpunkt hattest du sowieso schon den Kürzeren gezogen.“

„Todesgötter essen nur Äpfel“, warf plötzlich L in die Debatte ein und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eine der Fotografien in die Luft, die skizzierte, wie Kira einst mit Hilfe diverser Verbrecher Botschaften an seinen Feind verschickt hatte. „Du bist damals nicht auf die Idee einer vierten Nachricht gekommen, weil du wusstest, dass es nur drei gab, ist es nicht so, Light-kun? Todesgötter sollen nur Äpfel essen? Rem hat das revidiert, aber in jeder kindischen Provokation steckt auch ein Funken Wahrheit. Du hättest deinen Todesgott vielleicht nicht wie ein Haustier umsorgen sollen. Dann wäre nicht aufgefallen, dass Misa-san ausgerechnet mit Äpfeln in den Wald zog. Äpfel sind eine Obstsorte, die sehr viel Zucker enthält, für ein figurbewusstes Model wie Amane Misa eine ungünstige Wahl, zumindest war es ein weiterer merkwürdiger Zufall auf einer ganzen Liste an erstaunlich unzusammenhängenden Phänomenen. Bemerkenswert, wie oft die Welt voll ist von offensichtlichen Dingen, die zufällig nie jemand bemerkt. Bei so viel Evidenz konnte ich schlecht davon ausgehen, dass Misa-san Rotkäppchen spielen und ihre Großmutter besuchen wollte.“

Also lag Light mit seiner Befürchtung richtig. Ryuk war der Einzige, dem er von der Armbanduhr und ihrer Funktionsweise erzählt hatte. Nicht einmal Rem wusste davon. Und um Ryuk zu beeinflussen, gab es nur eine Variante: Bestechung.

„Ich traf nach Mitternacht bei Misa-san ein“, erklärte L, augenscheinlich unbeschwert, „und führte, während wir die Seiten austauschten, mit deinem Shinigami ein kleines Gespräch, mit dem ich ihn davon überzeugte, dass wir genug gegen dich in der Hand hatten, um dein Verlieren quasi zu besiegeln. Wie gesagt, ich schloss darauf, dass Kira irgendwie beide Todesgötter zur Kooperation bewegt hatte, den einen aus Zuneigung für Misa-san, den anderen...“ Kaum sichtbar lächelte L. „Ich fürchte, Light-kun, durch meine Überzeugungsarbeit war deinem Todesgott schnell klar, dass er seinen Annehmlichkeiten bald abschwören musste. Denn dies wiederum war ein Anhaltspunkt, den Rem mir gänzlich kopflos offenbarte, dass es in der Welt der Todesgötter kaum Nahrungsmittel gibt und sie sich das Essen daher abgewöhnt haben, vermutlich weil das Vorhandene nicht allzu nahrhaft sein dürfte. Ich kann das gut verstehen. Auf süßes Essen verzichten zu müssen ist eine unangenehme Vorstellung.“ Der Anflug des Lächelns verschwand, stattdessen musterte L seinen jungen Delinquenten mit der Schärfe seiner leblosen Pupillen. „Irgendwo musstest du etwas von dem Death Note versteckt haben, womit du Higuchi töten konntest. Ich wusste nur nicht, wo. Darum hatte ich letzte Nacht ein paar Äpfel dabei, während ich bloß einige, sagen wir, unverbindliche Fragen stellte.“ Sorglos zuckte L mit den Schultern und setzte abschließend hinzu: „Wer hätte das gedacht, Light-kun? Ein paar Äpfel für das Geheimnis um eine Uhr.“

Light versuchte die Wut niederzuringen, die in seinem Inneren rumorte. Nun wurde ihm vollends bewusst, dass L die gleiche Strategie angewandt hatte wie er selbst. L hatte den personifizierten Tod für sich arbeiten lassen. In Folge dessen hatten sich beide Todesgötter gegen Kira gewandt und seinen Plan sabotiert. Er hätte gewonnen, wenn diese verfluchten Wesen ihm gehorcht hätten! Es war alles ihre Schuld. „Ryuk!“

„Hey, was sollte ich machen?“, verteidigte sich der in schwarze Fetzen gekleidete Todesgott mit einem Grinsen. „Es hat mich noch nie gejuckt, was du wolltest, Light. Ich habe dir nur erzählt, worauf ich gerade Lust hatte. Wieso sollte ich jemandem seine Fragen nicht beantworten? Schließlich rede ich gern mit Menschen, erst recht mit welchen, die mir Äpfel geben.“ Dann jedoch fügte er fast ein wenig kleinlaut hinzu: „Außerdem waren das Nicoter, nicht immer nur Fujis. Wie er da wohl rangekommen ist...?“

„Im Grunde genommen war das dein eigener Fehler, Light-kun“, verkündete L unbekümmert, „du hast mich mit deiner leichtsinnigen Provokation auf die Idee mit den Äpfeln gebracht. Leider konnte ich nur darauf spekulieren, dass mich der eine Todesgott nicht belügen und der andere sich meinem Plan anschließen würde. Insbesondere Rem war wie immer sehr verschlossen, nahezu entnervend verschwiegen. Du wolltest also den Todesgott benutzen, um mich zu töten, anstatt es Misa-san zu überlassen oder es selbst zu tun. Findest du das nicht ein bisschen feige?“

„Wie soll ich denn dein Vorgehen bezeichnen?“, zischte Light abwertend. „Du hast es doch genauso gemacht.“

„Um dich zu überführen, hätte ich mich von dir töten lassen.“ Ls Gesicht nahm einen dunklen, unergründlichen Ausdruck an. „Ich habe ernstlich überlegt, meinen eigenen Namen in das Death Note zu schreiben, bevor ich dir meinen Tod vorspiele, um sicher zu sein, dass ich deine Überführung miterlebe, allerdings hatte ich noch... eine vage Hoffnung, solange nicht alles festgelegt war. Vielleicht hätte mich Rem getötet oder dir tatsächlich meinen Namen verraten, vielleicht hätte Amane Misa meinen Namen gesehen und ihn auf einen Papierfetzen geschrieben, der uns entgangen war. So oder so hätte ich mich selbst als Beweis verwendet. Der jetzige Ausgang beruhte eher auf Zufall, Glück und Spekulationen, obschon ich mich auf solcherlei Ungenauigkeiten nicht gern verlasse. Ich konnte nur meine Spielzüge vorbereiten, verschiedene Lösungen bereitstellen und beobachten, was passiert, genauso wie du. Welch Ironie, dass eines dieser halb geplanten Resultate ohne die Hilfe der Todesgötter meinen Tod bedeutet hätte. Doch letzten Endes kam der Beweis deiner Schuld nicht durch dieses kleine Stück Papier in deiner, wie ich zugeben muss, sehr clever präparierten Uhr, sondern durch dich selbst, deine persönliche Offenlegung und... das Aufschreiben des Namens von deinem eigenen Vater.“

Der Meisterdetektiv schloss damit die Aufnahme des Tatbestandes und legte die Fotografie sowie den blutigen Papierschnipsel zu den restlichen auf dem Glastisch ausgebreiteten Beweismitteln, die ein lückenloses Bild zur Überführung Kiras boten. Dieser Fall war der bisher schwierigste und spannendste in Ls ganzer Karriere gewesen. Zum ersten Mal hatte er sich derart in Beschlag nehmen lassen. Und zum ersten Mal erfüllte ihn der Abschluss seiner Beweisführung nicht mit Zufriedenheit, sondern mit einem unguten Gefühl der Selbstverleumdung. Doch genau wie Kira hatte er keine Wahl. L musste tun, was er für richtig hielt.

„Light“, meldete sich endlich Herr Yagami zu Wort und unterbrach das unangenehme Schweigen im Raum. Vater und Sohn begegneten einander unverwandt und fremd, durch erbschaftliches Blut verbunden, durch mörderisch vergossenes Blut getrennt. „Du sagtest, dass ich es verstehen würde, Light, dass du versuchen würdest, für uns eine neue Welt zu erschaffen. Aber ich kann es absolut nicht verstehen. Das ist keine Gerechtigkeit!“

Konsterniert nahm Light das Unwissen dieser armseligen Ignoranten hin. Warum sträubten sie sich so sehr dagegen, Kira die Fürsorge um das Wohlergehen der Menschheit zu überantworten? Warum vertrauten sie nicht auf seine Weitsicht und Führung?

Bevor Light etwas erwidern konnte, sagte L ohne tadelnden Tonfall, allerdings auch ohne Zurückhaltung:

„Yagami Light besaß ungefähr drei Monate lang keinerlei Erinnerungen an das Death Note. Trotzdem konnte ich währenddessen in unseren zahlreichen Diskussionen und bei meinen Beobachtungen Aspekte von Kira in ihm entdecken. Seine Anlagen. Kiras Ursprung. Vermutlich mit dem Berühren des Death Notes sind seine Erinnerungen zurückgekehrt. Doch auch im Umkehrschluss habe ich im wiedererwachten Kira die Persönlichkeit von Light erkennen können. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Yagami-san, Sie können nichts dafür. Lights Moralempfinden und seine Ideale sind so stark ausgeprägt, dass sie sich durch die Macht dieses Notizbuchs abnorm in etwas verkehrten, das bei einem weniger idealistischen Menschen niemals denkbar gewesen wäre. In meiner zweimonatigen Analyse bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Yagami Light jederzeit, auch ohne Erinnerungen, wieder in ein ähnliches Muster verfallen kann. Ein solcher Soziopath darf nicht auf die Menschheit losgelassen werden.“

„Behandle mich nicht wie einen dreckigen Verbrecher!“, rief dieser erbost.

„Light, zügle deine Zunge!“, ging der Inspektor schneidend dazwischen und erntete einen abgehackten Laut des Spottes.

„Du willst mich jetzt noch zurechtweisen?“ Light lachte gequält, mehr gespielt als höhnisch. „Deinen missratenen Sohn, auf den du immer so stolz warst? Bis zuletzt hast du es nicht wahrhaben wollen, Vater, dass dein eigen Fleisch und Blut jener bösartige Dämon sein soll, den du seit einem Jahr unermüdlich gejagt hast. Dabei trifft alles zu.“

Auf Lights verzerrten Gesichtszügen, entstellt von Euphorie und abtrünniger Verzweiflung, spiegelte sich seine Hybris, als er mit bebender Stimme sagte:

„Ich bin Kira. Der Gott einer neuen Weltordnung.“

„Einer Ordnung, die deinetwegen im Chaos versinkt!?“ Herr Yagami war außer sich. „Was du getan hast, war egoistisch!“

„Egoistisch?“ Light reagierte verblüfft, seine braunen Augen waren leer und entrückt. „Natürlich, ich verstehe, wie blasphemisch und selbstherrlich von mir, nicht wahr? Aber ist ein Gott nicht bloß ein Schöpfer, ein Führer und Bewahrer? Habe ich denn die Menschheit gezwungen, sich mir zu unterwerfen? Noch bevor ich auch nur ein einziges Wort an sie richtete, erhoben die Menschen ihren Messias von ganz allein, weil sie ihn ersehnten und lange ohne Hoffnung waren. Was war die Welt denn für ein Ort, bevor Kira auftauchte? Überall Verbrecher, die von der Justiz nicht belangt werden, Opfer und Betroffene, im Stich gelassen von unserem Rechtssystem, einem System, das viel häufiger scheitert, als unser Staat es zugeben will. All das hat Kira geändert. Durch ihn ist die Verbrechensrate um siebzig Prozent gesunken. Ist das nicht die Welt, die du immer wolltest, Vater?“

„Ich wollte niemals einen Mörder zum Sohn.“ Herr Yagami trat drohend einen Schritt nach vorn. „Genau genommen sind die Verbrechen nicht zurückgegangen, zählt man die massenhaften Morde hinzu, die du begangen hast.“

„Der Tod des Bösen im Tausch gegen das Glück des Guten. Ich finde, das ist ein durchaus fairer Tausch. Das verbrecherische Potenzial zentriert sich nunmehr auf eine einzige Person.“ Light machte eine Pause und lächelte grimmig. „Nämlich auf mich. Ich allein trage jetzt noch die Schuld als meine Verantwortung.“

„Menschen zu töten ist keine Lösung für irgendetwas!“

„Ist die Todesstrafe in Japan also keine Variante, um sich die unliebsamen Individuen vom Hals zu schaffen?“

„Light, du hast Unschuldige ermordet.“ Der Chefinspektor schritt auf seinen Sohn zu und versuchte ihm seine irrige Anmaßung begreiflich zu machen. „Du hast sogar meinen Namen in das Death Note geschrieben. Du wolltest mich töten! Wie konntest du nur!?“

„Es mag sein, dass jeder von uns sich für die ganze Welt hält“, entgegnete Light kühl, „sobald wir jedoch fragen, wie der Rest uns sieht, wird uns klar, dass wir unter diesem Aspekt nichts weiter als ein unbedeutender Teil der Welt sind. Auch wenn für jeden von uns das eigene Glück wichtiger ist als das aller anderen, aus objektiver Perspektive ist es nicht wichtiger als das Glück eines jeden. Der Wert eines Menschen hängt davon ab, was für einen Nutzen er hat, was er für die Gesellschaft tun kann. Das hast du mir doch beigebracht, oder nicht? Darum ist Ls Wert nicht geringer als der von Kira. Wir sind stets angehalten zu entscheiden, was richtig oder falsch, was wertvoll oder entbehrlich ist und welche Opfer nicht vermieden werden können.“ Light registrierte das Unverständnis im Gesicht des älteren Mannes und seufzte. „Vater, angenommen, man würde dich vor die Wahl stellen, ob du deine Familie opferst, wenn du damit hundert andere Menschenleben retten könntest. Was würdest du tun?“

„Light!“

„Bitte antworte“, forderte dieser selbstbewusst.

„Wie kannst du mich so etwas fragen?“ Aufgewühlt ballte Herr Yagami die Hände zu Fäusten und suchte nach einer überzeugenden Antwort. „Ich weiß es nicht... aber du, deine Mutter, deine Schwester, ihr seid mir sehr wichtig. Ich fühle genau, dass ihr mir mehr bedeutet als hundert andere Menschen. Dennoch kann man niemanden gegeneinander verrechnen.“

„In Ordnung“, erwiderte Light gleichgültig, „wenn man dich zu einer Entscheidung zwingt, würdest du also auf den Kategorischen Imperativ oder den Bushido verweisen und aus idealistischem Prinzip heraus einfach alle sterben lassen, habe ich das so weit richtig verstanden? Wie nobel, Vater.“

„Untersteh dich, Junge!“ Herr Yagami packte seinen Sohn schmerzhaft an den Armen und schüttelte ihn heftig, sodass Mogi seinem Vorgesetzten beschwichtigend eine Hand auf die Schulter legte. Light ließ es über sich ergehen und sprach unbeeindruckt weiter:

„Ich bezweifle, dass du dich sogar unter diesen geringen Bedingungen für uns entscheiden würdest. Aber was ist, wenn jemand dir gegen das Leben von Mutter, Sayu und mir anbieten würde, über einer beliebigen Großstadt der Welt, meinetwegen direkt über Tokyo, eine Atombombe von mehreren Megatonnen Sprengkraft zu zünden?“ Das Gesicht des Chefinspektors wurde aschfahl. Light bemerkte es mit einer absurden Mischung aus Genugtuung und Bitterkeit. „Siehst du? Ab einem bestimmten Punkt hat jedes Leben seinen Preis. Und der liegt bei einem Menschen, nüchtern betrachtet, sogar unter dem Wert einer Patronenkugel.“

„Wie kannst du...?“ Der Chefinspektor bebte vor Zorn, sein Übergriff wurde energischer. „Ich bin dein Vater!“

„Yagami-san, beruhigen Sie sich“, beschwor L ihn mit Nachdruck und wandte sich gleichzeitig an die restlichen Polizisten. „Halten Sie ihn zurück.“

„Wenn ich dich verschone“, fuhr Light unbeirrt fort, „würde das bedeuten, dass ich mich selbst und die mir wichtigen Menschen über das Wohl der Gesamtheit stelle. Ich bewundere dich für das, was du tust. Ich bewundere die Arbeit der Polizei. Aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Gegen die wahre Ungerechtigkeit seid ihr machtlos.“

„Du machst dich über unsere Arbeit lustig!“ Seinen Griff brutal verstärkend rüttelte der Ältere erneut an den Armen seines Sohnes. Mogi versuchte ihn mit sanfter Gewalt zurückzuhalten und auch Matsuda kam angespannt näher. „Unser ehrenhaftes Streben ist eine Bestimmung, mit der wir die Sicherheit dieses Landes und Volkes gewährleisten!“

„Ich habe niemals meine Achtung vor eurer Bestimmung verloren, Vater. Ich achte dich ebenso, wie ich bedaure, dass dir oftmals die Hände gebunden sind. Das sture Befolgen von Regeln, ohne jemals zu hinterfragen, ist selbstverständlich schwierig. Damit macht man es sich bestimmt nicht leicht. Wie oft hast du mich um meine Meinung oder Mithilfe gebeten? Mutter meinte, du hättest dein Temperament noch nie gut unter Kontrolle bringen können. Wie oft hast du dich darüber aufgeregt, dass den Opfern kein Recht widerfuhr und sie stattdessen Schmähungen zu erdulden hatten? Wie oft hast du gewettert gegen die Unverschämtheit freigelassener Verbrecher, gegen die Unzulänglichkeit von Justiz und Behörden? Das einzige Verdienst deiner Mühen war die geduldige Hinnahme von Fußtritten, ist es nicht so?“ Einmal in Rage geredet, fiel es Light schwer, wieder aufzuhören, als würde all das aus ihm hervorbrechen, was er sich jahrelang zu sagen verboten hatte. „Ich wollte einmal von dir wissen, wie du das aushältst, warum du das alles pflichtgetreu erträgst. Du sagtest damals zu mir, ich solle niemals, unter keinen Umständen aufhören, Fragen zu stellen, doch eines dürfe ich dabei nicht vergessen... wer viel fragt, der viel irrt. Am Ende müsse ich mit mir selbst ins Reine kommen und eine Entscheidung darüber fällen, was ich für richtig hielte. Genau das habe ich getan. Ich habe mich entschlossen, euch auf meine eigene Art beizustehen. Kira sollte niemals die Polizei verdrängen, sondern euch helfen, sobald ihr an eure Grenzen geratet. Ich wollte euch die Verantwortung abnehmen, damit ihr euch nicht die Hände schmutzig machen müsst, damit es dich nicht mehr zermürbt, Tag für Tag der Ungerechtigkeit ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Ist es nicht das, was du dir immer gewünscht hast?“

„Das Gesetz ist nicht perfekt“, antwortete Herr Yagami erschüttert, seinen Sohn weiterhin schmerzhaft festhaltend, „noch sind es die Menschen, die es erschaffen haben. Aber es entsteht aus dem ewigen Streben nach dem Guten. Es ist ein langer Prozess, um den wir jeden Tag kämpfen. Das ist der einzige Weg. Nur so erlangen wir durch Recht und Ordnung, durch Justiz und Polizei am Ende Gerechtigkeit!“

Light lachte leise und nachsichtig.

„Denkst du das wirklich, Vater?“, fragte er mit unverhohlenem Mitleid. Es war zu seinem Bedauern unumgänglich, seinen Vater schonungslos zu desillusionieren. „Denkst du, ihr könntet es alleine schaffen? Dann muss ich dich wohl auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Die Polizei war gegen Kira völlig hilflos und hätte ihn auf legitime Weise niemals geschnappt. Wenn die Mittel unseres Rechtssystems ausreichen würden, hättet ihr nicht L gebraucht, um mich zu fangen.“

Herr Yagami schlug seinem Sohn hart ins Gesicht. Nie zuvor hatte er die Hand gegen ihn erhoben. Light schmeckte Blut, noch bevor ihn sein Vater erneut schlug.

„Haltet ihn auf!“, schallte Ls Stimme fast panisch durch den großen Raum, doch Mogi, Matsuda und Aizawa waren längst bei ihrem Vorgesetzten, um diesen von Light fortzuzerren, was ihnen selbst zu dritt kaum gelang. Wie in Raserei verfallen packte Herr Yagami seinen Sohn am Kragen. Der nächste Schlag traf Light mit solcher Wucht, dass er in die Knie ging. Kurz darauf spürte er die eiserne Umklammerung von Händen an seiner Kehle.

„Hören Sie auf! Yagami-san!“

„Light!“, schrie Misa ängstlich, da sie nicht sehen konnte, was vor sich ging. Watari hatte sich neben sie gestellt und nahm sich geflissentlich ihrer an.

Light bekam keine Luft, ein stechender Druck baute sich in seinen Schläfen auf. Reflexartig versuchte er seine Hände zu befreien und sich vor dem Angriff zu schützen, doch die Handschellen verhinderten jede Verteidigung und raubten ihm zusätzlich das Gleichgewicht.

„Lasst mich los!“, brüllte Herr Yagami hitzig, als es den anderen Polizisten endlich gelang, ihn von seinem Sohn wegzuziehen. Light fehlten daraufhin Orientierung und Kraft, um sich weiter aufrechtzuhalten. Er fiel vorwärts auf den kalten Fliesenboden, hustete und schluckte krampfhaft, während es in seinem Schädel unnachgiebig hämmerte. So sehr hasste ihn sein Vater also schon für die Entehrung, die er ihm zumutete.

„Lasst mich!“ Impulsiv bäumte sich Herr Yagami zwischen den anderen Männern auf, wehrte sich heftig, schlug und trat um sich. „Ich werde ihn töten! Er muss seine Schuld bereinigen und seine Ehre wiederherstellen. Wir werden gemeinsam für diese Schmach in den Tod gehen!“

„Ich bitte Sie, ziehen Sie sich zurück.“ Ls Anweisung klang streng und entschieden, begleitet von einer Spur tiefster Betroffenheit. Die drei Polizisten nickten ihm ernst zu, nachdem sie ihren Vorgesetzten unter Kontrolle gebracht hatten und ihn umsichtig Richtung Ausgang führten.

„Seien Sie versichert, Yagami-san“, teilte L dem Älteren abschließend mit, „Light wird seiner Bestrafung nicht entgehen. Sein Leben findet hiermit ein Ende. Das Death Note kommt an einen unzugänglichen Ort. Rem hat sich dazu bereit erklärt, Misa-san das Besitzrecht über das ihrige zu entziehen. Wir werden dieses arme manipulierte Mädchen von ihrer Schuld freisprechen. Denn schon die Thebaner im antiken Griechenland sagten, als Rechtsbrecher gelten die Führer, nicht die Gehilfen.“

L hatte sich seit dem Ausbruch des Chefinspektors vom Sessel erhoben. Nun ging er von der Mitte des Raumes hinüber zur Fensterfassade der Halle, den Polizisten, die wartend an der Tür standen, den Rücken zugekehrt.

„Fortan ist die Sonderkommission aufgelöst“, erklärte er mit schwerer Stimme. „Wahrscheinlich wird Interpol die Identität Kiras in der Öffentlichkeit verschleiern und auch der japanischen Polizei keine Informationen darüber zukommen lassen, um Protesten oder sogar einer Massenhysterie vorzubeugen. Zum Wohle Ihrer eigenen Familie, Yagami-san, würde ich vorschlagen, Sie teilen der NPA mit, dass Light bei seiner Ermittlungsarbeit von Kira getötet worden ist. Watari wird als mein Vertreter vor der ICPO zeitnah Stellung beziehen, bevor wir Light aushändigen. Anhand des japanischen Rechtssystems wissen Sie, dass eine Exekution unter Ausschluss der Angehörigen stattfinden kann. Erwarten Sie bitte nicht, davon in Kenntnis gesetzt zu werden, falls die Todesstrafe vollstreckt wird.“

„Light!“, rief der Chefinspektor aufgelöst und wand sich vergeblich. Vor Wut und Trauer liefen ihm ungehindert Tränen über das Gesicht. „Mein Sohn!“

Nach wie vor lag Light auf dem Boden, das kühlende Material der Fliesen an seiner pochenden Stirn. Seine Wangenknochen brannten, als würde er noch immer geschlagen werden, genauso wie seine Kehle, als würde sie noch immer umklammert werden, genauso wie sein Herz, als würde es noch immer Liebe für jenen Vater empfinden, den Light soeben verloren hatte.

„Yagami-san“, hörte er Ls besänftigende Stimme, bevor die vier Polizisten endgültig den Raum verließen. „Behalten Sie bitte immer in Erinnerung, um welches Versprechen ich Sie einst bat. Geben Sie niemals Ihre Berufung auf. Ich bitte Sie inständig. Und... vielen Dank für alles. Leben Sie wohl.“

Nichts

Nichts

 

Es war still geworden. Dumpf und tonnenschwer bedeckte die unausgesprochene Kapitulation den Leib des besiegten Gottes und drückte ihn nieder auf den Grund der Menschenwelt. Der Gefechtslärm war verhallt, doch in seinem Inneren fühlte Light noch immer das Toben des Krieges. Er vernahm sein eigenes Atmen, das aus nächster Nähe von den Fliesen zurückgeworfen wurde. Mehrmals schluckte er hart und allmählich ließen das Stechen in seinen Lungen sowie das Pulsieren seiner Schläfen nach. In der Mitte des Raumes liegend, unangenehm ins Zentrum gerückt und mit dem Schweigen der Umstehenden konfrontiert, kam sich Light entsetzlich bloßgestellt vor.

Er bewegte seine Beine, zog sie mühsam, durch die Fesselung seiner Hände eingeschränkt und auf frustrierende Weise unbeholfen, unter seinen Körper, um sich aufzurichten, blieb danach jedoch weiterhin auf seinen Knien. Den Kopf gesenkt blickte er zu Boden, wo sich in der spiegelglatten Oberfläche schattenhaft die Silhouetten der Todesgötter abzeichneten. Aus dem Augenwinkel sah er die reglosen Gestalten der restlichen Anwesenden; auf der einen Seite Watari, neben ihm Misa, deren Weinen verstummt war, und auf der anderen Seite, dem Fenster zugewandt, der Meisterdetektiv L.

Dieser drehte sich nun herum, zögerte kurz und ging dann mit langsamen Schritten durch den Raum auf seinen einstigen Ermittlungspartner zu. Ohne den Kopf zu heben beobachtete Light die nackten Füße auf den kalten Fliesen, hörte das Geräusch des über den Boden schleifenden Hosensaums, bis L schließlich bei ihm angelangt war und direkt vor ihm stehen blieb. Light kniete mit geneigtem Haupt auf der rechteckigen Untergrundplatte wie ein Angeklagter auf dem Shirasu, dem weißen Sand der Wahrheit, vor dem Podest des richterlichen Magistraten. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so entwürdigt gefühlt.

Von einem leisen Rascheln der weiten Kleidung begleitet ging L in die Hocke. Light kam nicht umhin, für einen Moment erbittert die Augen zu schließen. Sein Herz hämmerte unangenehm gegen die Innenwände seiner Rippen. Er wollte jetzt nicht hier sein. Er wollte einfach nur verschwinden.

Eine Hand erfasste seine Wange, ließ Light wegen der unerwarteten Geste überrascht die Lider öffnen, Finger legten sich unter sein Kinn und hoben es an. Lights Gemüt verdüsterte sich erneut, obwohl er fortwährend mit seiner Wahrnehmung haderte. Konnte es denn ein Trugbild sein, wenn sich Ls Berührung so erbarmungslos echt anfühlte?

Aus nächster Nähe schaute Light geradewegs in jene durchdringend schwarzen Augen.

Und ganz leise, fast flüsternd, sagte L daraufhin in die Stille:

„Diesen Blick wollte ich schon immer bei dir sehen.“

„Wenn Blicke töten könnten“, raunte Ryuk bösartig kichernd hinter ihm, „dann wären seine Augen effektiver als das Death Note.“ Etwas brüskiert begutachtete L den Todesgott flüchtig von der Seite. Kira hatte mit seinem Shinigami tatsächlich keinen allzu günstigen Fang gemacht. Dessen taktloses Benehmen ignorierend wandte sich L wieder seinem Partner zu.

„Das war ziemlich hart, was du deinem Vater eben gesagt hast, Light-kun.“

„So ist es leichter für ihn“, antwortete dieser emotionslos. „Ich hoffe nur, dass er sich das alles aus Scham nicht zu sehr vorwirft. Er trägt keine Schuld.“

„Ich kann es nicht“, mischte sich jetzt Rem aus dem Zusammenhang gerissen ein. „Vorhin habe ich mich zwar nicht dagegen geäußert, aber Misa muss das Besitzrecht von sich aus aufgeben. Ich kann sie nicht dazu zwingen, wenn sie nicht will.“

„Das musst du auch nicht“, richtete sich L teilnahmslos an die Todesgöttin. „Wir werden das zweite Death Note finden und verbrennen.“ Der Detektiv bemerkte die ungläubig starre Musterung seines Delinquenten und reagierte darauf arglos mit einer selbstverständlich erscheinenden Erläuterung. „Warum so erstaunt, Light-kun? Diesmal war es keiner der Shinigami. Diese zwei letzten Regeln betreffen im Gegensatz zu denen auf der vorderen Umschlaginnenseite, von deren Echtheit ich wiederum überzeugt bin, nicht die Handhabung des Notizbuchs, sondern dessen Konsequenzen. Sie unterscheiden sich daher inhaltlich von den ersten Regeln und passen zudem überraschend vorteilhaft in dein Konzept. Die eine diente dazu, euch von jeglichem Verdacht reinzuwaschen, darum gehe ich davon aus, dass du selbst sie von dem Shinigami in das Heft schreiben ließest. Da ihr beide, sowohl du als auch Misa-san, trotz eurer eindeutigen Schuldigkeit am Leben seid, muss die 13-Tage-Regel falsch sein. Ihre nachträgliche Hinzufügung bedeutet außerdem, dass die darauffolgende Regel höchstwahrscheinlich ebenfalls erfunden ist. Wieso sollte über einer echten Vorschrift ausreichend Platz für eine eventuelle Fälschung sein? Diese zwei Beschränkungen mussten also zur gleichen Zeit eingetragen worden sein. Stünde das Verbot zur Vernichtung des Notizbuchs nicht unter einer Attrappe, hätte ich weniger an dessen Authentizität gezweifelt. Aber du brauchtest eine Sicherheit, damit niemand das Death Note zerstörte. Logische Konsequenz war die allerletzte Regel.“ L stand auf und wandte sich in gekrümmter Haltung dem blonden Mädchen zu. „Wedy konnte sich in der bewaldeten Gegend, wo das Heft offensichtlich versteckt war, nicht genügend nähern, ohne dass sie aufgeflogen wäre. Bisher war es uns leider nicht vergönnt, dort etwas zu entdecken. Also, Misa-san, wenn du möchtest, dass Light-kun nichts geschieht, dann verrat uns, wo sich dein Death Note befindet.“

Die junge Frau, die mit ihrem jugendlichen Kleidungsstil und kindlichem Verhalten häufig darüber hinwegtäuschte, wie erwachsen sie de facto war, verzog das Gesicht zu einem störrisch abweisenden Ausdruck. Sie wirkte unsicher und verletzlich, hatte darüber hinaus jedoch nichts von ihrer Entschlossenheit eingebüßt. Wie hätte ihr Ryuzaki auch drohen können, wenn er ohnehin vorhatte, ihren Freund verurteilen und hinrichten zu lassen?

„Misa“, sprach Light seine Komplizin gefasst an, „du weißt, was zu tun ist.“

Ein winziges Grübchen vertiefte kaum sichtbar ihren Mundwinkel, als Misa mit einem leichten Nicken sagte:

„Ryuk, hiermit gebe ich das Besitzrecht an dem Death Note auf.“

„Nein!“, fuhr L verärgert dazwischen. Allerdings zuckte der Todesgott bereits, nachdem er seine erste Irritation überwunden hatte, gelassen mit den Schultern und erwiderte mit einem Grinsen:

„Wie du willst.“

Die Anspannung löste sich vom Körper der jungen Frau. Ihre Mimik wandelte sich von selbstbewusster Willensstärke zu ängstlicher Verwirrung, als sie sich in einer Situation wiederfand, die ihr nicht begreiflich erschien, gefesselt und ihres Augenlichtes durch ein dunkles Stoffband beraubt.

„Was ist los?“ Ihre dünne Stimme war erfüllt von Furcht. „Mister Stalker, sind Sie das wieder? Light, was passiert hier?“

„Keine Angst, Misa. Ich bin hier. Es ist alles in Ordnung.“

Glucksend verdrehte Ryuk seine Gliedmaßen und raunte dem Meisterdetektiv amüsiert zu:

„Scheint, als würde dir hier einiges aus dem Ruder laufen, kann das sein?“

„Watari.“ Genervt setzte L eine finstere Miene auf. „Bringen Sie Misa-san bitte fort und lassen Sie uns allein.“

„Ryuzaki.“ Der ergraute Herr runzelte voller Bedenken die Stirn.

„Ich bin sicher“, beruhigte L seinen Gehilfen mit Nachdruck, „keine Sorge.“

Zögerlich nickend erfasste Watari den Oberarm Misas, um sie aus dem Raum zu führen.

„Ich will nicht“, wehrte diese verständnislos ab. „Bitte, ich möchte bei Light bleiben!“

„Geh mit ihm, Misa.“ Die Worte klangen sanft, doch dahinter vibrierte Lights Stimme von einem nur schwerlich unterbundenen Lachen. „Mach dir meinetwegen keine Gedanken.“

Widerwillig fügte sich Misa. Trotz der Augenbinde offenbarte ihr Gesicht zahlreiche Zweifel und eine unterschwellige Konfusion. Ihr Verstand schien benebelt, als hätte sie wissen müssen, wie sie in diese Situation geraten war, aber nichts ergab mehr einen Sinn. Eben noch war alles logisch und nachvollziehbar und auf einmal kam sich Misa vor wie in einem Traum, welcher sie plötzlich mit der Aufforderung konfrontierte, den eigenen Rückweg zu schildern. Konnte man sich an den Anfang eines Traumes erinnern? Misa glaubte, etwas vergessen zu haben, einen wichtigen Sachverhalt oder eine Erkenntnis über... Ryuzaki? Ryuzaki, der ihr stets merkwürdig vorkam, der manchmal allerdings cool und lustig war. Ryuzaki, Lights Ermittlungspartner und bester Freund. Oder etwa nicht? Wenn das stimmte, warum verhielt sich Ryuzaki dann so? Misa hatte etwas in Erfahrung gebracht, eine Mitteilung von diesem gruseligen Geschöpf mit den grauweißen Klauen. Nein, solch eine Chimäre konnte nicht der Realität entspringen. Es musste das Produkt eines irrtümlichen Glaubens sein. Hatte sie nur geträumt, dass Light in Wirklichkeit Kira war?

„Ich bin jederzeit abrufbereit“, sagte Watari mit einer angedeuteten Verbeugung, bevor er sich gemeinsam mit Misa zurückzog. Kaum waren die Türen hinter ihnen zugefallen, drehte sich L eilends um.

„Wo ist es, Shinigami?“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Ryuk in einem Tonfall, der verdeutlichte, dass ihm absolut nichts leidtat. Er legte den Kopf schief und grinste. „Wie gesagt, ich stehe weder auf Lights noch auf deiner Seite. Eigentlich müsste ich längst zurück in die Welt der Todesgötter, nun da mein schönes Death Note keinen Besitzer mehr hat.“

„Selbst wenn er wollte“, fügte Light im Widerspruch zu seiner momentanen Position hochmütig lächelnd hinzu, „er kann es dir nicht sagen, Ryuzaki. Auch ich kann es nicht sagen. Ich weiß nicht, wo es ist. Aber ich habe Vorkehrungen getroffen. Wenn du mich tötest, wirst du früher oder später sterben. Dafür habe ich gesorgt.“

Missgestimmt kniff L zur Hälfte seine Lider zusammen und starrte Light prüfend an.

„Das ist doch nur ein armseliger Bluff.“

„Wer weiß?“

„Womit du mich auch überzeugen willst und wie sehr ich es persönlich auch bedauere“, entgegnete L so schmerzlich wie entschieden, „Yagami Light wird ausgelöscht. Seine Existenz wird eliminiert.“

„Ryuk.“ Zwanghaft überging Light das beißende Stechen und Drücken seines Brustkorbs, den Schwindel im Kopf und den Schauer der Hysterie, der ihm über den Nacken jagte und seine Atmung erzittern ließ, während er sich schwankend erhob. „L wird das Death Note nicht benutzen. Er wird mit Sicherheit beide vernichten, falls er das andere überhaupt findet. Du wirst die Menschenwelt verlassen müssen und dich wieder langweilen. Willst du das? Wenn du das verhindern willst, dann schreib seinen wahren Namen auf. Ich habe dir noch so viel mehr zu bieten.“ Neben sich stehend, seine Emotionen und jede humane Regung niederringend, fixierte Light den Gott des Todes. „Schreib, Ryuk. Schreib nur diesen einen Namen für Kira in dein Death Note.“

„Nur einen einzigen Namen?“

Weiß glühend stachen die pupillenlosen Augäpfel des Todesgottes aus den Konturen seines dämonischen Antlitzes hervor. Seine Pranke langte nach dem Notizbuch, das sich in einer Halterung an seiner Hüfte befand. Gleichzeitig zückte er eine organisch geformte, mit Totenschädeln besetzte Schreibfeder.

All das nahm Light nicht mehr wahr. Er hielt dem Blick seines feindlich gesinnten Freundes stand und kämpfte innerlich gegen Überschwang und Panik. Was sich zwischen den beiden Männern abspielte, glich einer unbewegten Scharade. L sah ihn mit einer furchtlosen Gewissheit an, die er Light nun beschwörend zu vermitteln schien: Verlass dich nicht auf ihn, er wird dir nicht helfen.

„Nein, warte“, wies Light den Todesgott schneidend an, ohne L aus den Augen zu lassen.

„Skrupel, Light?“, fragte Ryuk in amüsiertem Erstaunen und hielt inne. „Das wäre neu bei dir.“

„Nein“, wiederholte dieser resolut, obgleich seine Worte tonlos und leer klangen, „in der jetzigen Situation würdest du niemals Ls Namen aufschreiben. Im Gegensatz zu Misa glaube ich nicht, dass es notwendigerweise Liebe ist, die einen Todesgott vernichtet. Ich glaube, dass er nicht gegen seine Natur handeln darf. Wenn er das Leben eines Menschen wissentlich verlängert, wofür starke Zuneigung sicher ein Auslöser sein kann, damit er etwas Derartiges überhaupt in Betracht zieht, so führt er damit seine eigene Existenz ad absurdum. Rem hätte damals, als ich ihr zu warten befahl, für mich Ls Namen aufgeschrieben, weil kein erkenntlicher Zusammenhang zu meinem Ableben bestand.“ Light bemerkte, wie sich im Zuge dieser neuen Informationen auf dem Gesicht des Detektivs eine Spur Neugier abzeichnete. Es spielte keine Rolle mehr, wie viel er jetzt noch preisgab. Er konnte die Karten offen auf den Tisch legen. Schlimmer hätte es ohnehin nicht mehr kommen können. „Falls du ihn jetzt aufschreibst, Ryuk, könnte das deinen Tod bedeuten. Das würdest du niemals riskieren. Du hast mir kein einziges Mal geholfen, sobald ich in die Enge getrieben war. Darum ist der Name, den du eigentlich aufschreiben willst...“

„...dein eigener, Yagami Light.“

Endlich wandte der junge Mörder seine Aufmerksamkeit dem geflügelten Verhängnisbringer zu, der sardonisch auf ihn herabgrinste und dessen Federspitze bereits das tödliche Papier berührte.

„Ich sagte doch, bevor du stirbst, werde ich es sein, der deinen Namen in das Death Note einträgt. Wenn du dich Hilfe suchend an mich klammerst, weiß ich, dass du am Ende bist. Und jetzt sieht es so aus, als hättest du verloren.“

„Light-kun.“ Zurückgezogen, den Kopf gesenkt, die müden Augen versteckt hinter seinen schwarzen Haarsträhnen, schien sich L zu scheuen, seinem einstigen Freund weiterhin ins Gesicht zu schauen. „Ich muss gestehen, dass ich dir die Auslieferung an die Justiz lieber ersparen möchte. Vermutlich... ist es deshalb besser so.“ Light spürte, wie seine Beine schwach wurden. „Es brennt dir doch auf der Zunge, dich zu rechtfertigen, nicht wahr? Dann ist das hier wohl deine letzte Gelegenheit... Kira.“

Indem L diesen Namen aussprach, legte er die Identität von Yagami Light fest, als wäre jener längst gestorben. Vielleicht war er das ja wirklich. Nein, natürlich war er das. Krampfhaft schluckend versuchte sich Light einzureden, dass er tatsächlich nichts mehr empfand, weil Kira ihn umhüllte, ihn bis ins Mark ausgehöhlt hatte. Es existierte keine Menschlichkeit mehr in diesem leeren Gott. Er konnte gar nichts mehr empfinden. Light verschloss die Augen vor der Realität und lächelte bitter, doch seine Lippen zitterten dabei.

„Das Einzige, was ich wollte“, begann er nüchtern, „war die Verbesserung der Welt in einer Gegenwart und nahen Zukunft, die ich mit ausgestrecktem Arm erreichen kann, sofern man mich nicht aufhält. Du hattest ganz Recht, L. Meine Persönlichkeit, meine Anlagen, ich war schon immer, wie du es vorhin nanntest, soziopathisch gestrickt. Es kann so nicht weitergehen, das dachte ich bereits als Schüler, bevor ich das Death Note fand. Soll ich mich etwa der Masse ergeben, meine Hände in den Schoß legen und wie alle anderen ignorieren, was um uns herum falsch läuft, obwohl ich daran etwas ändern könnte?“ Nach wie vor ein Lächeln zeigend drehte Light den Kopf in Richtung des Shinigami, sein Blick jedoch glitt durch diesen hindurch, verlor sich geradeaus im Nirgendwo. „Warum ich den Tod fürchte, liegt nicht daran, dass ich Angst vor einer Bestrafung hätte. Ich wusste, dass mein Werk mir entgleitet, sobald ich es als Wegweiser nicht mehr anleite. Dennoch ist die Revolution bereits in Gang gesetzt und lässt sich nicht mehr stoppen. Was ich angefangen habe, wird vorerst nicht untergehen. Nichts ist so stark wie eine Idee, ein eingepflanzter Gedanke. Kira ist in den Köpfen der Menschen verankert. Sie werden diese Idee nicht vergessen, auch wenn bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes von Welt und Menschheit nichts mehr eine Rolle spielt. Das ist es, was ich gern verhindern würde, nämlich dass mein Kampf am Ende sinnlos gewesen sein wird.“ Seine Stimme vibrierte vor unterdrückter Erheiterung und Selbstironie. „Dass es keine Bedeutung hatte.“

Zwischen hilflos zuckenden Lidern suchte die schmale Iris seiner rotbraunen Augen vergeblich nach Blickkontakt. Warum verbarg sich L vor ihm, anstatt ihn wie sonst intensiv zu mustern? Ein knappes Lachen stahl sich aus Lights schmerzender Kehle. Danach fuhr er umso kälter fort.

„Im Grunde hat nichts eine Bedeutung. Nichts bedeutet irgendetwas. In einigen Jahrtausenden wird es die Menschheit wahrscheinlich nicht mehr geben, wenn wir es nicht sogar in nächster Zeit schaffen, uns in die Luft zu sprengen. Die Existenz von Kira kann eine Regression verhindern. Wenigstens ein paar Menschen, die es schon lange verdient haben, können sich beschützt und glücklich fühlen. Was bedeutet es, zu gehen? Sollen wir etwas hinterlassen? Für die Nachwelt? Wie diese... Inzeption eines Gedankens, die Eingebung zu einer perfekten Welt, nur ein erster, kleiner Anstoß? Etwas Größeres als das kann man den Menschen gar nicht zum Geschenk machen. Doch selbst in diesem Fall, wenn sich jemand an uns erinnert, wenn wir ein Zeichen gesetzt oder eine bahnbrechende Entdeckung gemacht haben, wird irgendwann, sobald die Menschheit ausgelöscht ist, nicht einmal ein Bruchteil dieser Vergangenheit überdauern. Nach dem Tod zerfällt der Rest unseres Körpers in irgendeinem Grab zu Erde, zu Asche, zu Staub. Es gibt keine unsterbliche Seele oder etwas Ähnliches, das dann noch von uns übrig bleibt. Wir verschwinden im Nichts und keine einzige Handlung, kein einziges Wort von uns hatte irgendeine Bedeutung. Jetzt ist es noch groß und wichtig, es schmerzt oder erfüllt uns mit Freude. Aber zum Schluss verschwindet das alles und zurück bleibt absolute Leere. Warum also sollte ich überhaupt jemals glücklich sein wollen? Stattdessen möchte ich so lange wie möglich für mein Ideal überleben, weil nur die Gegenwart zählt. Ist es denn falsch, alles aufs Spiel zu setzen, um meinem Dasein endlich einen Sinn zu geben, auch wenn ich dabei eine Eskalation herbeiführe? Da ich schon so viel Macht besitze und jede Veränderung etwas Gutes ist, kann ich für dieses Gut auch Böses tun. Die Welt gehört denen, die lieber zu weit gehen als zurück.“

Ohne sich Einhalt zu gebieten kam jeder neue Satz von ganz allein. Light wollte sich nicht rechtfertigen. Er wollte nichts hinauszögern. Im Durcheinander seines Geistes war ihm selbst nicht klar, was er eigentlich wollte. Abwesend betrachtete er die gebeugte Gestalt seines Freundes. Vielleicht hatte er es bisher einfach nicht aufgegeben, Ls Verständnis zu gewinnen.

„Es ist nicht alles verloren“, erklärte Light gezwungen optimistisch. „Manchmal gibt es Schönheit in dieser Welt, die bereits an allen Ecken und Enden zu verrotten droht. Moral oder Mitgefühl kann man den Menschen nicht beibringen, aber man kann ihnen antrainieren, sich gut und richtig zu verhalten. Je mehr Schuld ich auf mich lade, desto sicherer und reiner können die Gutmütigen und Schwachen sein, ohne sich dafür zu schämen, was sie sind. Sie müssen nicht stark sein, solange ein Einzelner das für sie übernimmt. Für das Allgemeinwohl ist nichts weiter als dieses geringe Opfer vonnöten. Ich handle nicht anders als unser Staatssystem, nur weitaus effektiver. Damit die Welt gut und schön, damit sie perfekt wird, muss alles Hässliche und Schlechte getilgt werden. Um die getöteten Verbrecher ist es doch nicht schade, die haben es verdient, zu sterben. Sie haben ihr Recht auf Leben verspielt, weil sie die Guten unterdrücken und ihnen suggerieren, man solle Böses tun, sonst müsse man in dieser auf Leistung basierenden Gesellschaft untergehen. Man solle nach oben buckeln und nach unten treten, um nicht in dieser stinkenden Kloake an Verdorbenheit zu ersaufen. Schlechte Menschen sind wie eine Seuche, die sich ausbreitet, wenn man sie nicht entsprechend behandelt. Sie sind wie ein Krebsgeschwür, das gesundes Gewebe befällt. Mit dem Death Note als Waffe habe ich meinen Füller wie ein Skalpell angesetzt, um das kranke Gewebe herauszuschneiden.“

Kaum vernehmlich seufzte Light. Er merkte, wie seine Vernunft verworrener wurde, je weniger der Meisterdetektiv ihn beachtete.

„Siehst du das nicht, L?“, fragte er verzagt. „Ich heile die Welt. Ich schütze ihre schlummernde Perfektion und säubere sie von dem Dreck, der ihre Reinheit nur beschmutzt.“

„Jetzt“, reagierte L endlich leise, „klingst du zum ersten Mal wirklich wie ein Monster.“

„Ryuzaki?“ Einen kurzen Moment hörte sich Lights Stimme zerbrechlich und jung an, sein Blick bat um Hilfe, während seine Beine das eigene Gewicht nicht mehr trugen, sodass er verwirrt in die Knie ging. Er versuchte den Schmerz in seinem Inneren zu betäuben, den Ls Aussage ihm zufügte. Hinter seinem Rücken bohrte er sich in plötzlicher Wut die Fingernägel in seine gefesselten Handgelenke. Ein gehässiges Grinsen aufsetzend und um Kaltblütigkeit bemüht sah er zu seinem Gegenspieler empor.

„Überrascht? Bin ich also doch nicht so, wie du mich eingeschätzt hast? Sogar der großartige L durchschaut offenbar nicht alles, wenn er sich in die Abgründe der menschlichen Seele begeben muss. Du willst dir ein Urteil erlauben, obwohl du keine Ahnung hast, wie es da draußen abläuft. Du verlässt ja nicht einmal dein Zimmer. Lieber verbirgst du dich vor den Menschen, observierst sie über Monitore, kommunizierst mit ihnen über Mikrofone, eingeigelt zwischen deinen Süßigkeiten und angeekelt von jeder menschlichen Berührung.“ An diesem Punkt wandelte sich Lights Boshaftigkeit in nachdenkliche Resignation. „Fast jeder. Wahrscheinlich bin ich der Einzige, den du je so nah an dich herangelassen hast. Ist das nicht traurig? Gerade ich, den du so sehr verachten müsstest.“

Langsam regte sich L. Verschlossen und in sich gekehrt lugte er unter seinem pechschwarzen Haarschopf hervor zu Light. Dieser lächelte humorlos, wobei er mit dem Kopf eine auffordernde Geste machte.

„Komm her.“

Misstrauisch trat L einen Schritt näher. Durch seine hochgezogenen Schultern und die krumme Körperhaltung wirkte er beinahe verschreckt.

„Ryuzaki, ich werde dir schon nicht dein Ohr abbeißen.“

„Ich bin mir da nicht so sicher, Light-kun.“ Dennoch ging der Detektiv erneut vor seinem Delinquenten in die Hocke. Light spähte abwechselnd zu den Todesgöttern hinüber, die als stumme Beobachter der Szenerie beiwohnten. Den Seitenblick bemerkend beugte sich L äußerst zaghaft, die Hände umsichtig an die Oberarme des Anderen legend, zu ihm nach vorn.

„Wenn du begreifen könntest“, flüsterte Light daraufhin sanft in sein Ohr, „würde ich dich verschonen. Ich würde dich vor jeder Unbill und jedem Leid bewahren, das dir diese grausame Welt zufügen will, vor der du dich so verzweifelt versteckst, L. Wenn du dich mir hingibst, werde ich dich für immer beschützen.“

„Light.“ Sich erhebend wich L vor ihm zurück, die Augen in Zweifel und Unglauben geweitet. Es war keine Abscheu, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte. Light schaute ihm irritiert hinterher. Er verstand nicht, weshalb jener vor ihm zurückschreckte. Etwa weil Yagami Light ein Monster war? Offenbar jagte er L nur noch Angst ein. Bitter und abfällig ließ ihn diese Einsicht schmunzeln.

„Gut so, L. Fürchte und verachte mich für das, was ich bin. Was die Welt aus sich hervorgebracht und aus mir gemacht hat, um sich selbst zu retten. Es wundert mich nicht, dass du in Wahrheit gar nicht sehen willst, was sich hinter der Maske verbirgt, die du mir herunterzureißen versuchtest, obwohl du das so felsenfest behauptet hast.“

Keine Antwort. Nur ein weiterer Schritt, den L scheu vor ihm zurückwich. Mit Unbehagen sah Light die Distanz zwischen ihnen wachsen. Eine unsichtbare Kluft schien den Raum in der Mitte zu spalten und die beiden Partner unwiderruflich voneinander zu trennen. Light wunderte sich, ob sein Feind denn nicht gleichzeitig sein Freund gewesen war. Warum fiel ihm erst jetzt auf, wie absurd diese Hoffnung sein musste? Hatte ihn seine Einsamkeit unvernünftig und schwach werden lassen? Schlussendlich wurde Light bewusst, dass er sich bloß etwas vorgemacht hatte. Bis zuletzt hatte er geglaubt, jemanden gefunden zu haben, der ihn verstand und ihn wirklich so sehen wollte, wie er war. Er hätte es wissen müssen. Wie hatte er glauben können, dass L ihn gleichfalls...

Lights Denken blockierte. Der Druck in seinem Hals, den Schläfen und hinter den Augen verwirrte seinen Verstand. Rasch senkte er den Kopf, damit man ihm seine Emotionen nicht vom Gesicht ablesen konnte. Doch für den Bruchteil einer Sekunde sah er in den tiefgründigen Pupillen, dass L es bereits bemerkt hatte: seine eben gewonnene Erkenntnis. War er wirklich so blind gewesen? Plötzlich meinte Light, alles deutlich erkennen zu können. Es hätte ihm klar sein müssen, dass L ihm alles, was zwischen ihnen geschehen war, nur vorspielte, um ihn angreifbarer zu machen. Und er war wie ein Idiot darauf hereingefallen! Unmöglich, das konnte nicht, das durfte einfach nicht sein. War das alles nur Lüge? War nichts davon echt? Das Relikt dessen, was ihm am wertvollsten geworden und was er zu opfern bereit gewesen war, entpuppte sich als Verrat und betrügerisches Nichts. Irgendetwas schien Lights Herz zu zerreißen. Ungezügelt breiteten sich Zorn, Hass, Verzweiflung und Ohnmacht in ihm aus. Er wollte schreien, weinen, wüten oder irgendein anderes Ventil finden, damit dieser unerträgliche Gedanke nicht seine heftig schmerzende Brust zersprengte.

Stattdessen brach aus dem Tumult in seinem Inneren ein Lachen hervor.

Ein kalter Tag im November

Ein kalter Tag im November

 

„Natürlich“, gratulierte Light dem Meisterdetektiv in desolater, zynischer Belustigung, „jetzt ergibt alles einen Sinn. Du sagtest, du rechnest menschliche Emotionen bei deiner Ermittlungsarbeit mit ein. Und du ließest Dinge geschehen, um zu sehen, was sich daraus ergibt, sogar wenn du dich dabei selbst als Köder aufs Spiel setzen musst. Ich war unvorsichtig, verunsichert, verwirrt, habe am laufenden Band Fehler gemacht. Glückwunsch, L. Ich bin dir voll in die Falle gegangen.“

„Light-kun, nein, ich...“

„Genug!“, schnitt dieser ihm das Wort ab. „Du musst mich nicht noch mehr erniedrigen, obwohl ich es verdient habe. Wie konnte mir das...?“ Seine bebende Stimme erstarb. Light hasste sich dafür und hielt weiterhin den Kopf gesenkt. Leise und stockend lachte er über seine eigene Dummheit und rang dabei vergeblich nach Luft, sodass es zwischen seinen Atemzügen klang, als würde er schluchzen. Es tat weh. Es tat so verdammt weh. Er starrte auf seine Hosenbeine, seine Sicht verschleiert. Wenn er kurz zuvor noch gedacht hatte, er könne sich kaum stärker gedemütigt fühlen, dann wurde er nun eines Besseren belehrt. In diesem Moment wäre Light dankbar gewesen, auf der Stelle von diesem zerreißenden Schmerz befreit zu werden. Das hier war die schlimmste und qualvollste Niederlage von allen.

„Und nun, L? Möchtest du es jetzt zu Ende bringen? Schließlich bin ich das Monstrum, das du töten willst, weil du dich fälschlicherweise als gerecht bezeichnest. Dabei ist Kira die einzig wahre Gerechtigkeit.“ Seine eigenen Aussagen kamen ihm wie inhaltslose Hüllen vor. Dennoch klammerte er sich an sie wie ein Ertrinkender an die Planken seines gesunkenen Schiffes. Es war das Einzige, das er jetzt noch hatte.

„Kira ist nur ein geisteskranker Massenmörder“, erwiderte L, „und ich frage mich, ob es nicht sogar gnädig wäre, ihm seine Bürde abzunehmen und ihn zu töten.“

Jeder Satz schien Light eine weitere Wunde zu schlagen. Ein kleiner, menschlicher Teil von ihm wünschte sich, L würde anders mit ihm umgehen. Der andere Teil jedoch redete mit der Stimme seines eigenen vergifteten Geistes, als spräche Kira selbst, niederträchtig auf ihn ein. Du bist so ein Dummkopf, Light. Sieh dich an, so schwach und erbärmlich. Und du willst die Menschen beschützen? Du kannst dich ja nicht einmal vor dir selbst schützen. L hat dich niemals geliebt. Er hat dich niemals geliebt. Er hat dich niemals geliebt. Er hat dich niemals...

„Das kannst du nicht“, übertönte Light seine sich im Kreis drehenden Gedanken und schüttelte abwehrend den Kopf. „Recht wird von der Masse der Gesellschaft bestimmt. Die meisten stehen mittlerweile hinter Kira und akzeptieren ihn als die Gerechtigkeit. Das heißt, wenn du mich tötest, tust du automatisch Unrecht.“

Ryuk brach in schallendes Gelächter aus. Maliziös sirrte das Lachen durch den Raum und hallte wie ein Donnern von den Wänden wider, bevor es in einem krankhaften Kichern verebbte. Bei diesem teuflischen Geräusch stieg Übelkeit in Light auf. Eine eisige Gänsehaut vereinnahmte seinen gesamten Leib. Schwindelerregende Haltlosigkeit bemächtigte sich seines Verstandes, jenem Gefühl vergleichbar, das man empfand, wenn man auf einem schmalen Grad über dem Abgrund balancierte, zwischen Höhenflug und Sturz, zwischen Glorie und Wahnsinn. Zum Schluss wurde Gottes Untergang also durch sein personifiziertes satanisches Gespenst herbeigeführt, von dem er seit Anbeginn seiner Schöpfung besessen war.

„Es stimmt, Light-kun“, lichtete eine lindernd ruhige Stimme seine mentale Vernebelung. „Ich kann es nicht.“ Das Denken fiel Light schwer, war einerseits zähflüssig, andererseits rasend und holprig, seinem unkontrollierten Herzschlag ähnlich. L konnte es nicht. Was konnte er nicht?

Fortdauernd von einem Kichern geschüttelt schob Ryuk sein Death Note zurück in das Halfter und schnallte es mit einem Riemen fest. Rem hingegen blieb völlig ungerührt. Sie betrachtete den halb auf dem Boden knienden Mann geringschätzig, jedoch ohne offensive Aggression. Light fokussierte geistesabwesend ihre unverhüllte, schlitzförmige Pupille und hörte sich selbst an den Meisterdetektiv gewandt sprechen, noch bevor er sich seiner eigenen Erkenntnis wirklich bewusst war.

„Hast du Rem etwa versichert...?“

„Deine Kombinationsgabe ist wie stets beachtlich“, formulierte L eine anerkennende Bestätigung. „Ich musste wohl oder übel Amane mit ins Boot holen. Sie wird es verstehen, wenn wir ihr erklären, dass niemand von deiner, nennen wir es, geheimen Mission erfahren darf. Es ist, nach der Lösung des Falles, am wichtigsten, Kira aus dem Verkehr zu ziehen.“

Die Worte sickerten nur allmählich zu Light hindurch, einen Inhalt vermittelnd, den er erst sukzessive zu entschlüsseln vermochte.

„Wenn ich dich hinrichten lasse“, fügte L hinzu, „würde Rem wahrscheinlich mich töten. Das wäre trotz Kiras Ableben kein guter Dienst an der Menschheit, schließlich ist L ein wichtiger Faktor für die Sicherheit der Welt, nicht wahr? Ich konnte Rem keine Gewissheit dafür geben, dass Amane sich nicht aus Liebeskummer tötet, wenn du stirbst, darum habe ich ihr versprochen, nicht bloß Misa-san, sondern auch dich zu verschonen.“

„Allein ein Death Note kann einen Effekt auf die Lebenszeit eines Menschen haben“, widersprach Rem hierauf gleichgültig. „Der Tod von Yagami Light wird, solange nicht durch den Eintrag seines Namens vollzogen, keinen Einfluss auf Misas restliche Lebenszeit haben. Meinetwegen wäre es mir recht, einfach zu sagen... bring ihn um.“ Sie trat einen Schritt auf die beiden Männer zu und baute sich in voller Größe vor ihnen auf, während sie Light mit ihrem einzig sichtbaren Auge durchbohrte. „Vor meiner Bekanntschaft mit Misa habe ich niemals eine derartige Sympathie für jemanden empfunden. Auf der anderen Seite, indem ich dir begegnete, Yagami Light, lernte ich auch, was purer Hass bedeutet. Es ist wahrlich selten, welch Genugtuung ich allein bei der Vorstellung daran empfinde, deinen Namen in mein Death Note zu schreiben, zusammen mit diversen Ergänzungen, die dich dazu zwingen würden, dir bei lebendigem Leibe deine Extremitäten abzuschneiden oder dir eigenhändig die Haut vom Fleisch herunterzureißen.“ In der Tat, das war bestimmt keine wohltuende Angelegenheit. Resultierend aus seiner derzeitigen emotionalen Verfassung konnte sich Light allerdings leidlich ausmalen, wie es sich anfühlen musste, in Stücke gerissen zu werden.

„Nichtsdestotrotz“, relativierte Rem, „möchte ich, dass Misa glücklich ist. Und das ist sie nur, solange Yagami Light lebt. Es ist besser, wenn ich auf diese Weise über sie wache, anstatt durch meine Auslöschung jegliche Kontrolle zu verlieren.“ Sie hob eine ihrer Skelettpranken und richtete eine Kralle direkt auf Lights Gesicht. „Dir fehlen jetzt die Mittel, um Misa etwas anzutun. Ich werde aufpassen, dass ihr nichts geschieht.“ Ihr Zeigefinger wanderte hinüber zu L. „Auch auf dich werde ich achten, damit du dich an unsere Vereinbarung hältst.“

Daraufhin meinte L gleichermaßen verblüfft wie leichtfertig:

„Obwohl wir selbst die Todesgötter für unsere Belange benutzten, halten sie uns umgekehrt quasi als Geiseln. Nun, es hätte nichts geändert.“ Seinem typischen Gebaren entsprechend vergrub er die Hände in den Taschen seiner ausgeleierten Jeanshose und fixierte Light wie eh und je, nicht länger gehemmt vom vorgeführten Bühnenstück, das mit dem Fallen des Vorhangs zum Abschluss kam. „Ich hätte dich ohnehin nicht töten wollen. Ich sagte, du würdest deiner Bestrafung nicht entgehen und das Leben von Yagami Light fände hiermit ein Ende. Das war soweit auch richtig.“

„Aber der Rest war gelogen, Light!“, platzte es glucksend aus Ryuk heraus. „L ist fast so gut wie du, wenn er sein Umfeld nach Strich und Faden belügt! Ich könnte dich jederzeit in mein Death Note schreiben, war sogar nah dran, es echt zu tun, als du dich so bescheuert aufgeführt hast. Doch es gibt noch etwas, das ich viel interessanter finde. So eine absurde Entwicklung hätte ich mir nie träumen lassen. Die Rettung nach Kiras finaler Ansprache! Wie heroisch, Light. Ich musste aufpassen, dass ich unterdessen nicht lospruste.“ Während Lights Mimik erstarrt blieb, musterte L den lachenden Todesgott skeptisch. Teils angewidert, aber ohne erkennbare Emotion im Tonfall, fragte er seinen jungen Kollegen:

„Ist der immer so?“

„Meistens“, antwortete Light mechanisch. Ein vom furchteinflößenden Kichern erfülltes Schweigen nahm einige Sekunden den Raum zwischen ihnen ein, bis sich ein entrücktes Lächeln auf die Lippen des jungen Mörders stahl. „Da keiner von euch mich töten will, kannst du doch ganz unbehelligt Ls Namen aufschreiben, Ryuk. Du wirst es nicht bereuen.“

„Doch, würde ich“, korrigierte dieser amüsiert und unbedarft. „Vielleicht nicht so sehr wie du, aber immerhin. Es würde langweilig werden ohne ihn. Außerdem mag ich L. Ich denke da wie du, Light. Menschen sind so armselig und trotzdem interessant. Bei ihnen wird einem nicht langweilig und wenn sie interessant sind, dann macht es umso mehr Spaß, mit ihnen zu spielen. Ich bin gespannt, wie du dich hier wieder rauswinden willst.“

Vollends in sich zusammensackend ließ Light die Schultern, den Kopf, die braunen Haare in sein gesenktes Gesicht hängen und blickte leer zu Boden. Wurde Kira begnadigt? Oder war dies seine Verurteilung? Er verspürte ein widersprüchliches Gemisch aus Misstrauen und Abneigung jener inakzeptablen Amnestie gegenüber, dazu den Wunsch nach Buße genauso wie nach Befreiung und letztlich Erleichterung darüber, dass die Vollendung der Menschheit nicht gänzlich misslungen und erst recht nicht verloren war.

Derweil drang in die Wirrnis seiner Gedanken die ruhige Stimme des Meisterdetektivs.

„Es tut mir leid, dass ich deinen Vater mehr oder minder anlügen musste, aber er würde dich töten, wenn du ihm in die Hände fällst. Andernfalls, wenn du dein Gedächtnis verlieren und weiter mit deiner Familie leben würdest, wäre die Bürde des Wissens um deine Schuld eine Last, die ich ihm nicht auferlegen möchte. Yagami Light wird als verschollen gelten, wahrscheinlich in den Selbstmord getrieben anhand einer Manipulation von Kira. Durch diese Maßnahme habe ich dich am Ende doch getötet.“

Die Existenz von Yagami Light wurde eliminiert. Angespannt schaute der gefangene Mörder hinauf zu seinem Richter. Denn endlich verstand er, was mit dieser Formulierung gemeint war.

In kurzen Bahnen auf und ab laufend erklärte L nachdenklich:

„Bei ihrer Inhaftierung habe ich erleben dürfen, wie überaus verschwiegen Amane Misa ist. Auf diese Diskretion können wir guten Gewissens bauen. Sie wird niemandem etwas verraten. Wir lassen sie in dem Glauben, du seist zusammen mit L noch immer auf der Suche nach Kira, der offenbar aus Angst aufgehört hat, Verbrecher zu töten. Wir konnten deduzieren, dass Kira absichtlich den Verdacht auf Yagami Light gelenkt hat, um L in die Irre zu führen. Darum muss diese Strohpuppe erst aus dem Weg geräumt werden, damit Kira sich nicht mehr dahinter verstecken kann. Du hättest daraufhin deinen eigenen Tod inszeniert, um dich vor seinen Angriffen zu schützen und gleichfalls eine Möglichkeit zu haben, wie L deine Identität zu verschleiern. Etwas in der Art werden wir ihr sagen.“

„Ich verstehe nicht.“ Überfordert von den Worten und seiner darin festgelegten Position schüttelte Light den Kopf. „Was hast du vor?“

Ruckartig blieb L stehen. Er betrachtete seinen Partner, als käme ihm dessen Anwesenheit erst mit der verbalen Unterbrechung wieder zu Bewusstsein. Hierbei tauchte er aus den eigenen Überlegungen auf wie aus tiefem Wasser.

„Weißt du, Light-kun, ich kann dich leider nicht deiner Familie oder dem Justizwesen überlassen“, gestand L sowohl gleichmütig als auch trotzig, „weil ich dich haben will.“

„Wie meint er das jetzt?“, fragte Ryuk ein wenig stumpfsinnig aus dem Hintergrund.

„Das kannst du nicht nachvollziehen“, entgegnete Rem abfällig.

Erneut schüttelte Light in einer Geste des Unglaubens den Kopf.

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Mein voller Ernst, Light-kun. Mit deiner Hilfe wird sich die Effizienz von L um mindestens siebzig Prozent steigern. Ein solches Talent und Potenzial zu vergeuden wäre der Gesellschaft gegenüber schier verantwortungslos. Selbst wenn ich dafür eigenmächtig handeln und einmal mehr gegen das Gesetz verstoßen muss. Ich würde alles tun, damit du mir gehörst.“

„Um dich an meiner Niederlage zu laben?“

„Nein, ich...“

„Lass es!“, hinderte Light ihn mit einem bitteren Ausruf am Weitersprechen. „Ich will nicht hören, welche Lüge du mir als nächstes auftischst. Ich würde dir ohnehin nicht glauben.“

Er atmete stockend, um Fassung bemüht und durcheinander. Es fiel ihm schwer, zu begreifen, was er angesichts der jüngsten Entwicklungen überhaupt empfinden sollte.

Damit er sich sammeln konnte, gönnte L ihm stumm eine Auszeit, bis Light nach einer Pause vorwurfsvoll sagte:

„Du hast mich annehmen lassen, ich müsste sterben. Was sollte das? Wolltest du mich bloßstellen? Wozu hast du mir erst dieses Lügenmärchen erzählt und mich zum Reden aufgefordert?“

„Reine Neugier“, antwortete L in milder Selbstverständlichkeit. „Als ich sagte, ich wolle alles von dir, meinte ich das im vollen Umfang und mit allen Konsequenzen. Das war die beste Gelegenheit, um diesen Aspekt deiner Persönlichkeit kennen zu lernen. Den Part mit deinem Wahnsinn können wir jetzt wohl abhaken.“

„Du verfluchter...!“ Entrüstet brach Light ab, als ihm die unverfrorene Äußerung des Anderen die Luft aus den Lungen trieb. „Mich am Leben zu lassen, ohne mich und mein Werk anzuerkennen, noch dazu aus deiner Position, das ist nicht nur Hohn, sondern Unrecht! Es ist illegitim. Kriminell. Eine umgedrehte Form von Selbstjustiz!“

„Du weißt, was ich von der Todesstrafe halte.“ Ein solches Veto konnte nur der weltbeste Detektiv einzulegen wagen, der überall und nirgends beheimatet war, um die Gerechtigkeit jedes Landes zu vertreten. „Laut deiner Meinung macht der Tod jeden Menschen gleich. Du bist davon überzeugt, danach ins Nichts einzugehen. Also wäre deine Hinrichtung keine Strafe, sondern eine Erlösung. Würde ich dich ausliefern, könntest du niemals deine Sünden begleichen.“

„Du willst ihn echt verschonen“, erkundigte sich Ryuk verdutzt, „obwohl er dich jederzeit umbringen wird, wenn er die Gelegenheit dazu erhält?“

„Er wird keine Gelegenheit dazu bekommen.“

„Du drehst dir das Recht auch, wie du es gerade brauchst, kann das sein?“ Ryuk grinste beängstigend vergnügt. „Wolltest du ihn nicht zum Schafott geleiten?“

„Warum wird mir das ständig vorgehalten?“, erwiderte L unzufrieden. „Das habe ich doch nur so gesagt.“

„Dann hoffe ich für dich, dass du nicht ebenfalls nur so gesagt hast, ich könne in der Menschenwelt bleiben und so viele Äpfel essen, wie ich will. Ansonsten schaffe ich mir vielleicht doch noch einige Seelen vom Hals, bevor man mir den Spaß verdirbt.“

„Hier wird rein gar nichts verdorben sein“, versicherte L unwirsch, „weder die Äpfel noch dein Spaß.“ Im Folgenden wandte er sich insbesondere an Rem, wobei er hinüber zum Glastisch deutete, auf dem zwischen Akten und Fotografien das schwarze Notizbuch lag. „Shinigami, dieses Death Note dort befindet sich momentan im Besitz von Yagami Light, richtig?“

„Ja“, pflichtete Rem ihm bei, „das Eigentumsrecht ging durch den Mord an Higuchi Kyosuke auf ihn über.“

„Ist dies das ursprüngliche Heft des ersten Kiras?“

Rem nickte zustimmend.

„Dennoch ist es an dich gekoppelt, trotz deiner engen Beziehung zu Amane Misa. Das heißt, Rem ist tatsächlich der eigentliche Shinigami des zweiten Kiras und Ryuk der des ersten?“

Die Todesgöttin nickte erneut.

„Ihr habt die beiden Hefte demnach getauscht, nehme ich an.“

„Das ist korrekt.“

„In Ordnung, darüber wollte ich mir nur eindeutige Klarheit verschaffen.“ Auf seinem Daumennagel herumkauend überlegte L einen Moment, bis er einen Entschluss fasste. „Rem, gestern meintest du, von der Welt der Shinigami aus könntest du zu uns herabschauen. Demzufolge kannst du nach einem neuerlichen Wechsel des Besitzrechts sowie deiner Heimkehr weiterhin auf Amane Misa Acht geben.“

Minimal zögernd nickte Rem ein drittes Mal. Sie wusste, sobald sie in die Welt der Todesgötter zurückkehrte, konnte sie Misa zwar beobachten, doch war es ihr von dort aus verboten, einen Menschen zu töten, der Eigentümer eines Death Notes war. Sollte einer der beiden Männer zu diesem Zeitpunkt ein solches Besitzrecht innehaben, hatte sie keinerlei Befugnis über ihn. Freilich brauchte niemand davon zu erfahren. Ein Todesgott war nicht verpflichtet, alle Regeln offenzulegen.

Kurz vergewisserte sich Rem, indem sie zur Seite schielend Ryuks Reaktion auskundschaftete, ob dieser die getätigten Aussagen dementieren würde. Zu ihrem Glück stellte er die Schlussfolgerung des Detektivs nicht in Abrede. Möglicherweise wusste er nicht einmal von einer solchen Vorschrift, hatte er doch häufig keine Ahnung vom Regelwerk der Shinigami.

Als wollte er ein Dekret verkünden, erhob L nun die Stimme.

„Von heute an befindet sich Yagami Light in meiner Gewalt und wird als Erstes das Besitzrecht an dem Notizbuch aufgeben.“

Der Genannte stieß auf das Postulat hin ein verächtliches Lachen aus.

„Wie kommst du darauf, dass ich mich deinem Willen beuge, Ryuzaki? Was ist, wenn ich mich weigere?“

„Wenn du nicht kooperierst, kann ich das Heft noch immer vernichten, Light-kun.“

„In beiden Fällen wird er seine Erinnerungen verlieren“, wandte Ryuk betrübt ein. „Es wäre öde, ihn umzubringen, ohne seine Panik auszukosten. Muss das wirklich sein?“

„Das ist nur eine Maßnahme für den Tausch“, erklärte L gelassen. „Ob er seine Erinnerungen später zurückerlangt, obliegt ihm selbst. Es ist seine Entscheidung.“

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag starrte Light den Meisterdetektiv fassungslos an. Ohne sich eines ungebührlichen Verhaltens bewusst zu sein fragte dieser unbescholten:

„Möchtest du das, Light-kun?“

„Du willst mir ernsthaft das Death Note nach dem Wechsel wieder aushändigen, damit ich meine Erinnerungen zurückerhalte? Woher soll ich wissen, dass du das nicht bloß behauptest, um mich gefügig zu machen? Wieso solltest du etwas Derartiges überhaupt wollen und es mir gestatten? Anders wäre es wesentlich einfacher für dich.“

„Selbstredend.“ L zuckte beiläufig mit den Schultern. „Es wäre... vernünftiger. Würde ich nur eine Seite von dir kennen, könnte ich mich damit sogar begnügen. Aber das reicht mir nicht. Ich will nicht nur Yagami Light, sondern auch Kira. Ich will euch beide.“

Zischend entwich Light ein Laut der Ablehnung. Er traute seinen Ohren nicht. L spielte ein Spiel mit ihm. Er setzte den Kampf fort, indem er Kira an sich band, ihn entwaffnete, unterwarf und zusätzlich durch die in Zukunft ausgeübte Kontrolle verhöhnte. Früher oder später musste L dieses wahnwitzige Vorhaben unter Garantie mit dem Leben bezahlen.

Eine atmende Stille schickte eine Schneise der Verwüstung durch Kiras Geist. War dies der versteckte Sieg in der bislang allumfassenden Niederlage, ein Bündnis mit seinem Widersacher, einst geknüpft durch die Fesselung der Handschellen, fortan aneinandergekettet durch das Schicksal ihrer gegenseitigen Abhängigkeit? Hatte er L etwa auf gleiche Weise in seine Gewalt gebracht? Es war zumindest eine Chance. Vielleicht konnte er L von der Richtigkeit seines Tuns überzeugen, ihn gehorsam machen, ihn beschützen und besitzen. Er konnte L noch immer für sich gewinnen. Wenn er es schaffte, in der nächsten Partie zu siegen, erhielt er das Anrecht auf den Verlierer, ganz bestimmt. Dann wurde L sein Preis. Seine Belohnung. Doch für diesen Gewinn musste er vorläufig seine Niederlage anerkennen.

Erschöpft, wütend und höchst widerwillig spürte Light, wie er den Kopf mechanisch zu einem Nicken bewegte.

„Das dachte ich mir“, quittierte L die Geste seufzend. „Du sollst allerdings wissen, dass ich dich später ein zweites Mal vor die Wahl stellen werde, ob du das Heft zurückbekommen willst. Ohne Erinnerungen. Sobald du erfährst, wer in Wirklichkeit Kira ist. Solltest du dann etwas anderes wünschen, werde ich keine Rücksicht auf deine jetzige Entscheidung nehmen, Light-kun.“

„Einverstanden“, willigte dieser monoton ein. „Ich werde meine Meinung ohnehin nicht ändern.“

„Das vermute ich auch. Gut, dann bleibt jetzt nur noch eines.“

L trottete hinüber zu der Couchgruppe und kramte auf dem Tisch in den Aktenbergen und Materialien herum, bis er schließlich ein faustgroßes Gerät zu Tage förderte. Er kehrte damit zu seinem Gefangenen zurück, der seine Handlungen misstrauisch verfolgte. Neben ihm ging L in die Hocke und umfasste wortlos dessen flach auf dem Boden ruhendes Fußgelenk. Der unerwartete Ruck, mit dem Light am Bein nach vorn gezogen wurde, brachte ihn ungewollt aus dem Gleichgewicht. Empört fluchend rebellierte er gegen den Übergriff, aber L ignorierte das verärgerte Aufbegehren. Anstatt ihn freizugeben, hielt er seinen Partner resolut umklammert, um das schwarze Gerät am Knöchel nahe über dem Rand des Schuhs zu befestigen.

„Halt bitte still, Light-kun. Das ist eine elektronische Fußfessel.“

„Du demütigst ihn wohl gern?“, stellte Ryuk belustigt fest, während seine rhetorische Frage von Lights zornigem Protest übertönt wurde.

„Das wirst du mir büßen, L!  Sobald ich deinen Namen erfahre, bist du tot!“

„Ich glaube, dass du es genauso wenig tun könntest wie ich. Zumindest nicht eigenhändig.“

Konzentriert hantierte L am Sicherungsverschluss zwischen den gewölbten Bandenden herum, während sich Light in halb liegender Position seinem Griff zu entwinden versuchte.

„Sei dir da bloß nicht zu sicher! So oder so, irgendwann werde ich dich besiegen. Dann wirst du dich mir mit Freuden unterwerfen und verstehen, dass nur Kira die wahre Gerechtigkeit sein kann!“

„Du vergisst dich, Light-kun. Dein Größenwahn wird dir mit der Zeit das Genick brechen.“

„Glaub nicht, dass von diesem Punkt an irgendetwas wieder so sein wird wie zuvor, Ryuzaki, dass ich auf diese Weise mit dir noch irgendeine absurde Art von Freundschaft fortführen kann!“

Ls Bewegungen kamen unvermittelt zur Ruhe. Bedacht hielt er das Fußgelenk seines Freundes sanft umschlossen und schaute ziellos durch die Nähte an Schuh und Hosensaum hindurch. Nach einigen Sekunden stummen Schmerzes regte er sich langsam. Reserviert und schweigsam brachte er sein Tun zu einem Abschluss, ohne dass sich Light weiter gegen ihn zur Wehr setzte.

„Wir werden sehen“, sagte L endlich leise. „Das nehme ich in Kauf. Am wichtigsten ist erst einmal dein Überleben.“

Die Einsamkeit aus Nähe und Distanz bedeckte sie wie jener schwere Herbstregen, in welchem die Außenwelt ertrank. Es war ein kalter Tag im November. Der letzte Tag ihrer erdichteten Freundschaft.

Vorsichtig strich L ein paar der braunen Haarsträhnen aus dem abweisend gesenkten Gesicht seines Partners und meinte behutsam:

„Ich sagte dir doch, Kira gehört mir. Du wirst deine Schuld abarbeiten und mir in Zukunft bei meinen Ermittlungen helfen. Fortan möchte ich, dass du rund um die Uhr an meiner Seite bist, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.“ L lächelte sein typisch kindliches und zugleich trauriges Lächeln. „Von jetzt an wirst du mir nicht mehr entkommen.“

Epilog

Epilog

 

„Es schmeckt wirklich nach Eierlikör.“

„Was habe ich gesagt?“

Verblüfft leckte L an dem gelben Eis, das er zwischen Daumen und Zeigefinger vor seinem Gesicht balancierte. Light schenkte ihm ein einnehmend jungenhaftes Lächeln, nachdem er sich zu seinem Kollegen herumgedreht hatte. In der Hand hielt er ebenfalls eine Waffel, die von einer nachtschwarzen Eiscremekugel gekrönt war. Einen Schritt entfernt war Watari derweil damit beschäftigt, die Verkäuferin mit einigen Yenmünzen zu bezahlen.

„Welche Sorte hast du?“, wollte L neugierig wissen.

„Schwarzer Sesam.“

Gemeinsam erklommen die beiden Männer die wenigen Stufen einer breiten Treppe, wobei L mit hochgezogenen Schultern den Leuten auswich, die ihnen entgegenkamen. Oben angelangt lehnten sie sich gegen ein niedriges Geländer, um den Blick über die Landschaft schweifen zu lassen, jene umliegenden grün und braun getupften Wälder, leicht dampfend durch die Wärme, den Staub und das Wasser der heißen Quellen und vereinzelt unterbrochen von ein paar Kirschbäumen, die zu dieser Jahreszeit in voller Blüte standen. Hinter der im Tal befindlichen Kleinstadt türmte sich die symmetrische, an der Spitze mit Schnee bedeckte Gestalt eines Berges auf.

„Light-kun, darf ich...“, setzte L zu einer Frage an, doch kam der Andere ihm zuvor.

„Warte, Ryuzaki, halt mal kurz.“ Mit diesen Worten drückte Light ihm sein Eis in die Hand und ging zur anderen Seite der Aussichtsplattform hinüber, wo der abgeleitete Zufluss einer Quelle in einem kleinen Becken endete, das zur rituellen Reinigung diente. Ein Mädchen von circa sieben oder acht Jahren hatte gerade mit der bereitgelegten Kelle ihre Hände gewaschen und wollte sich nun, ihrer gewohnten Erziehung entsprechend, den Mund ausspülen, als Light sie sorgsam davon abhielt. Sie hatte ihren Hund, eine Promenadenmischung, die schwanzwedelnd neben ihr saß, gleichfalls nicht am Trinken gehindert. Light hockte sich zu ihr an das Becken und sprach sie freundlich an. Wahrscheinlich wies er sie darauf hin, dass das hiesige Quellwasser Schwefel enthielt und daher nicht zum Trinken geeignet war.

„Wenn er seine Erinnerungen besäße“, hörte L plötzlich eine kratzige Stimme von oben, „würde er ganz genauso handeln und es wäre nicht einmal geschauspielert.“

„Er liebt die Menschen eben“, antwortete L auf die Aussage des Todesgottes, der begleitet vom leisen Rauschen seiner zerfetzten Schwingen über ihm schwebte. „Warum auch immer...“

„Du fragst dich, warum er das tut?“

„Nein, ich frage mich, warum er ihnen das dann angetan hat.“

Ryuk drehte sich kichernd um die eigene Achse und wirbelte mit seinen Flügeln einigen Staub auf; ein Lufthauch, den die Menschen in der näheren Umgebung lediglich als milden Frühlingswind wahrnahmen. Watari hatte sich zu ihnen gesellt, in höfliches Schweigen gehüllt und wie üblich in der Öffentlichkeit mit einem ledernen Trenchcoat bekleidet. In geringer Entfernung zeigte Light indes auf eine Warntafel, die an einem glatten Felsen angebracht war. Er schien dem Mädchen die Bedeutung der dortigen Schriftzeichen zu erläutern.

„Was denkst du, wieso Rem und ich in diese Welt gekommen sind?“ Ryuk klang unterschwellig aufgeregt und amüsiert, als würde er eine unmöglich zu beantwortende Preisfrage formulieren. „Wir werden den Menschen, die von uns besessen sind, zum Verhängnis, aber wir würden trotzdem kaum hier sein, wenn sie uns egal wären. Ich empfinde zwar kein Mitleid, aber dennoch mag ich euch.“

Dieses Bekenntnis ließ L bitter lächeln, während er abwechselnd von den beiden Eissorten kostete. Nach einem gedankenversunkenen Moment meinte er nahezu melancholisch:

„Die Welt kann niemals perfekt sein, was auch immer Light-kun dagegen zu unternehmen versucht. Leider ist er zu naiv, idealistisch und engstirnig, um das jemals zu akzeptieren.“ L machte eine kurze Pause, bis er hinzufügte: „Außerdem ist er zu gutmütig.“

„Gutmütig?“ Ryuk krümmte sich, ohne Zurückhaltung lachend, sodass sein Ausbruch über den gesamten Platz schallte und eine allgemeine Panik der Besucher hätte nach sich ziehen müssen, wenn deren Ohren nicht für das unirdische Gelächter des Todesgottes taub gewesen wären. „Gib ihm freie Hand und er wird die Welt ins Chaos stürzen!“

„Wahrscheinlich.“ Verdrossen löste L die dunkel umschatteten Augen von seinem Freund und schaute erneut in die Ferne, verlor sich in der fast pittoresken Kulisse, die ihm dieser laue Märztag bot.

Sie waren früh am Morgen losgefahren, als es gerade erst hell wurde, weil Light sie davor gewarnt hatte, dass der Himmel ab Mittag häufig zuzog. Dennoch, so hatte der junge Japaner ihnen prophezeit, würde sich vor den Fujisan garantiert eine einzelne, kleine Wolke schieben. Das sei immer so, versicherte er mit Selbstverständlichkeit.

Vorhin zeigte sich das Gewölbe bis zum Horizont über den serpentinenförmigen Straßen in der waldigen Berglandschaft, die Watari mit dem Rolls-Royce entlangfuhr, noch völlig wolkenlos. Doch tatsächlich schwebte nun, einsam vor dem Hintergrund des Fujisan, über Hakone und unter dem strahlend blauen Himmel, ein unscheinbarer Wolkenfetzen, wie ein Fleck auf der Perfektion dieses Bildes.

Du hattest mal wieder Recht, Light-kun, dachte L, während er an dem Eis seines Freundes leckte und die Wolke anstarrte.

„Wie lange willst du ihn eigentlich noch im Unklaren lassen?“

Sich diesmal nicht in die Richtung des Todesgottes wendend, der ihn zumeist unverbindlich, interessiert und niemals ohne Spott anredete, entgegnete L gleichgültig:

„Manchmal ist eine Lüge leichter zu ertragen als die Wahrheit. So ist es einfacher für ihn.“

„Oder für dich“, kommentierte Ryuk.

„Hat dir Light-kun schon mal gesagt, dass du nervst?“

Missgestimmt knabberte L am Waffelrand des bereits vertilgten Eises. Schließlich seufzte er schwermütig.

„Bald wird er von allein darauf stoßen. Wenn es so weit ist, werde ich ihm das Death Note jedenfalls nicht vorenthalten.“

Watari legte ihm eine Hand auf die Schulter und räusperte sich gedämpft, um Ls Aufmerksamkeit auf Light zu lenken, der mittlerweile zu ihnen zurückkehrte. Im Gehen erwiderte dieser die Geste des Mädchens, das sich winkend von ihm verabschiedete, bevor er bei seinen Begleitern eintraf.

„Hast du mein Eis aufgegessen, Ryuzaki?“

„Die Waffel ist noch da.“

L streckte sie seinem Freund entgegen.

„Wie großzügig.“ Schmunzelnd schüttelte Light den Kopf. „Behalt sie ruhig. Normalerweise mag ich sowieso keine Süßigkeiten.“

Den Mund öffnend wollte L hierauf etwas sagen. Stattdessen presste er mit einem rätselhaften Gesichtsausdruck die Lippen aufeinander und schwieg. Watari hingegen begann von einem traditionellen Restaurant zu erzählen, das sie am Abend besuchen konnten.

Gemeinsam schritten die drei Männer, verfolgt vom Schatten des Todesgottes, die Treppe zum Parkplatz hinab. Der Meisterdetektiv trottete als Letzter jenen beiden Menschen hinterher, die ihm am nächsten standen, ihn am besten kannten und deren Verlust er am wenigsten verkraften würde. Seine Gedanken wanderten inzwischen genauso wie sein Blick in weite Ferne.

Natürlich, die Welt konnte niemals perfekt sein. Aber eigentlich, daran dachte L nun, da er wieder diese kleine Wolke vor dem gleichförmigen Monument des Berges betrachtete, eigentlich machte gerade dieser allgegenwärtige Makel die Welt erst perfekt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Das Zitat von Charles Baudelaire stammt aus dem Kurztext „Das zwiefache Zimmer“ in „Die künstlichen Paradiese“.
2. Gleichsam wie die 4 ist die Zahl 42 in Japan eine Unglückszahl, da sie einzeln genauso gelesen wird (shi bzw. shini) wie das Schriftzeichen 死 für „Tod“ und „sterben“.
3. Der Einstieg ist in Anlehnung an den Prolog im Himmel von Goethes „Faust I“ geschrieben und verweist zudem inhaltlich auf die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Im ersten Absatz macht L zwei Anspielungen auf berühmte dystopische Romane, nämlich „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley und „1984“ von George Orwell.
2. Der Ausspruch, wer sich nicht in den Staat integriere, sei entweder eine Bestie bzw. ein wildes Tier (lat. bestia) oder ein Gott, stammt von Aristoteles.
3. Dass Menschen nach etwas suchen, das sie gemeinschaftlich anbeten können, basiert auf einem Zitat aus „Der Großinquisitor“ von Fjodor Dostojewski.
4. Die logische Berechnung der Widersprüchlichkeit von Allmacht oder Gutmütigkeit Gottes geht auf Ansgar Beckermann zurück.
5. Der Gedanke, wer nicht lügen könne, wisse nicht, was Wahrheit ist, stammt von Friedrich Nietzsche. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die thematische Bearbeitung des Gefängnisses basiert vor allem auf „Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault.
2. Soma ist in Huxleys „Schöne neue Welt“ eine staatlich anerkannte Droge zur Unterdrückung negativer Emotionen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die neurologischen Inhalte sind vor allem an Niels Birbaumer orientiert, die Anwendung ihrer Erkenntnisse auf historische Kontexte stammt von Johannes Fried und das Problem der Willensfreiheit behandelt Wolfgang Prinz.
2. Lights kritisch zu betrachtende Aussage am Ende des ersten Absatzes, dass alle Menschen gleichermaßen Wissen erlangen können, basiert auf einem Zitat von Thomas Hobbes.
3. Es entspricht zum Schluss einer Aussage von John Locke, dass der Mensch bei kompletter Ausrichtung auf den starren Beweis keine andere Gewissheit hätte, als bald zugrunde zu gehen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die pessimistischen Aussagen von L, dass man sich etwa einen Wert des eigenen Tuns vorgaukelt, bloß weil man Anstrengungen dafür unternahm, sind partiell an Paul Valéry angelehnt.
2. Es ist ein Gedanke von Louis Reybaud, dass Untätigkeit allenfalls der Kontemplation dienen darf und durch ein Resultat gerechtfertigt werden soll, denn die Welt wolle eine Leistung sehen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Das Gespräch über den menschlichen Entwurf ist eine Fragestellung der Phänomenologie (philosophische Lehre von den Erscheinungen), insbesondere der Intentionalität von Maurice Merleau-Ponty, basierend auf Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre.
2. Die Formulierung, dass der Teufel, der einen reite, immer man selbst sei, stammt von Thomas Manegold.
3. Dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei, ist ein Satz von Jean-Paul Sartre.
4. Die Aussagen zur Psychoanalyse beziehen sich auf Sigmund Freud, dessen Urteile heute sehr kritisch betrachtet werden müssen.
5. Dass es der Vernunft nicht widerspräche, die Welt gegen den Kratzer am Finger aufzuwiegen, ist eine überspitzte Aussage von David Hume.
6. Laut dem gleichnamigen Dialog von Platon war Euthyphron ein griechischer Bürger, der mit Sokrates darüber sprach, ob es moralisch vertretbar sei, den eigenen Vater anzuklagen. Die Diskussion führte zum Euthyphron-Dilemma, der Frage danach, ob etwas gerecht sei, weil es göttlich gewollt war, oder ob es nur göttlich gewollt war, weil es per se ethisch gerecht sei. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Das Zitat, das Light zu Beginn vorliest, stammt aus der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri.
2. Die Überlegungen zur Kultur beruhen zum Teil auf Martin Heidegger. Für die weiteren Debatten in diesem Kapitel dienten unter anderem Herbert Marcuse und John Locke als Inspiration.
3. Die Idee der ungeselligen Geselligkeit des Menschen stammt von Immanuel Kant. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das lateinische Sprichwort stammt von Tiberius, dem zweiten Kaiser des Römischen Reiches. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die Gedanken zum Voyeurismus und Exhibitionismus der Digitalisierung sind inspiriert von Käte Meyer-Drawe.
2. Dass die erste Pflicht in unserer Gesellschaft darin bestünde, so künstlich wie möglich zu sein, ist ein Aphorismus von Oscar Wilde.
3. Einige der Ansichten zur Soziologie, zur Konstruktion der Welt und der Frage nach ihrer mathematischen Berechenbarkeit basieren auf Auguste Comte und Richard Rorty.
4. Das Gespräch am Ende über den dialogischen Charakter der menschlichen Identität fußt auf den Theorien des kanadischen Politikwissenschaftlers Charles Taylor. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ein Let oder Letball ist die Wiederholung eines Ballwechsels nach dem Auftreten einer Behinderung.
2. In einer Stunde Spiel könne man einen Menschen besser kennen lernen als beim Gespräch in einem Jahr; das ist ein Ausspruch, der fälschlicherweise oft Platon zugewiesen wird, allerdings von Richard Lindgard stammt, wenngleich etwas aus dem Kontext gerissen.
3. Der letzte Satz ist ein Zitat von Alan Watts. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die Formulierung mit der Nussschale stammt, wie erwähnt, aus „Hamlet“ von William Shakespeare und taucht beispielsweise in Stephen Hawkings „Das Universum in der Nussschale“ wieder auf.
2. Buchweizenhonig ist oft Bestandteil von Lebkuchen, er hat einen sehr kräftigen, wenig süßen Geschmack. Auch Erdbeerbaumhonig ist nicht süß, er gilt als der bitterste Honig der Welt und hat nichts mit Erdbeeren zu tun.
3. Das Zitat von Thomas Jefferson befindet sich im Virginia Statut der Religionsfreiheit und ist zudem Teil der Inschrift auf seinem Grabmal.
4. Musikalische Inspiration zu diesem Kapitel waren „The Cage” und „Tales of the Silent City“ von Diary of Dreams. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ls Aussage am Ende des ersten Absatzes ist ein Zitat aus „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway.
2. Der Vergleich des Menschen mit einem Baum, dessen Wurzeln ins Dunkle treiben, stammt aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche.
3. Der Abschluss des Kapitels ist inspiriert durch ein Zitat aus dem „Steppenwolf“ von Hermann Hesse:
Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Titel ist eine Anspielung auf „Homo faber“ von Max Frisch und bedeutet wörtlich „schaffender Mensch“.
2. Die Gedanken zum Preis menschlicher Entwicklung und Entscheidungen basieren teils auf Virginia Satir.
3. Den Menschen nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck anzusehen, das ist die Formulierung des kategorischen Imperativs nach Immanuel Kant. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die Aussagen zum kontrollierten Automatismus sind inspiriert von Paul Broks.
2. Das Einsatzfahrzeug ist an der fahrbaren Crêpesbude aus „L Change the World“ orientiert. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mit dem Thema der Anerkennung und sozialen Exklusion, worauf in diesem Kapitel verwiesen wird, haben sich Fernand Braudel und Avishai Margalit beschäftigt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der abschließende Vergleich mit einem Schachspiel ist inspiriert durch „Das Napoleon-Spiel“ von Christoph Hein. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die ethische Debatte in Hinblick auf die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen ist an Dieter Birnbacher und Hans Jonas orientiert.
2. Ls radikale Aussage, dass der Tod von Tausenden nur Statistik sei, stammt von Josef Stalin.
3. Syllogistik ist die Kunst des Schließens nach Aristoteles. Die Grundlagen der analytischen Philosophie, wozu auch der naturalistische Fehlschluss gehört, wurden von Gottlob Frege, Bertrand Russell und George Edward Moore geschaffen.
4. Einige Inhalte verweisen erneut auf Immanuel Kant und David Hume. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Metapher für das Glück verweist auf das Bühnenstück „Der blaue Vogel“ von Maurice Maeterlinck. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ein Surrogat ist ein Ersatzstoff, meist von minderer Qualität als das Original.
2. Zur zweiten Szene in diesem Kapitel inspirierte mich der Song „Rücken an Rücken“ von ASP. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Neben der französischen Ursprungsbedeutung ist der Kapiteltitel ein Tribut an den gleichnamigen Roman der Krimireihe zu Henry Rios von Michael Nava. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Persona stammt aus dem Altgriechisch und bedeutet „Maske“. Erste Inspiration für diesen Titel war der japanische Film „Persona“.
2. Was Light über die eigene Welt des Schlafes denkt, ist ein Zitat, das Immanuel Kant in seiner „Anthropologie“ verwendet, dessen Urheber aber nicht, wie Kant meint, Aristoteles ist, sondern Heraklit.
3. Dass jeder dumme Junge einen Käfer zertreten, aber die klügsten Wissenschaftler keinen erschaffen könnten, ist ein Zitat von Arthur Schopenhauer.
4. Das Gespräch über das Funktionieren von Staaten und den Willen des Volkes basiert teils auf Anschauungen von Avishai Margalit und Thomas Hobbes. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Bei den Problematiken der Entzweiung von Ich und Welt, Ideal und Praxis und der Frage nach der Verträglichkeit des eigenen Handelns im Kontext echten Lebens beziehe ich mich hier vor allem auf Hans Jonas und Helmuth Plessner.
2. Etwas musikalische Inspiration kam durch „Alleine zu zweit“ von Lacrimosa. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Musikalische Inspiration waren diesmal „Kein zurück“ von Wolfsheim und „Tausend neue Lügen“ von Oomph!. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Inspiration für den Titel war das Lied „Halbes Ende“ von Zeraphine.
Im Jahr 2008 hatte ich noch vor, die Geschichte hiermit enden zu lassen. Diesen Vorsatz gab ich irgendwann aufgrund zahlreicher weiterer Ideen auf. Darum ist dies hier kein Ende. Nur ein halbes. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der Kapiteltitel geht auf die drei musikalischen Sätze „Fassade“ von Lacrimosa zurück. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die letzten Sätze sind in Anlehnung an „Narziß und Goldmund“ von Hermann Hesse entstanden. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Musikalische Inspiration war diesmal „Du lügst so schön“ von Juli. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Manche Ansichten in diesem Kapitel tauchen auf ähnliche Weise in den Romanen zu Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle auf.
2. Beim Libet-Experiment wurden die Hirnaktivitäten von Probanden gemessen, die spontan einen Finger bewegen und angeben sollten, wann sie die Entscheidung hierzu gefällt hatten. Im Ergebnis konnten Muskelaktivitäten für die Bewegung bereits kurz vor der angegebenen Entscheidung gemessen werden, was darauf hindeutete, dass der Wille zur Tat gar nicht bewusst vorhanden war, sondern erst im Nachhinein im Gehirn als Entscheidung deklariert wurde. Dieses Experiment löste eine Debatte über die menschliche Willensfreiheit aus.
3. Zu den behandelten Themen gibt es sehr viel Literatur. Wer sich dafür interessiert, für den ist vielleicht die „Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften“ von Ian Hacking ein guter Einstieg oder der Klassiker „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von Stephen Hawking. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
In diesem Kapitel war ich oft von verschiedenen Liedern inspiriert, was sich teilweise in Aussagen widerspiegelt; „Bist du nicht müde“ von Wir sind Helden, „Blackout“ von Linkin Park und „Gimmie Gimmie Gimmie“ von A Perfect Circle. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Aussage, dass es leicht sei, einen Menschen zu töten, wenn man nur den Geschmack von Zucker vergessen könne, stammt aus einer Episode von Naoki Urasawas „Monster“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die zwei Einstiegssätze dieses Kapitels hat Light tatsächlich gegenüber Ryuk geäußert, im ersten Band des Mangas auf Seite 117 und 118.
2. Wir alle spielen Theater. Selbstinszenierung und Rollendistanz erschaffen den Menschen in seinem Umfeld. Einige Gedanken, die Light im ersten Absatz über das Schauspiel der sozialen Stellung formuliert, kann man bei Erving Goffman wiederfinden.
3. Go ist ein strategisches Brettspiel, das einen Kampf simuliert, bei dem man die gegnerischen Steine schlägt, indem man sie einkesselt. Die gefangenen Steine werden als Agehama bezeichnet. Goke nennt man die runden Holzdosen, in denen Go-Steine traditionell aufbewahrt werden, und ein Goban ist der Holztisch, auf dem gespielt wird. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Woran sich Light in der Mitte der zweiten Szene dieses Kapitels erinnert, das findet man im ersten Band des Mangas auf Seite 54.
2. Dass der Mensch ein Tier sei, das unter anderen seiner Gattung einen Herrn nötig habe, stellt ein Zitat von Immanuel Kant dar.
3. Klaus J. Heinisch formulierte in seinem Nachwort zu den großen Staatsutopien „Utopia“ von Thomas Morus, „Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella und „Neu-Atlantis“ von Francis Bacon den Gedanken, dass Geistigkeit und Individualität eines Menschen gegen dessen Sozialisierung stünden.
4. Nach Cicero wählt ein gutes Volk freiwillig seine Führer und verlangt sogar danach, sich diesen zu unterwerfen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Titel und einige Inhalte des Kapitels verweisen auf Thomas Hobbes.
2. Seneca formulierte die Aussage und bezog sich damit auf Platon, dass niemand klug strafen würde, weil eine Verfehlung geschehen sei, sondern damit in Zukunft keine weitere geschehe.
3. Erst das Fressen, dann die Moral, meinte Bertolt Brecht.
4. Ls Redensart gegen Ende beruht auf dem Werk „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Niemand könne auf Dauer eine Maske tragen, ist ein Zitat von Seneca.
2. Todgeweihte nannten sich die Gladiatoren im alten Rom und richteten so ihren Gruß an den Herrscher, kurz vor ihrem Kampf in der Arena.
3. Hier und in den folgenden Kapiteln war ich häufig durch das Lied „Eisenherz“ von Juli inspiriert. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. L spielt am Anfang eine Szene aus dem Film „Event Horizon“ nach und stellt mit dem durchstochenen Papier die Einstein-Rosen-Brücke bzw. ein Wurmloch dar.
2. Ich habe Ryuk ein Zitat aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche in den Mund gelegt: Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich; es war der Geist der Schwere - durch ihn fallen alle Dinge. Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere töten!
3. Die Aussage, dass beim Herunterreißen der Maske das Gesicht mitgeht, verweist auf „Dantons Tod“ von Georg Büchner.
4. Das Zitat über die im Spiegel reflektierte Wahrheit habe ich aus dem achten Band von Defense Devil entnommen, weil es gut zur Situation passte.
5. Die Worte über das Tragikomische von Leben und Unglück sind an Samuel Beckett angelehnt.
6. In diesem Kapitel war ich vor allem durch das Lied „Bastard“, aber auch „Die Maske“ von Oomph! inspiriert. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Löscht man beim Kombinieren und Deduzieren alle unmöglichen Aspekte aus, ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unrealistisch auch immer es erscheinen mag. Das ist einer der Leitsätze von Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle schrieb über seine Figur, dass dessen Verstand sich permanent in Bewegung befinden und im Leerlauf wohl zerspringen müsste. Holmes wurde daher oftmals depressiv und spritzte sich Heroin, wenn er kein Problem zu lösen hatte. Wie schon vormals, so auch in diesem Kapitel, stelle ich mit solchen Hinweisen eine Verbindung zu der Interpretation von Ls Charakter her. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Im sechsten Band des Mangas, auf Seite 30 und 48, findet man die beiden Aussagen, dass L und Light nicht nur durch die Handschellen, sondern dass auch ihre Schicksale miteinander verbunden wären, doch solange dieser Zustand andauerte, würden sie gemeinsam in den Tod gehen.
2. Am Ende des zweiten Absatzes zitiert L eine Art Gedicht, welches in der achten Folge der amerikanischen Fernsehserie „Life“ vorkommt; wir atmen die gleiche Luft, uns erleuchtet das gleiche Licht. Also hängt alles miteinander zusammen. Dadurch bin ich mit meinem Freund genauso verbunden wie mit meinem Feind. Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir und meinem Freund. Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir und meinem Feind. Niemand von uns ist allein. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Manchmal könnte die Verwendung von Rems Geschlecht zu Irritationen führen. Ich bediene mich gern des generischen Maskulinums. Wenn Rem dem Anschein nach als männlicher Todesgott auftritt, dann liegt das an der jeweiligen Perspektive. L zum Beispiel weiß nämlich nicht, dass Rem ein Weibchen ist. Übrigens lasse ich sie zum Spaß manchmal so reden wie Teal'c aus der Fernsehserie „Stargate“.
2. Am Ende macht L eine Anspielung auf den Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Titel verweist auf das gleichnamige Bühnenstück von Samuel Beckett.
2. In der Mitte des zweiten Absatzes zitiert L ein Gedicht von D. H. Lawrence: I never saw a wild thing sorry for itself. A small bird will drop frozen dead from a bough without ever having felt sorry for itself.
3. Im letzten Absatz spricht L auf eine Festlegung der katholischen Kirche beim Konzil von Vienne im Jahr 1312 an, wonach Körper und Seele eine zwangsläufige Einheit darstellen.
4. Aurelius Augustinus formulierte in seinen religiösen Anschauungen, dass vor dem Geistlichen das Seelische käme und der Mensch durch seine Abstammung von Kain zuerst böse und fleischlich sei.
5. Die Schlussaussage von L ist eine Übersetzung der Worte von Claudia Wolf aus dem dritten Teil der Videospielreihe „Silent Hill“.
6. In den letzten Kapiteln war ich oft von Musik inspiriert, in diesem hier unter anderem von Jennifer Rostock, vor allem „Horizont“, aber auch „Ich kann nicht mehr“ und „Insekten im Eis“. Von Linkin Park habe ich viel das Album „Living Things“ gehört, besonders „Castle of Glass“ und „In My Remains“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die kursiv geschriebenen Zeilen im ersten Absatz sind eine von mir vorgenommene Übersetzung des Liedes, das Misa in der Animefolge „Schweigen“ singt.
2. Die Aussage von Herrn Yagami, auf die Freude des Sieges würde gewiss eines Tages die Trauer der Niederlage folgen, verweist auf die Philosophie von Itō Ittōsai Kagehisa, einem Schwertmeister, der ironischerweise nie einen Kampf verloren haben soll.
3. Adolf Hitler forderte die Hingabe des Einzelnen für das Ganze.
4. Ryuks Worte, dass er sich nicht mehr am Leben fühlte, spielen auf eine Szene im ersten Band an, Seite 27 bis 29.
5. Lights Gedanken über die Unschuld, sie sei nur ein Vorwand oder Zufall für die Unwissenden, beruhen auf dem Roman „Die Richter“ von Elie Wiesel.
6. Die Welt will betrogen sein, so lautet ein lateinisches Sprichwort, das später von Sebastian Franck um den Zusatz, so solle sie betrogen sein, erweitert wurde.
7. Auch dass niemand herrschen könne, der nicht zu heucheln wisse, ist ein lateinisches Sprichwort, das von Ludwig XI. verwendet wurde.
8. Die Gesellschaft würde sich im unhinterfragten Wachstum selbst zerstören, meinte Herbert Marcuse.
9. Es solle Recht geschehen, selbst wenn die Welt daran zugrunde ginge, das ist ein über viele Denker und Herrscher durch die Jahrhunderte gewandeltes Zitat.
10. Musikalische Inspiration zu diesem Kapitel war „Iridescent“ von Linkin Park. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der letzte Satz ist ein Zitat von Hiroaki Samuras „Blade of the Immortal“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die einzige Aussage, die Ryuk in diesem Kapitel von sich gibt, stammt aus dem Johannesevangelium, Vers 13, Absatz 31-35.
2. Inspiriert haben mich während des Schreibens unter anderem „Nur ein Tag“ von Zeraphine, „Die Löcher in der Menge“ von ASP und „Falls Apart“ von Hurt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Mensch sei nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er sei ein denkendes Schilfrohr. Daher bestünde seine ganze Würde im Denken. L zitiert an dieser Stelle Blaise Pascal.
2. Stilistische Inspiration erhielt ich erneut von Samuel Beckett, aber auch von Jurij Brězan und den Gedichten von Paul Celan.
3. Hier und im nächsten Kapitel habe ich viel „Run“ von Amy Macdonald gehört, was man einigen Formulierungen anmerkt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Kapitelname ist inspiriert von Patricia Highsmiths gleichnamigem Roman „Salz und sein Preis“, auch unter dem Titel „Carol“ bekannt.
2. Der „düstere Begleiter“ (Dark Passenger) ist eine Anspielung auf die Fernsehserie „Dexter“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ls Gedanken am Ende des ersten Absatzes sind inspiriert von William Shakespeares „Hamlet“.
2. „Jetzt und ehedem“ als Anfang zweier Absätze verweist als Formulierung auf ein Gedicht von Friedrich Nietzsche.
3. Die letzten Worte von Light stammen aus einem Gedicht von Hiroaki Samura.
4. Musikalische Inspiration waren diesmal „Begin the End“ von Placebo und „Burning in the Skies“ von Linkin Park. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Wie bereits als Einstiegszitat am Anfang dieser Geschichte taucht am Ende erneut das Zitat von Charles Baudelaire aus „Das zwiefache Zimmer“ auf.
2. „A Million Little Pieces“ von Placebo sowie „And God’s Ocean“ von Lacrimas Profundere begleiteten den Schreibprozess dieses Kapitels. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Musikalische Untermalung in diesem und den nächsten Kapiteln sind die Lieder „R-Evolve“ und „Was It a Dream?“ von Thirty Seconds to Mars. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. „Ad Rem“ bedeutet eigentlich im Latein „zur Sache“, ist hier aber auch als Wortspiel gemeint.
2. Der bekannte Ausspruch, man könne nur mit dem Herzen gut sehen, das Wesentliche sei für die Augen unsichtbar, stammt aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Inspiration für den Anfang dieses Kapitels waren Marcel Proust und Samuel Beckett.
2. Dass die Welt voll sei von offensichtlichen Hinweisen, die nie jemand bemerkt, ist ein weiterer Ausspruch von Sherlock Holmes.
3. Was Light seinem Vater über die Gleichwertigkeit bzw. Bedeutungslosigkeit des menschlichen Glücks sagt, basiert teils auf Formulierungen von Friedo Ricken. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Wort „Inzeption“ ist ein Neologismus, der auf dem Film „Inception“ basiert. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Werte Leser,

vielen Dank, dass ihr bis hierher durchgehalten habt. Zum Glück, werdet ihr jetzt bestimmt denken, findet alles mal ein Ende. Die Jahre überschlagend schoss mir letztens etwas durch den Kopf. Nein, keine Kugel, es war eher eine Sache, die mir zufällig auffiel. Als ich ungefähr 2007 mit den allerersten Skizzen zu dieser Geschichte anfing, ging ich noch zur Schule und war etwa so alt wie Light. Zuerst habe ich 24/7 nur auf yaoi.de hochgeladen, einer Seite, die es heute gar nicht mehr gibt. Jetzt im Jahr 2013 bei der Beendigung bin ich im Alter von L angelangt. Ich fasse es nicht, dass ich dieses Monstrum so lange mit mir herumgeschleppt habe, aber beim Durchdenken meiner Ideen wurde mir klar, dass ich wohl noch die nächsten Jahre damit zubringen würde, wenn ich jetzt nicht richtig Gas gebe. Zumindest für mich ist es an dieser Stelle auch noch nicht vorbei. Ich habe viele weitere Ideen für Kriminalfälle, die L und Light gemeinsam bearbeiten, und Themen, über die sie reden können. Wird Light erfahren, dass er in Wirklichkeit Kira ist? Würde er sich dann entscheiden, seine Erinnerungen zurückzubekommen? Wo ist Misas Death Note? Werden L und Light noch mal miteinander im Bett landen? (Vielleicht, nachdem sie 200 Seiten lang darüber diskutiert haben.) Werden sich L und Light irgendwann gegenseitig totquatschen? (Was für ein romantischer Doppelselbstmord.) Eure Meinung zu einer Fortsetzung interessiert mich sehr, daher habe ich eine Umfrage gestartet.
Klickst du hier: Nachfolger von 24/7

Edit:
Die Umfrage ist nun beendet. Beide Teile besitzen jetzt Untertitel und den zweiten findet ihr unter dem folgenden Link.
[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit

Jedenfalls dachte ich mir, es wäre sicher angebracht, ganz zum Schluss noch etwas Gehaltvolles zu schreiben. Weil mir nichts dergleichen einfiel, beschäftigte ich mich stattdessen lieber mit den wirklich wichtigen Dingen, nämlich mit der Frage: Was wird in 24/7 überhaupt alles gegessen? In der folgenden Liste ist alles servierte Essen aufgeführt, unabhängig davon, für wen es war und ob es gegessen oder stehen gelassen wurde. Allerdings sind nicht die Speisen eingetragen, die lediglich Erwähnung finden, zum Beispiel Daifuku oder Melonpan mit Schokoladenkugeln. Es könnte natürlich sein, dass ich ab und zu diverse Tassen mit Kaffee oder Tee vergessen habe. Falls euch etwas auffallen sollte, könnt ihr mich gern darauf hinweisen. Übrigens würden L und Light diese Liste hier völlig überflüssig finden.

23. 7.
Kaffee mit fünf Stück Zucker
28. 7.
Kuchen mit einer Erdbeere
2. 8.
Kuchen
Tee
16. 8.
Taiyaki (gefüllte Waffeln in Fischform) mit Schokoladencreme und Vanillecreme
29. 8.
Tee mit Milch
30. 8.
Crumbles (mit Streuseln überbackene Früchte) mit warmen Äpfeln und Cranberrys
14. 9.
Tee mit sechs Stück Zucker
22. 9.
Tee (English Breakfast von Twinings) mit Milch und fünf Stück Zucker
Milchbrötchen
Buchweizenhonig (herber, wenig süßer Honig)
Erdbeerbaumhonig (sehr bitterer Honig)
2. 10.
Kirschen
Vanilleeis
Kaffee
Sunomono (Salat aus Algen, Meeresfrüchten und Gemüse) mit Garnelen und Gurken
Anpan oder Imagawayaki (beides ist ein mit Anko (Paste aus Roten Bohnen) gefülltes Gebäck)
3. 10.
Mochis (Reismehlklöße) mit Taropaste (Wasserbrotwurzel), Anko, Matcha (Grüntee) und Erdnussbutter
9. 10.
Kaffee mit Milch und fünf Stück Zucker
15. 10.
Anmitsu (Gelee mit süßen Bohnen und Sirup)
19. 10.
Sata Andagi (frittierte Teigbällchen, Spezialität aus Okinawa)
Kaffee
Bonbons
24. 10.
Kaffee
25. 10.
Yokan (geleeartige Süßigkeit aus Bohnenmus)
Kaffee mit fünf Stück Zucker
purer Würfelzucker
27. 10.
Nerikiri (kunstvoll geformter marzipanähnlicher Teig)
weißer Tee mit Zucker
Kaffee mit Milch
30. 10.
Baumkuchen mit Schokoladensoße (gibt es in Japan meist nur in einzelnen unschokolierten Ringen)
31. 10.
schwedische Torte mit Mandelsplittern
Lutscher
Tee
1. 11.
Bonbons in den Sorten Matcha und Milchtee
Garnelen-Tempura (im Teigmantel frittiert) auf Reis sowie Misosuppe mit eingelegtem Tofu
Chips in der Geschmacksrichtung Consommé (Hühnerbrühe)
Pocky (Pendant zu unseren deutschen Mikado-Stäbchen)
2. 11.
Schokoladenkuchen mit weiß und braun glasierten Puffreiskugeln
Kaffee
3. 11.
Schokolade (von der Marke Meiji)
Kaffee
4. 11.
Softeis
Pudding mit Obst
Getreidekissen mit Matcha (Chip! Chop von Meiji)
Kaffee mit Milch und fünf Stück Zucker
Matcha-Milchshake (von McDonalds)
5. 11.
Pandakekse
Kaffee
Konpeito (bunter Zucker in Sternform)
31. 3.
Eiscreme in den Geschmacksrichtungen Ei und Sesam Komplett anzeigen

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Von: irish_shamrock
2018-09-15T07:38:25+00:00 15.09.2018 09:38
Hallo halfJack,

wie ich bereits beim Prolog befürchtet hatte, wird mich die Geschichte so schnell nicht loslassen :') ...
Auch in diesem Kapitel zeigst du großes Talent und lässt die Charaktere so agieren, wie ich es vom Manga und Anime gewohnt bin. Selbst Misa, die gewaltätig an meinen Nerven zerrt.

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  halfJack
15.09.2018 12:23
Hallo irish_shamrock,

die Charaktertreue ist mir beim Schreiben sehr wichtig. Mittlerweile gibt es in dieser Geschichte zwar ein paar Stellen, an denen ich die Handlungen von L und Light ein bisschen übereilt finde, doch ich hoffe, dass die grundlegende Darstellung nachvollziehbar und authentisch bleibt.
Auch in Bezug auf Misa. Anfangs hat sie mich auch genervt, aber irgendwie mag ich sie.

Wiederum danke für deinen Kommentar!
Von: irish_shamrock
2018-09-15T06:17:37+00:00 15.09.2018 08:17
Hallo halfJack,

ich bin durch den Upload des neuen Kapitels "[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit" hier gelandet. Denn bevor ich mich mit der Fortsetzung befasse, wollte ich mir den Vorgänger nicht entgehen lassen.
Allerdings werde ich mich erst nach und nach durch die Kapitel arbeiten können, nichtsdestotrotz hat mir der Einstieg ins Gesehen, mit diesem Prolog, sehr zugesagt.
Ich mag deinen Schreibstil, den Aufbau und Ablauf des Ganzen.

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  halfJack
15.09.2018 12:09
Hallo irish_shamrock,

da hast du dir ja etwas vorgenommen! Ich kann es gut verstehen, wenn man immer nur Schritt für Schritt zum Lesen kommt. Mir geht es ja ähnlich. Sowohl beim Lesen als auch Schreiben können bei mir lange Pausen entstehen.
Ich würde mich freuen, auch weiterhin von dir zu hören. Nicht jeder hätte Lust auf so ein Mammut von Fanfiction. ^^;

Danke für deinen Kommentar!
Von:  Venu
2015-03-15T00:16:15+00:00 15.03.2015 01:16
Hey :)

Ich dachte mir, ich hinterlasse dir hier noch einen kurzem Kommentar zu deinem Prolog, der mir sehr gefallen hat. Leider habe ich ihn erst jetzt entdeckt, nachdem ich die FF zum zweiten Mal gelesen habe, aber ich bin froh, dass ich es getan habe.

Ich finde es interessant Lights Gedanken während seiner Gefangenschaft zu hören. Zu erleben, wie sehr es ihn mitnimmt, 24/7 eingesperrt zu sein und nichts als weiße Wände um ihn herum. Sogar die Anzahl der Kacheln kennt er in und auswendig, was deutlich zeigt, wie wenig Ablenkung es doch in dieser Zelle gibt.
Kein Kontakt zur Aussenwelt, dass einzige, an das er sich klammern kann ist L. Seine Gespräche mit ihm erscheinen für Light wie ein Licht am Ende des Tunnels zu sein. Das Wissen darüber, dass da noch jemand ist, der ihn beobachtet, sodass er nicht völlig allein in seiner Isolation ist. Light hat einen starken Willen, was sich auch dadurch zeigt, wie lange er es in dieser Isolation aushält, nicht wissend, wie es mit ihm schlussendlich weitergehen wird. Doch schließlich ist auch er irgendwann unter solchen Umständen am Ende.

Als Einstieg finde ich es sehr gut, dass du gerade diesen Zeitraum gewählt hast, immerhin ist dies schon ein erster Geschmack dafür, wie sich eine 24 Stunden/7 Tage die Woche Überwachung anfühlen kann.
Ich persönlich finde, der Prolog rundet die ganze FF nochmal ab und ist dir wirklich gut gelungen.

Ich freue mich schon darauf, das nächste Kapitel deiner Fortsetzung zu lesen. :)

Lg Venu
Von:  Kaylee
2014-06-20T21:45:21+00:00 20.06.2014 23:45
*Freuen*
Es gibt einen Prolog! Na endlich... :) Nein, Spaß.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu kommentieren. Ich bin leicht überfordert. Es gibt einen Prolog, eine Fortsetzung und du hast es geschafft, auf alle meine Kommentare zu reagieren. Das freut mich natürlich ungemein, aber es verstärkt natürlich auch meine Schuldgefühle, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. So nehme ich die Chance war und möchte mich hier nochmal in aller Öffentlichkeit entschuldigen. Bitte, verzeih!
Ich werde versuchen mich zu bessern und ich tue dies nicht, weil ich mich dazu gezwungen fühle. Als ich geschrieben habe, dass ich mich förmlich gezwungen fühle - mich hier anzumelden, um zu kommentieren, war dies doch geringfügig übertrieben. Trotz meinem recht kritischem Charakter glaube ich an die Willensfreiheit :-D Des Weiteren würde ich mir nie anmaßen, anzunehmen das meine Kommentare beeinflussen, ob du weiterschreibst oder nicht.
Ich wage es zu behaupten, dass die Tendenz zum Hybris bei mir noch nicht soweit fortgeschritten ist. Ich tue dies, zum größtenteils aus rein egoistischen Gründen. Ich möchte meine Meinung mitteilen - selbst ich kann mich dem Bedürfnis der interpersonelle Kommunikation nicht entziehen :) Auch wenn Sie manchmal wenig rational oder konstruktiv ist. Natürlich besteht der andere Teil aus prosozialen Verhalten (Wenn wir jetzt schon bei sozialen Aspekten sind). Ich freue mich, wenn ich dich ermutige oder man meinen Gedanken bezüglich irgendwas hilfreiches abgewinnen kann. Letztendlich beruht es, aber auf meinem eigenen Egoismus. Nun denn, wenn ich jetzt schon beim Thema bin-der Prolog: Ein sehr guter Einstieg!
Vor allem hat mir die Sicht von Light gefallen, dass L die einzige Konstanze ist und doch derjenige ist, der ununterbrochen Lights Niedergang mit verfolgt.
Beim der Ankündigung von L an Ende konnte ich nicht anders, als zu Lächeln. Schließlich ist das der Anfang "vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche". (Mehr sage nicht, sonst "spoilere" ich).

Antwort von:  halfJack
02.08.2014 15:48
Du willst dich dafür entschuldigen, dass du mir ellenlange, ausführliche, super interessante Kommentare hinterlässt? Das ist irgendwie... paradox. Wie gesagt, ich brauche viel Zeit zum Reagieren, Antworten, Schreiben neuer Kapitel. Man muss sich bei mir wirklich in Geduld üben, daher brauchst du dir da überhaupt keine Gedanken zu machen. Ganz im Gegenteil, wenn zu viele Nachrichten auf einmal kämen, wäre ich vermutlich überfordert. ^^

Ja, es gibt einen Prolog. Ich brauche wohl nicht zu erklären, dass ich das lange vorhatte. In der Kapitelübersicht schrieb ich ein bisschen etwas über meine Beweggründe. Die ganze Sache wirkt jetzt runder. So konnte ich außerdem den Rahmen schließen. Jetzt muss ich nur noch die restlichen drei- bis vierhundert Seiten überarbeiten. ^^;
Von:  Kaylee
2014-04-26T11:08:30+00:00 26.04.2014 13:08
Hm.. die Beziehung zwischen den Beiden spitzt sich ja langsam zu. Endlich mal eine Handlung die sich Beide nicht erklären können. Mir hat Ls Reaktion darauf und wie Light sie auffasst von der Beschreibung her ziemlich gut gefallen. Wobei eine Ohrfeige ja fast schon typisch ist? Und ohne Scherz bei Ls letzter Aussage "Auge um Auge" könnte ich nicht mehr. Ich habe mich so weggelacht :D
Zu Kira Regentschaft wird ja gesagt, dass sie kein Bestand hat und dem stimmte ich auch zu. Dennoch habe so leichte Zweifel an Ls Begründung, wenn er sagt, dass der Schrei nach Freiheit irgendwann fast immer zu Reformation oder Revolution führt. Unabhängig davon das es an sich schwierig ist Kira zu stürzen durch die Macht, die er durch das Death Note erhalt, sind die meisten Menschen nicht eher passive Gewohnheitstiere? Um es mal drastisch auszudrücken. Hat Light nicht soweit Recht, dass erst wenn die Menschen glauben nichts mehr verlieren zu können, sie bereit sind sich den Konsequenzen eines Aufstandes zu stellen? Ist der vorherrschen Grund nicht mehr Unzufriedenheit der eigenen Lebenslage (durch z.B. finanzielle und soziale Missstände) als der Wunsch nach Freiheit? Dabei stellt man sich auch die Frage: Was ist wichtiger Sicherheit oder Freiheit?
Das bringt mich zu einem Punkt, den ich mich schon immer gestellt habe, wenn ich DN gelesen habe. Nehmen wir an L schafft es nicht Kira aufzuhalten und Kira gelingt es in soweit alle Mörder in Gefängnissen zu töten und schreckt durch die Angst weitgehend alle weiteren Verbrechen dieser Art ab. Wie geht es dann weiter? Als nächstes Folgen die Vergewaltiger? Und danach Diebe/Betrüger? Schließlich alle die nicht zum Wohle der Gemeinschaft handeln?
Ich meine natürlich, hat Light schon immer Tendenzen zu Kira gezeigt durch seinen extremen Gerechtigkeitssinn. Aber das Death Note hat nicht grade bei seinem Größenwahnsinn geholfen. Also würde es nicht immer schlimmer werde je länger er das Death Note nutzt? Und natürlich könnte er so oder so niemals sein Ziel erreichen? Aber wenn müsste er sich dann nicht reintheoretisch selber umbringen, weil er zum Mörder geworden ist? Und wenn wahrlich Gerechtigkeit herrscht, muss es doch Niemanden mehr geben, der die Ungerechtigkeit bestraft?




Inwieweit schränkt Kira


Wenn Kira sein fast

Antwort von:  halfJack
03.06.2014 18:54
Am merkwürdigsten an diesem Kapitel fand und finde ich wohl, dass die beiden eine komplizierte Diskussion weiterführen, obwohl sich Light in einem prekären "Zustand" befindet. Ich weiß nicht, ob ich das nun noch nachvollziehbar, realistisch oder logisch finde, denn eigentlich müsste bei Light in der Zwischenzeit ja alles wieder in sich zusammenfallen, um es mal so zu formulieren. Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Komik. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich manch intime Situation oft mit Analytik in Gesprächen oder Gedanken unterbreche, vielleicht um die Distanz wiederherzustellen? Ich glaube, dadurch werden die Situationen in ihrer Intensität gehemmt oder wieder beruhigt und ich bin mir noch nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist.

Ich kann es nur vermuten, aber deine Einstellung zu Ls Aussage in Bezug auf den Schrei nach Revolution und Freiheit, entnehme ich, dass du womöglich kein Kira-Befürworter bist, oder? Man könnte es nämlich auch andersherum verstehen, indem der Aufschrei der Menschheit überhaupt erst zu Kiras Machtübernahme führte, immerhin waren die Medien, viele Staaten und fast die gesamte Öffentlichkeit am Ende auf seiner Seite. Geschah das durch seine Diktatur? Light hat zu Beginn lediglich Verbrecher ermordet, ohne seine Identität zur Schau zu stellen, ohne jemanden zu erpressen oder auf seine Taten hinzuweisen. Erst im Internet kursierten Gerüchte über jemanden, der gerechte Urteile fällt, niemand sprach von einem Übeltäter, und sie gaben ihrem "Erretter" sogar einen Namen. Im Prinzip hat sich die Welt, wie ich es in 24/7 sogar einmal formulierte, Kira also selbst erschaffen und ihn in der Masse weiter unterstützt.
Light sagte am Ende der Serie zu Near, wenn dieser Kira nun aufhalten bzw. auslöschen würde, wäre seine Tat Unrecht, weil die Mehrheit sich bereits für Kira entschieden habe. Kira war die neue, von Staat und Volk befürwortete Gerechtigkeit, wenn man so will.
Ich möchte damit nicht festlegen, dass Kira das Gute sei. Es ist mir nur wichtig, zu zeigen, dass man Gut und Böse in dieser Hinsicht unterschiedlich auslegen kann. Diese ganze Debatte bewegt sich quasi jenseits von Gut und Böse.

Deinen restlichen Ausführungen und aufgeworfenen Fragen stimme ich voll und ganz zu. Auch der Vermutung, dass Light irgendwann außer Kontrolle geraten würde. Man kann dahingehend nur Vermutungen anstellen. Als er Mikami das Heft überließ, ging dieser schnell zu weit, indem er beispielsweise Verbrecher bestrafen wollte, die ihre Taten bereits gesühnt hatten. Light dachte selbst, das dürfe nicht geschehen, das wäre keine Gerechtigkeit, sondern Rache. Oder zumindest... sei es noch zu früh. Ich glaube, dass sich Light sehr gut beherrschen konnte, dass er seinen Verstand sehr viel länger im Griff hatte oder haben konnte als Mikami, der dem Druck relativ zügig erlag. Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube daher wie du, dass niemand eine solche Aufgabe dauerhaft tragen kann. Nach außen war es vielleicht nicht sichtbar, aber Lights Geist wurde meines Erachtens über die Jahre Stück für Stück zerrüttet. All das offenbart sich erst ganz zum Schluss, in seinen letzten Minuten. Ich halte Kiras Idee für richtig, aber kein Mensch ist stark genug, um diese Aufgabe zu übernehmen. Dafür müsste man ein Gott sein. Das allerdings ist Light nicht.
Außerdem müsste er sich in letzter Konsequenz tatsächlich selbst töten.
Antwort von:  Kaylee
21.06.2014 14:09
Um ehrlich zu sein, bezog ich mich bei meiner Kritik von Ls Ausführungen gar nicht auf die Machtübernahme von Kira. Zumindest nicht auf seine Ursachen. Soweit habe ich gar nicht gedacht :(
Eigentlich habe ich mich in ein Gedankenexperiment zu der Frage: "Was wäre wenn...?" verstrickt. Was wäre wenn Kiras Regentschaft bestehen würde? Falls es so wäre, zweifele ich nämlich, dass der Grund zur Revolution/Reformation die unterdrückte Freiheit ist. Denn ist nicht der vorherrschende Grund- der den Schrei zur Veränderung bewegt, die „eigene Unzufriedenheit“?

Nehmen zum Bespiel die allzeit gern aufgeführte „Französische Revolution“. Jahrhunderte lang herrschte Monarchie im Land. Natürlich kam es zu Demonstrationen, aber bis dahin existierten nie genug Anhänger der Aufklärung. Warum also dann im Jahre 1789? Sowohl der Absolutismus als auch die Privilegien des Adels bestanden zuvor schon. Das Einzige was sich veränderte, war die 100% Verschuldung des Staates. Das zur Folge hätte, dass das Volk hungern musste („eigene Unzufriedenheit“). Waren nicht die Forderungen nach Freiheit, nur Mittel zu Zweck? Um die sozialen Missstände einzudämmern? Ist nicht heute wie damals so, dass jeder denkt, er könnte es besser. Auch wenn er nicht weißt, was es bedeutet, die Verantwortung zu tragen? Nicht das die politische, finanzielle und auch soziale Gleichheit erreicht worden wäre bzw. lange Bestand hatte -bei der „Französischen Revolution“. Aber der Gedanke würde gesät. Ich möchte diesen auch nicht schlecht reden. Ich glaube nur, dass er nicht ausschlaggebend war für die Revolution, sondern eine Konsequenz dessen. Wenn wir das nun auf Kiras Regentschaft beziehen, so besteht für Kira das Ideal der vollkommende Gerechtigkeit.
Daraus schließe ich nimmt auch die Sicherheit einen Faktor ein, der aus dieser Regentschaft resultiert. Darauf bezog sich meine Frage nach, was ist wichtiger Sicherheit oder Freiheit?

(Unabhängig von dem Aspekt, dass Kiras Gerechtigkeit von der Gesellschaft schon größtenteils legitimiert würde. Dann wäre es ja theoretisch an sich ein Verbrechen, dagegen vorzugehen? Dabei existiert zu diesem Moment ja noch die Ermittlung gegen Kira. Dabei entsteht natürlich die Frage: Wenn die Mehrheit einer Gesellschaft das Verhalten von Kira befürwortet, ist dann nicht auch Recht? Ups…schon sind wir bei der Debatte von Recht und Unrecht/ Gut und Böse, die ich eigentlich auch gar nicht diskutieren wollt XD)

Denn wie kommt es ansonsten das inzwischen die immer weiter Gated Community verbreitet. Das Menschen bereit sind einen großen Teil Ihrer Privatsphäre aufzugeben, nur um dann in Security-Zone-Communitys zu leben?
Unter gewissen Bedingungen nimmt der Schrei nach Freiheit natürlich einen Stellenwert ein. (Alles andere wäre doch eine sehr pessimistische Sichtweise meinerseits :D)
Wie sonst kommt es das der Kommunismus, welcher auch immer sukzessive Züge einer Diktatur annimmt, keinen Bestand hat. In einer Gesellschaft in der keine „Arbeitslosigkeit“ herrscht, in der alle Güter gleichermäßen gerecht verteilt werden, ist es in moralischer Hinsicht schwer dem etwas abzusprechen. Und wenn wir einmal die pekuniären Dimensionen außer Acht lassen, war der wichtigste Faktor doch die fehlende Darstellung der Individualität. War es nun der Verzicht auf bestimmte Güter für die Allgemeinheit, die damit einhergehende eigene Unzufriedenheit oder der Wunsch seine Persönlichkeit frei zu entfalten? Kann man das überhaupt trennen? Wahrscheinlich nicht. Aber auch das Gegenteil, also ein Laissez-faire Kapitalismus ist (wie die Geschichte zeigt) nicht die wahre Lösung. Letztendlich sollte man wahrscheinlich immer einen Mittelweg zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit finden.

Noch kurz zu den Ursachen Kiras Idealismus. Ich würde niemals soweit gehen zu behaupten, dass die Gesellschaft keinerlei Einfluss auf die Taten von Kira hat. Schließlich ist es unbestritten, wie sehr das soziale Umfeld einen prägt - insbesondere auch die Erziehung. Es ist natürlich auffallend das auch Lights Vater als Polizist einen ausgeprägten Gerechtigkeitsinn besitzt. Dabei handelt es sich wohl kaum um einen Zufall :D
Eigentlich ist es sogar erschreckend, wie talentiert die Allgemeinheit ist, sich ihre „Probleme“ selbst zu erschaffen. Wenn man sich einmal die Statischen zwischen Täter-und Opfer-Zirkel anschaut. Zu deren Ursachen es ja die verschiedensten Theorie der Bindung gibt, ist doch auffällig, dass in der Mehrheit männliche Opfer, die in ihrem Leben Gewalt erlebt haben, ein höheres Aggressionspotenzial aufweisen und dieses auch ausleben. Wobei weibliche Opfer nicht minder weniger Gewalt erleiden- im Bereich sexueller Gewalt sogar deutlich mehr -, reagieren sie zum großen Teil nicht mit eigener Gewalt gegen andere, sondern richten Aggressionen eher gegen sich selbst und bleiben Opfer. So stimme ich zu, dass die Gesellschaft in gewisser Weise Kira selber erschaffen hat und unterstützt.

Nun bin ich nach diesen Aufführungen ein Kira Befürworter oder nicht?
Ich bin selber nicht imstande diese Frage gänzlich zu beantworten. Für mich Stand immer fest das Kira sein Ideal niemals verwirklichen werden könnte. Andererseits ist das auch nicht die Hauptfunktion eines Ideals. Ich fühlte mich immer mehr zu Lights und somit auch Kiras Charakter hingezogen. Wobei Ls Charakter auch seine Vorzüge hat (Süßigkeitstick :D) . Am Ende bin ich einfach ein Befürworter der Beziehung/Positionen zwischen den Beiden.
Antwort von:  halfJack
02.08.2014 15:36
Die Gespräche zwischen L und Light stellen für mich Ausschnitte dar. Sie setzen nicht dort an, wo sie eigentlich beginnen, und sie werden auch nicht in einer einzigen Unterhaltung zu einem Ende gebracht, weil das bei Diskussionen oder Überlegungen niemals so ist und niemals so funktioniert. Wir denken über eine Sache nach, teilen uns mit, erhalten neue Perspektiven durch fremde Anschauungen, argumentieren und lassen uns den Stand der Erkenntnis in der Zeit bis zur nächsten Auseinandersetzung durch den Kopf gehen, bis wir neue Argumente, neue Erkenntnisse finden. Logischerweise kann man nicht in einem einzigen Satz alle Aspekte der eigenen Meinung vermitteln. L sagt zwar, dass die Menschheit irgendwann nach Freiheit schreit, aber was dazu gehört, erwähnte er an einer ganz anderen Stelle, als er Thomas Jefferson und seine Meinung über die Wahrheit zitierte. Darauf nimmt er hier Bezug. In einem späteren Kapitel sprechen sie zudem darüber, dass sich Menschen einem Zustand fügen, solange er gerade noch erträglich ist. Erst wenn der Druck zu groß wird, der bestehende Zustand schlimmer ist als das, was man als Konsequenz aus der eigenen Auflehnung erleiden könnte und sei es auch Folter oder Tod, erst dann brechen die Menschen ihre aus Gewohnheit aufrecht erhaltene Untätigkeit. Deiner Erklärung der Kritik, die du an Ls Aussage übst, entnehme ich genau diesen Sachverhalt. Es ist also keineswegs so, dass L die Menschen und vor allem ihren Wunsch nach Freiheit derart überinterpretiert. Ich denke, er fasst die Welt und seine Aussage zu solchen Veränderungsprozessen viel simpler auf, nämlich dass sich ein Zustand immer irgendwann ändert. Wie sicher und gefestigt uns die Staatskonstruktionen auch erscheinen, irgendwann geht jede Zivilisation zugrunde und wird durch etwas anderes ersetzt oder zumindest vollziehen sich unentwegt und unaufhaltsam Veränderungen, die nicht zwangsläufig etwas damit zu tun haben müssen, dass der Zustand nicht tragbar wäre. Diese Veränderungen hängen häufig nicht von einem leicht durchschaubaren Wollen der Menschen ab. Das Problem an Kiras Welt ist in Ls Augen der Meliorismus. Kira will eine ideale Welt erschaffen, die gar nicht existieren kann, von Anfang an nicht. Du erwähnst den Kommunismus, das ist ein gutes Beispiel dafür. Zu keiner Zeit kann ein solches Ideal in der Realität bestehen. Es dient lediglich als Orientierungspunkt. Meines Erachtens glaubt L nicht an Verbesserungen. Ich interpretiere ihn fast schon anarchistisch, schließlich ist er weltweit unterwegs und mit verschiedenen Staatssystemen vertraut, integriert sich allerdings in keines davon. Es gibt für ihn nicht den perfekten Staat, Menschen oder die perfekte Welt, daher sind alle Bemühungen dahingehend für ihn von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das soll keine Festlegung sein, die behauptet, es gäbe das nicht. Viele glauben daran, dass die Menschheit Stück für Stück besser wird. Einige Historiker glauben an teleologische Konzeptionen, die Geschichte würde zeigen, dass wir auf irgendein Ziel zu steuern. Religiöse glauben oft an Eschatologie. Man kann dem Kind unterschiedliche Namen geben, doch im Grunde ist es immer die Hoffnung auf das Gute, auf Vollkommenheit, selbst wenn man diese niemals erreicht. Für L allerdings ist der letzte Punkt, dass man ihn eben niemals erreichen kann, diesen vollkommenen Zustand, Grund für die generelle Haltlosigkeit der Theorie. Es ist nur meine Interpretation von L. Das macht für mich jedoch den grundlegenden Unterschied zwischen L und Light aus. Light glaubt, die Menschen könnten sich durch Kontrolle wandeln und die Welt könnte in den richtigen Händen besser werden. Für L hingegen wird die Welt nicht mit der Zeit besser, sondern bloß anders.

Wie man es auch dreht und wendet, ich mag sowohl L als auch Light, genauso wie du. Beide "Ideen" haben ihre Berechtigung. Man kann beim gründlichen Überlegen nicht eine von beiden Denkweisen einfach befürworten und die andere von der Hand weisen. Und ja, deswegen mag ich gerade die Beziehung/Positionen zwischen ihnen. ^_^
Von:  Kaylee
2014-04-26T09:43:02+00:00 26.04.2014 11:43
Ich sehe das ganze ähnlich. Es ist Schade, dass L und Light sich nicht vorher kennengelernt haben. Andererseits wäre glaube ich nie so eine tiefe Beziehung zwischen Ihnen entstanden. Denn aus welchen Grund hätte L seine Deckung aufgeben sollen? Und ist nicht auch grade für L so spannend, dass Light Kira ist? Letztendlich ist Beides traurig, dadurch das Light seine Erinnerungen verloren hat, gab es einen Ausblick daraus wie ihre Freundschaft hätte sein können. Da die Beiden aber immer noch Feinde sind, wusste man das diese Zeit nicht lange anhalten wird. Doch trotzdem ist Original wirklich viel unter dem Tisch gelassen worden- was in diesen 2 Monaten passiert. Aber deshalb holt man sich ja Inspiration von Ff :-)
Ich bin wahrscheinlich auch nicht die Beste dafür um zu diskutieren, was im Manga alles vorgekommen ist und was nicht (Was fehlt und was versteckt ist...). Es ist schon so lange her das ich diese Serie gelesen habe. Obwohl man nun schon Lust bekommen sie nochmal zu lesen :)
Antwort von:  halfJack
02.06.2014 16:15
Dem kann ich kaum etwas hinzufügen. Wäre Light nicht Kira gewesen, hätte das ihre Beziehung auf diese Weise nicht möglich gemacht. In How-to-read steht zwar, ohne Erinnerungen hätten L und Light auf Augenhöhe Verbrecher jagen können, aber das ist nicht vergleichbar mit dem, was sie in der Zeit ihrer Aneinanderkettung hatten. Damit meine ich nicht das, was ich selbst hinzugedichtet habe, sondern was eindeutig da ist. L dachte selbst, als er sich zum Jahreswechsel den Polizisten zeigte, dass er sich zum ersten Mal - quasi in der "Öffentlichkeit" - vor anderen Personen zu erkennen gibt. Kira hat ihn dazu gezwungen, weil L nur so das Vertrauen der Polizisten gewinnen konnte, von denen nur noch wenige im Team übrig geblieben waren, deren Hilfe er allerdings benötigte. Selbst Aiber und Wedy gegenüber hat er sich vorher nie persönlich zu erkennen gegeben. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe hätte demnach so ausgesehen wie in den Jahren davor, über Bildschirme und seinen Stellvertreter Watari. Ich glaube kaum, dass sich L und Light jemals richtig getroffen hätten.
Aber ich wiederhole mich. Hatte ich nicht eingangs geschrieben, dem könne ich nichts hinzufügen? Na, egal...
Von:  Kaylee
2014-04-25T23:18:36+00:00 26.04.2014 01:18
Okay, unser Gehirn steuert also alle unsere Handlungen und Denkstrukturen. Wenn es verletzt wird, könnte es dazu führen, das sich die komplette Persönlichkeit verändert. Woran macht man dann also Persönlichkeit fest?
Ja, das sind schon schwierige bis zu nichts führende Gedanken. Aber wer entscheidet eigentlich das die Persönlichkeit ständig gleich oder ähnlich bleiben muss?
Schließlich prägen uns jeden Tag Eindrücke, Meinungen und Empfindungen (die ja eh nur subjektiv aufgenommen werden), die schließlich alle beim Gehirn landen. Aber das Gehirn ist doch nicht unbeweglich. Es erneuert ständig Nervenzellen oder baut welche auf oder sie sterben ab. Aber findet somit nicht ein ständige Entwicklung statt? Wer sagt mir nun das wenn ich ein Eingriff am Gehirn habe und sich dadurch meine Persönlichkeit ändert, diese Änderung nicht grade typisch für meine Persönlichkeit ist?
Sry, eigentlich sind diese Gedanken ja auch unwichtig. Aber ich finde auf die Entwicklung der Persönlichkeit wird in diesem Bezug einfach zu wenig eingegangen. Außerdem wenn L und Light sich zu viele Gedanken machen, darf ich doch auch ausnahmsweise Ausschweifen.
Mir ist natürlich schon aufgefallen das Ls Erklärungen bezüglich Misa und Matsuda bewusst unverständlich sind. Allerdings habe ich sie nicht für eine Art Humor gehalten, (auch wenn ich Humor mag, die Beiden sind echt zu ernst :)), sondern dachte L tut das aus Berechnung, damit Matsuda und Misa endlich gehen. Vielleicht bin ich schon wie Kira und vermute hinter jede Handlung von L Kalkül. Aber irgendwie wirkte die Geste, das L auf seine Füße starrt, für mich schuldig. Was ich übrigens sehr wohl witzig finde ist, das Light erst mal vermutet L hätte eine Zwangsstörung :D

Ah ja...ich gehöre zu den Personen, die denken und gleichzeitig schreiben, wobei somit zwangsläufig einige Wörter in meinen Sätzen fehlen. Das tut mir leid, aber ich denke, der Sinn ist meistens noch zu erkennen. So und da ich müde bin, gehe ich jetzt endlich schlafen und schau nicht nach meinen R-Fehler.

Antwort von:  halfJack
02.06.2014 16:02
Die Debatte um die Determinierung entspricht in etwa meinen eigenen Gedanken. Die meisten Menschen sind, selbst wenn es nicht religiös untermauert wird, tendenziell Dualisten. Das ist eine Kluft, die sich im Verständnis zwischen denjenigen aufbaut, die an eine Seele glauben, und denjenigen, die das nicht tun. Man muss es nicht Seele nennen, man kann auch Geist oder Energie oder was auch immer dazu sagen. Ich bin Materialist, denn ich glaube, dass alles, was in der Welt geschieht, auf empirischen bzw. physikalischen Gesetzen beruht, die so unwahrscheinlich komplex sind, dass der Mensch vermutlich niemals alles erklären können wird. Meines Erachtens besteht diese Möglichkeit allerdings, dass man jeden Gedanken und jedes Gefühl in uns auf neuronale und chemische Prozesse unseres Gehirns respektive Körpers zurückführen kann. An eine Seele glaube ich nur in der Hinsicht, solange man sie als die Persönlichkeit oder das gesamte Zusammenspiel dessen, was einen Menschen ausmacht, quasi als seine Identität definiert. Kein magischer Geist, keine göttliche Fügung. Wenn man so will, bleibe ich trotzdem Agnostiker. Ich bestehe nicht darauf, dass ich mit dieser Ansicht Recht habe, und versuche auch niemanden davon zu überzeugen, der an übergeordnete Mächte oder ähnliches glaubt. Wozu auch? Das Gegenteil könnte ich ohnehin nicht beweisen, aber genauso wenig akzeptiere ich an den Haaren herbeigezogene Darlegungen und Totschlagargumente, die mich vom Gegenteil überzeugen sollen. Zudem mag ich eigentlich mystische Inhalte - Death Note mit seinen Todesgötter und einem tödlichen Notizbuch ist das beste Beispiel dafür, aber auch darüber hinaus interessiere ich mich für Mythologie, Religion, Fantasy, Magie, obwohl ich an nichts davon im mystischen Sinn glaube.
Warum greife ich das hier auf? Weil ich denke, dass das eine Grundaussage von Death Note ist. Ohba scheint mir, laut der Inhalte von Death Note und anhand von Interviews, eine nüchterne Position zum menschlichen Dasein zu beziehen. "Mu", das Nichts, welches am Ende so ins Zentrum gerückt wird, unterstreicht eine einzige Lehre, die man in Death Note vielleicht finden könnte: dass wir nämlich im Hier und Jetzt leben, dass wir im Nichts verschwinden, wenn wir sterben, und dass wir deshalb nur dieses eine Leben zur Verfügung haben. Diesem Gedanken geht die Nichtexistenz der Seele fast schon zwangsläufig voraus. Wenn es nichts gibt, das unabhängig von unserem Körper existiert, dann kann dieses Nichts auch nirgends hingehen.

Aber zurück zur Entwicklung der Persönlichkeit.
Es geht in diesem Kapitel gerade darum, dass die Persönlichkeit jedes Einzelnen eine sich verändernde Konstante ist. Das klingt nach einem Widerspruch, aber in der Regel wird man als Mensch sich selbst wiedererkennen als das, was man ist, selbst wenn man nach einer Verletzung des Gehirns laut der Aussagen der Angehörigen völlig anders geworden ist. Die rhetorischen Fragen von L sollen gerade darauf hinweisen, dass man sich dahingehend nicht so sicher sein sollte und natürlich verbirgt sich unter dieser ganzen Unterhaltung das, was er vorher in den Raum gestellt hat: Misa und Light waren beide Kira und ihre Erinnerungen daran müssen sie verloren haben. Damit sagt L auch: Light bleibt Light, ob nun als Kira oder als erinnerungsloser Musterschüler. Eine Persönlichkeit kann sich durch die Erfahrungen, das Wissen und die äußeren Einflüsse ändern, aber es bleibt trotzdem noch dieselbe Person.
Dass uns täglich viele Dinge prägen, die subjektiv aufgenommen werden, hat L in seinem langen Blocksatz gesagt, obwohl das unter seiner komplizierten Ausdrucksweise vermutlich leicht unverständlich klang. Nicht nur das Gehirn wird ständig erneuert, Zellen sterben ab und werden ersetzt, der gesamte Organismus funktioniert auf dieselbe Weise. Nach sieben Jahren ist alles von einem Menschen bereits einmal abgestorben und ersetzt worden. Es existiert nach dieser Zeit demnach gar nichts mehr von diesem Menschen, was vor sieben Jahren noch da war. Wir stellen nur eine Kopie unseres damaligen Ichs dar und je mehr Zeit vergeht, desto häufiger werden wir ausgetauscht und sind nur noch eine Kopie von der Kopie von der Kopie.
Von:  Kaylee
2014-04-25T22:48:20+00:00 26.04.2014 00:48
Hätte Kira anders handeln können?
Ich liebe es, dass du diese Frage mit integriert hast. Denn schließlich passt sie äußert gut in den Zusammenhang. Auch wenn nie ein Freund des Determinismus war, ist es dennoch so, dass unser gesellschaftliche-soziale Umwelt uns ungemein prägt. Das ist schließlich an zig Beispiele belegbar. Aber wenn man eh nicht über seine Handlungen bestimmen kann,dann trägt man doch auch nicht die Verantwortung für seine Entscheidungen, oder? Das ist der Grund, warum ich ernsthaft daran zweifele das L seinen Standpunkt wirklich aus Überzeugung einnimmt. Sondern eher um Light zu provozieren und damit tierisch nervt. Aber ist das gleich ein Grund gewältig zu werde, Light? :-)
Eins noch in den Kapitel davor ging es ja um den Relativismus in ethnische und religiöse Hinsicht... wie auch immer. Ich habe es so verstanden, dass Light und Ruyzaki beide Vertreter des Relativismus sind. Aber Light sagt ja hier,"was du fühlst, ist für dich echt. Darüber kann dich niemand belügen. Darum ist das die einzige Wahrheit." (Wunderbare Szene!)Widerspricht sich das nicht in gewisser Weise? Oder ist es so zu verstehen, dass er zwar mehrere Wahrheiten akzeptiert und sich dem Inhalt von Ihnen auch bewusst ist, aber für sich selber immer nur Eine existiert? Bis zum Stadium der Veränderung?









Antwort von:  halfJack
22.05.2014 19:59
Dieses Dilemma erinnert mich an das erste Gespräch zwischen L und Light im Café, als Light zuerst behauptete, L könne gar nicht der echte L sein. An dessen Stelle hätte Light jemanden geschickt, der sich nur für L ausgibt, zumal L so offensichtlich merkwürdig aussehen würde, dass er nicht wie L wirken könnte, da man eher einen charismatischen Mann mittleren Alters erwartet. Andererseits könnte gerade diese Annahme dazu führen, dass man mit dem wirklichen L Unsicherheiten schüren oder umgekehrt mit der Erwartung spielen und einen offensichtlich falschen L ins Feld führen könnte, bei dem es sich in Wirklichkeit um den echten handelt und so weiter und so fort. Man könnte ewig so weitermachen, es würde einem davon nur schwindlig werden.
Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach der Schuld. Wir sind als Menschen kein unbeschriebenes Blatt, immer sind wir Einflüssen unterworfen, die unser Handeln zwar nicht entschuldbar, aber erklärbar machen. Ich wollte dieses Thema unbedingt aufgreifen, auch wenn es darauf keine Antwort gibt und man sich ewig nur im Kreis dreht.
Aber du hast vollkommen Recht: L nimmt seinen Standpunkt oft nicht aus Überzeugung ein, sondern um Light zu provozieren und Aspekte von Kira in ihm zu entdecken. Gleichfalls mag L solche Auseinandersetzungen, obwohl er keinen Wert darauf legt, seine eigene Position genau darzustellen oder sie überhaupt zu beziehen. Meines Erachtens hat dieser Wille, sich verständlich zu machen, mit Selbstbehauptung und Etablierung zu tun. Etwas, das durchaus zu Light passt, aber nicht zu L.
Manchmal glaube ich fast, L hat Spaß daran, andere Leute zu nerven oder zu ärgern. Wie ein kleiner Junge. Und Light, der ist im Original ja sogar wegen jeder Kleinigkeit schon handgreiflich geworden. Es scheint zuerst, als passte das gar nicht zu ihm. Aber dann ist ihm L wohl doch nicht so gleichgültig. :)

Deine Frage finde ich sehr gut und auch auf sie gibt es keine eindeutige Antwort. Sicher widerspricht sich jeder mal, selbst wenn es sich im eigenen Verstand noch logisch anfühlt. Wenn man es genau nimmt, nutzt Light an dieser Stelle ein Totschlagargument, weil L die vorigen Fakten bis zur letzten Konsequenz denkt und Light diesen Schluss nicht zulassen möchte. Ab einem bestimmten Punkt stellt sich Light diese Fragen einfach nicht mehr. In seiner erinnerungslosen Zeit hat er einmal festgestellt, dass die Morde des ersten Kiras seinem eigenen Urteil sehr ähnlich sind, dass er sie sogar sehr gut nachvollziehen kann. Somit sei der Yotsuba-Kira ein anderer als der erste. Light hat es akzeptiert, als L meinte, Misa und er wären auf jeden Fall die beiden Kiras gewesen und hätten jetzt nur ihre Erinnerungen verloren. Aber trotzdem führt das nicht zu einer Vertiefung seiner Zweifel. Light nimmt es hin und macht weiter. Er schiebt seine Irritation in Bezug auf seine Entdeckung beiseite und erklärt es schlichtweg als absurd, sich selbst mit Kira zu vergleichen. Ende.
Warum tut er das? Ich glaube, dass Light bei manchen seiner Überlegungen an den Punkt kommt, an dem er erkennt, dass es keine weiteren Antworten gibt. Man kann darüber grübeln, inwiefern das Gehirn allein für unsere Handlungen verantwortlich ist, man kann über die Determinierung des Menschen und die mögliche Festlegung seiner Schuld nachdenken, aber Light verliert sich nicht in irgendwelchen vergeblichen Philosophien. Sobald dieser Punkt erreicht ist, zieht er einen Schlussstrich. Diese Art des Denkens ist sogar typisch japanisch/asiatisch. Manches wird nicht hinterfragt, sondern ausgeführt. Gelassenheit, Akzeptanz. Wozu hinterfragen, ob meine Gefühle von Botenstoffen in meinem Gehirn ausgelöst werden, wenn ich fühle, was ich fühle? Irgendwann sagt Light auch in etwa: "Ich bin ich, daran ändert sich nichts." Zwar ist L ebenfalls bewusst, wie wenig man einige Debatten zu einem Ende bringen kann, aber manchmal neigt er zu Versunkenheit und Melancholie, zumindest kann man das im Anime schön in der Folge "Stille" sehen. Sicher, nicht alles, was er sagt, sollte man ernst nehmen. Aber nicht nur, weil L oft lügt, sondern weil er mit seinen Gedanken von Zeit zu Zeit sehr weit weg ist.
Von:  Kaylee
2014-04-25T22:20:52+00:00 26.04.2014 00:20
Nun wie versprochen oder angedroht, je nachdem wie man es auslegen will, mein Kommentar.
Kaum zu beschreiten finde ich deinen Schreibstil auf jeden Fall fesselnd und einzigartig. Die prägnant Sätze zu Beschreibung der Handlung, welche auf mich schon fast wie eine Effizienz des Ziel wirken und dazu im Kontrast die detaillierten Ausführungen der beiden Protagonisten. Das schon fast ein apodiktischer Stil. Zu der Vorwarnung erscheint mir das Kapitel noch sehr verständlich, wobei ich ja schon die nächsten Kapitel kennen. Ich denke man muss einfach auf die Aussagen von Light und L sehr genau achten um auch die versteckten Zweideutigkeiten zu erkennen.
Zu der Äußerung von Light, das L ein Perfektionist ist, hätte ich gern noch mehr gelesen. Es ist schließlich leicht von einem ehrgeizigen Charakter auf einen perfektionistischen zu schließen- zumindest in Hinsicht auf manche Bereiche :-)

Lg Clary
Antwort von:  halfJack
22.05.2014 19:04
"Ein apodiktischer Stil". *lach* Es passiert selten, dass ich von jemandem das gleiche philosophische Vokabular vernehme, mit dem ich selbst um mich werfe. Nun gut, ich möchte daran arbeiten, dass die Gespräche natürlicher und nicht so endlos wirken. Normalerweise ist es in Texten eher umgekehrt: Die Beschreibungen sind ausführlich, die Gespräche eher einfach. Das ist an sich auch naheliegend, weil sich Menschen, wie man meinen möchte, präzise in Hauptsätzen ausdrücken und schneller auf den Punkt kommen, um den Faden in ihren Worten nicht zu verlieren. Vielleicht liegt es an meinem Deutschlehrer, der in meiner Schulzeit Sätze formulierte, die manchmal erst nach fünf Minuten endeten. Ich persönlich habe auch manchmal die Angewohnheit, meine Aussagen unverständlich in die Länge zu ziehen, dabei finde ich das selbst nervig. Ich will versuchen, meine Sätze noch knapper zu gestalten, weil ich das eigentlich mag. Ich bin nämlich der Meinung, man kann etwas nicht prägnant vermitteln bzw. mit einem Satz keinen prägenden Eindruck hinterlassen, wenn dieser zu lang und verworren ist. Die großen Zitate der Weltgeschichte, erinnerungswürdige Aphorismen, sind meist sehr kurz gehalten und auf den Punkt gebracht. Oscar Wilde war ein Meister dieser Erzählkunst, obwohl sein Schreibstil ansonsten sehr ausschweifend war.
Ich habe nicht erwartet, dass man die ersten Kapitel von 24/7 schon als prägnant wahrnehmen könnte, so empfinde ich es nämlich selbst nicht unbedingt. Der Schreibstil wirkt auf mich eher 08/15. Erst im Laufe der Zeit bin ich damit halbwegs zufrieden gewesen. Daran werde ich weiter arbeiten.

Die Vorwarnung aus der Inhaltsangabe habe ich erst viel später eingefügt. Ich kann nicht besonders gut Inhaltsangaben oder Vorreden schreiben. Daran scheitere ich meistens. Ich weiß nicht, inwiefern ich damit einen falschen Eindruck vermitteln könnte oder wo ein Hinweis angebracht wäre, damit man sich als Leser darauf einstellen kann. Eigentlich lag es nur an einigen Kommentaren, in denen man mir mitteilte, die beiden würden ja endlos nur erzählen und in der Geschichte gäbe es null Action. Noch dazu ist vermutlich nicht alles ganz oder gleich auf Anhieb verständlich. Ich wollte daher schlichtweg, dass man mit 24/7 nicht unnötig anfängt, wenn man solche Unterhaltungen gar nicht lesen will. Gleichzeitig war es mir wichtig, zu betonen, dass man natürlich nicht alles bis ins kleinste Detail verstehen muss. Das sollte eigentlich auch die Wiederlesbarkeit dieser Geschichte ausmachen. Schön, wenn man, wie du meinst, auf die Aussagen genau achtet und die "versteckten Zweideutigkeiten" entdeckt. Oft sind diese Hinweise in der Tat sehr subtil und interpretierbar. Ich glaube, 24/7 ist etwas für Liebhaber, also nichts für jeden. Das soll keine gute oder schlechte Bewertung sein, denn was man gern liest, entspricht eben den eigenen Vorlieben und Prioritäten. Falls es so sein sollte, dann bin ich froh darüber, mit 24/7 eine Nische auszufüllen, die einige Leser vielleicht gar nicht, andere dafür umso mehr berührt.

Ich hoffe, dass ich zu Ls vermeintlichem Perfektionismus irgendwann noch mehr schreiben kann. Gedanklich habe ich es mir jedenfalls aufgrund deiner Anmerkung schon mal notiert.
Von:  Kaylee
2014-04-25T21:57:33+00:00 25.04.2014 23:57
Hey :-)

Vor ab als kleine Erläuterung zu meiner Person. Ich lese mir nun schon seit Jahren Fanfiction und diverse Dōjinshins durch und geistere so heimlich durch diese Seite. Allerdings sah ich nie Bedingungen mich selber anzumelden. Da ich nicht wirklich etwas veröffentliche wollte. Als Typus wurde ich mich mehr als Vielleserin als denn Vielschreiberin klassifizieren und da meine Zeichenkünste auch mehr mäßig als respektabel sind (auch wenn ich es mir anders wünsche), wollte ich mich eigentlich nie hier anmelden.
Aber nun sah ich mich förmlich gezwungen, es doch zu tun. Einerseits natürlich weil ich dir doch gerne ein Kommentar schreiben wollte und anderseits will ich natürlich wissen, was ich Kapitel 42 passiert. Um meine Situation etwas besser zu verstehen und meine absurde Erläuterung muss ich wohl erklären, dass ich die letzten 2 Tage seit ich diese Geschichte entdeckte habe, nichts anderes gemacht habe als zu lesen. Ich habe wahrlich jede freie Minuten genützt und frage mich, wie jemand überhaupt aufhören könnte deine Geschichte zu lesen? Wie auch immer, ich war in einem wahren Leserausch. Und Rausch trifft es wirklich, denn ich habe seit zehn Stunde nichts mehr zu mir genommen, weil ich mich nicht vom Rechner lösen konnte :-D
Deshalb entschuldige ich mich, wenn mein Kommentar wenig Sinn ergibt und zu einer egoistischen Lobpredigt wird. Ich schiebe es auf meinen Schlafmangel und meine halbe Dehydrierung. Letztendlich bleibt es dabei, dass ich noch nie so eine gute Fanfction bezüglich "Death Note" gelesen habe. Ich bin begeistert davon, wie viel du von Original übernommen hast und in deine eigene Idee umgesetzt. Ich finde du hast die Persönlichkeit (oder sind es nicht eigentlich mehrere?) der Charakter genial übermittelt.
Ich liebe die Intimität, die sich langsam zwischen Ruuyzaki/L und Light/Kira aufbaut und deren bisweilen sehr philosophische Dialoge. Denen ich wie ich befürchtet noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt habe und darum diese Ff gleich nochmal von vorne lesen werde und versuchen werde zu jedem Kapital ein etwas mehr inhaltsvollen und zum Kontext stehenden Kommentar zu verfassen. Nebenbei bemerkt finde ich, dein Ende viel "realistisch" als jenes im Manga. Damit beziehe ich mich auf "beide" Ende. Einmal wie L stirbt. Womit ich mich nie anfreunden könnte, weil ich sie immer als gleichwertige Gegner gesehen habe und mir somit auch ein symmetrisches Ende gewünscht habe. Wie auch das Light letztendlich aufgrund von Glück geschnappt wird. Deshalb kann ich mich den Anderen nur anschließen, dass Ls Überführung wahrlich genial wär. Wer wohl auf so eine intelligente "Lösung" gekommen ist?
Dabei bin nun bei meinem letzten Punkt, in dem ich dir einfach Danke sagen wollte. Es mag einigen Menschen suspekt vorkommen, aber wenn ich etwas lese, dass mich mitreißt und nicht wieder loslässt. So kann ich nicht anders als Dankbarkeit dafür zu empfinden - die Chance gehabt zu haben dies zu lesen. Natürlich bin ich auch dem Glück dankbar diese Geschichten dann gefunden zu haben (überhaupt im gleichen Zeitalter geboren worden zu sein), aber am meisten natürlich die/der Autor/in. Das sie/er niemals aufgeben hat zu schreiben und es dann noch veröffentlicht hat.

Danke :-)

LG Kaylee
Antwort von:  halfJack
22.05.2014 18:39
Es ist einen Monat her und ich hoffe, du nimmst es mir nicht allzu übel, dass ich so lange zum Reagieren benötigte. Mein persönliches Dankeschön hast du ja bereits erhalten und eine Aussicht auf die Fortsetzung ebenfalls. Natürlich würde ich es verstehen - dir fast schon dazu raten - ein bisschen mit dem Lesen zu warten, damit du auf ein paar mehr Kapitel zugreifen kannst. Ich glaube, dass vieles von den Inhalten sowohl im ersten Teil ("Zwischen den Zeilen") als auch im zweiten ("Jenseits verkehrter Wahrheit") erst im Zusammenhang verständlich ist oder richtig wirkt. Immerhin gibt es bereits in "Zwischen den Zeilen" Bezüge mitten im Text, die auf etwas anspielen, dass zweihundert Seiten vorher passiert ist etc.

Es beschämt und ehrt mich, dass dich eine Fanfiction dazu animieren konnte, dich auf Animexx anzumelden. Natürlich freue ich mich über Feedback, aber ich zwinge niemanden dazu, sich zu Wort zu melden. Allein zu wissen, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, sich das alles hier durchzulesen und dabei vielleicht nicht nur eine Aneinanderreihung von wissenschaftlichen Debatten darin gesehen hat, sondern auch von Emotionen, die ich stets plausibel darzustellen versuche, ermutigt mich ungemein. Dafür verlange ich keine Gegenleistung. Auch nicht zum Weiterschreiben. Was nicht bedeutet, dass ich mich von den Kommentaren und Fragen der Leser nicht angetrieben und inspiriert fühlen kann. Ich meine bloß, dass ich es keineswegs von der Menge des Feedbacks abhängig mache, ob ich weiterschreibe oder nicht.

Du hast gemeint, ich müsse mich nicht dazu genötigt fühlen, dir noch zu antworten, aber ich werde sehen, ob ich an manchen Stellen vielleicht doch auf etwas eingehen kann. Nach und nach werde ich ohnehin einiges an dieser Fanfiction überarbeiten und die Meinungen und Irritationen meiner Leser helfen mir sehr, zu wissen, an welchen Stellen Erklärungsbedarf herrscht.

Ansonsten, ganz allgemein, habe ich deine Reviews mit viel Interesse gelesen, weil ich dabei das Gefühl hatte, du wolltest mir mitteilen, welche Denkanstöße du aus den einzelnen Themen gezogen hast. Gleichfalls vielen Dank dafür.


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