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Chronicles of rebels

No.6 OS-Sammlung
von

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Geschenke

Mit einem Ruck riss der Junge das Fenster auf und im nächsten Moment begann der Wind an seinen Haaren zu zerren. Doch es störte ihn nicht, solch ein Wetter hatte ihn schon immer fasziniert und er ließ das Fenster immer über Nacht offen. Schließlich hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er eines Tages wieder auftauchen würde, so wie versprochen. Vielleicht… vielleicht wäre es heute endlich soweit. Denn heute war ein besonderer Tag.

Sein zwanzigster Geburtstag.

Vor acht Jahren hatte er ihn das erste Mal getroffen, doch einen Tag später war er bereits wieder verschwunden gewesen. Weder jenen einen Abend, noch diese nicht mal ganz zwei Monate vor vier Jahren, würde er jemals vergessen können. Nach wie vor waren die Erinnerungen so frisch, als ob wäre alles erst einen Tag her gewesen.

Mit einem Seufzen setzte er sich auf sein Bett und ließ sich einen Moment später nach hinten fallen. Verglichen mit all den Dingen, die in der kurzen Zeit als er sechszehn gewesen war passiert waren – in diesen nicht mal ganz zwei Monaten –, war sein Leben in den letzten vier Jahren sehr ruhig verlaufen. Beinahe wünschte er sich manchmal den Trubel von damals zurück, als er noch bei ihm gewesen war.

Alles war aufregender gewesen. Nicht alles, was passiert war, war positiv gewesen, zumindest nicht auf den ersten Blick, doch irgendwie hatten sie es zusammen geschafft, alles zum Guten zu wenden.

Nun… fast alles. Manches hatte nicht mehr geändert werden können.

Wie beispielsweise der Tod von Safu, seiner Kindheitsfreundin. Auch das war bereits vier Jahre her. Und jedes Mal, wenn er nach Westen, in Richtung des ehemaligen Westblocks und des 'Gefängnisses', das dort gestanden hatte, sah, kamen die Erinnerungen an damals wieder hoch.

Er war wirklich froh, dass es vorbei war und dass die Stadt sich wieder beruhigt hatte. Doch das wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht gewesen wäre.

 

Der Junge drehte sich zur Seite und sah zum geöffneten Fenster, doch niemand stand dort. Nur der Wind bewegte leicht die Vorhänge.

Ob er wieder auftauchen würde? Wieder in sein Zimmer kommen würde, wenn nicht nur ein leichtes Unwetter, sondern wieder ein Taifun über die Stadt ziehen würde? Würde er dann wieder plötzlich in seinem Zimmer stehen, so wie damals?

Wütend auf sich selbst schüttelte er den Kopf und setzte sich auf. Er wusste selbst, dass es keinen Sinn machte, ewig über diese Dinge nachzudenken. Es würde ihn auch nicht schneller zurückbringen. Aber dennoch…

Erneut kam ein Seufzen über seine Lippen.

„Shion? Der Kuchen ist fertig!“ Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken und er stand auf.

„Ich komme schon!“

Nachdem er noch einen kurzen Blick zum Fenster geworfen hatte, öffnete er die Zimmertür und verließ den kleinen Raum. Mit schnellen Schritten ging er die Treppe nach unten ins Wohnzimmer, wo seine Mutter bereits wartete. Der Kuchen stand aufgeschnitten auf dem Tisch bereit. Wie jedes Jahr hatte Karan Kirschkuchen gebacken und nach wie vor hing der Geruch vom Backen in der Luft.

„Alles Gute zum Geburtstag.“ Seine Mutter hielt ihm ein kleines Paket hin, das ihm bis eben nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte sie es versteckt gehabt, als er reinkam. Auch, wenn er es eigentlich nicht für nötig hielt, so fand sie jedes Jahr eine Kleinigkeit, die sie ihm zu seinem Geburtstag schenkte.

Noch ohne das Geschenk auszupacken, setzte er sich zu ihr an den Tisch. Dann begann er langsam und vorsichtig, das Papier zu öffnen. Zum Vorschein kam ein Buch.

Erstaunt sah Shion es an. Es war Macbeth.

„Das…“ Shions Blick wanderte zu seiner Mutter.

„Du hattest doch gesagt, du hättest es gerne. Es war nicht leicht, eine Ausgabe davon zu finden, aber die Mühe hat sich ausgezahlt.“

Langsam nickte Shion. Seine Mutter hatte recht. Als er vor Kurzem eine elektronische Ausgabe des Buches gesehen hatte, war in ihm der Wunsch hochgekommen, das Buch zu besitzen. Nicht das Elektronische, sondern die gebundene Ausgabe. Das hatte er jedoch seiner Mutter nicht gesagt, da er ihr keine Probleme bereiten wollte. Er wusste, es wäre kein Problem eine elektronische Ausgabe zu finden, doch er wollte das Buch. Das, was auch er gehabt hatte. Und neulich war ihm dieser Wunsch seiner Mutter gegenüber dann doch herausgerutscht.

„Danke …“

Er starrte das Buch an. Den Inhalt kannte er gut. Im Winter nach seinem sechszehnten Geburtstag hatte er es mehrmals gelesen und auch immer wieder Zitate daraus gehört. Dennoch, oder gerade deshalb, hatte er es sich gewünscht.

Ohne ein weiteres Wort, doch mit einem Lächeln im Gesicht, stellte ihm seine Mutter ein Stück Kirschkuchen auf einen Teller, ehe sie sich selbst ebenfalls eines nahm. Shion legte das Buch neben sich auf den Tisch.

„Lecker!“ Begeistert sah Shion seine Mutter an, nachdem er einen Bissen genommen hatte, und konnte ihr ansehen, dass sie sich freute. Die Sachen, die sie backte, waren immer sehr gut, doch er wurde es nicht leid, sein Lob immer und immer wieder zu wiederholen. Er wusste, dass sie sich darüber freute. Und schließlich war es auch nicht gelogen, was er sagte.

Fiep. Fiep.

Etwas lief an ihm hoch und dann spürte er ein leichtes Gewicht auf seiner Schulter.

„Tsukiyo! Willst du…“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken als er die Maus, die auf seiner Schulter saß, erblickte.

Es war nicht Tsukiyo. Sondern Cravat.

Eine der beiden Mäuse, die bei ihm geblieben waren. Hieß das etwa…?

Shion sprang auf und stieß dabei beinahe den Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. Wie von einer Tarantel gestochen eilte er die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Das erschrockene „Shion!“ seiner Mutter hörte er gar nicht mehr.

Vielleicht… vielleicht war endlich…

 

Ruckartig riss er die Tür zu seinem Zimmer auf und erstarrte. Vor dem Fenster stand eine Person. Der inzwischen aufgegangene Mond schien von hinten in das Zimmer hinein und warf das Gesicht des anderen in Schatten, aber trotzdem konnte er dessen Augen sehen.

Silberne Augen. Stechend silberne Augen.

„Nezumi …“ Seine Stimme war lediglich ein Flüstern, während er zögernd das Zimmer betrat.

Was, wenn das hier nur ein Traum war? Sollte Nezumi wirklich endlich wiedergekommen sein?

Der Andere reagierte nicht sondern stand einfach nur da.

„Bist du es wirklich?“, wollte Shion wissen, während er auf ihn zuging.

„Was glaubst du denn?“, kam prompt die Antwort und Shions letzte Zweifel verflogen. Es war eindeutig Nezumi. Diese Stimme gehörte eindeutig ihm. Aber, wenn das doch nur ein Traum war…?

Kurzerhand zwickte er sich in den Arm und zuckte vor Schmerz zusammen. Nein, das hier war real. Nezumi war wirklich hier. Er war zurückgekehrt, so wie er es versprochen hatte.

„Beginnst du jetzt etwa zu weinen?“ Nezumi klang amüsiert, als er auf Shion zukam und dieser schüttelte heftig dem Kopf.

„Nein, tu ich nicht. Ich bin kein Mädchen.“ Im nächsten Moment hallte das Lachen von Nezumi durch den Raum und er blieb vor Shion stehen. Seine Hand berührte den Kopf des Weißhaarigen und dieser sah den Anderen an. Nach wie vor war Nezumi etwas größer als er, das hatte sich nicht geändert. Und auch sonst hatte er sich nicht großartig verändert, zumindest äußerlich. Seine Haare waren lediglich etwas länger, aber das war es dann auch schon.

„Nezumi …“ Shion konnte nicht anders als einmal mehr den Namen des anderen auszusprechen.

„Ja? Willst du mir etwas sagen?“ Die nach wie vor amüsiert klingenden Worte holten ihn zurück in die Gegenwart und er schüttelte heftig den Kopf. Da war Nezumi endlich zurückgekehrt und er brachte kaum einen Satz heraus.

„Geht es dir gut? Wo bist du gewesen? Was hast du die ganze Zeit gemacht? Wieso kommst…“

Abrupt brach Shion in seinem Schwall an Fragen ab, als er den Blick des Anderen bemerkte. Er kannte diesen bestimmten Blick. Nezumi hatte ihn immer gehabt, wenn Shion seiner Meinung nach zu viel geredet oder gefragt hatte.

„Du fragst immer noch viel zu viel“, kam es ganz wie Shion erwartet hatte, von dem Anderen.

„Aber ich …“ Er wollte alles wissen. Alles, was er eben gefragt hatte, und noch mehr. Doch er wusste auch, dass Nezumi die Fragen wohl nicht beantworten würde. So wie früher auch, wenn er ihn etwas Persönliches gefragt hatte.

„Warte hier. Ich hole etwas Kuchen. Meine Mutter hat Kirschkuchen gebacken, so wie jedes Jahr. Ich bringe dir ein Stück, also warte bitte hier, ja?“ Einen Moment sah Shion Nezumi an, dann wollte er sich umdrehen, um erneut ins Wohnzimmer zu seiner Mutter zu gehen, doch der Andere packte seinen Arm und hielt ihn zurück. Verwirrt sah Shion zu ihm.

„Willst du etwas anderes? Ich kann auch etwas zu trinken holen, wenn dir das lieber ist.“ Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er an ihr erstes Treffen dachte. Damals hatte er Kakao gemacht.

„Ich brauche nichts zu essen oder zu trinken, also bleib hier.“ Seine Hand wurde losgelassen und Shion nickte. Nezumi ließ sich auf dem Bett nieder und nach kurzem Zögern setzte sich Shion zu ihm. Er unterdrückte den Drang zu fragen, ob es Nezumi gut ging, und ließ sich stattdessen nach hinten fallen. Nezumi tat es ihm nach.

 

„Erzählst du mir, wo du warst? Ich will es hören. Ich will alles wissen, Nezumi. Also erzähl es mir bitte.“ Shion drehte den Kopf und sah in die silbernen Augen des Anderen, als auch dieser den Kopf drehte. Ja, er wollte alles wissen. Doch noch wichtiger war, dass Nezumi nun hier war.

Hier, neben ihm. Im gleichen Zimmer.

Es war ihm egal, ob er am nächsten Tag wieder verschwunden sein würde, so wie vor acht Jahren – auch, wenn er sich wünschte, dass er bleiben würde. Er würde ihn jedoch nicht überzeugen können, sollte er etwas anderes wollen. Doch er war froh, dass Nezumi sein Versprechen gehalten hatte und gekommen war. Das war alles, was in dem Moment zählte.

Auch, dass Nezumi mal wieder nicht auf seine Frage antworten zu wollen schien, störte ihn nicht sonderlich. Nein, alles was zählte, war, dass er hier war. Das war das einzig Wichtige im Moment.

Und das wohl schönste Geburtstagsgeschenk, das man ihm je hätte machen können.

Rou's crime

„Ich bin wieder da!“ Der Junge, der bis zu dem Augenblick mit einem Bilderbuch auf einer Bank gesessen hatte, sprang bei diesen Worten auf und lief zu der Frau, die eben die kleine Hütte betreten hatte. Ein breites und glückliches Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sie umarmte.

„Willkommen zu Hause.“

„Vorsicht, sei nicht so stürmisch sonst fällt mir noch das Gemüse runter.“ Ebenfalls mit einem Lächeln befreite sich die Frau aus der Umarmung des Jungen und stellte einen Korb, der bis oben hin mit verschiedenstem Gemüse gefüllt war, auf den Tisch in der Mitte des Raumes. Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Sohn. Dieser verzog bei ihrem Blick leicht das Gesicht, denn er ahnte schon, was sie sagen wollte.

„Du musst noch mal weg, oder?“, fragte er enttäuscht und ließ sich auf die Bank, auf der er bis eben gesessen hatte, zurücksinken. Langsam nickte die Frau und der Junge wandte mit einem beleidigten Gesichtsausdruck den Blick ab. Immer war es das Gleiche. In den letzten Tagen war sie ständig bei den anderen Erwachsenen und beredete irgendetwas mit ihnen. Und er durfte natürlich nicht mit. Er wusste nicht einmal wieso.

„Es ist aber nicht lange, versprochen. Ich muss nur kurz mit den andern Erwachsenen etwas besprechen. Und, wenn ich zurückkomme, bringe ich Papa auch mit und dann koche ich uns was Leckeres.“ Mit ruhiger Stimme versuchte sie ihren Sohn dazu zu bringen sie zu verstehen und aufzuhören beleidigt zu sein – mit Erfolg. So beleidigt er noch einen Moment zuvor war, nun sah er sie wieder freudestrahlend an. In den letzten Tagen war sein Vater noch weniger zu Hause als seine Mutter und die Aussicht darauf, dass er nun mal wieder früher zurückkehren würde, machte ihn froh. Und vielleicht …

„Darf ich aussuchen, was es zu essen gibt?“ Die Frau nickte und das Lächeln des Jungen wurde noch breiter. Sie hatte es erlaubt! So etwas kam in den letzten Tagen ebenfalls nur selten vor, da seine Mutter meist nach den Gesprächen mit den anderen Erwachsenen erschöpft war und nur Kleinigkeiten zubereitete. Doch dann verschwand es wieder. Er hatte durchschaut, was seine Mutter damit bezwecken konnte. Zwar war er erst vier Jahre alt aber dumm war er – zumindest seiner eigenen Meinung nach – nicht und solche Taktiken hatte er schon vor einer ganzen Weile zu durchschauen gelernt.

„Ich will trotzdem mitkommen“, erklärte er einen Moment später doch seine Mutter schüttelte den Kopf. Sie kniete sich zu ihrem Sohn und strich ihm sanft über das Haar.

„Das geht nicht, du bist noch zu klein. Aber in zwei oder drei Jahren bist du vielleicht alt genug.“ Für einen Moment flackerte ein seltsamer Blick über ihr Gesicht, den der Junge nicht genau zuordnen konnte. Angst? Trauer? Oder doch etwas anderes? Er wusste es nicht, doch es verwirrte ihn. Vor allem, da er nicht genau wusste, was diesen Blick gerade ausgelöst hatte.

„Mama? Geht es dir gut? Wieso musst du noch einmal mit den anderen Erwachsenen reden?“, wollte der Junge wissen und sah seine Mutter besorgt an, er fühlte, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch seine Mutter stand wieder auf und sah ihn erneut mit einem Lächeln an.

„Ja, es ist alles in Ordnung. Ich erkläre dir, worüber wir geredet haben, wenn du alt genug bist. Im Moment würdest du es wohl noch nicht verstehen, weil du auch hierfür noch zu klein bist.“ Die Frau drehte sich um und ging zurück zur Tür. Dann sah sie noch einmal zu ihrem Sohn, der erneut einen beleidigten Ausdruck im Gesicht hatte.

„Du und Papa, ihr sagt immer, dass ich noch zu klein bin. Dabei bin ich doch schon groß!“, beschwerte er sich, während seine Mutter die Tür öffnete.

„Ich weiß, du bist schon groß. Aber für diese Sachen musst du eben noch etwas größer werden. Ich muss jetzt aber gehen, bis später.“ Mit diesen Worten verließ sie das Haus und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, der kleine Junge blieb alleine zurück. Für einen Moment blieb er, wo er war, dann drehte er sich um und kletterte zurück auf die Bank, auf der immer noch sein Buch lag. Er schlug die Seite, die er eben angeschaut hatte, auf und begann weiter durch das Buch zu blättern. Besonders viel Text hatte das Buch nicht – eher im Gegenteil, es bestand aus mehr Bildern als Text – doch das war auch so gedacht. Ein paar Worte hatte er schon gelernt zu lesen, da er von Büchern schon lange fasziniert war, aber meistens spielte er dann doch lieber mit den anderen Kindern des Dorfes. Nur in den letzten Tagen hatte er meist im Haus bleiben müssen, wenn seine Eltern nicht da waren. Warum? Das wusste er nicht und auf seine Fragen bekam er auch keine Antworten, nur, dass es so besser war und er auf seine Eltern hören sollte.

Vertieft in das Buch merkte er auch gar nicht, wie die Zeit verging und ehe er sich versah waren seine Eltern bereits wieder zurück. Zu seiner Freude durfte er sich auch wirklich wie versprochen das Abendessen aussuchen und so dauerte es nicht lange, bis er mit seinen Eltern an dem kleinen Tisch saß und sich das Essen schmecken lies. Als es dann Zeit war, schlafen zu gehen sang seine Mutter ihm sogar zu seiner großen Freude etwas vor, bis er glücklich über diesen schönen Tag einschlief. Ja, der Tag war nicht sonderlich ereignisvoll gewesen, sondern ein ganz gewöhnlicher, doch das störte ihn nicht und änderte nichts daran, dass er glücklich war.

Mitten in der Nacht – er war inzwischen von seinem eigenen Bett in das seiner Eltern gewandert – wurde er jedoch von einem lauten Knall aus dem Schlaf gerissen. Erschrocken setzte er sich auf und in der Dunkelheit, die ihn umgab, konnte er zuerst nicht klar zuordnen, wo das Geräusch hergekommen war. Er merkte, wie seine Eltern sich ebenfalls aufsetzten und griff nach der Hand seiner Mutter, als draußen plötzlich ein rötliches Licht aufflackerte und Leute zu rufen begannen.

„Was ist hier los Mama? Was ist das für ein Lärm? Ich … ich hab Angst!“ Er wusste nicht warum, aber während er sprach, stieg Angst in ihm hoch, er spürte, dass etwas nicht stimmte. Plötzlich begann der Junge zu zittern und er spürte, wie seine Mutter ihn zu sich in eine Umarmung zog.

„Ihr bleibt hier, ich gehe nachschauen, was los ist. Vielleicht ist ein Feuer ausgebrochen.“ Sein Vater stand auf und ging zur Tür. Vorsichtig öffnete er einen Spalt und sofort drang Rauch in die kleine Hütte ein. Einen Moment später hatte sein Vater ihm und seiner Mutter gedeutet zu kommen und er fühlte, wie seine Mutter ihn hochhob und bei der Tür an seinen Vater übergab.

„Ich kann selber gehen!“ protestierte der Junge leise. Er war noch nie gerne getragen worden und dieses Mal war es keine Ausnahme, doch seine Eltern ignorierten seinen Einwand. Durch die geöffnete Tür strömte immer mehr Rauch und auch die Schreie waren lauter als zuvor. Und sie klangen keineswegs wie Rufe nach Wasser, wie der Junge erschrocken feststellte, sondern mehr wie panische Rufe.

„Irgendetwas stimmt nicht, wir sollten versuchen zu verschwinden“, murmelte sein Vater und der Junge sah zuerst ihn und dann seine Mutter an.

„Was ist hier los?“, wollte er einmal mehr wissen, doch er bekam keine Antwort. Stattdessen öffnete seine Mutter die Tür etwas mehr und schlüpfte dann durch den Spalt nach draußen, sein Vater folgte ihr. Im nächsten Moment war eine Explosion in nächster Nähe zu hören und der Junge drehte den Kopf. Das übernächste Haus stand lichterloh in Flammen und war bereits dabei einzustürzen und Männer in seltsamer Kleidung liefen durch die Gegend. Und überall … lagen Menschen auf dem Boden. Nicht nur das Haus stand in Flammen … überall, wo er hinsah, war Feuer. Die Augen des Jungen weiteten sich und seine Hände krallten sich in das Gewand seines Vaters. Immer wieder hörte er ein Knallen, das er nicht zuordnen konnte. Was sollte das hier? Was war hier los?

Einen Augenblick später brannte auch das Haus, in dem er bis eben noch mit seinen Eltern gewesen war.

„Hier sind noch welche! Los, ein paar Männer hierher!“

Seine Eltern, die bis eben still dagestanden hatten, zuckten bei den Worten zusammen und sahen sich an. Der Junge sah zu seiner Mutter.

„LAUF!“ Mit der freien Hand machte sein Vater eine Bewegung und seine Mutter lief los, während sein Vater ihr folgte. Der Junge klammerte sich an seinen Vater und sah über seine Schulter wie die seltsam gekleideten Männer ihnen folgten. Wer waren die? Und was wollten sie? Er verstand es einfach nicht. Noch nie waren Fremde hier im Dorf – im Wald – gewesen. Und jetzt waren sie plötzlich da und alles stand in Flammen.

„Papa …“ Der Junge stieß ein Wimmern aus und spürte, wie sein Vater ihn etwas dichter an sich drückte.

„Keine Sorge, es wird alles gut“, bekam er als leise Antwort, doch so recht glauben konnte er das irgendwie nicht. Vielleicht, weil auch nicht sonderlich viel Überzeugung in der Stimme seines Vaters lag.

Dann hallte ein Knall durch die Nacht und der Junge musste tatenlos zusehen, wie seine Mutter stolperte und stürzte … und nicht mehr aufstand. Sie war mit dem Gesicht nach vorne zu Boden gestürzt und auf ihrem Rücken breitete sich ein roter Fleck aus. Blut?!

„Mama!“ Der Junge stieß einen Schrei aus und streckte eine Hand nach ihr aus, doch sein Vater lief nach einem kurzen Blick auf die leblose Frau einfach weiter.

„Was soll das, Papa? Mama ist gestürzt! Wir müssen zurück und ihr helfen!“ Er sah seinem Vater ins Gesicht doch er bekam keine Antwort. Stattdessen sah er Tränen in den Augenwinkeln seines Vaters, doch dann knallte es erneut und auch sein Vater stolperte. Hart schlug der Junge auf dem Boden auf und sein Vater fiel auf ihn.

„Papa? Papa?! Steh auf!“ Verzweifelt rüttelte er an seinem Vater, auf dessen Rücken sich nun auch ein roter Fleck ausbreitete und als er den Kopf hob, lief Blut aus seinem Mund.

„La … uf …!“, war alles, was sein Vater herausbrachte, dann sackte er leblos zu Boden und der Junge starrte ihn an. Was … was war gerade geschehen? Wo kam das Blut überhaupt her? War sein Vater etwa … und seine Mutter auch …?

Als er Schritte hörte, sah er auf und erblickte einen der seltsam gekleideten Männer vor sich stehen. Mit einem emotionslosen Gesichtsausdruck richtete er ein seltsames Gerät, das der Junge nicht kannte, auf ihn und drückte ab. Etwas streifte das Gesicht des Jungen und er spürte, wie etwas Warmes an seiner Wange hinablief. Die Augen des Jungen weiteten sich und erneut packte ihn die Angst, nun jedoch heftiger als zuvor. Er musste hier weg! Er musste weg von diesem Mann! Sonst würde er sterben, das spürte er instinktiv.

„Aaahhh!“ Mit einem Schrei sprang der Junge auf, drehte sich um und lief so schnell er nur konnte. Immer wieder hörte er diesen seltsamen Knall und mehr als einmal spürte er, wie etwas knapp an ihm vorbeiflog, doch nie wurde er von etwas getroffen. Die Schritte des Mannes hinter ihm waren kaum zu hören, doch auch ohne sich umzudrehen wusste er, dass er verfolgt wurde und die Angst ließ ihn noch schneller werden. Seine Schritte führten ihn zwischen die brennenden Hütten, da er hoffte, sich hier verstecken zu können. Doch der Qualm brachte ihn zu husten und die Hitze war beinahe unerträglich. Es war heiß … so unendlich heiß. Er lief kreuz und quer zwischen den Häusern herum in der Hoffnung das andere Ende des Dorfes zu erreichen und fliehen zu können und mehr als einmal wich er weiteren seltsam gekleideten Männern aus, die ihm den Weg in den rettenden Wald versperrten und ihn wieder zurück zu den Häusern zwangen. Er musste irgendeinen Ausweg finden und … und … seinen Eltern helfen. Er hätte nicht weg sollen von seinem Vater!

Doch langsam ging ihm die Energie für das Laufen aus, wodurch er einen Moment unachtsam war und über ein Stück Holz fiel … möglicherweise auch eine Wurzel oder etwas anderes – er wusste es nicht. Hart schlug er auf dem Boden auf und rang keuchend nach Luft. Nein, er durfte nicht liegen bleiben, er musste weiter … musste entkommen. Mühsam drehte er den Kopf und sah, dass sein Verfolger stehen geblieben war und nun langsam auf ihn zukam. Er hatte keinerlei Eile, weil er sich sicher war, ihn einzuholen erkannte der Junge nun. Erschöpft versuchte er sich aufzurichten, doch im gleichen Moment fielen mehrere Holzbalken von dem brennenden Haus neben ihm und versperrten dem fremden Mann den Weg.

Erschrocken schrie der Junge auf, als er von einem der Balken getroffen wurde und ein höllischer Schmerz sich an der Stelle, an der er getroffen wurde, ausbreitete. Tränen traten in seine Augen und begannen über sein Gesicht zu laufen. Es tat so weh. Es tat so verdammt weh. Er wollte zu seinen Eltern, er wollte von ihnen in den Arm genommen und getröstet werden. Er wollte, dass das alles nur ein Albtraum war. Er wollte aufwachen.

Schritte, die sich ihm von vorne näherten, ließen ihn matt den Kopf heben. Es war ihm egal, wer das war, er würde sowieso nicht entkommen können. Dennoch hatte er immer noch furchtbare Angst. Durch den Tränenschleier hindurch merkte er, wie sich jemand zu ihm runterkniete. Ah, sollte er jetzt also sterben? Doch im nächsten Moment wurde er gepackt, für einen Moment auf die Füße gestellt und dann hochgehoben. Und gleichzeitig erkannte er die Person, die nun bei ihm war.

„Baa- … chan?“ Seine Stimme war schwach und rau, der Rauch kratzte nach wie vor in seinem Hals und machte es schwer zu sprechen. Er kannte die ältere Frau, die nun mit ihm durch das brennende Dorf lief. Sie war immer wieder bei ihnen – bei ihm und seinen Eltern – zu Besuch gewesen und hatte ihm oft ein neues Buch oder Spielzeug gebracht. Sie war immer nett zu ihm gewesen.

Seine Finger klammerten sich an das Gewand der Alten und er schüttelte heftig den Kopf.

„Wir … wir müssen zurück … Baa-chan! Mama … Mama und Papa … sie sind …!“ Er wollte zu seinen Eltern zurück, doch die Frau lief einfach weiter.

„Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen hier weg, das ist jetzt das Wichtigste. Keine Sorge, ich bring uns hier raus.“ Mit diesen Worten blieb die Alte stehen, dann hörte der Junge erneut zwei dieser seltsamen Knalle und vermutete schon fast, dass er nun sterben würde, doch im nächsten Moment lief sie auch schon weiter und er sah zwei der seltsamen Männer am Boden liegen. Hatte Baa-chan etwa …

Nach wie vor pulsierte der Schmerz, wo der Balken ihn getroffen hatte und am liebsten hätte er sich schreiend am Boden gewälzt – statt besser schien es schlimmer zu werden. Doch er klammerte sich lediglich weiter an das Gewand der alten Frau und schluchzte leise.

„Ich weiß, dass es wehtut, aber halte noch etwas durch, bis wir in Sicherheit sind, dann helfe ich dir. Kannst du das?“ Die Stimme ließ ihn zusammenzucken, sie kam unerwartet und benebelt vom Schmerz bekam er kaum noch etwas mit, trotzdem schaffte er ein schwaches Nicken. Dennoch wurde die Dunkelheit um ihn herum immer dichter. Und das lag nicht daran, dass sie inzwischen das brennende Dorf hinter sich gelassen hatten.

„Nicht einschlafen, hörst du! Du musst wach bleiben! Kämpf dagegen an!“ Er wurde etwas aus seiner Benommenheit gerissen und erneut nickte er schwach. Er musste auf sie hören, er musste brav sein und tun, was sie sagte.
 

Ruckartig öffnete der Junge die Augen. Ein Traum. Ein Albtraum. Nein, Erinnerungen. Langsam setzte er sich auf und sah sich verwirrt um. Wo war er hier? Nach und nach begann er sich zu erinnern. Richtig, der Junge aus Kronos hatte ihn in sein Zimmer gelassen. Er wandte den Kopf und sah den anderen an, der immer noch seine Hand hielt und friedlich schlief. Vorsichtig befreite er seine Hand aus dem Griff, woraufhin sich der andere Junge einen Moment lang unruhig bewegt, jedoch weiterschlief. Und das war auch gut so.

Behutsam darauf bedacht keine Geräusche zu machen stand der Junge auf, er durfte den schlafenden nicht wecken. Die Erinnerungen an den Traum schob er zur Seite, für so etwas hatte er nun keine Zeit. Außerdem erinnerte er sich sowieso kaum noch an das Geträumte … was jedoch auch kein Wunder war, da diese Geschehnisse inzwischen bereits acht Jahre zurücklagen. Doch das Gefühl der Angst hatte sich in seiner Brust festgesetzt. Mehrmals atmete er tief ein und aus. Er musste sich beruhigen, wenn er heil von hier verschwinden wollte. Und, wenn er hier gefasst werden würde, dann wäre der Tod seiner Eltern und der, der alten Frau sinnlos gewesen. Das durfte er nicht zulassen. Mehrere Momente sah er sich im Zimmer um, dann entschloss er sich den Verbandskoffer, das Handtuch und – aufgrund der Ermangelung einer Alternative – auch das Shirt, das er trug, mitzunehmen.

Er öffnete die Tür nach draußen einen Spalt, schlüpfte hindurch und schloss die Tür dann wieder ebenso lautlos, wie er sie geöffnet hatte. Es dämmerte gerade erst, doch das kam ihm gerade recht, so war die Wahrscheinlichkeit, dass er gesehen wurde, geringer. Ein Teil von ihm wäre am liebsten im weichen Bett liegen geblieben, doch er wusste, dass er das nicht durfte, denn das würde dem anderen Jungen nur Schwierigkeiten machen. Und er wollte ihm keine machen.

Fiep. Fiep.

Der Junge zuckte zusammen und sah zu Boden. Vor ihm saß eine schwarze Maus. Er erkannte, dass es eine von denen war, die ihm aus dem Wald gefolgt war. Oder eher ein Nachfahre jener Mäuse. Sie waren einfach einen Tag nach seiner Flucht bei ihm und der alten Frau aufgetaucht. Und er hatte genauso wenig jetzt wie damals eine Ahnung, wie sie ihn gefunden hatte.

„Kannst du mir einen Weg hier raus zeigen?“, wollte er flüsternd von dem kleinen Tier wissen. Jeder andere hätte ihn für verrückt gehalten, doch er wusste, dass diese kleine Maus viel intelligenter war, als ihre Artgenossen außerhalb des Waldes in dem er aufgewachsen war.

Fiep. Fiep.

Die Maus sah ihn an, dann drehte sie sich um und lief davon nur, um gerade so in seiner Sichtweite wieder zu ihm zu schauen und zu warten. Er wusste, was das hieß – er sollte ihr folgen. Also lief er los und ließ sich von dem kleinen Tier führen, in der Hoffnung, dass sie ihn wirklich hier rausbrachte. Alleine würde er es auch schaffen, davon war er überzeugt, aber mit einem Helfer wie dieser Maus war es wahrscheinlich noch einmal eine Spur einfacher.
 

Und er behielt recht. Nach nicht allzu langer Zeit, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkam, hatte er No.6 verlassen und befand sich wieder in dem Stauraum der Bibliothek, den die alte Frau kurz nach ihrer Flucht gefunden hatte. Einen anderen Ort, an den er hätte zurückkehren können, kannte er nicht und so war er wieder hierhergekommen. Überall lag Staub, doch darum würde er sich später kümmern. Er war müde und erschöpft, eventuell sogar wieder etwas fiebrig, so ließ er sich einfach auf das Bett sinken, nachdem er die Laken getauscht hatte, und war bereits wenige Augenblicke später wieder eingeschlafen.

Zu spät

Mit einem Lächeln auf den Lippen spazierte der junge Mann durch die Straßen der Stadt. Er war auf dem Weg zu seinem Haus und freute sich bereits auf das Abendessen seiner Mutter. Als eine leichte Brise aufkam hob er den Kopf und schloss die Augen, während er den Wind genoss, der durch seine Haare strich.

Es waren bereits fünf Jahre vergangen, seit alles geendet hatte. In all diesen Jahren hatte es keinen Bürgermeister mehr gegeben, sondern nur ein Komitee, das sich um die Leitung der Stadt kümmerte. Vor einem Jahr war er ebenfalls Mitglied dort geworden auf die Bitten der anderen hin. Gestört hatte ihn das nicht, eher im Gegenteil, denn er hatte gehofft, so darauf achten zu können, dass No.6 nicht wieder auf Abwege geriet. Schließlich hatte er es versprochen.

Dies hier war ihre zweite und letzte Chance und er würde nicht zulassen, dass sie verschwendet wurde.

Er öffnete die Augen erneut und nickte kurz zu sich selbst. Ja, es war alles in Ordnung, so, wie es jetzt war. Alles, bis auf eine Kleinigkeit. Doch die konnte er nicht ändern, er konnte nur warten, dass sie sich von selbst änderte.

In einer kurzen Denkpause fiel ihm plötzlich auf, dass manche Leute stehen geblieben waren und ihn anschauten. Erst da wurde ihm bewusst, dass er wohl eine ganze Weile hier mit geschlossenen Augen gestanden haben musste. Und die Leute kannten ihn, sie mussten sich gewundert haben, was er hier tat. Mit einem Lächeln nickte er ihnen zu und ging weiter.

Ob seine Mutter wohl wieder Muffins gebacken hatte? Sicher, sie machte schließlich immer welche. Das Leben hier war für sie beide deutlich angenehmer geworden, für ihn und seine Mutter. Nicht zuletzt, da es die Unterschiede zwischen Kronos und Lost Town nicht mehr gab und auch der West-Block existierte nicht mehr. Die Leute waren nach No.6 zurückkehrt. Alle waren nun gleichberechtigt. Oder zumindest so gut es eben ging. Anfangs hatte er sich eingebildet, es wäre wirklich möglich, eine Gleichberechtigung zu schaffen, doch er musste einsehen, dass es immer ein paar gab, die benachteiligt blieben. Und so schwer es ihm auch gefallen war, er hatte es akzeptieren müssen.

Als hinter ihm die Bremsen eines Autos quietschten, achtete er im ersten Moment nicht darauf. Auch nicht, als im nächsten Moment die Tür des Autos mit einem Knall zuschlug. Doch als plötzlich Leute aufschrien und von hinten in Panik an ihm vorbeistürmten, fuhr er herum. Im nächsten Augenblick fielen zwei Schüsse und das Letzte, was er sah, war das Gesicht eines Mannes und der Lauf einer Pistole, die auf ihn gerichtet war. Schmerz raste für einen kurzen Moment durch seinen Körper. Dann wurde es schwarz um ihn.
 

Aufmerksam auf seine Umgebung huschte er durch die dunklen Gassen von No.6. Eigentlich wäre es ihm genauso möglich gewesen, offen über die Straßen zu gehen, schließlich wurde er schon lange nicht mehr gesucht. Doch wenn er das tat, fühlte er sich angreifbar und verwundbar. Ihm fehlte einfach der Überblick bei so breiten Straßen, deshalb waren ihm die dunklen Nebengassen lieber.

Sieben Jahre war er schon nicht mehr hier gewesen, dennoch kannte er den Weg zu jenem Haus noch genau. Er hätte schon früher zurückkehren sollen, es hatte nichts gegeben, das ihn davon abgehalten hätte. Dennoch hatte er es nicht getan. Warum wusste er selbst nicht genau. Aus Angst? Vor ihm? Oder vor seinen eigenen Gefühlen? Er war sich nicht sicher. Aber womöglich war das Teil des Grundes.

Zuletzt blieb ihm nichts anderes übrig, als doch auf der Hauptstraße weiterzugehen. Seine Schritte waren schnell und als er schließlich fast beim Haus war, rannte er beinahe. Nicht, weil er Angst vor Angriffen hatte. Nein. Je näher er dem Haus kam, umso stärker wurde dieses gewisse mulmige Gefühl in seiner Magengegend. Als ob hier etwas nicht stimmen würde. Als ob etwas gehörig schieflaufen würde. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas nicht normal war. Und sein Instinkt hatte ihn noch nie getäuscht. Nicht, seit er sich erinnern konnte. Doch was genau war es, das hier nicht stimmte? Er musste es wissen. So schnell wie möglich.

Nein, eigentlich hatte er dieses Gefühl nicht erst seit gerade eben. Er hatte es bereits seit einer ganzen Weile. Seit einer sehr langen Weile. Und es war mit der Grund für seine Rückkehr hierher gewesen. Er musste einfach herausfinden, was los war, dass seine inneren Alarmglocken so schrill läuteten. Mit jedem Tag war es schlimmer geworden. Und er wusste, dass die Ursache hier lag. Deshalb war er zurückgekommen.

Dann, endlich, erreichte er das Haus. Doch alles war finster. Er hatte sich dem Haus von hinten genähert und schwang sich nun auf den Balkon, von dem er wusste, dass er zu jenem gewissen Zimmer gehörte. Doch auch hier war alles dunkel. Nicht ein Anzeichen von Leben drinnen. Das Zimmer war leer, mit einer dicken Staubschicht am Boden. Schon lange war niemand mehr hier gewesen.

Nach wie vor mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte, rüttelte er am Fenster um es zu öffnen, doch vergeblich. Es war von innen verriegelt. Was nun?

Kurz sah er sich um. Dann, als er sich sicher war, dass niemand ihn sah, schlug er das Fenster einfach ein. Er wartete einen Moment und als niemand angelaufen kam – weder von der Straße, noch vom Inneren des Hauses –, kletterte er nach drinnen.

Unruhig sah er sich einen Moment um, dann ging er weiter in das Zimmer hinein. Seine Schritte wirbelten Staub auf und dieser ließ ihn husten, doch das war ihm egal. Er durchsuchte das ganze Zimmer bis auf den letzten Winkel und je länger er suchte, desto eindeutiger wurde, dass hier schon lange niemand mehr wohnte. Doch er wusste, dass der Bewohner nicht so einfach umgezogen wäre, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Deshalb suchte er nun nach dieser, aber es war nichts zu finden.

Seine Schritte trugen ihn nach unten, wo sich die Theke befand, in der früher Muffins und Kuchen gelegen hatten. Vor Jahren hatte er einmal einen gekostet und er hatte wirklich gut geschmeckt.

Ein kurzer Blick zum Schaufenster verriet ihm, dass ihn niemand sehen würde, da die Fenster mit Pappe zugeklebt waren. Er schaltete die kleine Taschenlampe ein, die er mithatte, um die Suche im trüben Licht zu erleichtern. Auch hier machte er sich daran alles zu durchsuchen, abermals erfolglos. Auch im Hinterzimmer war nichts zu finden.

Für einen Moment sank er auf den Boden. Was war hier los? Wieso war niemand hier? Wo waren die Bewohner des Hauses hin verschwunden? Hatten sie fliehen müssen? Nein, selbst dann hätte es Möglichkeiten gegeben, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Und wenn No.6 wieder in die alten Abgründe gesunken wäre, dann würde es nun wohl kaum noch stehen.

Mit einem Kopfschütteln stand er schließlich auf und ging wieder nach oben. Er würde herausfinden, was hier los war. Egal auf welchem Wege.
 

Nachdem er das Haus wieder durch das Fenster verlassen hatte, kehrte er zur Hauptstraße zurück und hielt den nächstbesten Passanten an.

„Wo sind die Bewohner dieses Hauses hin verschwunden?“, wollte er wissen, wobei er auf das Haus zeigte, in dem er gerade eben noch gewesen war.

Der Passant sah ihn einen Moment lang an, dann sah er zum Haus und wieder zu ihm.

„Karan-san? Sie ist vor zwei Jahren umgezogen, wenn ich mich richtig erinnere. Nach jener Sache wollte sie nicht mehr hier bleiben.“

Er hatte das Gefühl als ob sein Herz einen Moment lang aussetzte, als ihn Angst packte. Jene Sache? Wovon sprach dieser Mann? Dennoch holte er tief Luft und schob die Gefühle zur Seite. Das war jetzt nicht wichtig, wichtiger war herauszufinden, was hier los war.

„Was ist passiert? Wissen Sie, wo Karan jetzt wohnt?“ Sein Griff um den Arm des Mannes wurde fester und dieser zuckte zusammen. Er ließ ihn daraufhin los. Der Mann würde ihm auch so antworten.

„Das solltest du sie lieber selbst fragen. Sie wohnt in die Richtung, soll ich dir den Weg beschreiben?“ Der Mann zeigte in eine Richtung hinter ihm und der Junge nickte. Schweigend hörte er zu, während der Mann den Weg erklärte und reagierte nicht, als dieser sich verabschiedete.

Einen Moment noch blieb er stehen wo er war, seinen Blick auf das verlassene Haus gerichtet. Es war nicht wichtig für ihn, die Bewohner waren es. Und diese lebten nun woanders.

Er drehte sich schließlich um und folgte der Wegbeschreibung. Das neue Haus wirkte von außen nicht viel größer als das alte, doch als er daran hochsah bemerkte er, dass hinter keinem der Fenster Licht brannte. Normalerweise hätte ihn das nicht irritiert, doch die Worte des Mannes hatten ihn unsicher gemacht. Irgendetwas war hier passiert. Oder besser gesagt: Mit den Bewohnern.

Plötzlich spürte er ein leichtes Gewicht auf seiner Schulter und als der den Kopf drehte, saß dort eine Maus. Es war weder Cravat noch Hamlet, sieben Jahre waren selbst für die beiden zu lange zum Überleben gewesen. Doch diese Maus stammte von Cravat ab und besaß den gleichen Intellekt. Er hatte ihr keinen Namen gegeben, das hielt er nicht für notwendig.

„Schau nach, ob jemand Zuhause ist.“

Die Maus fiepte kurz, dann lief sie seinen Rücken hinunter und verschwand zum Haus. Reglos wartete er, während die Sekunden verstrichen, dann kam die Maus zurück. Auch, wenn es höchstens nur eine Minute gewesen sein konnte, die die Maus verschwunden gewesen war, so war ihm der Zeitraum doch deutlich länger vorgekommen.

Fiep. Fiep. Fiep.

Die Maus machte es sich wieder auf seiner Schulter bequem und stieß mehrere fiepende Töne aus. Jemand anderer hätte nicht gewusst, was diese zu bedeuten hatten, doch er verstand es. Es war nur eine einzige Person im Haus.

Kurz zögerte er, dann betätigte er die Klingel. Er konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwo geklingelt zu haben – er war immer einfach in die Häuser gegangen. Doch dieses Mal sagte ihm sein Gefühl, dass es so besser war. Irgendetwas stimmte hier einfach nicht.

Es dauerte auch nicht lange und die Tür öffnete sich und eine Frau mit eingefallenem Gesicht stand vor ihm. Einen Moment lang sah er sie verwirrt an, dann erkannte er sie. Karan.

Sie schien ihn ebenfalls zu erkennen, denn ihre Augen weiteten sich.

„Nezumi?“ Sie klang ungläubig und überrascht. So, als würde sie träumen.

Er nickte. „Wo ist Shion?“

Ja, es wäre wohl zuerst höflicher gewesen, sie zu grüßen oder irgendetwas anderes zu sagen, doch er fand solche Floskeln unnötig und er musste sich endlich Gewissheit verschaffen. Er musste wissen, was hier geschehen war.

Anstatt einer Antwort trat Karan zur Seite, damit er das Haus betreten konnte, doch er zögerte. Er war nicht hier um lange zu reden, er wollte einfach nur wissen, was mit Shion war. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Worte des Mannes zuvor mit Shion zu tun gehabt hatten.

„Du solltest lieber hereinkommen, wir sollten das nicht zwischen Tür und Angel besprechen.“ Karans Worte klangen ernst und nun wusste er mit Sicherheit: Shion war etwas zugestoßen.

Er nickte und betrat das Haus. Karan schloss die Tür hinter ihm. Dann nahm sie an einem kleinen Tisch Platz und er setzte sich gegenüber von ihr hin.

„Also, wo ist Shion? Was ist passiert?“, wollte er noch einmal wissen. Es wäre natürlich höflicher gewesen, zu warten, bis Karan von sich aus zu sprechen begann, doch auch das war ihm in diesem Moment ziemlich egal.

Einen Moment schwieg Karan, dann seufzte sie. „Nezumi … Shion ist … tot.“

Er schwieg und starrte sie ungläubig an und hoffte, dass es nur ein Traum war. Doch im gleichen Moment, in dem sie ausgesprochen hatte, bildeten sich Tränen in Karans Augen und begannen über ihre Wangen zu laufen. Und er wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Wieso sollte sie auch lügen? Sie hatte keinen Grund dazu. Zumindest nicht ihm gegenüber, da war er sich ziemlich sicher.

Er schluckte. Sein Hals fühlte sich plötzlich trocken an, als ob er stundenlang nichts mehr getrunken hätte, obwohl er wusste, dass das nicht stimmte.

„Wie?“ Auch seine Stimme klang seltsam, ungewohnt rau und er musste sich bemühen, sie ruhig klingen zu lassen und nicht zittrig. Karan gegenüber war es vielleicht unfair, dieses Thema weiter zu verfolgen. Er konnte ihr ansehen, wie fertig sie war, doch er musste es einfach wissen. Schließlich war Shion …

„Er ist erschossen worden. Aber … wir wissen immer noch nicht genau, warum. Es ist vor zwei Jahren passiert, als er auf dem Heimweg war … ganz plötzlich. Der Mann war vermutlich ein Mitglied des ehemaligen Sicherheitsbüros. Er hat sich direkt, nachdem er Shion erschossen hat, selbst erschossen. Deshalb wissen wir nicht, warum er es getan hat. Aber vielleicht …“ Karan brach ab und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Doch sie musste gar nicht weitersprechen, er konnte ahnen, was sie sagen wollte.

Vielleicht war es wegen dem, was er und Shion vor sieben Jahren getan hatten. Vielleicht war es, weil sie das ehemalige System No.6 zerstört hatten. Vielleicht war dieser Mann jemand gewesen, der den Bürgermeister wirklich verehrte hatte. Oder ein Freund Rashis, den Shion erschossen hatte. Seinetwegen … Oh! Hieß das etwa, dass im Endeffekt er für Shions Tod verantwortlich war?

Er erstarrte für einen Moment, dann schüttelte er langsam den Kopf. So durfte er nicht denken. Menschen starben. Es geschah einfach. Und alles, was damals geschehen war, war genauso Shions wie seine Entscheidung gewesen; oft sogar mehr Shions als seine eigene. Also hatte er keine Schuld an dem, was geschehen war.

Er schob diese Gedanken letztlich zur Seite und stand auf.

„Nezumi?“ Karan sah zu ihm hoch als er sich schweigend umdrehte und zur Tür ging.

Hier hielt ihn nun nichts mehr, deshalb würde er gehen. Wohin? Unwichtig. Doch hier würde er nicht bleiben.

Würde der Mann, der Shion erschossen hatte, noch leben … er wüsste nicht, was er dann tun würde. Aber so hatte er keinen Grund, weiter in dieser Stadt zu bleiben. Ohne Zögern ging er zur Tür und öffnete sie, sah auch dann nicht zurück als er hörte, wie Karan aufstand und ihm folgte.

„Wohin gehst du? Du … du kannst gerne hierbleiben, wenn du willst. Nur weil Shion nicht mehr hier ist, heißt das nicht …“

Auch jetzt drehte er sich nicht um. Er hörte an Karans Stimme, dass sie immer noch weinte. Aber er drehte sich nicht um, weil er ihre Tränen nicht sehen wollte. Er drehte sich nicht um, damit sie seine nicht sah, die ihm langsam in die Augen stiegen.

„Ich habe keinen Grund mehr hierzubleiben. Aber danke für das Angebot.“ Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich und zu seinem Erstaunen folgte Karan ihm nicht. Es hätte nichts geändert, hätte sie es getan, aber wahrscheinlich wusste sie, dass er sich nicht umstimmen lassen würde.

Langsam ging er los und je mehr er sich von dem Haus entfernte, umso weniger konnte er den Drang zu weinen unterdrücken, bis ihm die Tränen schließlich einfach über die Wangen liefen, so wie bei Karan zuvor. Verdammt, er hasste das! Normalerweise hatte er die vollkommene Kontrolle über seine Emotionen. Er weinte nicht einfach so. Aber, sobald es um Shion ging … selbst jetzt, da er tot war, brachte er seine Gefühle noch immer durcheinander, sodass er sie nicht mehr unter Kontrolle hatte. Verdammt.

Er begann zu laufen, ohne auf die Leute um ihn herum zu achten. Als er das Tor in der Mauer von No.6 passierte, fiel ihm auf, dass Karan nicht einmal erwähnt hatte, ob es ein Grab für Shion gab. Vielleicht hatte sie gewartet, dass er fragte.

Nein, es war egal. Selbst wenn er es wüsste, was für einen Sinn hätte es denn gehabt, es zu besuchen? Shion war tot und daran würde sich auch nichts ändern, wenn er sein Grab besuchte. Falls es denn überhaupt eines gab. Er wusste nicht ob die Bewohner von No.6 lediglich eingeäschert oder auch begraben wurden. Oder was sie sonst mit ihren Toten machten. Und es war ihm auch egal. Es würde nichts ändern, es zu wissen.

Was sollte er nun tun? Hier bleiben kam nicht in Frage. Vielleicht mit Shion, aber ohne ihn auf keinen Fall. Es gab nichts mehr, dass ihn hier noch hielt.

Er würde wohl weiter herumziehen. Ja, das klang gut. Das würde er wohl tun.

Mit diesen Gedanken ging er langsam los.

Einsamkeit

Mit einem leisen Seufzen drehte sich der Junge im Bett herum und starrte an die Wand. Nun war es schon fünf Jahre her. Fünf Jahre, seit alles geendet hatte. Und einmal mehr war es wieder ein Tag vor Weihnachten, doch er hatte nach wie vor sein Versprechen nicht gehalten. Es war dabei nie die Rede von Weihnachten gewesen, aber dennoch … es wäre ein schönes Geschenk gewesen.

Langsam drehte er sich wieder auf den Rücken. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis er wieder zu ihm käme? Wo er wohl gerade war? Und was er wohl machte?

„Shion? Kommst du mir bitte helfen?“ Die Stimme seiner Mutter riss den Jungen aus seinen Gedanken und er setzte sich auf. Die Gedanken an Nezumi schob er erst einmal beiseite, im Moment gab es Wichtigeres zu tun. Zumindest redete er sich ein, dass es wichtiger war. Wenigstens fürs Erste.

„Ich komme schon!“ Mit einem aufgesetzten Lächeln stand er auf und ging die Stufen hinab ins Wohnzimmer, wo seine Mutter bereits auf ihn wartete. Nach dem Tod des Bürgermeisters und allem, was geschehen war, hatte sich viel verändert in No.6 und eine Zeit lang war alles etwas chaotisch gewesen. Doch inzwischen hatte sich die Situation beruhigt und nach einigem Überlegen und Zögern war er mit seiner Mutter in ein größeres Haus umgezogen. Gezögert hatte er natürlich wegen Nezumi. Doch er war davon überzeugt, dass dieser ihn finden würde, sollte er zurückkommen. Selbst, wenn er umgezogen war.

Unten roch es bereits nach dem Kuchen, den seine Mutter gerade gebacken hatte.

„Kannst du bitte den Tisch decken? Die anderen sollten bald kommen.“

Noch bevor er reagieren konnte, hatte er bereits das Tischtuch und das Gedeck in die Hände gedrückt bekommen. Mit einem Nicken ging Shion ins Nebenzimmer und begann zu tun, worum er gebeten wurde, während seine Mutter wieder in die Küche ging.

Einmal mehr begannen seine Gedanken abzuschweifen. Zu gerne würde er wissen, wo Nezumi gerade war und was er machte. Doch er hatte keinen Möglichkeit es herauszufinden. Wahrscheinlich befand er sich gar am anderen Ende der Welt.

Shion verzog leicht das Gesicht. Ja, das würde ihn nicht wundern. Aber irgendwann …. Irgendwann würde er ihn ganz sicher wiedersehen. Irgendwann.

„Bist du fertig?“, drang die Stimme seiner Mutter an ihn heran, die soeben den Raum betreten hatte. Er drehte sich nach ihr um und nickte, daraufhin runzelte seine Mutter die Stirn und sie sah ihn einen Moment lang schweigend an. „Ist alles in Ordnung mit dir, Shion? Geht es dir gut? Du bist so ruhig in letzter Zeit.“

Ihre Stimme klang besorgt und Shion spürte Schuldgefühle in sich aufsteigen. Eigentlich war es nicht seine Absicht gewesen, seiner Mutter Sorgen zu machen, davon hatte er ihr in der Vergangenheit genug gemacht. Noch mehr waren nicht nötig.

„Ja, mir geht es gut. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Es ist nur …“ Er schüttelte den Kopf. Nein, es war unnötig, es ihr zu erklären. Schließlich ging es ihm gut und es gab nichts, was seine Mutter an dieser Situation ändern konnte.

„Ist es wegen Nezumi?“

Überrascht zuckte Shion zusammen. Woher hatte seine Mutter das gewusste? War es ihm so offensichtlich anzusehen gewesen?

Seine Mutter lachte auf. „Ich merke so etwas eben. Mach dir mal keine Sorgen, Shion, er wird sicher zurückkommen. Ich bin mir sicher, Nezumi hält doch seine Versprechen.“

Nach wie vor sah Shion seine Mutter erstaunt an, nickte dann aber. Sie hatte ja recht und er wusste auch, dass Nezumi sein Versprechen halten würde. Nur das Wann war die Frage.

Doch bevor er erneut weiter darüber nachdenken konnte, läutete es bereits an der Tür und nach einem kurzen Blick zu seiner Mutter ging Shion nach vorne, um aufzumachen. Auf der anderen Seite der Tür standen Rikiga und Inukashi, Letztere mit dem kleinen Shionn am Arm. Die drei waren aus dem Westblock in die Stadt gezogen, Inukashi erst nach einigem Zögern, hatte aber für das Wohlbefinden des kleinen Jungen, den man ihr damals gegen ihren Willen regelrecht angehängt hatte, eingewilligt.

„Tut mir leid, dass wir so spät sind. Der alte Mann war viel zu langsam“, entschuldigte sie sich, als sie das Haus betrat.

„Ach ja? Und wer hat ewig gebraucht, sein Kind fertigzumachen zum Weggehen?“, konterte Rikiga, doch die junge Frau zuckte nur mit den Schultern.

Bei ihrem kleinen Wortgefecht konnte Shion einfach nicht anders als leise zu lachen, was ihm verwirrte Blicke von den beiden alten Freunden einbrachte. „Ihr seid ja nicht zu spät, also kein Grund zu streiten.“

Gerade als er die Tür wieder schließen wollte, bemerkte er drei weitere Personen, die sich dem Haus näherten. Es waren Renka, eine Freundin seiner Mutter, und ihre beiden Töchter. So ließ er die Tür offen bis sie ebenfalls eingetreten waren, dann schloss er sie und folgte allen zum Esstisch, auf dem auch schon der Kuchen und das Gebäck von Karan standen.
 

Schon bald war der Großteil des Essens vertilgt und alle waren in Gesprächen vertieft. Die Kinder, Shionn, Lili und ihre kleine Schwester, hatten es sich auf dem Boden bequem gemacht und zu zeichnen begonnen, da die Gespräche der Erwachsenen sie nicht interessierten. Doch auch Shion war nicht so ganz bei der Sache. Vielleicht lag es daran, dass bald Weihnachten war, aber ihm ging Nezumi einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Nein, an Weihnachten lag es wohl nicht. Schließlich dachte er die meiste Zeit an ihn. Der Gedanke daran, dass er nicht einmal wusste, ob der andere überhaupt noch am Leben war, machte ihn nervös. Doch solche Gedanken versuchte er gar nicht erst zuzulassen. Nezumi würde nicht so einfach sterben, das wusste er.

„Hat sich Eve eigentlich schon bei dir blicken lassen, Shion?“

Rikigas Frage riss ihn einmal mehr aus seinen Gedanken und er schüttelte den Kopf. Mehr war nicht notwendig.

„Dachte ich mir. Wahrscheinlich hat er dich längst vergessen. Ehrlich, es bringt doch nichts, so lange auf ihn zu warten. Der ist sicher längst über alle Berge.“

Bei diesen Worten zuckte Shion leicht zusammen. Er wusste, dass der Ältere zumindest mit seinen letzten Worten vermutlich recht hatte. So sehr sein Herz sich auch dagegen sträubte, es zu glauben.

„Der alte Mann hat recht. Nezumi ist all das nicht wert.“ Auch Inukashi nickte nun zustimmend, zu den Worten des Reporters.

Shion ballte seine Hände zu Fäusten, als er zu den beiden aufblickte. „Ich werde nicht aufhören zu warten. Es ist egal, was ihr denkt. Nezumi kommt sicher zurück. Egal, wo er jetzt ist, irgendwann wird er zurückkommen. Er wird sein Versprechen halten“, antwortete er und versuchte dabei so überzeugend wie möglich zu klingen, obwohl es genau diese Dinge waren, an denen er selbst immer wieder in seinen schwachen Momenten zweifelte. Sie hatten mit ihren Worten bei ihm mitten ins Schwarze getroffen, doch das ließ er sich nicht anmerken.

Rikiga seufzte auf und Inkuashi zuckte mit den Schultern. „Du hast dich echt nicht verändert, Shion. Langsam bekomm‘ ich das Gefühl, du veränderst dich wohl nie.“ Ein leichtes Lächeln hatte sich auf das Gesicht des Mädchens geschlichen und Shion blinzelte überrascht.

Hatte er sich wirklich nicht verändert? Er war sich da nicht so sicher, zumindest die Zeit mit Nezumi hatte ihn auf jeden Fall verändert. Da war er sich sicher.
 

Die restliche Zeit bis zum Abend verging wie im Flug. Zu seiner Erleichterung, mehr oder weniger zumindest, erwähnten weder Rikiga noch Inukashi Nezumi erneut. Als es langsam dunkel wurde, verabschiedete sich Renka mit ihren Töchtern, Inukashi mit Shionn und Rikiga, um sich auf den Heimweg zu machen, während Shion mit seiner Mutter allein zurückblieb.

„Soll ich dir noch beim Abräumen helfen?“, fragte er sie höflich und sah zu seiner Mutter, doch diese schüttelte den Kopf.

„Ich mache das schon alleine, danke.“, lächelte sie ihn an.

Er erwiderte das Lächeln und nickte. „Ich gehe dann wieder nach oben und lese etwas.“ Mit diesen Worten war er auch schon die Stufen nach oben gegangen, zurück in sein Zimmer. Doch anstatt sich ein Buch zu nehmen setzte er sich einfach auf sein Bett und starrte aus dem Fenster auf der anderen Seite der Wand.

Wenn er doch nur eine Möglichkeit gäbe, herauszufinden, wo Nezumi gerade war. Aber Tsukiyo war inzwischen an seinem hohen Alter gestorben. Und er wusste keinen anderen Weg, den Jungen zu kontaktieren. Selbst, wenn Tsukiyo noch am Leben wäre, dann wäre die Maus wohl auch nur eine geringe Chance gewesen.

Eines wusste er mit Sicherheit: Nezumi war nicht in der Nähe. Denn falls doch, so hätte er ihm sicher irgendwie eine Nachricht zukommen lassen, egal auf welche Art. Wahrscheinlich hatte er mit seinen Gedanken vorher recht gehabt und Nezumi hielt sich am anderen Ende der Welt auf – zutrauen würde er es ihm auf jeden Fall. Und es wäre eine gute Erklärung dafür, warum er noch nicht zurückgekommen war. Ja, so musste es wohl sein.

„Egal, wo du gerade bist: Ich hoffe, dir geht es gut“, murmelte Shion, obwohl er wusste, dass Nezumi ihn nicht hören konnte. Aber das kümmerte ihn nicht.

Sein Blick wanderte zu dem Päckchen auf dem Schreibtisch im Zimmer. Noch hatte er die Hoffnung, Nezumi könnte jeden Tag hier auftauchen, deshalb hatte er ein Weihnachtsgeschenk für ihn gekauft. Es war nichts Großartiges, aber er wusste, dass das egal war. Wenn er es ihm dieses Jahr bloß endlich geben könnte.

Kopfschüttelnd stand er auf und machte sich doch wieder auf den Weg nach unten, um seiner Mutter zu helfen. Er musste sich irgendwie ablenken.
 

Später, sehr viel später, schien der Mond durch das geöffnete Finster in den kleinen Raum und warf sein Licht auf den schlafenden Jungen. Dieser bewegte sich leicht, wachte aber nicht auf. Auch nicht, als der einfallende helle Mondschein plötzlich von einer Gestalt verdunkelt wurde, die durch das Fenster in das Zimmer stieg. Lautlos, ohne auf sich aufmerksam zu machen.

Silbrige Augen leuchteten kurz auf, als die Gestalt den Kopf drehte, um den schlafenden Jungen zu betrachten. Ein sanftes Lächeln trat auf ihr Gesicht. Dann wandte sie sich dem Schreibtisch zu, nahm das Geschenk und platzierte stattdessen einen Zettel an der gleichen Stelle. Sie warf noch einen weiteren Blick auf den Jungen, ging schließlich an das Bett heran und strich ihm federleicht über das weiße Haar.

„Frohe Weihnachten, Shion.“ Dann verschwand sie wieder genauso geräuschlos, wie sie gekommen war.

Doch von all dem bekam der schlafende Junge nichts mit.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von: abgemeldet
2015-07-26T19:03:31+00:00 26.07.2015 21:03
Hallo!

Ich kenne die Serie leider nicht, aber inhaltlich war es auch für einen Laien nachvollziehbar, verständlich und ein fantastischer Ausflug in eine andere Welt. Der erste Satz gefiel mir herausragend gut: So wenige Wörter, und doch spürt man den Wind im eigenen Haar. Auch im weiteren Verlauf hast du immer wieder Beschreibungen drin, die aus der sehnsüchtig-nachdenklichen Atmosphäre etwas Besonderes machen. Der Kuchen hat Tradition, das Geschenk wirkt nicht nur originell, sondern wie ein kleiner Schatz - es ist ja schon faszinierend genug, sich vorzustellen echte Bücher waren eine Rarität. In dem Moment war mir Shions Mutter noch sympathischer. Sie hatte etwas angenehm Ruhiges an sich. :-)

Sonst ist es erstaunlich wie sehr ihn das Erlebnis als Zwölfjähriger geprägt hat. Sich über einen solchen Zeitraum an derlei viele Details, wie z.B. den Kakao zu erinnern, sticht einfach ins Auge. Nezumi schien im Kontrast sehr zeitlos, kühl, aber dennoch verlässlich. Ein seltsamer Mann mit viel Charisma - obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es gut ist seine Nähe zu suchen.
Schade, dass der Oneshot offen lässt, was hiernach besprochen und nicht besprochen wurde. Es hätte mich auch interessiert, was Shion im Laufe des Gesprächd in ihm sieht. Aktuell tendiert es zu Bewunderung, aber der Hauch von 'ist ihm verfallen' blitzte immer wieder durch.

Einzige Manöverkritik:
Im zweiten Absatz hättest du einige Zeilen ('Weder jenen einen [...] her gewesen.) streichen können, da sie kurz darauf noch einmal und inhaltlich besser wiederholt werden. :)

Fazit: Ein gelungenes Ergebnis, bei dem man sich gern festliest.

Viele Grüße, Morgi
KomMission-Unterstützerin, für mehr Feedback auf Animexx :-)
Von:  Kunoichi
2012-12-13T15:54:05+00:00 13.12.2012 16:54
Ach, wie traurig. ^^ Schade, dass ich das Fandom nicht kenne und nicht genau weiß, welche Beziehung Shion und Nezumi zueinander haben und was sie alles gemeinsam schon erlebt haben. Aber sie müssen wohl ziemlich gute Freunde sein, oder?
Irgendwie schön, dass Nezumi doch gekommen ist, wo Shion so sehnsüchtig auf ihn wartet, aber auch irgendwie traurig, dass Shion genau das nicht mitbekommt. Ich hätte es fast noch besser gefunden, wenn Nezumi statt einen Zettel auch ein Geschenk hingelegt hätte. x3
Lg, Kunoichi
Von:  Shizana
2012-05-01T12:46:02+00:00 01.05.2012 14:46
Vielen Dank für den OS. Das war wirklich ein schönes Geburtstagsgeschenk. Ich habe mich sehr darüber gefreut. :)
Ein sehr schönes Thema hast du hier gewählt. Und es umzusetzen war gewiss nicht so einfach. Aber du hast wirklich das Beste draus gemacht. Es kommt sehr viel rüber - gut gemacht.

Deine Beta hat noch Fehler übersehen. ^^'
Ich weiß, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Ich will mich da jetzt auch gar nicht lange dran aufhalten. Mir ist es nur aufgefallen und, ja, ist aber nicht so schlimm. Ich habe mich trotzdem wahnsinnig gefreut. x3

Ganz viel Liebe für dich! Vielen vielen Dank.
Von:  Shizana
2012-02-08T01:15:08+00:00 08.02.2012 02:15
Juppih, juppih! Ich darf ganz offiziell kommentieren! Ist das nicht toll? Nein? Ich finde schon. Also Ja. xD
Ähm ja. Erstmal natürlich herzlichen Dank für die Widmung. "Weil ich's so wollte"? Aha, okay. xD Was ein Shizana nicht so alles will... aha, aha.

So okay. Dann kommt jetzt etwas ganz Konstruktives. Jaha, weil ich es kann! Also: Ich kenn' dich nicht... Ich kenn' dich nicht... Okay, los geht's!

Ein sehr gelungener OS. Das Feeling von NO.6 kommt schon mit dem ersten Absatz wieder auf. Die Szene, wo Shion das Fenster öffnet, ist definitiv nicht zu verkennen. Und dieses bekannte Gefühl hält sich durchgängig durch den gesamten OS. Ein erstes, großes Lob diesbezüglich von mir!
Die Idee mit dem Macbeth-Buch als Geburtstagsgeschenk seitens der Mutter fand ich ebenfalls sowohl originell, als auch authentisch. Ein schöneres Geschenk konnte man Shion gewiss nicht machen. Daher ein weiteres Lob von mir.
Dann natürlich der Part, den ich mir leidenschaftlich herbeigesehnt habe: Nezumi taucht wieder bei Shion auf. Genau so, wie beim ersten Mal - nur dieses Mal, Gott sei Dank, unverletzt. Und die ganze Szene über hast du Shion und Nezumi zu einhundert Prozent getroffen. Die unverkennbaren Charakterzüge waren wiederzuerkennen. Und was mir besonders gefallen hat, ist die Tatsache, dass du es auch hier so beibehalten hast, dass das (eigentlich offizielle) Shounen Ai ebenso unterschwellig gehalten wurde, wie man's zumindest aus dem Anime kennt. Den Manga kann ich natürlich nicht beurteilen... den lese ich mein Leben nicht mehr, fürchte ich. ^^' Wayne.
Gut, ich weiß natürlich, dass du es generell nicht so mit SA hast und es auch nicht schreiben magst. Aber trotzdem empfinde ich den OS so, dass man dennoch frei SA hineininterpretieren kann. Es ist nicht betont, aber eben auf genau derselben Wellenlänge, wie aus dem Anime bekannt. Gewollt oder nicht, das ist dir super gelungen.

Schade finde ich natürlich, dass nicht wirklich viel ins Rollen kam. Nezumi ist halt aufgetaucht, und da ist er nun. Leider hast du kurz darauf auch schon wieder abgebrochen, sodass man irgendwie unbefriedigt dasteht, weil es gerne noch hätte weitergehen können. Ich jedenfalls lechze nach einer Fortsetzung. Das ist irgendwie echt sadistisch von dir, jawohl!

Trotz Betaleser sind leider immer noch massig Fehler in dem OS. Okay, was heißt massig... Halt zumindest genug, dass ich es nicht nur als Ausrutscher oder Überseher werten kann. Aber wenn du magst, schaue ich da auch gerne noch einmal drüber. Ist ja fies genug, dass ich den OS nicht auch wieder betan durfte. Aber eigentlich auch süß, weil so war der OS irgendwie wie ein kleines Geschenk nur für mich allein. <3
Ähm ja... Ansonsten habe ich keine weitere Kritik einzuwenden.
Ich kenne dich, deinen Schreibstil und deine Schwächen ja inzwischen schon sehr gut. Daher kann ich gar nicht total fies auf dir rumhacken - gemein, oder? xD


Auf jeden Fall lasse ich ein ganz egoistisches und eingebildetes Dankeschön da. Ich liebe diesen OS! <3
Mehr davon, ogog! (Und mir ist deine Liste an anstehenden FFs mal sowas von *piep*egal! xDD)

Grüße blabla, Förmlichkeiten sind bei uns eigentlich witzlos. xD
Shizana


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