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Vampirdämon

Untergang der Schattenfürsten
von

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In den Wogen der Ereignisse

Mireylle brachte die nächsten paar Tage ereignislos hinter sich. Im Laden versuchte sie ihrer Chefin zuliebe nicht unglücklich oder verunsichert auszusehen und mit der Zeit fühlte sie sich auch tatsächlich besser. Die Alltäglichkeit ihrer Arbeit brachte sie zurück zu dem schon so gewohnten Zustand geistiger Akzeptanz, einer Akzeptanz, die nicht hinterfragte. In einer gewissen Art und Weise war dies ein betrüblicher Gedanke, doch er war ebenso leicht zu verdrängen, wie all die anderen. Sie fand sich erneut mit der Unsicherheit ab und vielleicht war es besser so, denn es erleichterte das Leben ungemein, sich nicht ständig von den eigenen Ängsten zerfressen zu lassen. Trotzdem mied Mireylle auf dem Heimweg die Straße, an der Simons Bande sie überfallen hatte. Die Kopfschmerzen, die sie an den folgenden Tagen geplagt hatten, begannen gerade erst wieder nach zu lassen. Natürlich gab es eine gewisse Versuchung, wieder in Gefahr zu geraten, um Shahaan herbeirufen zu können, doch eigentlich wollte sie nicht riskieren, hilflos dazustehen.
 

Der Wind wogte durch die goldenen Ähren eines Weizenfeldes, erfüllte das Land rundherum sanft mit Leben und verlieh ihm im warmen Schein der Sonne eine harmonische Atmosphäre. Ein dünner Trampelpfad zeichnete sich im Korn ab und führte zu einer größeren Stelle, an der sich Mireylle mit einer Decke und einem Rucksack im Weizen ausgebreitet hatte. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Wind und atmete die vielen Gerüche tief ein. Sie liebte die Natur, weil ihr Frieden sie ansteckte und ihre Schönheit sie berauschte. Zudem meinte sie, eine Art Schein, ähnlich der menschlichen Aura, um die Pflanzen zu sehen und diese Art der Lebensenergie fand sie faszinierend. An Sonntagen ging sie gern hinaus in die Natur, auch wenn die Fahrt an schöne Plätze wie diesen länger dauerte.

Langsam drehte Mireylle sich auf den Rücken und strich eine Strähne beiseite, die sie kitzelte.

Als sie endlich die Augen öffnete, zuckte sie zusammen. Ihr Gegenüber stach in der friedlich hellen Landschaft hervor, in seiner schwarzen Ganzkörperkluft wie ein Vorbote der Dunkelheit anmutend. Das Wort „Dämon“ war vermutlich durchaus nicht unangebracht.

Mireylle setzte sich auf und blinzelte einige Male gegen die Sonne, gab ihm Zeit, etwas zu sagen, eine Erklärung zu formulieren, doch er schwieg. Nur ungenau konnte sie die Konturen seines Gesichtes ausmachen, doch sie kam zu dem Schluss, er würde über das Weizenmeer in die Ferne blicken. Als sie sich vollends erhob, zuckte keine Faser seines Seins, doch die Sicherheit, in irgendeiner Art und Weise genau beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Erst jetzt bemerkte sie erneut, wie unberührt seine Erscheinung von den äußeren Einflüssen blieb. Der Wind vermochte sein Haar nicht zu berühren und auch das Licht war unfähig, Schatten ins Schwarz seiner Kleidung zu bringen, die so dunkel war, als könnte sie auch das letzte Fünkchen Helligkeit dieser Welt einsaugen.

Eine ganze Weile standen sie so da, wortlose Schemen in einem wogenden Meer aus Gold. Mireylle wagte es nicht zu sprechen, besonders, da sie eine seltsame Anspannung in der Luft zu spüren begann. Es war ihr ein Rätsel, was er hier wollte und wohin er seinen Blick so konzentriert richtete. Die gesamte Situation schien kompliziert und irgendwie surreal. Ihre Scheu ablegend begann sie, sein Gesicht zu mustern, sich alle Züge einbrennend, forschend, ob sich irgendeine Regung in ihnen zeigte.

Während sie krampfhaft versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen, entschloss sie sich, zu handeln. Eine starke Böe fegte über das Land und beugte die leuchtenden Gräser. In die plötzliche Stille hinein erhob Mireylle ihre Stimme: „Shahaan“. Überrascht beobachtete sie, wie die Pupillen des Vampirdämons sich beinahe unmerklich verengten, als hätte sie ihn aus seinen Gedanken geschreckt. Sein Kopf drehte sich langsam zu ihr und die Andeutung eines Lächelns zeichnete sein Gesicht. „Mylady Mireille. Mögen die Schatten Euch an diesem jungen Tag umgehen.“ Mireylles Gedanken hielten einen Augenblick erstaunt inne. Trotz der fortgeschrittenen Mittagszeit bezeichnete er den Tag als jung und sie spürte die tiefere Bedeutung hinter diesem unscheinbaren Wort, die den bisherigen Tag als ereignislos, die folgende Tageszeit aber als reich an Hindernissen und Schwierigkeiten klassifizierte. Was mochte er nur vorhaben? Sie sah in die tiefe Aufmerksamkeit seiner Augen und schauderte bei der Vorstellung, er hätte den Sekundenbruchteil des Schweigens genutzt, um ihre Gedanken zu lesen.

Das Lächeln des Vampirdämons erschien ihr eine Winzigkeit breiter, doch sie konnte nicht sagen, ob sie es sich nur einbildete, als er weiter sprach. „Ich komme zu Euch, um Eure Zweifel zu zerstreuen und Euch Euere Unsicherheit zu nehmen, die Ihr gewiss empfindet. Schließlich nehmt Ihr eine Welt wahr, deren Existenz in der Eueren nicht nur bezweifelt, sondern von wissenschaftlicher Seite strikt abgelehnt wird. Ich kann Euch sicherlich nicht vorenthalten, dass ein Großteil dieser Euch fremden Welt auf völlig anderen Gesetzmäßigkeiten basiert, insbesondere für jemanden wie Euch, der zwischen den Welten wandeln kann.“

Mireylles Herz machte einen Satz. Ihr wurde heiß und kalt, während sie dem scheinbar lauten Nachklang seines Pochens lauschte. Sie sollte den Zutritt zu einer fremden Welt haben! Die Sehnsucht, eine solche Welt zu entdecken, erwachte im Grunde ihres Seins und übertönte die bedrückenden Erinnerungen an Jahre der Selbstzweifel mit Leichtigkeit.

Voller Hoffnung blickte sie auf und ins Gesicht des Vampirdämons, um ruckartig und panisch zurück zu weichen. In seinen geweiteten Augen sah sie den Schatten eines inneren Kampfes. Obwohl nach außen scheinbar regungslos, war seine Aura gänzlich in Bewegung, tobte wie ein Sturm um die Silhouette seiner Gestalt und vermochte sogar, den blassen Schimmer einer inneren Anstrengung auf sein Gesicht zu bannen. Erneut wurde ihr unangenehm bewusst, was das Wort „Vampir“ bedeutete und nur zu gut spürte sie das unbezähmbare Pulsieren des Blutes in ihren Adern. Von ihrer wachsenden Angst angetrieben, entfernte sie sich erst langsam, dann in einer kopflosen Flucht von der regungslosen schwarzen Gestalt.

Überstürzt rannte Mireylle davon, immer weiter, und ohne über ihr Ziel nach zu denken. Nicht nur einmal stolperte sie über Halme, die sich um ihre Knöchel wanden und zu Boden rissen, doch immer wieder trieben ihre Instinkte sie an, sich auf zu richten und weiter zu hasten. Erst nachdem sie das Feld verlassen hatte, begann sie sich Gedanken zu machen, wohin sie laufen sollte und sie blieb abrupt stehen. Ihr ging auf, wie sinnlos diese Flucht war, schließlich war ihr die Geschwindigkeit und Kraft nur all zu gegenwärtig, mit der der Vampirdämon damals gegen das andere Schattenwesen gekämpft hatte. Wie konnten Menschenbeine es mit einer solchen animalischen Macht aufnehmen? Falls er es wirklich beabsichtigte, und es gab allen Grund, daran zu zweifeln, war er fähig sie jederzeit und überall zu töten. Letztendlich erschien es ihr sinnlos, sich mit jemandem zu unterhalten oder ihn sogar zu retten, wenn man sowieso nur auf dessen Blut aus war. Beschämt und voller Angst senkte Mireylle den Kopf, atmete einige Male durch und drehte um. Selbst die Tatsache, dass er wie aus dem Nichts vor ihr stand, vermochte sie nicht aus ihrem tranceartigen Zustand zu reißen, der bei einem Blick in seine viel zu unergründlichen Augen in furchtlose Fügsamkeit überging. Was spielte Furcht jetzt noch für eine Rolle? Innerlich belächelte sie ihren innigen Wunsch, eine andere, ungewisse und geheimnisvolle Welt zu entdecken, denn es bedeutete im Gegenzug sich dieser Welt wehr- und ahnungslos aus zu setzen.Sie konnte nur hoffen, das, was ihn bisher bewogen hatte, sie am Leben zu lassen, würde sie weiterhin schützen.

„Ich muss Euch erneut um Verzeihung bitten, Mylady. Doch ich weiß, auch Ihr habt gespürt, wie stark die Instinkte sein können. Sie sind tief in uns verwurzelt und bilden den Nährboden unseres Seins. Das macht sie so mächtig gegenüber unserem Willen. Ich möchte Euch beteuern, dass Ihr keinen Grund zur Sorge habt. Doch ich spüre, Ihr habt auch Euere Instinkte gezähmt, und so habe ich nur die Möglichkeit, Euch für die Zukunft zu beruhigen. Seid versichert, von meiner Seite droht Euch keine Gefahr.

Ich möchte es für Euch begründen. Euresgleichen, Weltenwandler, gibt es nur sehr selten, denn sie entstehen nur durch magische Grenz- und Zufälle und ich bin neugierig, welche Fähigkeiten Ihr wohl besitzen mögt und welche Geschichte sich hinter Eurer Existenz verbirgt. So seht mich als Euren Freund, Mylady, die Neugier eines Vampirdämonen ist stets ein guter Freund.“

„Außer, diese Neugier bezieht sich auf das Aussehen meiner Innereien“, dachte Mireylle spöttisch und beobachtete entsetzt, wie ein breites Lächeln auf dem Gesicht des Dämons erschien.

Erneut in Schweigen gehüllt schritten die Beiden den schmalen Feldweg entlang, vorbei an dem dünnen Trampelpfad, der den Weg zu ihren Sachen kennzeichnete und auf den nahe liegenden Wald zu. Dort wichen sie schon bald vom Weg ab und begannen einen Marsch durchs Unterholz, dessen Ziel für Mireylle nach wie vor ein Rätsel war. Sie traute sich nicht, zu fragen, und es erschien ihr auch nicht unbedingt als notwendig. Es war immer noch völlig klar: Wenn er sie töten wollte, dann konnte er es jederzeit tun. Ob sie es nun im Voraus wusste oder nicht änderte nicht viel an der Tatsache. Mireylle entdeckte verwundert, wie diese Erkenntnis eine seltsam verquer erscheinende Art von Vertrauen zwischen ihnen Beiden schuf. Zudem war sie wirklich überrascht, wie leicht es ihr fiel, ihre Angst durch diese Gewissheit zu verdrängen. Sie war nicht sicher, ob es das war, was die Menschen als „Mut“ zu bezeichnen pflegten, denn schließlich glich es eher einer passiven Akzeptanz der Begebenheiten und das war in Mireylles Vorstellung das Gegenteil von Mut. Und doch fühlte sie sich unwillkürlich mutig, wie sie so neben einer völlig unbekannten, mächtigen und im Großen und Ganzen wohl furchterregenden Gestalt herging, ohne Angst zu verspüren.

Nach einer Weile ärgerte sie sich, so leichte Schuhe angezogen zu haben, denn der Boden war durch die Blätter nicht nur rutschig, sondern auch voller kleiner spitzer Steine, die schnell durch ihre dünnen Sohlen drangen. Völlig in ihre Gedanken versunken ging sie noch ein paar Schritte weiter, nachdem ihr geräuschloser Begleiter plötzlich stehen geblieben war. Als sie aufschaute, konnte sie beobachten, wie er innerhalb eines Sekundenbruchteils von der Stelle, an der er gestanden hatte, verschwand und nahe bei ihr wieder erschien.

„Mylady“, er sah sie durchdringend an und zog in Erartung der angedeuteten Bitte unwillkürlich die Augenbrauen zusammen. Er lächelte ein undurchschaubares Lächeln und beugte sich zu ihr hinunter, seine Hand auf ihre Schulter legend. „Mylady Mireylle, vertraut Ihr mir?“ Statt über seine Frage nach zu denken, widmete sich Mireylle der Untersuchung seiner Hand auf ihrer Schulter. Im ersten Augenblick gewichtslos und kalt erschien sie ihr jetzt als ein warmer Druck auf der Schulter. Mit skeptischem Blick erfasste sie die Präsenz, die seine gesamte Erscheinung auf ein Mal hatte. Das lange, schwarze Haar wogte im Wind, Schatten fielen über Gesicht und Kleidung und er schien von einem seltsamen, jedoch angenehmen Geruch umgeben.

Diesmal fragte Mireylle sich ernsthaft, wie tief er wohl in ihre Psyche dringen konnte und wie stark die Illusion sein würde, die er darin hervorrief. Andererseits war es auch durchaus möglich, dass er wirklich mehr Teil dieser Welt geworden war, um ihr die Botschaft einer Berührung vermitteln zu können. Die Fähigkeit besaß er zweifellos, denn nur durch sie hatte er damals etwas gegen Simon ausrichten können. Und außerdem… sie wusste nicht, in wie weit sie ihrer so genannten Fähigkeit vertrauen konnte, doch diese sagte ihr, sein Wesen wäre jetzt näher, voller, ganzer, als zuvor, die Aura nicht so zwiegespalten. Einen Moment zögerte sie noch, um abermals forschend in seine aufmerksamen Augen zu schauen. Dann war es entschieden: „Ja“. Er drückte leicht ihre Schulter, lächelte als Zeichen der Zufriedenheit kurz noch, dann zog er aus unbekannter Quelle ein schwarzes Tuch hervor.

„Dann habt Ihr sicher nichts dagegen, Euch blind auf meine Führung zu verlassen. Wenn ich Euch also die Augen verbinden dürfte?“. Von einem Moment auf den anderen waren ihre Augen von dem weichen Stoff umbunden, der sich eng an ihre Haut legte und ihr die Sicht in jede Richtung zuverlässig nahm. „Ihr braucht euch nur führen zu lassen und auf meine Stimme zu hören“. Er nahm sie an der Hand und führte sie langsam einen Hügel hinauf. Mit der Zeit wurde ihr Schritt sicherer, das Verstehen seiner Weisungen und des Druckes seiner Hand besser. Der Vampirdämon schien auch die Geschwindigkeit ihrer Sicherheit an zu passen, sodass sie immer schneller durch den Wald liefen.

Mireylle reagierte schnell auf de sanften Druck seiner Hand und wurde langsamer. Sie wähnte ein Hindernis, an dem man vorsichtiger vorbei gehen musste, doch sie blieben schon bald völlig stehen. Langsam entzog ihr Führer ihr seine Hand und ein Moment des stillen Atemholens füllte die Luft.

„Vor uns liegt ein mit Steinen gepflasterter Weg. Ich möchte Euch bitten, voraus zu gehen. Ich werde Euch mündlich weiter leiten, Ihr braucht Euch also nicht zu sorgen.“. Das ganze machte Mireylle stutzig. Wenn der Weg gepflastert und ungefährlich war warum gingen sie dann nicht beide weiter. Was war es, das er ihr verschwieg? Sie versuchte einen Eindruck von der Umgebung zu bekommen. Die Luft war hier frischer, feuchter, woraus sie schloss, vor einer Art Brücke zu stehen, die über einen kleinen Fluss oder etwas Derartiges führte. Aber eine gepflasterte Brücke, mitten im Wald, an die keine Straße grenze erschien ihr höchst verdächtig. Dann konnte es auch eine alte Ruine sein, die von einem Bach umflossen war, die wahrscheinlichere Möglichkeit. Aber warum, um alles in der Welt musste sie vorgehen? Einige Sekunden zögerte sie, wog ab, ob es einen Sinn hatte, ab zu lehnen und stimmte schließlich zu.

Die letzten paar Meter über den weichen Waldboden folgte er ihr noch, als sie den Fuß plötzlich auf kalten Stein setzte, blieb seine Stimme zurück. Seine sichere, melodische Stimme führte sie ruhig und kämpfte gegen ihre reißende Unsicherheit an. Mit schlotternden Knien machte sie Schritt um Schritt, fühlte den Boden vor sich mehrmals mit der Fußspitze ab, doch niemals fand sie etwas Gefährliches, keine Hindernisse und auch keine Löcher. Es schien sich um einen ziemlich gut ausgearbeiteten, makellosen Weg zu handeln. Verwirrt ließ sie sich weiter führen, stets darauf bedacht, nicht leichsinnig zu werden.

Sie hörte ein Rauschen. Erschreckt blieb sie stehen, denn der Boden unter ihren Füßen schien zu verschwinden. Sofort drang die Stimme des Vampirs bestimmend an ihr Ohr. „Lasst Euch nicht von den Welten verwirren, die Ihr hört. Ihr steht auf Steinpflaster, Mylady.“ Obwohl seine Worte sie verwirrten, schaffte die Ruhe seiner Stimme es, ihr wieder genug Sicherheit zu geben, um weiter zu gehen.

„Ihr seid angekommen“, eröffnete er ihr, als sie plötzlich wieder auf Waldboden trat. „Nehmt die Augenbinde ab, Mylady Mireylle.“

Mireylles Augen weiteten sich. Ein frischer Wind umspielte den Saum ihres Kleides und gab vor, der Auslöser der Gänsehaut zu sein, die sich auf die Haut ihrer Beine und Arme schlich. Sie hatte sich um 180 Grad gedreht und sah zu ihrem Begleiter hinüber. Ungläubig wanderte ihr Blick über den Weg, den sie gegangen war. Er fehlte. Vor sich sah Mireylle eine tiefe Schlucht, auf deren Grund ein breiter Strom vor sich hin gluckste. Die mit Efeu und Gräsern überwucherten Hänge fielen steil herab und wiesen nicht mal den Ansatz einer Brücke auf.

Der Dämon stand auf der anderen Seite.

„Aber , wie…?“

Mit einem Mal stand er an ihrer Seite und sah zur anderen Seite hinüber. „Ihr habt einfach eine örtliche Begebenheit meiner Welt ausgenutzt. Die bloße Behauptung, ein Steinpflaster läge vor Euch, hat gereicht, um Euren der Sicht beraubten Geist in jeder ihm zugänglichen Welt nach einem Steinpflaster suchen zu lassen. Mir ist natürlich unbekannt, ob Eurem Geist nur unsere beiden Welten zugänglich sind oder auch Weitere. Doch es scheint zumindest so, dass Ihr zunächst meine, mit der Euren eng verbundene, Welt aussucht. Schaut hinüber, Ihr könnt das Pflaster sehen.“

Der warme Druck seiner Hand auf ihrer Schulter schien sie mit etwas zu verbinden und das stets so verschwommene Bild von Auren vor ihren Augen wurde klarer. „Ihr seid den Weg in meine Welt nun schon einmal gegangen, darum fällt es Eurem Geist jetzt leichter, ihn abermals zu gehen und wirklich zu erkennen, was er vor sich sieht.“

Kein Lüftchen regte sich und auch kein ungewöhnlicher Laut durchdrang den Wald, doch der Vampir richtete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit zu voller Körpergröße auf und starrte angespannt in die Ferne. Vor ihren Augen schien seine Aura zu vibrieren. Trotzdem legte sich der Sturm so schnell, wie er begonnen hatte. Er schien seine Gefühle wirklich gut unter Kontrolle zu haben. „Lasst uns zu Euerem Lager zurückkehren, Mylady.“

Mireylle fühlte sich trotz seiner beruhigenden Worte unsicher, als die Beiden raschen Schrittes über die Brücke gingen und den Hügel hinab marschierten. Erneut pulsierte etwas durch die Aura des Vampirs und veranlasste ihn, abrupt stehen zu bleiben. „Mylady, bedauerlicherweise drängt mich die Zeit, doch ich möchte Euch nicht orientierungslos in diesem Wald zurücklassen. Vergebt mir bitte, dass ich die Reise auf diese Art beschleunige.“ Noch ehe sie reagieren konnte, hatte der Vampirdämon sie hoch gehoben und rannte mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit durchs Unterholz. Innerhalb weniger Sekunden waren sie neben ihrer Decke im Weizenfeld angekommen. Eilig wurde Mireylle abgesetzt und eine Verbeugung angedeutet, bevor die schwarze Gestalt verschwand.
 

Ihre Blicke folgten stumpf den vom Wind erfassten Plastikabfällen, die zwischen den Häuserblocks hin und her huschten. Die Abendschatten hatten sich wie ein dreckiger Schleier über die baufälligen Gebäude gelegt. Und der Geruch von Fäulnis wehte von den umgekippten Mülltonnen herüber, um die Vergänglichkeitsstimmung zu unterstreichen, die diese Gegend schon vor Jahrzehnten erfasst hatte. In Gedanken versunken ließ Mireylle ihre Füße den Weg bestimmen, den sie nach Hause nahm.

Den Radau in den Quergassen missachtend ging sie weiter. Die Vertrautheit einer gewissen Gasse bemerkte Mireylle erst, als eine nur allzu bekannte Stimme sie begrüßte.

„Na, du kleines Miststück? Hättest du lieber mal nen anderen Weg genommen. Diesmal kommst du mir nicht so locker davon. Was immer du letztes Mal gemacht hast, du Hexe, heute kriegst du deine Strafe.“ Das bösartige Blitzen in Simons Augen verdeutlichte Mireylle, in was für eine Situation sie da geraten war. Die Schatten schienen die Kerben in Simons Gesicht betonen zu wollen, als er das Taschenmesser aufklappte und zu grinsen begann. Augenblicklich holte Mireylle aus und schlug ihm mit aller Kraft aufs Handgelenk. Das Messer fiel zu Boden und Mireylle nutzte die Gelegenheit, um an Simon vorbei zu fliehen. Einer seiner Kumpel erschien vor ihr und hielt sie am Elenbogen fest. Von der Wucht herumgerissen rannte sie fast wieder in Simon hinein, der die scharfe Waffe bereits wieder in Händen hielt. Seine Haltung war angespannt, sein Gesicht wies einen Zug des Wahnsinns auf, der Mireylles Blut gefrieren ließ.

So unwillkürlich, wie beim letzten Mal schrie sie einen Namen, klammerte sich an die Hoffnung, die an diesem Wort hing, ein Versprechen, an das sie in diesem Augenblick mehr glauben wollte als konnte. Doch die Hoffnung schrie aus ihr. Immer wieder nannte sie den Namen des Vampirdämonenlords, während sie sich aus den harten Griffen ihrer Angreifer zu winden versuchte. Obwohl mehrere der Tritte, die sie austeilte, saßen, schien das an ihrer Lage nicht viel zu ändern, eher noch hatte sie die Bande wütend gemacht.

Als nächstes erinnerte sie sich daran, am Boden zu liegen, die Arme fest um den schmerz- verkrampften Magen geschlungen, den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge. Simons hagere Gestalt beugte sich über sie, etwas Kaltes berührte ihren Hals. Ohnmächtig sinnierte Mireylle darüber, warum ihr Gefühl sie nicht vorgewarnt hatte, wie es das immer tat, wenn sie sich böswilligen Geistern näherte. Im Nachhinein konnte sie nicht einmal sagen, ob sie nichts gespürt oder die Vorzeichen einfach nur erfolgreich aus ihrer Wahrnehmung ausgeblendet hatte.

Der Druck auf ihren Hals verschärfte sich, ein leichtes Vibrieren der Klinge war zu spüren.

„Komm schon, Simon, das lohnt sich nicht“

So einfach diese Worte klangen, so unglaublich mächtig erschienen sie Mireylle in diesem Augenblick. Jemand zog Simon von ihr weg. Dieser weigerte sich erst, gab nach einem bittenden „Komm schon, Mann!“ aber nach. Wie eine Strafe für die augenblicklich eintretende Erleichterung holte Simon aus und Mireylle schaffte es gerade noch, die Unterarme schützend vor ihr Gesicht zu halten. Der Schmerz tiefer Schnitte durchzog ihren Körper. Nur am Rande ihres Bewusstseins bemerkte sie, wie die Bande aus der Gasse floh. Ihre Aufmerksamkeit galt dem warmen Sprudeln auf ihrer kalt gewordenen Haut.

Erst nach einer ganzen Weile, so schien es, wurde ihr bewusst, wie gefährlich der hohe Blutverlust sein konnte. Mit unendlicher Mühe schaffte sie es, zum Rucksack zu kriechen, sich auf zu richten und die Reste der Frischhaltefolie aus dem großen Fach zu kramen. Diese band sie so eng, wie sie konnte, um die Unterarme. Mireylle versuchte krampfhaft, die Folie auch am linken Arm durch einen Knoten zu fixieren, doch immer wieder entglitt ihr das glatte Material.Wann immer sie versuchte, sich zu konzentrieren, vernebelte sich ihre Sicht, alles wurde einen Moment lang schwarz und als sie wider zu sich kam, war lag sie in sich zusammengesunken am Boden. Die Zeit schlich dahin, während sie sich bemühte, den Blutfluss am linken Arm zu unterbinden. Monoton redete sie sich ein, der erste Verband sei ihr gelungen und hielte einen Blutverlust am rechten Arm zurück. Sie musste also die Besinnung lange genug behalten könne, um den zweiten zu verbinden und sich aus dieser verdammten Gasse zu schleppen.

Endlich schafften ihre blutbeschmierten Finger es, einen Knoten in das widerspenstige Material zu zwingen. Erleichtert strich sie einige Schweißperlen von der Stirn und ließ sich niedersinken. Endlich hatte sie es geschafft. Geistesabwesend strich sie mit der Hand durch die Blutlache, während ein dunkler Schatten sich über all ihre Wahrnehmung legte.
 

Dunkelheit. In stiller Finsternis glitt sie dahin, ahnungslos, orientierungslos, ziellos. Sie fühlte, wie sie immer tiefer zu versinken schien, als würde sie die Barrieren unendlicher Welten aus Schwärze durchdringen, um dem Kern dieses Chaos aus Nichts immer näher zu kommen. Willenlos ließ sie sich sinken, machte sich keinerlei Gedanken, ob eine Bewegung etwas bewirken würde. Ob es überhaupt etwas an ihr gab, das eine Bewegung hätte ausführen können.

Aus der Unendlichkeit über sich sah sie ein Licht auf sich zukommen, starrte das Phänomen gleichgültig an, bis seine Wärme sie berührte. Etwas in ihr erbebte, zerbrach, als würde ein Panzer aus Kälte von ihr abfallen. Die Wärme weckte etwas in ihr, etwas, das nach oben, aus dem Dunkel heraus strebte. Durch einen inneren Drang getrieben glitt sie aufwärts, folgte dem Schein durch zahllose der Barrieren zurück. Zurück an die Oberfläche.
 

Bleierne Schwäche breitete sich in ihr aus, als sie wieder zu Bewusstsein gelangte. Mireylle war kaum fähig, ihre Umgebung zu analysieren. Nach einem ewigen Moment des Kräftesammelns öffnete sie die Augen und blickte in Lord Shahaans erregtes Gesicht. Im Nachhinein realisierte sie seinen Arm, der sie in eine aufrechte Haltung brachte, und seine Hand, die die ihre fest umklammert hielt. Wärme schien direkt aus seinem Körper in sie zu strömen und ihr neue Lebensgeister ein zu flößen. Sein Gesichtsausdruck bildete einen schreienden Gegensatz zu der Geborgenheit, die ihr seine Wärme gab. Es schien ein wenig verzerrt, die gelben Augen glühten in Tönen von Gold und Bronze. Sie fragte sich nur beiläufig, ob es das Blut war.

Ihr Bewusstsein als stabil erfassend hob Shahaan das Mädchen hoch und trug sie in ihre Wohnung. Er wechselte dabei die Welten, ohne sich großartig Gedanken zu machen, denn sie war zu benommen, um diese Vorgänge erfassen zu können. So ruhig er vermochte sprach er einige Worte der Heilung, wechselte die Verbände und wusch das Blut ab. Zuletzt legte er ihr die Hand auf die Stirn.

„Ich bitte Euch um Entschuldigung, Mylady Mireylle. Andere Angelegenheiten haben mich viel zu lange aufgehalten, sodass ich Euere Unversehrtheit nicht schützen konnte. Ich habe einen Heilzauber auf Euch gelegt, doch in dieser Welt wirkt er nur schwach. Bitte schlaft jetzt. Ich werde wiederkommen, um nach Euch zu sehen.“
 

In einem Höllentempo raste das Fahrzeug über die Straße. Die vier Insassen genossen die Geschwindigkeit, hüpften im Beat der Musik und stießen mit ihren Bierflaschen an.

„Hab echt gedacht, du bringst die kleine um die Ecke, Simon!“ tönte es laut von der Rückbank, gefolgt von einem herzhaften Rülpsen.

„Fang nicht wieder mit dem Scheiß an, Nico! Wär doch bescheuert, wegen so ner kranken Tusse in den Knast zu wandern!“

„Jaja, Jens, is ja gut, wir wissen, dass das ganz schlau von dir war, ihn aufzuhalten.“ Der rundliche Kerl auf der Rückbank gab seinem Vordermann einen Klaps auf die Schulter. „Haste schon gut gemacht“.

„Ach was! Verdient hätte sie es ja! Wer weiß, was bei der alles im Hexenkessel landet! Die hat bestimmt schon ein paar Leichen im Keller.“

„Schnauze, Nico! Hab ich euch nicht gesagt, dass ich nichts mehr davon hören will? Wir wollen heut Abend einen drauf machen und nicht über diese Hexe reden.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte Simon kräftig aufs Gaspedal.

Das Auto bretterte auf Höchstgeschwindigkeit über die leere Autobahn, zwei helle Lichtkegel auf den Asphalt vor sich werfend. Plötzlich sprang ein Schatten durch das Licht.

„Scheiße!“ Mit voller Wucht stieg der Bandenboss auf die Bremse und riss das Steuer herum, doch dem Schatten konnte er nicht entkommen. Entsetzt kämpften alle gegen die Airbags an uns starrten mit einem Mal auf die Windschutzscheibe, als Etwas sich mit beiden Füßen darauf stellte und das Ding mit bloßen Händen in zahllose Scherben zerbrach.

Simon kroch über den Boden. Er wusste nicht, was passiert war, nicht einmal, was genau ihm passiert war, doc die Taubheit, die seinen Körper durchzog sagte ihm unmissverständlich, dass seine Zeit abgelaufen war. Das einzige, woran er denken konnte, war diese Hexe und er war sicher, sein Ableben ihr verdanken zu können. Aber so einfach wollte er sie nicht davon kommen lassen. Er hatte geglaubt sie würde an den tiefen Schnittwunden verbluten, oder zumindest ein paar Tage bewusstlos im Krankenhaus verbringen, aber anscheinend hatte dieses Miststück sich verdammt schnell erholt. Er würde nicht zulassen, dass sie mit der Sache durchkam. Sollten sich ab jetzt andere um sie kümmern. Mangels eines anderen Mediums schrieb er seine letzten Worte mit dem eigenen Blut auf den Einband der Straßenkarte, die zufällig neben ihm gelandet war: Mireylle Savaiere.
 

Ein durchdringender Laut riss Mireylle aus ihrem tiefen Schlaf. Es war ein aufdringlicher, schriller und ausdauernder Signalton. Sie brauchte eine Weile, um zu registrieren, worum es sich handelte. Verwirrt streckte sie sich und griff auf die kleine Kommode und zog unabsichtlich das gesamte Telefon hinter dem Hörer her auf die Schlafcoach.

„Mireylle Savaiere?“, ließ sie mit schwacher Stimme verlauten.

„WAS HAST DU JETZT SCHON WIEDER ANGESTELLT??“ Der unverkennbare Tonfall ihrer Mutter klang schrill durchs Telefon. „Was denkst du dir mir die Polizei ins Haus zu bringen? Ich dachte, ich spinne, als die plötzlich vor der Türe standen! Ich dachte, die Probleme hätten ein Ende, wenn du endlich raus bist, und jetzt kommt schon die Polizei zu uns? Kannst du dir vorstellen, wie ich dagestanden…“. Mireylle brachte schleunigst einen Sicherheitsabstand zwischen ihr Ohr und den Hörer.

Die Polizei? Na ja, etwas anderes würde ihre Mutter wohl kaum dazu bewegen bei ihr anzurufen. Eine Art Nebel durchwirkte ihren Verstand und hinderte sie daran, schnell zu klaren Gedanken zu kommen. Was um alles in der Welt wollte die Polizei von ihr? Der Überfall… man konnte sie wohl kaum für Simons Angriff auf sie zur Rechenschaft ziehen wollen? Widersinnig. Vielleicht hatte man die Blutlache in der Gasse entdeckt und einer von Simons Kumpeln hatte ihn verpfiffen? Eigentlich hatte sie keine Lust auf irgendwelche Gerichtsverfahren, sie war einfach bloß müde.

„… und fragen mich, wo du dich gestern Nacht rumgetrieben hast! Als ob ich ne Ahnung hätte. Aber ich kann denen ja schlecht sagen, das interessiert mich ’nen Scheißdreck. Und dann sagen die was von vier Leichen. Ich dachte, ich hör nicht richtig! Kannst du mir mal sagen…“ Mireylles Hand glitt ohnmächtig hinab und zog den Hörer mir sich.

Vier Leichen! Simons Bande? Oh Gott! Was hatte der Vampirdämon nur getan? Am ganzen Leib zitternd hob sie das Telefon wieder ans Ohr.

„… dich noch nie für ganz dicht gehalten habe aber, dass du gleich vier umbringst, das trau ich dir mit deiner mickrigen Statur einfach nicht zu. Außerdem gehörst du mieses Stück eh nicht zu denen, die sich erwischen lassen. Und der Polizist sagte, dein Name stand mit Blut geschrieben auf irgend so ’nem Wisch am Tatort! Kannst du dir vorstellen, was die Nachbarn denken? Ich …“

Mireylle rastete aus, wie so oft, wenn sie mir ihrer Mutter sprach. Die Leute waren ihr schon immer wesentlich wichtiger gewesen. Wegen den Leuten hatte sie Mireylle nicht schon nach einem Jahr ins Kinderheim abgeschoben, das äußerte sie Mireylle gegenüber oft genug. „Weißt du was, Mutter? Das ist mir völlig egal, was die denken!! Wenn mich die Polizei befragt, dann sag ich ihnen, dass du Mitwissende warst. NA, WAS HÄLST DU DAVON?“ Zornig schmiss sie den Hörer aufs Telefon. Nur wenige Sekunden später begann es wieder zu klingeln. Mireylle stand schwankend auf und zog das Kabel raus.

So nicht, Mutter! Nicht du, nicht jetzt.

Sie war an der Wand entlang zu Boden gesunken. Das Telefon umklammernd begann sie in einem Sturm unaufhaltsamer Tränen zu zerfließen. Heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper. So wie sie ihre Mutter kannte, hatte sie der Polizei ihre Adresse gegeben. Also würde sie es bald mit denen zu tun bekommen. Sie fühlte sich zu schwach, um weg zu laufen. Müde fragte sie sich, wie ihr Name an den Tatort gekommen war. Warum musste ihr das passieren? Kaum hatte sie endlich einmal das Glück der Gewissheit erlangt, zerfiel ihr gesamtes Leben im Chaos. Sie hatte nichts mehr. Keinen Ort, an dem sie Zuflucht suchen konnte, keine Kraft, nach einem solchen Ort zu suchen. Sie konnte kaum die Überwindung aufbringen, an eine Flucht zu denken. Es erschien ihr alles so sinnlos. Von Schwindel geplagt schleppte sie sich bis zu der Schlafcoach, doch sie erhielt keine Gelegenheit, sich darauf nieder zulassen. Die Türklingel schellte schrill und nachdrücklich. Mireylle blieb teilnahmslos stehen, von der Situation völlig überfordert. Warum war Shahaan nicht zurückgekommen? Wo blieb dieser verdammte Dämonenlord, nachdem er sie ins Unglück gestürzt hatte?

Benommen vernahm sie polternde Schritte im Treppenhaus. Sie hatten also vor, ihre Wohnung zu stürmen?

Als sie von einer rauen Stimme an die Tür gerufen wurde, folgte sie der Anweisung völlig gedankenlos.

„SIE SIND HAPTVERDÄCHTIGE IN EINEM MORDFALL! ÖFFNEN SIE DIE TÜR!“ donnerte es von der anderen Seite. In einem Anflug von Neugier sah Mireylle durch den Spion, um sogleich zurück zu weichen und sich zu übergeben. Irgendwer hatte ihr ein Foto von vier um die Reste eines Autowracks verteilten, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzten Leichen davor gehalten. Doch zwei Dinge konnte sie auf dem A4 Bild genau erkennen: Simons entstelltes Gesicht und Ihren Namen, mit Blut auf den Einband eines Buches geschmiert. Das Bild geisterte ihr immer wieder durch den Kopf, während sie an der Säure würgte. Die Stimme hinter der Tür nahm an Intensität zu, als Mireylle sich kraftlos und bebend an die Wand drückte.

„WIR WERDEN DIESE TÜR EINBRECHEN, WENN SIE SIE NICHT AUGENBLICKLICH ÖFFNEN!“

Ihr war schleierhaft, was genau die Reaktion ausgelöst hatte, aber plötzlich wurde Mireylle unglaublich klar, dass sie nicht in die Hände der Polizei gelangen wollte. Voller Entschlossenheit raffte sie sich auf, wischte die Tränen fort, griff nach ihrem Rucksack und schmiss ein paar existenzielle Dinge hinein. Dann rannte sie zum Fenster, riss es auf und kletterte auf die Feuerschutzleiter. Entsetzt sah sie auf die Beamten herab, die die Leiter bereits von unten erklommen. Wie ein gehetztes Tier entschloss sie sich zu einer Flucht nach oben, obwohl ihr die Aussichtslosigkeit dieser Flucht völlig klar war. Alle ihre verbliebenen Kräfte zusammennehmend kletterte sie bis aufs flache Dach des Gebäudes. Nachdem sie sich mühsam über den Rand gehievt hatte, rannte sie alle Kanten auf der Suche nach einem weiteren Fluchtweg panisch ab. Doch alle Leitern waren bereits blockiert.

Angsterfüllt wirbelte sie herum, als die Dachtür aufsprang und Männer daraus hervor stürmten. Mireylle wich langsam bis an den Rand der Abgrenzung zurück, warf noch einen panischen Blick hinab. Es gab keine Hoffnung.

Die Beamten verlangsamten ihren Gang und versuchten, beschwichtigend zu wirken, doch keines ihrer Worte drang bis zu Mireylle durch. Sie wollte frei sein, das war alles. In einer Kurzschlusshandlung kletterte sie über das Geländer. Die Schwäche ihrer Arme, mit denen sie sich festhielt, war ihr ebenso bewusst wie gleichgültig. Noch nie hatte sie sich so frei gefühlt. Sie ließ sich zurückkippen, der Tiefe unter ihr entgegen. Einige der uniformierten Männer rissen erschrocken die Augen auf, einer rannte vor, um sie am Loslassen zu hindern. Mireylle lächelte.

Sie war im Begriff, ihre Hände zu lösen, als sie warme Arme spürte, die sie von hinten umfassten. Eine pechschwarze Strähne strich über ihr Gesicht. Vertraute Geborgenheit erfüllte Mireylles ganzen Körper. Sie ließ los und beobachtete genussvoll die Gesichter der verwirrten Polizisten, als die Beiden vor ihren Augen in der Luft zu Schatten zerfielen.
 

Ein trüber Nebel lag über dem grauen Felsgestein des kleinen Gebirges und verlieh der abendlichen Stimmung etwas Gespenstiges. Die Lichter der nächsten Ortschaft erloschen eines nach dem Anderen in der Ferne des Tales. Kühler Wind pfiff zwischen den Felsen und brachte die Frische der Nacht mit sich.

Zitternd wartete Mireylle auf ihren Retter. Zugegebenermaßen begann sie sich Sorgen zu machen, auch wenn sie inzwischen an die langen Wartezeiten in dieser Hinsicht gewöhnt hätte sein müssen. Die Vorstellung, in der so lebensfeindlichen Umgebung alleine zu sein, beunruhigte sie. Außerdem fühlte sie deutlich die tiefe Erschöpfung, die die Wunden und die Flucht ihrem Körper zugefügt hatten.

Überraschend wie immer tauchte der Vampirdämonenlord neben ihr auf, ohne auch das geringste Geräusch zu verursachen. Mit zutiefst ernsthafter Miene schraubte er eine lederne Feldflasche auf und reichte sie Mireylle auffordernd. „Das wird Euch vorerst stärken, Mylady. Trinkt es bitte aus, denn erneut muss ich Euch um etwas bitten, auch wenn ich damit noch viel tiefer in Euerer Schuld stehe, als ich es sowieso schon tue. Ich werde mir später Zeit nehmen, mich ausführlich bei Euch zu entschuldigen und Euch den Grund für meine Unfähigkeit Euch heute zu Hilfe zu eilen erklären“.

Mireylle deutete ein Nicken an, weil ihre Kräfte zum Antworten nicht mehr reichten und schnupperte misstrauisch am Flaschenhals, aus dem ein silbriger Dampf hervor stieg. Es roch bitter. Nach einem Moment der Überwindung hob sie das Gefäß an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck, weshalb sie einige Sekunden danach mit Husten und Keuchen verbringen musste. Das Zeug schmeckte unerträglich und brannte wie Feuer. Mireylle war sich sogar sicher, eine große Menge Alkohol heraus zu schmecken. Doch die Wirkung der Flüssigkeit war durchschlagend: Sämtliche Kräfte kamen mit sofortiger Wirkung zu ihrem Körper zurück, all ihre Sinne schienen sensibilisiert. Ihre Augen vermochten die Dunkelheit zu durchschauen und sie hatte das Gefühl, jedes Staubkorn über den Boden gleiten zu hören.

„Bitte trinkt alles aus“, wiederholte der Vampir.

„Aber es ist fürchterlich!“ Mireylle war vollkommen sicher, so viel Überwindung nicht aufbringen zu können. Doch die Augen ihres Begleiters blieben ernst.

„Ihr werdet die Kräfte brauchen, die es Euch schenkt“

So etwas wie Empörung regte sich in Mireylle. Weshalb gehorchte sie ihm eigentlich? War sie dieser finsteren Gestalt, deren Erscheinen ihr gesamtes Leben zerstört hatte, irgendetwas schuldig? Sie brauchte nicht zu tun, was er verlangte. Schließlich spürte sie deutlich, wie dringend sie sich ausruhen musste, und an Wunderheilungen durch zwielichtige Mittelchen glaubte sie schon lange nicht mehr. Drogen würden ihr nur helfen, auch den letzen Funken Lebensenergie aufzubrauchen, um dann umzukippen und ins Jenseits zu wandern. Ärgerlich sah sie in das Gesicht ihres Gegenübers und plötzlich wurde ihr klar, dass sie keine Wahl hatte. Vor ihr stand die wohl einzige Person, die sie tatsächlich für Etwas brauchte. Der Rest der Welt hatte ihr immer nur das Gefühl gegeben, überflüssig zu sein, ein fehlerhaftes, ersetzbares Zahnrad im Gefüge der Gesellschaft.

Auch wenn er an der polizeilichen Fahndung nach Mireylle schuldig war, hatte er sie nicht doch gerettet? Wenn die Welt nicht auch ohne ihn einen Vorwand gefunden hätte, sich ihrer zu entledigen, dann hätte sie doch nur ein unerfülltes, sinnloses Leben geführt, zerrissen von Zweifeln und Wahnsinn. Wer weiß, wie lange es gedauert hätte, bis sie eines Morgens aufgewacht wäre, um sich in einer Gummizelle wieder zu finden? Jedenfalls war es jetzt nicht mehr zu ändern, sie konnte und wollte nicht zurückkehren. Vielleicht verspielte sie damit ihr Leben, aber wenigstens geschah etwas, wenigstens hatte sie die Möglichkeit, nützlich zu sein und eine neue Welt zu entdecken, wenn er sie ließ. Ihr war einfach danach, einmal mit ihrem Leben zu spielen.

Mireylle lächelte das ironische Lächeln einer Besiegten und trank die Feldflasche in wenigen Zügen aus. „So, was ist es, das ich für Euch erledigen soll?“ Sie achtete nicht auf ihre Stimme, die ein wenig ungeduldiger klang, als gewollt.

„Nach dieser Sache werdet ihr Gelegenheit haben, Euch zu erholen, Mylady Mireylle. Aber nun muss ich Euch mit einer wichtigen Aufgabe betrauen. Vor Euch seht ihr einen Berg, doch in meiner Welt stehen wir im Inneren eines gewaltigen Gebirges. Es ist keine natürliche Höhle, sondern ein geheimes Netz von Katakomben, in denen wir uns aufhalten. Ich befinde mich mehr hier als dort, denn die Katakomben sind durch einen Zauber geschützt. Doch für Euch ist es möglich, in beiden Welten gleichzeitig materialisiert zu sein. Der Schutz kann Euch also nicht davon abhalten, etwas aus den Katakomben zu nehmen und es mit in diese Welt zu bringen.“

Innerlich lachte Mireylle. Es war also ihre Aufgabe, etwas aus einer verzauberten Höhle zu holen. Sie wollte gar nicht abschätzen, wie hoch ihre Chancen zu überleben standen. Was immer der Dämon ihr erzählte, wenn es so einfach war, etwas aus seiner Welt in die ihre zu holen, dann konnte er es eigentlich auch selbst tun, das hatte er ihr schließlich mit der Feldflasche demonstriert. Doch es machte keinen Sinn, sich unnötig den Kopf zu zerbrechen. Allem Anschein nach wollte der Vampirdämon dieses Etwas dringend besitzen und er würde sie nicht losschicken, wenn er es für unmöglich hielt. Es wäre nur eine Zeitverschwendung.

Sie nickte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Hoellenhund
2008-02-20T14:52:51+00:00 20.02.2008 15:52
Hallo!
Endlich bin ich mal zum Weiterlesen gekommen!^^ War ja dieses Mal auch ein recht langes Kapitel.


Was ich zunächst anmerken möchte, ist, dass es mich stört, dass du oft vor und hinter wörtlicher Rede keine neue Zeile beginnst. Ich persönlich finde, das stört den Lesefluss, besonders als Mireylle Shahaan im Kornfeld sieht und du selbst als die beiden UNTERSCHIEDLICHEN Personen sprechen, keine neue Zeile beginnst.
Komischerweise hast du das später nicht mehr gemacht xD

Natürlich hat mir auch dieses Kapitel wieder sehr gut gefallenl. Besonders mochte ich die Art, in der du Mireylle in die andere Welt hast übertreten öassen, das fand ich sehr spannend und stilvoll. Leider ist mir etwas entgangen, wie sie dann wieder in ihre Welt zurückgekehrt ist - indem sie noch einmal über die Brücke ging? Es würde mich freuen, wenn die Stelle noch ein wenig klarer werden würde ^_^
Aber insgesamt bin ich wirklich positiv überrascht darüber, wie viel Spannung und Aktion du in dieses Kapitel gebracht hast - der Dämon, das Überwechseln in die andere Welt, der Straßenkampf. Das alles hast du schön und packend beschrieben und es hat mich wirklich gut bei der Stange gehalten ^.^

Ich hoffe ich komme bald zum Weiterlesen, denn jetzt wird es richtig interessant. Ich frage mich sowieso die ganze Zeit, aus welchem Grund ein Vampirdämon (was immer das nun eigentlich ist) ein Mädchen wie Mireylle brauchen sollte - ist es nur diese Höhle? Und was wird sie wohl für ihn holen müssen? Es ist bestimmt ein Hochverräter oder sowas *grins* Ich bleibe gespannt.

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Hier zu den Textstellen, die mir beim Lesen aufgefallen sind^^

-"Sie sollte den Zutritt zu einer fremden Welt haben!"
Das soll Shahaan davor gesagt haben? Ich konnte das aus seiner Rede über die Verwirrungen, dass Mireylle eine andere Welt SEHEN kann, nicht herauslesen, ehrlich gesagt @.@

-"Nicht nur einmal stolperte sie über Halme, die sich um ihre Knöchel wanden und zu Boden rissen"
Das finde ich ehrlich gesagt etwas übertrieben. Vor allem in einem KORNFELD. Korn kann sich nicht um Knöchel schlingen *g* Das ist gar nicht flexibel genug.
Oder wolltest du damit sagen, dass die Halme, über die sie stolperte, aus der ANDEREN Welt kamen? Das wäre ja durchaus möglich. Das würde ich allerdings anmerken, weil es mir als Leser nicht ganz klar wurde.
Wenn du im realen Kornfeld stolpern lassen möchtest (auch wenn mich das an einen Effekt aus amerikanischen Horrorfilmen erinnert) würde ich hier eher sagen, dass sie in der Hast über ihre eigenen Füße fällt oder vielleicht über Steine/Erdbrocken im Feld =)

-"Sie konnte nur hoffen, das, was ihn bisher bewogen hatte, sie am Leben zu lassen, würde sie weiterhin schützen."
Über den Satz bin ich gestolpert. Vielleicht kannst du das noch mal anders formulieren. Man stolpert irgendwie darüber, dass du das "dass" weggelassen hast und bekommt das Gefühl, du hättest bei dem "das" das 2. s vergessen und dann stolpert man über den Satz =)

-"Sie traute sich nicht, zu fragen, und es erschien ihr auch nicht unbedingt als notwendig."
Entweder "und es erschien ihr auch nicht als unbedingt notwendig" oder "es erschien ihr auch nicht unbedingt notwendig". Aber deine Satzstellung ist glaube ich so nicht korrekt^^

-"er sah sie durchdringend an und zog in Erartung der angedeuteten Bitte unwillkürlich die Augenbrauen zusammen."
Da hast du einen Tippfehler. "Erwartung". Und ich vermute mal, dass sie die Augenbrauen zusammenzieht, sonst ergibt es für mich keinen Sinn, in der Satzstellung klingt es aber, als würde er es tun.

-"als Etwas sich mit beiden Füßen darauf stellte und das Ding mit bloßen Händen in zahllose Scherben zerbrach."
Das DING? Das klingt aber nicht sehr fein formuliert *gg*

-"Die Leute waren ihr schon immer wesentlich wichtiger gewesen."
Wichtiger als Mireylle oder wichtiger als ihre Tochter, würde ich noch anfügen, sonst weiß man nicht genau, was du meinst.

-"Dann rannte sie zum Fenster, riss es auf und kletterte auf die Feuerschutzleiter."
Diese kleine Szene erscheint mir zu mühelos. Davor und auch kurz danach beschreibst du wieder, wie schwer Mireylle das alles fiel, aber hier fehlt es irgendwie^^
Von:  YuMorino
2008-01-07T16:36:30+00:00 07.01.2008 17:36
hi!!^^
erst einmal entschuldigung das ich nicht schon früher das kommi hinterlassen konnte hatte keine zeit!!v.v
das kapi war super echt der hammer nur dieser dumme simon ist echt und war ein böser mieser kerl!!
aber ein glück das der jetzt weg ist obwohl sie dadurch noch nur noch mehr ärger hat!!
aber echt genial das mit dem weg über der schlucht!!
bin schon gespannt wei es weitergeht!!
bis dann yu
Von:  Armida
2007-10-08T15:28:27+00:00 08.10.2007 17:28
Ich hab hier zwar schon ein Kommi abgeben, aber da das vor dem Update war, denke ich das ich jetzt ruhig auch nochmal meinen Senft dazu geben kann.
Sehr schön gemacht das ganze, wie sie über die nicht vorhandene Straße gegangen ist, klasse, ich glaube meine Beine hätten sofort unter mir nachgegeben nachdem ich die Augenbinde abgenommen hätte.
Arme Mireylle vom Regen in die Traufe, erst von dem Typen überfallen werden und dann noch einen Mord angehangen bekommen.
Und das Shahaan ihr nicht ganz uneigennützig hilft habe ich mir schon gedacht.
So, soviel erst mal zu meinen Nachtrag.

Armida die 2.
Von:  Nochnoi
2007-10-04T16:04:07+00:00 04.10.2007 18:04
Hallo ^^
Ich hab deine Geschichte gestern entdeckt und wollte dir mal einen kleinen Kommentar hinterlassen, wenn du nichts dagegen hast ^.~

Also allein dein Schreibstil ist klasse!! Wunderschöne Formulierungen und flüssig zu lesen. Du kannst dich wirklich sehr gut ausdrücken ^^
Und auch vom Inhalt her gefällt mir deine Story wirklich sehr :) Du hältst alles ein wenig mystisch und steigerst dadurch die Spannung, wie ich finde ^.^ Mireylle ist ein interessanter Charakter und ich frage mich, woher sie ihre Fähigkeiten hat und wie weit diese eigentlich reichen. Auch Shahaan ist sehr interessant und ich frage mich bei ihm die ganze Zeit, welche Hintergedanken er eigentlich hegt: Macht er Mireylle unter Umständen nur etwas vor oder sieht er etwas Besonderes in ihr?
Ich bin auf die Antworten gespannt ^.^

Liebe Grüße
Nochnoi
Von:  Armida
2007-10-03T12:35:55+00:00 03.10.2007 14:35
Endlich geht es weiter,
schönes Kapitel nur ein bisschen kurz finde ich,
Mireylle fällt es aber ziemlich spät ein das er als Vampir ihr durch aus gefährlich sein kann.

Armida


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