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Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~

Teil V
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Kapitel ist mir recht schwer gefallen. Sollte euch etwas auffallen, sagt mir ruhig bescheid.
Ich habe es zwar etliche male durchgelesen, aber sind sicher noch einige Fehler drin. Meine Betaleserin ist leider im Moment etwas beschäftigt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach dem ich heute erfahren habe, das der Roman den 2. Platz im Wettbewerb gewonnen hat und so ein tolles Kommentar lesen durfte, habe ich doch wieder Lust bekommen und nach dem ich die letzten drei Kapitel gelesen habe, das hier doch noch beendet. Drückt mir die Daumen, dass es so weiter geht und ich den Teil doch noch beenden kann.

Aber nun ohne große Umschweife, viel Spaß mit dem Ende dieses Kapitels: Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Sorry schon mal im Voraus für die vielen Fehler. Ich werde mich nach und nach mit meiner Betaleserin durch die Kapitel kämpfen und sie somit hoffentlich ausmerzen können.
Ich hoffe dem Leseverknügen tut das trotzdem keinen Abbruch. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, es hat lange gedauert, aber nun bin ich doch endlich mal wieder zum Schreiben gekommen.
Dabei fehlen gar nicht mehr so viele Kapitel, bis dieser Teil der Geschichte zu Ende ist. Aber irgendwie habe ich einfach nicht die richtigen Worte gefunden.
Dafür bin ich jetzt recht zufrieden mit dem Streitgespräch zwischen Enrico und Aaron^^.
Ist etwas heftiger ausgefallen, als ich es geplant habe, aber deswegen mag ich es nur noch mehr.
Naja, lange Rede kurzer Sinn. Viel Spaß mit diesem Kapitel. Komplett anzeigen

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Prolog

„Sieh hin!“, schreit er und zieht meinen Kopf an den Haaren nach oben. Seine Hand presst er um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab. Verzweifelt greife ich nach seinen Fingern und versuche sie zu lösen, doch es gelingt mir nicht. Tränen schießen mir in die Augen und trüben meine Sicht. Die blutigen Wände verschwimmen. Nur noch schemenhaft, kann ich meine Freunde und Geschäftspartner sehen, die reglos am Boden liegen. Es ist auf einmal so still geworden, kein Kugelhagel mehr, keine Schmerzensschreie.

Der heiße Atem Michaels streift meine Wange, er flüstert mir zu: „Das ist mein Geburtstagsgeschenk für dich. Heute wird jeder Wolf in New York, zur Hölle fahren.“ Seine schaufelartigen Hände geben mich frei, ich sacke in die Blutlache zurück, aus der er mich gezogen hat. Panisch ringe ich nach Atem, doch meine Kehle ist noch immer wie zugeschnürt. Ich röchle und huste. Der Geschmack von Eisen verteilt sich in meinem Mund.

„Du ahnst nicht, wie lange ich diesen Moment herbeigesehnt habe.“ Auf diese Information kann ich gut verzichten.

Meine Arme stemme ich in den Boden und versuche wieder aufzustehen. Sie zittern und brennen entsetzlich, ich finde keinen Halt auf ihnen. Dieses miese Schwein hat einfach schon viel zu oft zu getreten. Sein schwerer Stiefel presst sich in meinen Rücken. Er verlagert sein ganzes Gewicht auf mich. Ich gebe seiner Kraft nach, wieder spüre ich den nassen Boden. Verdammt! Ich darf jetzt nicht sterben. Ich habe zwei kleine Kinder, und meine Frau, was soll aus ihnen werden? Wer beschützt sie, wenn ich nicht mehr da bin? Verzweifelt sehe ich mich in der verwüsteten Halle um:  Neben dem umgeworfenen Tafeltisch, liegt zerbrochenes Geschirr und Glas, Torte und Kuchen kleben am Boden. Die Scheiben der Fenster dahinter sind eingeschlagen.

Zwischen all den Leichen, kann ich den wichtigsten Menschen nicht finden. Wo steckt mein Leibwächter? Er ist doch die ganze Zeit an meiner Seite gewesen.

„Du hast doch nichts dagegen, wenn ich die als Andenken behalte, oder?“ Was meint er damit? Ich schaue zu ihm auf. In der Hand hält er meine Pistole, ihr Lauf zielt auf mich. Mir stockt der Atem. Kalter Schweiß kriecht mir den Rücken hinab.

Toni, verdammt, wo steckst du? Der Zeigefinger Michaels, legt sich um den Abzug. Ein lauter Schuss dröhnt mir in den Ohren. Die Kugel durchschlägt meine Schulter. Unerträgliches Brennen breitet sich in meinem Oberkörper aus. Ich schreie laut, immer wieder. Mit zitternden Fingern greife ich nach der Wunde. Die Kugel hat das Schulterblatt durchschlagen. Wie Wasser, läuft mir mein Blut in die hohle Hand und vergrößert die Lache am Boden. Bei dem Anblick wird mir schlecht, der Raum beginnt sich zu drehen. Brechreiz steigt meine Kehle hinauf, mein Magen zieht sich krampfhaft zusammen. In einem großen Schwall kotze ich in den wachsenden See aus Blut. Ein herber Gestank erfüllt meine Nase, als ich in das Gemisch sacke.

Warum tötet er mich nicht einfach? Was sollen diese Spielchen?
 

Seine Gestalt verliert sich hinter mir, ich habe nicht mehr die Kraft, den Kopf zu heben und ihm hinterher zu schauen. Mein Herz trommelt hart gegen meine gebrochenen Rippen. Mir ist kalt, so entsetzlich kalt.

Er schraubt etwas auf und verschüttet eine stechend riechende Flüssigkeit. Ist das Benzin? Er will doch nicht etwa? Nein! Mein Lebenswerk ist hier drin, meine Familie. Das darf ich nicht zulassen. Ich versuche noch einmal aufzustehen, doch es geht nicht. Mein Körper bebt, ich schaffe es nicht mal meine Hände gegen den Boden zu stemmen.

Panisch suche ich die Lagerhalle noch einmal nach meinem Leibwächter ab. Nichts! Er wird doch nicht etwa geflohen sein? Nein, das hat er noch nie getan.

Ein metallisches Klicken durchdringt die Stille, etwas schlägt auf den Boden auf. Ich höre ein unheilvolles Zischen. Mir gefriert das Blut in den Adern. Schatten beginnen an den Wänden zu tanzen. Es wird warm, dann heiß und immer heißer. Wie erstarrt betrachte ich die Flammen, die sich auf den Spuren des Benzins entlang fressen. Nein, nicht so, nicht auf diese Weise. Warum hat er mich nicht einfach erschossen?
 

Während ich noch einen  mal versuche auf die Beine zu kommen, spüre ich einen Blick auf mir. Ich sehe mich danach um. Zwei smaragdgrüne Augen mustern mich wild und ängstlich. Das Gesicht des Mannes, dem sie gehören, ist angeschwollen und mit Blutergüssen übersät. Toni du Idiot, warum hast du dich denn nur so zurichten lassen? Jetzt gehen wir beide drauf.

Der rechte Arm meines Leibwächters ist mit Handschellen an die Heizung gekettet. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, doch er ist zu weit weg. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Nackte Angst spiegelt sich in ihnen.

Die Flammen suchen sich ihren Weg zu mir. Sie zerfressen den Stoff meiner Hose und schlagen, mit scharfen Zähnen, in mein Fleisch. Ich brülle vor Schmerz ...
 

...~*~...
 

„Enrico, alles okay? Hey Mann, ich rede mit dir!“ Toni schlägt mir auf den Oberarm, aber ich schaffe es einfach nicht, mich von diesen Erinnerungen zu lösen. Seit wir uns auf dem Heimweg befinden, quälen mich diese Bilder. Von der Reling des Schiffes aus, betrachte ich die Skyline der fernen Stadt. Direkt vor uns baut sich die Freiheitsstatue auf.

Warum habe ich Trottel mich nur von ihm dazu überreden lassen, in diese Hölle zurückzukehren?

~Ein Wolf im Löwenpelz~


 

Enrico River

17.08.1908 – 21.08.1928

~Bis in den Tod, doch du kommst nie mehr zurück~


 

Die Zahlen und Buchstaben wirbeln durch meinen Kopf, aber sie ergeben keinen Sinn. Ich will nicht wahrhaben, dass ich es bin, der hier liegen soll. Dieser blaue Marmorobelisk, der vor mir spitz in den Himmel wächst, diese unzähligen frischen Blumenkränze, das alles hier ist viel zu groß für mich. Ich bin doch keine Berühmtheit und auch nie tot gewesen.

„Und, was sagst du?", schreckt mich die Stimme meines Begleiters aus den Gedanken. Der junge Mann, mit den schwarzen Haaren und den smaragdgrünen Augen, mustert mich neugierig. Beim Anblick meines eigenen Grabes habe ich fast vergessen, dass er bei mir ist und auf eine Reaktion von mir wartet.

„Warum hast du ausgerechnet diesen Ort als Treffpunkt ausgesucht?", will ich wissen.

„Raphael meinte, dass er hier auch Nachts herkommen kann, ohne lästige Fragen beantworten zu müssen.“ Also war es die Idee meines Bruders?

„Außerdem wollte ich, dass du es siehst." Zu welchem Sinn und Zweck? Es ist ein beschissenes Gefühl vor seinem eigenen Grab zu stehen. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel Tränen hier schon umsonst vergossen wurden.

Wieder lese ich den eingravierten Schriftzug:

~Bis in den Tod, doch du kommst nie mehr zurück~

„Der Spruch ist von dir, oder?" Eigentlich endet er anders: Bis in den Tod und wieder zurück. Diese Worte sind zum Ritual zwischen Toni und mir geworden. Jedes Mal, wenn wir einen gefährlichen Auftrag erledigen mussten, hat er uns Mut gemacht. Toni nickt und setzt ein zufriedenes Lächeln auf. Ich schüttle mit dem Kopf und rolle mit den Augen. Dass er bei so etwas immer so sentimental werden muss.
 

Feste Schritte nähern sich uns. Ich erkenne meinen Bruder, noch bevor ich ihn sehen kann. Augenblicklich stockt mir der Atem, meine Hände werden feucht und beginnen zu zittern. Die ganze Zeit habe ich verdrängen können, warum wir hier sind, doch jetzt kann ich das Wiedersehen nicht mehr ignorieren. Raphael hat mich fünf Jahre lang für tot gehalten, ich habe ihm, in all der Zeit, nicht eine Nachricht zukommen lassen, wollte vor ein paar Wochen noch nicht einmal hierher zurückkommen. Ob er mir diese Lüge je verzeihen kann? Vielleicht will er mich und meine ganzen Probleme, auch gar nicht wieder haben. Er weiß gerade mal seit drei Wochen davon, dass ich noch am Leben bin und das hat er nicht mal von mir persönlich erfahren, sondern durch Toni.

Ich hätte mich melden müssen, spätesten nach dem Koma, aber ich konnte mich ja nicht mal daran erinnern, einen Bruder gehabt zu haben. Diese verdammte Amnesie.

„Du hast ihn also tatsächlich mitgebracht?" Raphaels Stimme ist tief und birgt einen finsteren Unterton. Ein fetter Kloß zwingt sich mir in die Kehle und lässt mich schwer schlucken. Toni legt mir seine Hand auf die Schulter und sieht mich aufmunternd an, dann geht er meinem Bruder entgegen. Ich höre ihre Hände ineinander schlagen. Als ich mich verstohlen nach ihnen umdrehe, umarmen sie einander und klopfen sich freundschaftlich auf den Rücken. In mir wächst der Wunsch, eben so innig begrüßt zu werden, doch ich bin wie gelähmt.

„Und was ist mit dir? Willst du nicht mal Hallo sagen?" Der anklagende Blick meines Bruders durchbohrt mich, ich schaue unter ihm hinweg.

„Hey!", ist die einzige Begrüßung, die mir nach der langen Zeit einfallen will. Mit einem versöhnlichen Lächeln auf den Lippen, kratze ich mich am Hinterkopf.

Raphael setzt sich in Bewegung. Er bleibt direkt vor mir stehen. Als er seine Arme um mich legt, zucke ich zusammen.

„Du hast mir gefehlt, Kleiner", flüstert er mit brüchiger Stimme. Wirklich? Seine Umarmung ist so warm, der Duft seines Aftershave so vertraut. Ich schlinge meine Arm um ihn und muss heftig schluchzen.

„Du alte Heulsuse“, neckt er mich.

„Du heulst doch selber.“
 

„Ich unterbreche euch ja nur ungern, aber hast du uns mitgebracht, worum ich dich gebeten habe?“, fährt Toni dazwischen. Raphael drückt mich noch einmal eng an sich, dann gibt er mich frei und fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch ich muss mir die Tränen aus dem Gesicht wischen, bevor ich meine Fassung wiederfinde.
 

Raphael öffnet sein Jackett, er greift in seinen Hosenbund und zieht zwei Pistolen hervor. Eine reicht er Toni, der sie mit prüfendem Blick entgegen nimmt.

„Das ist die Einzige, die ich auf die Schnelle auftreiben konnte“, erklärt er.

Toni öffnet das gefüllte Magazin. Er nickt zustimmend.

„Sie wird schon gehen.“

Die zweite Waffe reicht Raphael mir.

„Und die wirst du sicher zurückhaben wollen.”

Der Griff der Pistole ist in eine Elfenbeinschale eingefasst. Der verlängerte Lauf ist um den Schriftzug 'Walthers Patent Mod. 8' herum mit einem eingravierten Wolfsrudel verziert, das bis zum Elfenbeingriff verläuft und dort in eine plastische Darstellung eines einzelnen Wolfes übergeht. Am Ende des Griffstücks ist eine Öse angebracht, an der eine silberne Kette mit fünf Gliedern hängt. An ihr baumelt ein Anhänger in Form eines heulenden Wolfskopfes.

Diese Waffe hat mir mein Schwiegervater zum achtzehnten Geburtstag geschenkt, als er mich offiziell zum Chef der Wölfe gemacht hat. Ich erinnere mich an den Moment, als Michael sie an sich genommen und auf mich geschossen hat. Ein heftiger Schmerz durchzuckt meine Schulter, doch ich dränge die Erinnerung zurück.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Michael sie mitgenommen hat. Wie, um alles in der Welt, ist Raphael an diese Pistole gekommen? Ich werfe ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Wo hast du die her?"

Er schaut hilfesuchend zu Toni und hebt abwehrend die Hände.

„Toni hat sie besorgt. Er ist in Aarons Auftrag bei den Drachen eingebrochen."

Ich wende mich meinem besten Freund zu. Als sich unsere Blicke treffen, sieht er nach unten weg.

„Bist du übergeschnappt? Die hätten dich umlegen können!” Wie kommt er nur auf die dumme Idee ins Hauptquartier des Feindes einzubrechen? Selbst in der Empfangshalle sitzt bewaffnetes Personal. Es gibt eine Personenkontrolle für alle Besucher. Als ehemaliges Mitglied der Drachen, ist er dort bekannt, wie ein bunter Hund. Ich gehe stark davon aus, dass selbst die Küchenhilfe weiß, wer er ist.

„Und wenn schon”, murmelt er. “Ich hatte nichts mehr zu verlieren, nachdem ich dich verbrennen sah.”

Noch immer wagt er nicht, mich anzusehen. Seine Worte spricht er so leise, dass ich mich anstrengen muss, sie zu verstehen. Ob das sein Ernst ist? Hat er wirklich mit dem Gedanken gespielt, sich erschießen zu lassen, nur weil ich nicht mehr da war? Ich schüttle abwehrend mit dem Kopf. Dieser dumme Idiot.

Meine Aufmerksamkeit richte ich erneut auf die Waffe. Sie ist auf Hochglanz poliert und die Kratzer, die sie in den unzähligen Schießereien meines Lebens davongetragen hat, sind verschwunden. Sie sieht aus, wie an dem Tag, als ich sie bekommen habe.

Ich wiege sie in meinen Händen und prüfe ebenfalls das Magazin. Zehn Patronen sind übereinander gestapelt, mehr passen nicht hinein. Zufrieden schiebe ich das Magazin zurück und öffne den Halfter an meinem rechten Oberschenkel. Mit dem Lauf voran, stecke ich die Pistole hinein. Es fühlt sich seltsam an, nach so langer Zeit wieder bewaffnet zu sein. In Italien, so weit weg von der Heimat, war es nicht nötig. Doch das Gefühl von Sicherheit, das sie mir einst vermittelt hat, stellt sich nicht ein.
 

„Glaubst du, man wird ihn erkennen?“, will Toni von meinem Bruder wissen.

Ich sehe auf und schaue Raphael fragend an. Meine blonden Haare habe ich mir schwarz gefärbt und selbst einen Bart habe ich mir wachsen lassen. Die Maskerade ist nicht gerade brillant, aber es muss reichen, zumindest nicht gleich von Weitem erkannt und erschossen zu werden.

Raphael mustert mich von oben bis unten, er verschränkt die Arme und macht ein nachdenkliches Gesicht.

„Naja, wenn ich nicht gewusst hätte, dass du ihn mitbringst, hätte ich schon zweimal hinsehen müssen. Die Haare sind anders, der Bart stört und auf den Rippen hat er auch nichts mehr. Ich hätte ihn nur anhand seiner Augen erkannt.“

Mein Blick wandert zwischen ihnen hin und her. Die beiden sprechen, als wäre ich gar nicht da. Ich hasse es, wenn sie das tun, und werfe ihnen einen warnenden Blick zu.

„Ja, er sieht wirklich ganz schon heruntergekommen aus. Er könnte mal wieder was von deiner guten Küche vertragen“, schlägt Toni vor und verschränkt nun ebenfalls die Arme.

Raphael sieht ihn herausfordernd an, als er sagt: „Du Heuschrecke spekulierst doch nur darauf, selbst bei uns mitzuessen.“

„Schön wär's“, seufzt Toni, „aber deine Frau würde ihn sofort erkennen und wenn Judy vorbei kommt, weiß es bald die ganze Stadt.“

„Wo wollt ihr denn von jetzt an wohnen?“, spricht Raphael die Frage aus, die im Raum steht.

„In der alten Fabrik.“

„Wir gehen nach Hause“, füge ich wehmütig hinzu.

„Ist die denn nach dem Brand überhaupt noch bewohnbar?“, will Raphael wissen.

Die Erinnerung an das Feuer, steigt in mir auf. Anscheinend hat sich niemand um den Wiederaufbau gekümmert, wenn sie auch nach fünf Jahren noch immer unbewohnbar ist.

„Wir haben doch keine Wahl. Wo sollen wir sonst hin?“ Gute Frage. Nicht nur Toni und ich sind pleite, auch an Raphael und seiner Frau ist die Wirtschaftskrise nicht spurlos vorbeigegangen. Ein Moment des Schweigens schleicht sich zwischen uns und die einsetzende Dunkelheit lässt alles noch düsterer erscheinen.

„Jetzt macht nicht so ein Gesicht. Die Fabrik war auch eine Ruine, als wir das erste Mal da eingezogen sind. Wir bauen sie schon wieder auf“, versuche ich uns Mut zu machen.

Seit wir auf der Straße gelandet sind, haben wir in dieser Fabrik gewohnt. Ich kann mich noch gut an den eisigen Winter erinnern, an die eingeschlagenen Fenster, die wir mit Brettern vernagelt haben, und durch die der schneidende Wind dennoch gezogen ist. Das gesamte Geld, das wir in dieser Zeit verdienten, steckten wir in den Ausbau. Obwohl es oft hart war, habe ich als Kind, diesen riesigen Abenteuerspielplatz geliebt.

„Vielleicht hast du recht. Es ist ja nur die Lagerhalle abgebrannt, die restlichen Räume sind vom Feuer verschont geblieben“, erklärt mein Bruder.

Das klingt doch ganz gut, dann sind zumindest unsere Schlafräume noch intakt.

„Dafür haben die Drachen alles andere kurz und klein geschlagen. Den Rest hat dann die Spurensicherung der Polizei mitgenommen“, wirft Toni kleinlaut dazwischen. Mich zu töten hat diesen Bastarden anscheinend nicht gereicht. Mussten sie auch noch alles zerstören, was ich aufgebaut habe? Der Blick Tonis verhärtet sich.

Ich frage mich allmählich, ob ich den Ort des Schreckens wirklich wiedersehen will. Insgeheim habe ich gehofft, die schlimmsten Spuren des Überfalls, wären längst beseitigt worden. Andererseits, vielleicht muss ich es sehen, um all meine Erinnerungen zurückzubekommen.

„Wir bauen sie schon wieder auf“, versuche ich noch einmal die düstere Stimmung zu vertreiben. Trübsal blasen bringt uns jetzt auch nicht weiter.

„Na schön, dann passt auf euch auf." Raphael tippt Toni mit dem Finger auf die Brust und deutet mit dem Kopf in meine Richtung. „Du besonders auf ihn! Ich verlass mich darauf."

„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, protestiere ich und werde von beiden belächelt. Mit verschränkten Armen, wende ich mich augenrollend von ihnen ab.

„Ach, da fällt mir noch etwas Wichtiges ein. Sein Name ist ab jetzt Leon." Toni sieht meinen Bruder eindringlich an. "Wirst du dir das merken können?" Über den Namen meiner neuen Identität haben wir bisher noch nicht gesprochen, und wenn es nach mir ginge, könnten wir uns das sparen. Ich bin das Versteckspiel leid. Erst die Jahre in Italien, um mich während meiner Genesung vor den Anschlägen der Red Dragons zu schützen, und jetzt diese Maskerade. Ich will meine Familie und Freunde nicht länger belügen, aber was bleibt mir anderes übrig? Wenn unsere Feinde wissen, dass ich wieder da bin, werden sie jeden Stein umdrehen, um mich zu finden.

„Sehr einfallsreich, wenn man vom Sternzeichen her ein Löwe ist“, erwidert Raphael, „Wenn das mal keiner durchschaut.“

„Ach, wird schon schiefgehen. Keiner wird damit rechnen, dass ein Toter wiederkehrt“, erwidere Toni zuversichtlich.

~Trautes Heim, Glück allein?~

Unschlüssig stehe ich vor der Fabrikhalle. Toni ist bereits vorausgegangen. Er will sehen, ob die Luft rein ist, und eigentlich soll ich ihm folgen, doch ich schaffe es nicht, die alte Fabrik zu betreten. Noch immer stehe ich unschlüssig vor der Tür, die aus ihren Angeln gerissen, an der verschmutzten Wand lehnt. Meine Leute haben sie gewaltsam geöffnet, um uns zu retten. Ich weiß nicht mehr viel über diesen Moment. Ich war schon fast besinnungslos, als Jan irgendetwas über mich warf, um die Flammen zu ersticken.

Die entsetzlichen Schmerzen und der Geruch von verbranntem Fleisch, fluten meine Sinne. Beinah glaube ich, das Feuer spüren zu können, das meine Beine erfasste. Unwillkürlich greife ich den Stoff der Hose, um mich zu vergewissern, dass dort nichts ist. Ich kann die Narben deutlich spüren, die bis zu den Oberschenkeln reichen und folge ihnen bis unter die Kniekehlen. Es vergeht kein Tag mehr, an dem ich keine Schmerzen habe. Ein Seufzer kommt mir über die Lippen, dann schalte ich die Taschenlampe ein. Ich bin froh, dass Toni so umsichtig gewesen ist, uns zwei davon aus einem Geschäft in der Nähe zu besorgen. Als Dieb ist er einfach unschlagbar. In dem kleinen Korridor, der sich hinter dem verrußten Türrahmen befindet, sieht man die Hand vor Augen nicht. Die verkohlten Wände schlucken sämtliches Licht, das von den Laternen der Straße durch die blinden Scheiben dringt. Ich leuchte den Boden vor mir aus, um sicher zu gehen, nicht über Etwas zu stolpern. Als ich den Korridor betrete, knirscht jeder meiner Schritte. Unter meinen Schuhsohlen fühle ich etwas Hartes. Ich hebe meinen Fuß und richte das Licht der Taschenlampe darauf. Es sind golden glänzende Klümpchen, die mich an die Überreste von Patronenhülsen erinnern.
 

...~*~...
 

Ich höre den Kugelhagel in meinen Ohren dröhnen und sehe meine Freunde und Verbündete getroffen zu Boden fallen.
 

...~*~...
 

Die Erinnerung überwältigt mich. Der düstere Korridor beginnt, sich zu drehen, ein pulsierender Schmerz hämmert in meinen Schläfen. Ich taste blind durch die Dunkelheit und suche Halt an der Wand. Meine Finger berühren ein tiefes Loch im Putz. Ich richte den Lichtkegel auf die Stelle und kann noch etliche weitere Einschusslöcher erkennen. Die ganze Wand ist davon durchsiebt. Eine tiefe Traurigkeit überkommt mich. Es sind so viele Leben an diesem Tag ausgelöscht worden.

Ich dränge die Bilder des Blutbades zurück und bezwinge den Schwindel, um endlich weitergehen zu können. Mit der Hand fahre ich die Wand entlang. Ein wehmütiges Gefühl überkommt mich, während meine Finger über die rauen Backsteine fahren. Ich liebe diesen Ort. Jede Wand habe ich verputzt, jede Diele habe ich selbst verlegt. In sämtlichen Winkeln steckt eine Erinnerung an die Zeit, als Toni, Raphael und ich noch auf uns allein gestellt waren. Wir haben so viel Spaß beim Renovieren gehabt. Und jetzt?
 

Endlich erreiche ich das Ende des Korridors. Vor mir erstreckt sich die Größte der drei Fabrikhallen. Durch die eingeschlagenen Fenster fällt gerade genug Licht, um die Umrisse der Stützpfeiler erkennen zu können. In zwei parallelen Reihen, ziehen sie sich durch die komplette Halle. Auch hier sind die Wände kohlrabenschwarz. Ich muss den Weg vor mir ausleuchten, um weitergehen zu können. Überall stehen die Gerippe von verbrannten Stühlen herum. Ein langer Tafeltisch, liegt mit seiner Längskante auf dem Boden, seine 12 Beine zeigen zu den Fenstern. Die Platte ist durchlöchert, er hat dem Kugelhagel nicht standhalten können. Mit langsamen Schritten nähere ich mich ihm, bis ich seine Stirnseite erreicht habe. Dort steht noch immer ein weinroter Ledersessel. Seine Oberfläche hat große Blasen geworfen und aus drei Löchern, in seiner Rückwand, quillt die Füllung. Ich fahre mit meiner freien Hand über das verschmorte Leder. Das ist der Platz des Anführers, hier habe ich gesessen, als wir meinen zwanzigsten Geburtstag feierten.

Ich lasse mich auch jetzt in ihm nieder und betrachte die dunklen Umrisse des Tisches vor mir. Wie ist es an diesem Tag überhaupt zu all den schrecklichen Ereignissen gekommen? Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern, und spüre, wie der stete Schmerz in meinen Schläfen zurück kommt.
 

...~*~...
 

Der verkohlte Raum verschwindet vor meinem inneren Auge und flutet sich mit hellem Tageslicht. Tisch und Stühle stehen wieder an ihrem Platz. Die Löcher in den Wänden sind verschwunden, alles ist sauber verputzt. Ein weißes Leinentuch bedeckt die Tischplatte, auf ihr sind Teller, Tassen und Besteck verteilt. Eine große Geburtstagstorte ziert die Mitte des Tisches. Lautes Gelächter und angeregte Gespräche füllen die Halle. All meine Freunde und Geschäftspartner sind gekommen, um meinen Geburtstag mit mir zu feiern. Sie verteilen sich um den Tisch herum. Toni, mein Berater und Bodyguard, sitzt zu meiner Rechten, links neben mir ist der Platz meiner Frau Judy. Auf ihrem Schoß sitzen unsere beiden Kinder, Amy und Rene. Sie sind zwei Jahre alt.

Neben Judy hat ihre Schwester Robin platz genommen, beide befinden sich in einem heftigen Streit. Ein gewohntes Bild für mich, ich kenne sie nur so - und sicher bin ich der Grund dafür. Immerhin habe ich seit jeher mit Robin ein Verhältnis und daraus auch kein Geheimnis gemacht. Gerade diskutieren sie ihren Vorschlag, ebenfalls neben mir sitzen zu wollen. Der Platz neben Robin gehört ihrer ältesten Schwester und meinem Bruder Raphael. Immer paarweise sitzen meine Gäste mit ihren jeweiligen Partnern zusammen. Bis auf einen Stuhl sind alle Plätze belegt. Mein Blick fällt auf diesen leeren Platz. Warum sitzt dort niemand? Mich überkommt das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Ich versuche, mich zu erinnern, doch alles, was mir in den Sinn kommt, ist ein Mann, der sich erhebt und zu mir kommt. Er will mit mir sprechen und fordert mich auf, ihm zu folgen. Ich weiß nicht, was er von mir will, aber ich tue ihm den Gefallen. Gemeinsam verlassen wir den Raum, durch die Stahltür auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Als sie hinter uns ins Schloss fällt, verschwindet diese Erinnerung so plötzlich, wie sie gekommen ist.
 

...~*~...
 

Ich sitze noch immer im verkohlten Sessel, die Taschenlampe in der rechten Hand, und versuche, die neu erworbenen Erinnerungsfetzen zusammenzufügen. Wer immer dieser Kerl ist, der mich von meinen Freunden und meiner Familie weggelockt hat, ich verbinde kein gutes Gefühl mit ihm. Er ist Schuld an Etwas, das ich noch nicht greifen kann.

Ich beschließe, denselben Weg noch einmal zu gehen, vielleicht kommt die Erinnerung ja dann zurück. Mit schnellen Schritten umrunde ich den Tisch und steuere auf die Stahltür zu. Als ich sie erreiche und vor ihr stehen bleibe, zögere ich. Will ich das wirklich sehen? Mein Blick hastet durch den verwüsteten Raum. Für einen Moment meine ich, die Freunde bei Tisch, noch einmal zu sehen, ihre Stimmen in Feierlaune zu hören. Ich bin es ihnen schuldig, ich muss herausfinden, was wirklich passiert ist, und wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, damit so etwas, nie wieder geschieht.
 

Die eiserne Feuerschutztür ist schwer, ich schaffe es nicht, sie mit nur einer Hand aufzuziehen. Die Taschenlampe klemme ich unter meine Achsel und versuche es mit beiden Händen. Ich muss mein ganzes Körpergewicht einsetzen, damit sie sich endlich bewegt. Sie kratzt über den verkohlten Boden und knarrt entsetzlich. Es gelingt mir nur, sie einen Spalt zu öffnen, gerade weit genug, um hindurch zu schlüpfen. Im Licht der Taschenlampe erscheint dahinter ein langer Gang, von dem etliche Türen abgehen. Nur durch ein kleines Fenster, am Ende des Flures, fällt ein winziges Lichtviereck auf den Boden. Ich fahre mit dem Strahl der Taschenlampe den Weg vor mir ab. Überall liegt eine dicke Staubschicht, in der frische Fußspuren zu erkennen sind. Die Wände, besonders um den Türrahmen herum, sind verrußt, doch im Gegensatz zum Aufenthaltsraum ist hier nichts verbrannt. Raphael hat recht, bis hierher ist das Feuer nicht vorgedrungen. In mir keimt die Hoffnung, dass unsere Schlafräume doch nicht so schlimm zugerichtet sind, wie Toni behauptet, und wir hier wirklich wieder wohnen können.
 

Schritte kommen auf mich zu. Aufgeschreckt richte ich den Lichtkegel auf die Geräuschquelle. Eine dunkle Gestalt nähert sich mit gelassen langsamen Schritten. Ich halte den Atem an, mein Herz beginnt zu rasen. Ein unerträgliches Hämmern jagt durch meinen Kopf. Der Schmerz ist so brutal, dass ich die Taschenlampe fallenlasse und beide Hände gegen meine Schläfen presse. Ich kneife die Augen zusammen und stöhne gequält. Das Pochen meines Herzens wird unerträglich. Ich habe das Gefühl, es zerreißt mir den Brustkorb.
 

...~*~...
 

Ich kenne den Mann, der da auf mich zukommt - diese hünenhafte, dunkle Gestalt. Michael! Ich bekomme keine Luft mehr, kann mich nicht rühren, sehe den Schatten seiner Gestalt nur immer näher kommen. Dieser bodenlange schwarze Mantel, das falsche Lächeln in seinem Gesicht. Mein Atem geht stoßweise und stockt, als er seine Pistole zieht und auf mich richtet.

Er begrüßt den Mann, mit dem ich hergekommen bin, wie einen Freund. Ich höre sie Lachen.

"Er und der ganze Rest gehören dir. Viel Spaß!" Ungehindert tritt Michael an mich heran. Ich weiche zurück, bis ich eine kalte Tür im Rücken spüre. Der Lauf der Waffe bohrt sich in meinen Magen, seine Lippen sind ganz dicht an meinem Ohr.

Ich spüre seinen heißen Atem im Nacken.

"Öffne die Tür und höre genau hin!" Sein zuckersüßer Tonfall hat etwas Diabolisches. Mein Körper verlangt sein Recht, ich atme stoßweise, hektisch, angstvoll. Zitternd, mit schweißnassen Fingern, gehorche ich und drücke die Klinke.

"Ganz langsam“, fügt er an.

Ich öffne die Tür einen kleinen Spalt, die Geräusche aus der Halle dringen zu uns: Fröhliche Stimmen, Lachen, Gläserklirren - eine ausgelassene Feier. Niemand ahnt, was sich hier abspielt. Dann Schüsse, Schreie, Panik, Klirren von berstendem Glas.

Ein Gedanke dringt durch meine Panik: Das hab ich doch alles schon erlebt. Das kann doch nicht schon wieder ... Ich will das nicht mehr sehen ... Ich will nicht ... nein ... nein!
 

...~*~...
 

„Enrico? Was hast du? Hör auf damit!“ Diese Stimme, dass ist nicht Michael. Hände packen meine Arme an den Gelenken und hindern mich daran, mich selbst zu schlagen. Ich versuche mich zu befreien, doch sein Griff ist eisern.

„Enrico! Sieh mich an!“, fordert er, doch ich wage es nicht.

„Sieh mich an!“, fordert die vertraute Stimme erneut. Der Mann gibt meine Hände frei und hebt mein Kinn an. Nur zögernd wage ich, die Augen zu öffnen und in das beleuchtete Gesicht zu sehen. Zwei smaragdgrüne Augen mustern mich voller Sorge. Der holzig, wilde Geruch meines Begleiters strömt mir in die Nase und nimmt mir ganz allmählich die Panik. Die Anspannung weicht aus meinem Körper und wandelt sich in Erschöpfung. Ich glaube, mein eigenes Gewicht nicht mehr tragen zu können. Der Raum beginnt, sich zu drehen. Meine Knie knicken ein. Als ich zu fallen drohe, spüre ich Tonis Arme um mich, er hält mich. Noch immer rast mein Atem. Ich brauche einen Augenblick, um mich gänzlich zu beruhigen. Der anhaltende Kopfschmerz ebbt ab, bis nur ein stetes Pochen übrig bleibt.

„Was ist denn passiert? Warum heulst du?“, will er wissen und stellt mich auf die Beine. Irritiert fasse ich mir an die Wangen. Ich spüre die Nässe an meinen Fingerkuppen. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, geheult zu haben. Mit dem Handrücken wische ich mir das Gesicht ab.

„Ich ... ich habe mich nur an Etwas erinnert“, meine ich mit bebender Stimme, die ich nur langsam unter Kontrolle bringe. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was ich eben gesehen habe, dann fällt mir der Mann wieder ein, der mich in die Falle gelockt hat. Weder sein Gesicht noch seine Stimme sind deutlich genug gewesen, um mir sicher zu sein, um wenn es sich handelt. Nur eines ist mir ganz klar: Wir haben einen Verräter in unseren Reihen, der offenbar noch frei in New York herumläuft. Mit diesem Gedanken kehrt meine Kraft zurück. Mein Blick verfinstert sich, während ich mich krampfhaft an das Gesicht zu erinnern versuche. Wer von meinen Leuten ist zu so etwas fähig? Eigentlich traue ich es keinem zu.
 

„Komm mit, ich muss dir etwas zeigen!“, fordere ich. Ich packe Toni am Ärmel seines Jacketts und drehe mich zur Tür. Während ich ihn hinter mir herziehe, zwängen wir uns durch den offenen Spalt. Erst dann gebe ich ihn frei. Toni streicht sich den Ärmel glatt und betrachtet mich argwöhnisch, während er mir schweigend folgt. Ich steuere auf den Sessel zu, dessen Umrisse ich erahnen kann, und stolpere im Halbdunkel über irgendetwas, das am Boden liegt. Fluchend trete ich es zur Seite. Wenn es hell wird, müssen wir hier unbedingt aufräumen, nehme ich mir fest vor, und wähle meine Schritte bedachter. Ich taste den Weg mit der Fußspitze aus, bis ich schließlich den Sessel erreiche. Dann sehe ich mich suchend nach einem der verbrannten Stuhlgestelle um. Im wenigen Licht, das durch die Fenster fällt, kann ich sie nur als dunkle Schatten ausmachen. Den ersten, den ich finde, stelle ich an den rechten Platz, an dem bei Tisch Toni gesessen hat. Einen zweiten und dritten in einer Reihe daneben, dann kehre ich zum Ersten zurück.

„An meinem zwanzigsten Geburtstag hast du hier gesessen“, erkläre ich.

„Ja und weiter?“ Toni bleibt neben dem Sessel stehen. Er leuchtet mit seiner Taschenlampe die Stühle aus, die ich platziert habe, das macht es mir leichter, von einem zum nächsten zu gehen. Sein argwöhnischer Blick folgt mir, als ich den Zweiten erreiche.

„Hier hat Anette gesessen“, fahre ich fort und steige über einen Holzbalken, um zum dritten Stuhl zu kommen. „Aber wem gehörte der Platz neben ihr?“

„Warum willst du das wissen?“

„Ich muss wissen, wer der Kerl war, der mich unter vier Augen sprechen wollte.“

Toni hebt eine Augenbraue, während er mich noch immer fragend ansieht.

„Das weiß ich doch heute nicht mehr“, er verschränkt die Arme vor der Brust, "Das ist fünf Jahre her."

„Na toll!“, brumme ich.

„Warum ist das wichtig?“

„Irgendjemand hat die Drachen ins Lager gelassen. Ich habe mich daran erinnert, wie dieser Kerl mit Michael gesprochen hat, aber ich bekomme kein klares Bild zustande.“

„Du meinst, wir haben eine Ratte unter uns?“

„Ja!“ Ich seufze und raufe mir die Haare. Warum kann ich mich weder an Gesicht, noch die Stimme des Mannes erinnern? In meinem Kopf wirbeln die meine Erinnerungen wild durcheinander. Ich brauche eine Pause von diesem Chaos in mir. Einige Schritte entfernt entdecke ich die Umrisse unseres alten Sofas. Perfekt, ich kann jetzt eine Sitzgelegenheit brauchen. Ich klettere über den herumliegenden Schutt und lass mich auf den verschmorten Bezug fallen. Staubwolken steigen auf und reizen mich beim Atmen.

Ich schlage die Hände vors Gesicht. Was für ein Tag. Ich habe heute so viele Bilder gesehen, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob es sich wirklich so zugetragen hat, oder mir meine Amnesie nur einen Streich spielt.
 

„Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierher zu kommen“, höre ich Toni sagen. Er tritt hinter mich und legt mir seine Hand auf die Schulter. „Meinst du, du packst das?“ Ich sehe ärgerlich auf.

„Lass mich, ich komme schon klar“, murre ich und drehe meine Schulter unter seiner Hand weg. Toni seufzt hörbar, sagt aber nichts. Er geht zur Fensterfront und fegt mit dem Ärmel das Brett sauber, dann setzt er sich. Aus seiner Hosentasche zieht er eine Packung Pall Mall und ein Feuerzeug. Die Schachtel klopft er einige Male auf sein Knie, bis sich eine einzelne Zigarette aus ihr löst. Lässig zieht er sie heraus und zündet sie an. Er nimmt einige kräftige Züge. Ich sehe ihm dabei zu, wie er den Qualm in kleinen Wolken hervor stößt. Dieser vertraute Anblick beruhigt mich.

Seinen starken Schultern, die Muskeln, die sich unter seiner Kleidung abzeichnen, seine fein geschnittenen Gesichtszüge, die Narbe an der linken Augenbraue, seine smaragdgrünen Augen. Alles an ihm weckt mein Verlangen. Ich kämpfe vergebens gegen das warme Gefühl an, das sich in mir ausbreitet, als er mich ansieht. Ob er meinen Blick gespürt hat? Nur kurz schenkt er mir seine Aufmerksamkeit, bevor er sich mit einem abwehrenden Kopfschütteln der Straße vor der Fabrik widmet und einen weiteren Zug nimmt. Er sieht genervt aus, sagt aber nichts, dabei bin ich mir sicher, er weiß genau, woran ich denke.

Unser Schweigen legt sich wie ein Felsbrocken auf meinen Brustkorb. Während ich versuche, seine Gedanken zu erraten, fallen mir seine Worte auf dem Friedhof wieder ein. Ich beschließe, ihn damit zu konfrontieren: „Sag mal, war das auf dem Friedhof eigentlich dein Ernst?“

„Was meinst du?“ Er sieht mich nicht an.

„Dass du mir folgen wolltest, als du mich für tot gehalten hast?“ Um mich vor den Anschlägen im Krankenhaus zu schützen, haben meine Freunde kurzerhand meinen Tot vorgetäuscht. Auch Toni wusste bis vor kurzem nichts davon.

„Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Du lebst!“ Er wagt es noch immer nicht, mich direkt anzusehen.

„Naja, ich finde es irgendwie traurig und schön zu gleich, dass du nicht ohne mich weiter machen wolltest?“

Toni wendet sich mir zu und sieht mich kritisch an. Schwarze Locken fallen ihm ins Gesicht, seine tiefgrünen Augen funkeln zwischen den einzelnen Strähnen hindurch. Unwillkürlich muss ich lächeln. Mir fallen all die Nächte in Italien mit ihm ein, die wir in einem Bett verbracht haben. Eine Fortsetzung davon, wäre jetzt genau das Richtige, um mich aufzumuntern. Ich blicke mich verstohlen um und schaue ihn offen an. Meiner Stimme verleihe ich einen anzüglichen Ton, als ich sage: "Wir sind hier vollkommen allein, das sollten wir ausnutzen." Toni mustert mich, bis er sich sicher ist, mich richtig verstanden zu haben. Sein Blick wird finster, seine Stimme ungewohnt schroff und aggressiv: „Hör auf mit dem Scheiß! Wir sind nicht mehr in Italien. Das können wir uns hier nicht leisten.“

„Ach komm schon! Wer sollte davon erfahren? Hier ist doch außer uns niemand.“

„Enrico, ich habe nein gesagt!“ Demonstrativ wendet er sich von mir ab und der Straße vor dem Fenster zu.

„Warum nicht? In Italien warst du es doch, der mich ständig ins Bett kriegen wollte.“ Seine smaragdgrünen Augen wenden sich wieder mir zu, bedrohlich sieht er mich an.

„Hast du dich mal umgesehen? Wir beide wären hier fast drauf gegangen und dir fällt nichts besseres ein, als mich ausgerechnet hier, flachlegen zu wollen? Wir sind nicht mehr in Italien. Uns sitzen auch so schon ein Dutzend Mörder im Nacken. Wir brauchen nicht noch mehr Feinde. Von jetzt an sind wir nur Freunde, gewönne dich besser daran.“ Seine Worte bohren sich wie ein Dolchstoß in mein Herz. Nur Freunde? Wann ist er denn auf die schwachsinnige Idee gekommen?

„Das will ich aber nicht“, halte ich dagegen und stehe auf. Tonis Blick wird, mit jedem Schritt, den ich näher komme, warnender. Ich lasse mich nicht beirren und bleibe direkt vor ihm stehen. An seiner Krawatte ziehe ich ihn zu mir und schaue ihm direkt in die Augen.

„Was soll das auf einmal? Du hast mir geschworen, an meiner Seite zu bleiben, wenn ich mich schon in diesen sinnlosen Kampf mit dir stürze“, erinnere ich ihn. Seine Augen mustern mich wild und anklagend.

„An deiner Seite, nicht in dir!“, faucht er und schlägt meine Hand von sich. Er stößt mich hart gegen den Brustkorb und von sich weg. Hastig rutscht er vom Fensterbrett und entfernt sich fluchtartig von mir.

„Wo willst du hin?“

„Weg von dir!“, mault er. Die Stahltür knallt nach ihm ins Schloss. Unheilvolle Stille hüllt mich ein. Das sind ja tolle Aussichten. Ein Stadt voller Männer, die uns umlegen wollen und das einzig gute in meinem Leben verpisst sich gerade.

„Verdammt!“, fluche ich und trete ein zerbrochenes Stuhlbein bei Seite.

~Das letzte Stück Kuchen~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Der Pate der Locos-Familie~

Was Aaron wohl sagen wird, wenn er mich sieht? Wird er mich erkennen? Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich nicht realisiere, welchen Weg wir gehen. Ich lasse mich von Toni durch die Straßen führen. Wir erreichen das riesige Grundstück, das von einem reich verzierten Gartenzaun begrenzt wird. An der Zufahrt wölbt er sich zu einem zweiflügeligen Tor, an dem eine Gegensprechanlage angebracht ist. Ein weißer Kiesweg durchzieht das Grundstück und verschwindet rechts hinter hohen Tannen, die unseren Blick auf das Innere der Anlage verhindern.

Wir halten an und ich suche das Gelände nach einem vertrauten Gesicht ab, doch auf dem Weg ist niemand zu sehen. Dafür kann ich das laute Gebell der Wachhunde hören. Es ist nicht aggressiv, sondern erwartungsvoll, fast freudig. Ich bin mir sicher, dass mich Scotch und Brandy längst erkannt haben. Mich wundert nur, dass sie nicht gleich angelaufen kommen. Neben Aaron bin ich der Einzige, dem die Dobermänner aufs Wort gehorchen, und der gefahrlos das Grundstück betreten kann, wenn sie im Garten patrouillieren. Wahrscheinlich hat Aaron sie in den Zwinger gesperrt. Ob er wohl Besuch hat?

"Senke den Blick und mach keine auffälligen Bewegungen! Ich werde für uns sprechen", schärft Toni mir ein. Ich ziehe eine Augenbraue hinauf. Das soll wohl ein Scherz sein. Ich bin kein Grünschnabel, den er hier anschleppt und dem Paten vorstellt. Ich bin sein Schwiegersohn und oberster Cleaner. Böse sehe ich ihn an, doch Toni beachtet mich längst nicht mehr.

Er drückt den roten Knopf unter dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. Es dauert einen Moment bis sich eine gebrechliche Stimme meldet: "Sie wünschen?"

Das ist Jester, Aarons Butler. Erstaunlich, dass dieser alte Mann immer noch lebt und arbeitet. Er lief schon vor fünf Jahren stark gebeugt und verschüttete regelmäßig den teuren Scotch seines Herrn, weil seine Hände ihm nicht mehr gehorchen. Trotzdem hat Aaron nie ein schlechtes Wort über seinen Angestellten verloren.

"Jester, hier ist Antonio Bandel. Ich muss mit Aaron sprechen. Ist er allein?"

"Toni? Heute ist kein guter Tag. Komm ein anderes Mal wieder!"

"Jester, es ist wichtig. Bitte!"

"Wir erwarten Besuch."

"Es dauert nicht lange."

"Na schön. Aber fasse dich kurz. Der Master ist im Garten, komm rein!"

Ein metallisches Klicken ist zu hören, dann öffnet sich das Tor. Toni geht vor und winkt mich zu sich. Ich folge ihm und sehe mich um. Wie ein weicher Teppich breitet sich eine tiefgrüne Wiese vor uns aus. Mein Blick folgt dem Kiesweg, der sie teilt, bis er an einem Automobil hängen bleibt, das vor dem Anwesen parkt. Ich vermute Aaron dort, doch der schwarze Wagen steht verlassen.

Das Gebell der Hunde ist noch lauter geworden. Ich schaue links am Haus vorbei zum Zwinger. Sie springen gegen das Gitter und kläffen aufgebracht, weil sie nicht zur üblichen Begrüßung zu mir kommen können. In mir wächst der Drang zu ihnen zu gehen und sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Meine Schritte lenke ich in ihre Richtung, als mich eine tiefe Männerstimme innehalten lässt:

"Ihr habt wohl den Verstand verloren? Macht nicht so einen Lärmen!" Die Worte sind so schroff und bestimmend, dass die Hunde augenblicklich ruhe geben und sich friedlich auf den Boden legen. Auch ich halte einen Moment lang den Atem an und verwerfe mein Vorhaben. Nur zögernd suche ich die Umgebung um den Zwinger nach der Gestalt Aarons ab. Schließlich tritt er aus dem Schatten einer Hecke, hinter der ein kleines Beet angelegt ist.

Sein Bart ist ungepflegt und seine schwarze Stoffhose, weist an den Knien braune Flecken auf. Er trägt ein graues Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt sind. Auch dieses Kleidungsstück ist mit Erde beschmutzt. Seine Augen haben tiefe Ringe und seine Wangen sind eingefallen. Er sieht ziemlich heruntergekommen aus. In seiner Hand hält er eine kleine Schaufel. Noch nie habe ich ihn im Garten arbeiten sehen. Kann er sich etwa keinen Gärtner mehr leisten?

Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke, dann sieht er an mir vorbei, als wenn es mich gar nicht geben würde.

"Antonio? Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach unserem letzten Gespräch noch einmal hier blicken lässt. Was verschafft mir die Ehre?" Aaron nähert sich uns mit langsamen Schritten und auch Toni geht ihm entgegen. Was die beiden wohl als letztes miteinander besprochen haben? Ich beobachte sie, argwöhnisch. Aaron scheint mich nicht zu erkennen. Das ist auf eine merkwürdige Art frustrierend. Die ganze Zeit über schaue ich ihn direkt an, doch er würdigt mich keines Blickes. Jetzt komme ich mir wirklich vor, wie ein Frischling, der sich seinen Platz im Clan erst erarbeiten muss.

"Wir brauchen deine Hilfe", erklärt Toni kurz.

"Was du nicht sagst. Du bist noch nie wegen etwas anderem hier gewesen. Sag bloß du hast dir mein Angebot inzwischen überlegt?"

Was für ein Angebot? Mein Blick wandert fragend vom Paten zu meinem besten Freund. Ich wüsste zu gern, worum es geht, doch im Moment bin ich nicht in der Postion Fragen stellen zu dürfen. Beide Männer besiegeln die Begrüßung mit einem kräftigen Händedruck, dann legt Aaron seinen Arm über Tonis Schulter und lenkt seine Schritte in Richtung Villa.

"Die Bäume hier draußen haben Ohren, wir sollten alles weitere drinnen besprechen." Spätestens jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Seit wann sind die beiden so vertraut miteinander? Hat Toni etwa in meiner Abwesenheit meinen Platz eingenommen? Sonst bin ich es immer gewesen, mit dem Aaron so vertrauensvoll gesprochen und dem er den Arm um die Schulter gelegt hat. Ich kann mir den neidischen Blick auf sie nicht verkneifen. Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, gehen sie der Villa entgegen. Ich gehöre nicht dazu, so viel habe ich inzwischen verstanden. Seufzend folge ich ihnen. Erst als sie die steinerne Treppe erreichen, die das Anwesen hinauf führt, habe ich sie eingeholt. Der Pate wendet sich um. Er sieht erst mich, dann wieder Toni an.

"Sag bloß der gehört zu dir? Du hast mir doch noch nie einen Frischling angeschleppt."

"Es gibt für alles ein erstes Mal. Aber ich fürchte den müssen wir noch gründlich umerziehen. Im Moment ist er zu nichts zu gebrauchen." Tonis Lippen ziert ein spöttisches Lächeln. Es macht ihm sichtlich Spaß mich so vorzuführen. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. Er soll es ja nicht übertreiben!

"Bring ihn in die Bibliothek! Ich will ihn nicht dabei haben, wenn wir uns unterhalten." Ist dass Aarons ernst? Ich sehe in die Augen des alten Mannes, die sich zu kleinen Schlitzen zusammen gezogen haben. Noch nie hat er mich so abweisend gemustert. Das reicht! Ich hole Luft um etwas zu sagen, doch mein Schwiegervater wendet seinen Blick bereits ab.

"Ich gehe schon mal ins Büro, ich erwarte dich dort!" Er kramt einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schließt die Haustür auf.

"Aaron warte ich ...!", versuche ich zu sagen, doch Toni legt mir seine Hand über den Mund. Der alte Mann hält inne, er sieht über die Schulter zurück, sein Gesicht ist verkrampft. Ich habe ihn beim Vornamen genannt, etwas das nur seine engsten Vertrauten wagen. Doch sein Vorwurf gilt nicht mir, sondern Toni:

"Was immer du mit dem zu schaffen hast, werde ihn los!"

"Wenn das nur so einfach wäre", brummt Toni und wirft mir einen mahnenden Blick zu. In mir brodelt es. Ich will die Situation aufklären, doch unter Aarons finsterem Blick gebe ich schließlich nach und sehe, wie es von einem Neuling erwartet wird, gen Boden. Das wird mir Toni so was von büßen. Gedanklich drehe ich ihm schon den Hals um, als Aaron schließlich die Tür für uns öffnet und uns ins Haus lässt.

"Ich erwarte dich in fünf Minuten im Büro!", ordnet er an und geht voraus. Wir folgen ihm in gebührendem Abstand durch den langen Flur. Sofort fallen mir die hellen Flecken an der Tapete auf. Hier haben einmal Bilder bekannter Künstler gehangen. Auch der Schuhschrank mit den vergoldeten Griffen ist nicht mehr an seinem Platz. Lediglich der versilberte Spiegel hängt noch dort, wo ich ihn in Erinnerung habe. Seltsam!

Wir erreichen eine große Treppe mit geschwungenem Geländer, die in den ersten Stock führt. Ihre Stufen sind blank, der rote Samtteppich, der sie sonst vor den Tritten der Bewohner geschützt hat, ist verschwunden. Hat Aaron Geldsorgen, oder warum ist es hier so leer? Auch die Sammlung antiker Gewehre, die sonst die Wand auf halber Höher der Treppe schmückte, ist nicht mehr da. Dort wo sie sich teilt und sich nach rechts und links verzweigt, ist alles kahl. Fragend sehe ich Toni an.

"Ich habe dir doch erzählt, dass die Locos pleite sind. Den Drachen gehört jetzt unser Gebiet." Stimmt, davon hatte er mir berichtet, allerdings habe ich ihn damals nicht ernst genommen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass unser Clan seinen Einfluss verloren hat. Während wir die Stufen der Treppe erklimmen, wendet sich der Pate nach rechts, während Toni und ich der Treppe in den Westflügel folgen.

"Was willst du ihm erzählen?", frage ich, als wir die Tür zur Bibliothek erreichen.

"Nichts! Ich bitte ihn lediglich um einen Job." Toni öffnet die Tür und geht voraus. Ich weigere mich ihm zu folgen. Als er sich zu mir umdreht, schaue ich ihn unvermittelt an.

"Enrico! Michael hat seine Ohren überall. Ich sehe nicht noch einmal zu, wie er dich umbringt. Wir müssen jetzt die Füße stillhalten." Ich rolle mit den Augen. Ist das seine einzige Sorge? Was ist mit allem, was wir uns über die Jahre aufgebaut haben? Erwartet er wirklich von mir, dass ich wieder bei Null anfange?

"Jetzt komm!", knurrt er und zieht mich am Handgelenk in die Bibliothek. Ich stolpere über die Türschwelle und kann mich gerade noch so abfangen, um nicht zu stürzen.

"Tu wenigstens ein mal, was ich dir sage!", befiehlt er, bevor er den Raum wieder verlässt. Er schließt die Tür nach sich und dreht einen Schlüssel im Schloss. Schließt mich dieser Mistkerl etwa hier ein? Ich seufze schwer und stecke die Hände in die Taschen meiner Hose. Irgendwie habe ich mir das alles ganz anders vorgestellt. Nie habe ich damit gerechnet, dass Aaron mich nicht erkennt. Auch kommen mir so langsam Zweifel, ob er uns finanziell unterstützen kann, wenn er selbst schon damit begonnen hat, seine Habseligkeiten zu verkaufen. In den etlichen Regalen der Bibliothek klaffen große Lücken. Auf den ersten Blick scheinen vor allem die teuren Erstausgaben zu fehlen. Ich hätte nie gedacht dass der Pate der Locos in so eine Notlage geraden kann. Immer wieder entdecke ich neue Stellen, an denen etwas fehlt, bis mein Blick schließlich von einem schwarzen Konzertflügel eingefangen wird. Na, zumindest hat er den noch nicht verkauft. Es scheint mir fast eine Ewigkeit her zu sein, dass ich einmal an ihm gesessen und gespielt habe. Ob ich es nach all den Jahren noch kann? Mit langsamen Schritten gehe ich auf ihn zu. Eine dicke Staubschicht bedeckt den Deckel über den Tasten und den Hocker davor. Scheinbar hat hier nach mir keiner mehr Lust auf Musik verspürt. Mit der flachen Hand streiche ich den Dreck vom weichen Leder des Hockers, dann klappe ich den Deckel auf. Die schwarz weißen Tasten wirken wie eine Einladung. Aaron wird sicher nicht begeistert sein, wenn ein Neuling sich einfach an seinen Sachen vergreift, aber er hat momentan sowieso keine hohe Meinung von mir und ich nichts besseres zu tun. Ich lasse mich auf den Hocker nieder und lege meine Finger auf die Tastatur. Ein vorfreudiges Kribbeln durchzuckt meine Hände. Ich spiele zwei Tasten an, zwei schiefe Töne folgen, die so gar nicht zusammen passen wollen. Scheinbar ist der Flügel genau so lange nicht mehr gestimmt wurden, wie er hier unter einer Staubschicht vor sich hin gammelt. Verständnislos schüttle ich mit dem Kopf. Aaron hat doch sonst selbst so gern gespielt. Er hat es mir beigebracht. Warum nur hat er den Flügel so verkommen lassen? Ich gäbe was darum so einen zu besitzen und er? Irgendwie hat Aaron sich verändert. Aber nicht nur er. Ohne das es mir wirklich bewusst wird, beginne ich zu spielen. Meine Finger tanzen über die Tasten, währen meine Gedanken Flügel bekommen:

Aaron ist nicht der Einzige, der sich verändert hat. Ich bin auch nicht mehr der Selbe. Ob er mich deswegen nicht erkannt hat? Meine Haltung ist längst nicht mehr so selbstbewusst und lebensfroh, wie vor dem Überfall. Wenn ich die Zeit doch nur zurück drehen könnte. Zu jenen Tagen, als ich noch der Chef der Wölfe und oberster Cleaner der Locos war. Ich hatte meinen Platz im Clan gefunden, ich wusste wo ich hin gehörte. Seit dem treibe ich halt und ziellos von einem Tag zum nächsten.
 

Die Zeit vergeht, ich spüre es kaum. Meine Finger schmerzen bereits und verkrampfen immer wieder. Ich hebe die Hände von den Tasten, öffne und schließe die Fäuste, die einzelnen Fingerglieder sind total verspannt. Es ist einfach zu lange her, ich bin aus der Übung.

Schritte nähern sich der Tür und lassen mich aufhorchen. Sind die beiden endlich fertig?

"Antonio, du kannst Enrico nicht mit so einem dahergelaufen Vagabunden ersetzen, auch wenn er ihm noch so ähnlich sieht." Ersetzen? Ist das alles, ich sehe mir nur ähnlich?

"Das versuche ich doch gar nicht", protestiert mein Leibwächter.

"Ach komm schon. Seit seinem Tod, ist Rache das Einzige, was dich antreibt. Wir versuchen alle irgendwie damit klar zu kommen, aber das geht zu weit. Werde den Kerl los!"

"Du täuschst dich in ihm. Ich bürge dir für seine Loyalität. Gib ihm ne Chance!" Toni setzt sich für mich ein? Das sind ja mal ganz neue Töne.

Der Schlüssel wird im Schloss gedreht, die Klinke heruntergedrückt. Erwartungsvoll sehe ich auf die Tür, doch noch bleibt sie verschlossen. Eine lange Atempause folgt. Ob Aaron ihm wohl nachgibt?

"Na schön, um deinetwillen. Aber nur wenn du ihm Manieren beibringst." Manieren? Da hat er seit Jahren vergeblich versucht. Der Pate betritt den Raum, suchend sieht er sich um. Als er mich am Flügel vorfindet, verfinstert sich sein Blick schlagartig. So viel zu meinen Manieren. Ich schaue nur schelmisch grinsend zurück, bevor ich schließlich schuldbewusst den Blick senke und mich erhebe. Wie beiläufig schließe ich den Deckel über den Tasten und versuche dabei nach Möglichkeit kein Geräusch zu verursachen.

"Wie ist dein Name Junge?", faucht er ernst. Ich sehe wieder auf und an Aaron vorbei zu Toni. Auch dessen Blick hat sich mahnend verzogen. Ich zögere.

"Leon!", antwortet er für mich.

"Nun Leon!", spricht Aaron den Namen mit Verachtung aus, "Wenn du für mich arbeiten und trotzdem am Leben bleiben willst, sollst du ein paar Dinge beherzigen. Du hast hier nichts anzufassen und in meiner Gegenwart spricht man nur, wenn man von mir aufgefordert wird und dann erwarte ich kurze und präzise Antworten ..." Der folgenden Predigt höre ich schon gar nicht mehr zu. Stattdessen sehe ich immer wieder hilfesuchend zu Toni. Können wir das hier wirklich nicht auflösen? Ich habe mir den Mist schon als Kind hundert mal angehört und dachte, das endlich hinter mir zu haben. Doch Tonis Blick bleibt eisern.

"Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!", befiehlt Aaron. Ich schaue ihn an. Im Augenwinkel kann ich sehen, wie sich Toni das Lachen verkneifen muss.
 

Es reicht, beschließe ich und atme tief ein. Mein Schwiegervater setzt erneut zu einem Redeschwall an. Gegen seine laute Stimme werde ich nicht ankommen, also wende ich mich demonstrativ von ihm ab. Ich klappe den Deckel des Klaviers wieder auf. Aaron verstummt. Dass ich mich ihm so deutlich widersetze, scheint ihm die Sprache zu verschlagen. Ungeniert setze ich mich auf den Hocker. Wenn er mich schon nicht an meinem Aussehen erkennt, dann wird er das hier auf jeden Fall wiedererkennen.

Ich lege die Finger auf die Tasten und beginne zu spielen. Das erste Lied, dass ich für meine Tochter komponiert habe, als sie Zähne bekommen und den ganzen Tag nur geschrien hat. Es ist ihr Einschlaflied geworden, wenn wir bei Aaron zu Besuch waren. Er hat es bestimmt schon hundert Mal gehört und mindestens genau so oft selbst gespielt. Ich spiele es langsamer, weil meine krampfenden Finger nicht mehr schnell genug sind und die schiefen Töne klingen unangenehm, aber die Melodie ist zu erkennen. Aaron bleibt der Mund offen stehen. Er schwankt einen Schritt zurück und reist die Augen weit auf.

"Was soll das?", haucht er fast tonlos, bis er seine Stimme wieder findet, "Hast du ihm das beigebracht?" Aaron dreht sich zu Toni. Dieser ist dabei die Tür zu schließen, dann kommt er zu uns. Im Vorbeigehen legt er Aaron seine Hand auf die Schulter.

"Das musste ich nicht", sagt er lediglich. Dann kommt er zu mir und bleibt hinter mir stehen.

"Er ist der Grund, warum ich dein Angebot ablehne." Welches Angebot? Ich nehme die Finger von den Tasten und sehe Toni fragend an, doch er achtet nicht auf mich.

"Ich bin doch nur deine zweite Wahl." Zweite Wahl? Wofür? Ich verstehe kein Wort.

"Wovon redest du überhaupt?", will ich von ihm wissen.
 

Aarons wird bleich, seine Gesichtszüge verhärten, sein Blick wandert zwischen Toni und mir hin und her. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, für eine Reaktion.

"Ihr wagt es ...", leise fast tonlos kommen ihm die Worte über die bebenden Lippen, doch mit jeder neuen Silbe wird er lauter und kraftvoller, "Ihr wagt es nach all den Jahren? Raus! Verschwindet von hier! Auf der Stelle!"

Aaron wirft einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr.

"Raus aus meinem Haus! Sofort!", schreit er und richtet den ausgestreckten Arm auf die Tür. Irgendwas ist hier faul. Er wirft uns nicht raus, weil er wütend ist. Die Falten in seiner Stirn sind sorgenvoll.

"Aber ...", versucht Toni die Situation zu retten, doch ich falle ihm ins Wort.

"Okay!"

"Was?" Toni sieht mich fragend an.

"Wir gehen!", antworte ich bestimmt und stehe auf. Ich packe Toni am Arm und ziehe ihn mit mir.

Auf unserem Weg, bleibe ich einen Moment neben Aaron stehen.

"Wir müssen wirklich reden", lasse ich ihn wissen, dann laufe ich weiter bis zur Tür. Der Blick des alten Mannes folgt uns, doch ich sehe nicht mehr zurück. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns hier der Tod erwartet, wenn wir bleiben. Wer auch immer Aarons Besuch für heute ist, er hat sicher seine Gründe, dass wir nicht mit ihm zusammentreffen sollen.
 

Wir verlassen die Villa auf dem selben Weg, den wir gekommen sind. Toni hat sich inzwischen aus meinem Griff befreit und tritt nun vor mich. Er sieht mich mahnend an.

"Wieso verschwinden wir? Wir haben doch noch gar nichts erreicht." Ich laufe an ihm vorbei und verlasse ohne eine Antwort das Grundstück. Es dauert nicht lange, bis er mir folgt, um weiter nachzubohren.

"Hey, ich hab dich was gefragt!", ruft er mir nach, doch auch jetzt kann ich mich nicht zu einer Antwort durchringen. In mir wächst eine dunkle Vorahnung. Es wäre nicht das erste Mal, dass uns meine Intuition den Arsch rettet. Je schneller wir von hier verschwunden sind, um so besser. Wenn ich nur wüsste, vor wem Aaron uns warnen wollte, sofern es tatsächlich eine Warnung war. Könnte es auch sein, dass er wirklich sauer auf uns ist? Ich habe immerhin fünf Jahre lang nichts von mir hören lassen? Nein, dann hätte er nicht auf die Uhr gesehen!

Während ich versuche Ordnung in meine chaotischen Gedanken zu bringen, baut sich vor mir eine riesige Gestalt auf. Ich erschrecke fürchterlich, als ich nicht mehr abbremsen kann und gegen das Hindernis stoße.

Ich sehe auf und setze schon zu einer Entschuldigung an, als mir das Blut in den Adern gefriert. Dieser finstere Blick, das fiese Grinsen. Ich weiche augenblicklich zurück und stoße mit den Rücken gegen Toni. Michael, flutet der Name des großen Mannes, im schwarzen Stoffmantel, meine Sinne und betäubt alle anderen Gedanken. Meine Glieder werden Steif, kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinab.

Die Hand des Hünen verschwindet in seinem Mantel. Sucht er etwa nach einer Waffe? Ich atme ruckartig. Michaels Blick streift mich nur beiläufig, sein Interesse gilt Toni.

"Bandel! Was für eine Überraschung." Er grinst süffisant.

„Das wagst du nicht auf offener Straße", entgegnet Toni ihm ruhig aber bestimmt. Unauffällig drängt er sich zwischen mich und Michael.

"Sachte, sachte! Wer wird denn gleich so schreckhaft sein? Ich bin geschäftlich hier. Für so grobe Handlangerarbeiten habe ich meine Männer", meint Michael lässig und zieht eine Schachtel Zigarette und ein Feuerzeug aus seiner Manteltasche. Fast gelangweilt nimmt er sich eine und zündet sie sich an, dann setzt er seinen Weg mit festem Schritt fort. Er wirft uns noch einen amüsierten Blick zu, bevor er sich der Villa Aarons nähert. Ich sehe ihm wie gelähmt nach, bis mir schließlich klar wird, dass er auf dem besten Weg zum Paten ist. Er will ihn doch nicht etwa in seinem eigenen Haus ermorden? Nicht mal die Hunde sind im Garten und das Tor steht noch offen. In unserer Eile haben wir ganz vergessen es zu schließen. Wir müssen ihn aufhalten! Als ich dem Hünen nachsetzen will, legt sich Tonis Hand fest um meinen Oberarm.

"Er hat dich nicht erkannt. Vordere unser Glück nicht noch einmal heraus!", flüstert er mir zu.

"Aber Aaron!", protestiere ich und versuche mich zu befreien.

"Ich habe dir doch gesagt, die beiden sind Geschäftspartner. Michael geht bei ihm ein und aus." So langsam beginne ich zu begreifen. Der Chef der Red Dragons, ist also der Grund für unseren Rauswurf. Aaron wollte verhindern, dass wir mit ihm zusammenstoßen. Ich verstehe nur nicht, warum ihm das erst wichtig war, als er mich erkannt hat. Wäre ein Zusammentreffen mit Toni in Ordnung gewesen? Oder ist es einfach normal geworden, dass sich Toni in Aarons Haus aufhält?

Während wir dabei zusehen, wie Michael im Vorgarten des Anwesens, hinter den hohen Tannen verschwindet, fällt mir das seltsame Gesprächsthema zwischen dem Paten und meinem Leibwächter ein. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe meinen Begleiter argwöhnisch an, als ich ihn frage: "Was hast du damit gemeint, du wärst nur die zweite Wahl?"

"Lass uns von hier verschwinden!" Er setzt sich in Bewegung, jetzt ist er es, der es eilig hat. Wenn ich eine Antwort auf meine Frage haben will, muss ich ihm wohl oder übel folgen.

"Ich habe dich etwas gefragt!", harke ich nach, als ich ihn eingeholt habe.

"Wäre der Überfall vor fünf Jahren nicht gewesen, hätte Aaron dich inzwischen adoptiert. Die Papieren waren alle schon fertig. Es hat nur noch deine Unterschrift gefehlt." Was? Ich verstehe kein Wort. Wieso denn adoptieren? Aaron hat doch genug eigene Kinder. Reichen ihm seine drei Töchter nicht?

"Wozu?", frage ich verwirrt.

"Jetzt denk doch mal nach. Aaron hat keinen männlichen Erben, der seine Nachfolge antreten kann. Wer also soll die Locos nach seinem Tod führen?" Die Tragweite dieser Nachricht verschlägt mir den Atem. Ich sollte Aarons Nachfolger werden? Ist der alte Mann verrückt geworden? Ich hatte schon alle Hände voll damit zu tun, meine eigene Gang zu führen, aber ein ganzes Syndikat? Das ist gleich drei Nummern zu groß für mich. Kann es denn wirklich sein, dass Aaron so großes Vertrauen in mich gesetzt hat?

"Nach deinem Tod, gab es große Diskussionen, wer deinen Platz einnehmen sollte", fährt Toni fort. Ich tue mich schwer seinen Worten zu folgen, muss ich doch erst mal die Sache mit der Nachfolge verdauen.

"Aaron hat keinen neuen Nachfolger bestimmt, also kam es zu immer neuen Streitereien unter den Emporkömmlingen, die meinten sie hätten das Zeug zum Paten. Es ist nicht nur Michaels Verdienst, dass die Locos heute so schlecht da stehen. Es herrscht keine Einigkeit mehr im Clan. Jeder kämpft gegen jeden und als Aaron sich endlich wieder von deinem Tod erholt hatte und mich zum Nachfolger machen wollte, habe ich dankend abgelehnt."

"Hast du? Aber warum?" Toni hätte sicher einen eben so guten Paten abgegeben, vielleicht sogar einen noch besseren als ich. Er wurde schon als Kind unter den Red Dragons ausgebildet, er ist sehr viel länger dabei. Je mehr Gedanken ich mir darüber mache, um so mehr überrascht es mich, dass Aarons erste Wahl auf mich fiel.

"Als meine Tochter geboren wurde, wollte Anette, dass ich aus der ganzen Scheiße hier aussteige und auf ehrliche Weise mein Geld verdiene. Aber das war nur ein Grund. Ich hab kein Bock in der Schusslinie zu stehen. Außerdem, wer würde mich schon an der Spitze akzeptieren? Ich bin immerhin mal ein Drache gewesen."

"Ach und mich würde man dort dulden?", werfe ich spöttisch lachend ein. Doch Toni bleibt ernst, als er mich ansieht und meint: "Du bist in alle Machenschaften des Paten involviert gewesen. Er hat dir freie Hand bei all unseren Aufträgen gelassen. Du hast die Geschäfte mit seinen Partnern abgewickelt, hast die Preise ausgehandelt. Du hast die alten Kontakte gepflegt und neue dazu gewonnen, hast du ihn da einmal um Erlaubnis fragen müssen? Ist dir überhaupt nicht aufgefallen, dass du seinen Platz schon längst eingenommen hattest, noch bevor es offiziell war?"

~Pussycat Deluxe~

Tonis Worte beschäftigen mich noch lange. War ich wirklich eine so große Nummer, in den Geschäften meines Schwiegervaters? Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, habe stehst nur das getan, was uns, mit möglichst wenig Aufwand, das meiste Geld einbrachte. Aber Toni hat recht, Aaron hat mir irgendwann freie Hand bei allen Entscheidungen gelassen. Ich war längst nicht mehr nur für die groben Auftragsmorde zuständig. Obwohl ich mit Abstand der Jüngste der vier Clanführer war, geschah nichts ohne mein Einverständnis. Wirklich bewusst, wird mir das aber erst jetzt.
 

Ein lautes Magenknurren beendet mein Grübeln. Toni sieht mich verlegen an und hält sich den Bauch. Ich muss lächeln. Hat er etwa Hunger? Der lächerliche Donut von heute Morgen, wird ihm sicher nicht gereicht haben und seitdem sind auch schon wieder gut fünf Stunden vergangen.

„Hunger?"

„Du nicht?", entgegnet er. Ich schüttle mit dem Kopf, während mein Magen mir mit einem lauten Knurren widerspricht.

„Ach komm schon, mir machst du nichts vor." Er grinst breit.

„Und wenn schon! Wir haben kein Geld, um irgendwo essen zu gehen", gebe ich zu bedenken. Das Grinsen weicht aus seinem Gesicht.

„Aber ich brauch was zwischen die Zähne!" Ich seufze, auch wenn ich noch eine ganze Weile ohne Nahrung ausgekommen kann, mein Freund kann es offensichtlich nicht. Was nun? Ich schaue an mir herab, auf die Waffe in meinem Hohlster. Die Spezialanfertigung ist sicher einige hundert Dollar wert. Wenn wir sie verkaufen, sind wir zumindest unsere offensichtlichsten Sorgen für eine Weile los.

„Schmuggelt Erik noch immer Waffen?", frage ich. Toni folgt meinem Blick auf die Neun-Millimeter. Seine angespannte Haltung verrät mir, dass er die Pistole auf keinen Fall verkaufen will. Ihm scheint das Teil wirklich mehr zu bedeuten, als mir.

„Lass uns lieber eine von meinen Beiden verkaufen", schlägt er vor. Ich schüttle mit dem Kopf.

„Die Uraltteile bringen doch nichts ein!“

„Aber ...", protestiert er vergebens. Meine Entscheidung ist bereits gefallen.

„Du hast doch Hunger, oder nicht? Außerdem war Erik schon immer scharf auf die Waffe, er wird uns 'nen anständigen Preis zahlen und sie in seiner privaten Sammlung aufbewahren. Wenn wir wieder flüssig sind, können wir sie ja auslösen."

„Ja, und dann will der Hurensohn das Dreifache dafür haben." Ich muss schmunzeln. Da hat er nicht ganz unrecht. Erik ist ein gewitzter Geschäftemacher, aber auch einer meiner engsten Verbündeten. Er hat meine Gang mit Waffen und Munition versorgt und war auch für den ein oder anderen illustren Zeitvertreib gut.

„Du willst jetzt aber nicht ins Pussycats oder?"

„Das gibt es noch?", frage ich freudig überrascht.

„Das Gewerbe ist in der schlimmsten Zeit nicht tot zu kriegen", erklärt Toni und schüttelt abwehrend mit dem Kopf. Das Etablissement ist noch nie sein Ding gewesen, ich hingegen habe viele aufregende Nächte dort, beim Pokern und mit den leichten Mädchen, verbracht. Eine gewisse Vorfreude steigt in mir auf, auch die kommende Nacht dort zu verbringen. Meinen alten Kumpel wiederzusehen, ein paar Scotch mit ihm heben, ihm das Geld beim Pokern aus der Tasche ziehen, danach steht mir jetzt der Sinn. Mein Lächeln wird breiter, als ich verkünde: „Oh doch!"

Ich sehe mich nach der nächsten U-Bahnstation um und setze mich in Bewegung, als ich eine ganz in unserer Nähe ausmachen kann.

„Können wir die Waffe nicht in irgendeiner Pfandleihe hinterlegen?", ruft Toni mir nach. Er folgt mir nur widerwillig.

„Und riskieren, dass sie verkauft wird, wenn wir das Geld nicht rechtzeitig auftreiben können? Ich dachte, dafür wäre sie dir zu schade?" Ich liebe es, Toni mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Ihm fällt kein schlüssiges Argument ein, um mich umzustimmen. Zähneknirschend schließt er zu mir auf. Gemeinsam folgen wir den Treppen, die uns hinab zur U-Bahnstation führen.
 

Die nächste Bahn ins Zentrum lässt uns fünf Minuten warten. Als wir einsteigen, will Toni von mir wissen: „Was sollen wir Erik sagen, wer du bist?"

„Er ist doch immer noch neutral oder?"

„Ja!"

„Wir brauch Verbündete, also werde ich kein Geheimnis um meine Identität machen. Da fällt mir ein: Wie wäre es denn, wenn wir wieder als Türsteher bei ihm anheuern? Der Job macht uns nicht reich, aber er bringt genug, dass wir uns ums Essen keine Sorgen mehr machen müssen." Ich lasse mich auf dem letzten Sitze nieder, der noch frei ist. Toni muss stehen bleiben. Er platziert sich neben mir und greift nach der Stange über seinem Kopf.

„Muss das sein? Es nervt, die Betrunkenen vor die Tür zu setzen und die aufdringlichen Freier von den Nutten zu zerren, wenn sie sich nicht benehmen können."

„Immer noch besser, als an den Docks für ’nen Hungerlohn zu arbeiten", halte ich dagegen. Tonis ehrlicher Job hat ihn in die Armut getrieben und von Aaron können wir im Moment auch keine Finanzspritze erwarten. Mir gefällt meine Idee. Ich habe auch kein Problem damit, allein bei Erik anzuheuern, wenn Toni ablehnt. Bei ihm sitzen wir wenigstens an einer reichhaltigen Informationsquelle. Die einflussreichsten Männer aus Wirtschaft und Politik sind Stammgäste in seinem Lokal. Dort wird es uns leicht fallen, neue Kontakte zu knüpfen und reiche Geschäftspartner zu finden, um den Locos wieder auf die Beine zu helfen.

„Na schön, bei deinem Talent, dich in Schwierigkeiten zu bringen, kann ich dich ja kaum allein da arbeiten lassen." Wie gnädig von ihm. Und der drei Mal höhere Lohn, hat damit gar nichts zu tun? Ich belasse das Gespräch bei einem zufriedenen Lächeln und sehe aus dem Fenster. Die Stationen fliegen an uns vorbei, nach vier weiteren haben wir unser Ziel erreicht und steigen aus. Noch ein kurzer Fußmarsch, dann stehen wir vor der großen Leuchtreklame: PUSSYCAT DELUXE.
 

Wir sind die ersten und einzigen Gäste. Es ist noch zu früh, für die meisten Freier und die Männer, die hier ihren Feierabend mit Kartenspiel und Alkohol verbringen. Nur zwei stämmige Türsteher laufen vor dem Lokal auf und ab. Der kahlköpfige, mit den Schultern so breit, wie ein dreitüriger Kleiderschrank, raucht gerade eine Zigarette, während der andere, mit den großen Segelohren und der breiten Nase, sich in kleinen Kreisen die Beine vertritt. Beide tragen einen schwarzen Anzug und eine dunkelblaue Krawatte. Letzteres werde ich dann wohl auch wieder tragen müssen. Ich verziehe das Gesicht. Der einzige Nachteil an diesem Job.

„Und wie willst du an denen vorbei kommen? Wir haben nicht mal ne Einladung", flüstert Toni, während wir auf die Türsteher zuhalten. An die Empfehlungsschreiben, die man braucht, um in Eriks Lokal eingelassen zu werden, habe ich gar nicht mehr gedacht. Ich war dort Stammgast und die Türsteher kannten mich. Ich brauchte keine Einladung, aber diese beiden Gorillas sind neu. Ihre Gesichter kenne ich nicht. Es wäre sicher auch unklug meinen richtigen Namen schon hier am Eingang preis zu geben. Nur weil Erik neutral ist, heißt das noch lange nicht, dass es seine Angestellten auch sind. Zumal die beiden, wenn sie neu sind, mit meinem richtigen Namen eben so wenig etwas anfangen können.

„Meinst du, Erik kommt runter, wenn wir deinen Namen nennen?", will ich wissen.

„Keine Ahnung. Ich bin mit ihm nie warm geworden. Glaub nicht, dass er sich für mich bemüht." Wohl wahr! Freunde sind die Beiden noch nie gewesen. Da Erik für keinen der Clans Partei ergriffen hat und bei ihm alle Männer ein und ausgehen, die Einfluss haben, hat Toni ihm stets misstraut. Vielleicht nicht immer zu unrecht. Ich erinnere mich da, an eine seiner Mädels, die mich mit einem Messer erstechen wollte, während ich mit ihr schlief. Es stellte sich zwar heraus, dass die von den Drachen eingeschleust worden war und Erik damit nichts zu tun hatte, zum Verhängnis wäre es mir dennoch fast geworden. Gerade in meiner jetzigen Situation, muss ich in diesen Kreisen auf der Hut sein.
 

Wir haben die beiden Gorillas fast erreicht, als eine Tür in der Seitenstraße, neben dem Lokal, aufgerissen wird.

„Du nutzlose Göre!", brüllt die dunkle Stimme eines Mannes, dann fällt eine junge Frau auf den Bordstein. Sie schlägt sich Knie und Hände auf dem harten Untergrund auf und beginnt, auf allen Vieren hockend, zu wimmern. Ihre ohnehin dürftige Kleidung ist zerrissen, sie hält sich krampfhaft den losen Träger ihres BHs, um ihn nicht ganz zu verlieren, während der letzte Stoffrest ihres Höschens herabrutscht und ihren blanken Po entblößt. Ein alter Greis, mit kahlem Haupt und tiefen Furchen im Gesicht, erscheint hinter ihr. Er tritt sie kräftig in die Seite und stößt sie, in die dunkle Gasse, neben dem Lokal. Den Greis kenne ich nicht, die junge Frau hingegen schon.

„Darla", kommt mir ihr Name über die Lippen. Sie ist eine von Eriks Prostituierten. Ein gutherziges Ding, die immer zu Späßen aufgelegt ist und diesen Job nur macht, um sich und ihre kleine Schwester, nach dem Tod der Eltern, durchzubringen.

Ich schaue von ihr zu den Gorillas. Es ist ihr Job, Situationen wie diese zu schlichten, doch sie tun nichts. Der Schrank raucht unbeeindruckt seine Zigarette auf, während der andere sich gerade erst eine ansteckt. Sie blicken nur kurz in Richtung der Gasse und zucken mit den Schultern. Mister Segelohr schaut auf seine Taschenuhr und wendet sich ab, als er die Zeit abgelesen hat. Ist das ihr ernst? Sie greifen nicht ein, weil sie noch nicht im Dienst sind? Was hat sich Erik da für Idioten angeschafft? Ich schüttle verständnislos mit dem Kopf und folge Darla und ihrem Freier mit zügigen Schritten in die Seitenstraße. Auch Toni wird schneller. Ich kann sein Seufzen deutlich neben mir hören, als wir die Beiden erreichen.

„Du Fotze hast mir in den Schwanz gebissen! Das wirst du mir büßen!", schreit der Greis und erhebt die Faust. Genug! Ich packe seine Hand am Gelenk und verdrehe ihm den Arm auf den Rücken. Ein schmerzverzerrter Laut kommt aus seiner Kehle. Er zappelt und versucht sich zu befreien, also verdrehe ich seinen Arm noch stärker, bis er vor Schmerzen in die Knie geht und sich nicht mehr rührt.

„Lass mich los! Was soll der Scheiß? Wer seit ihr Hurensöhne?", flucht er.

Toni bleibt neben uns stehen. Er verschränkt die Arme und macht nicht den Eindruck, mir helfen zu wollen.

„Halts Maul!", schnauze ich den Alten an, "Wer nicht weiß, wie man sich einer Dame gegenüber zu benehmen hat, der hat hier nichts zu suchen!" Der Greis windet sich und spuckt auf den Boden.

„Pah! Das ist nichts weiter, als eine billige Hure!"

„Und du bist gleich nichts weiter, als tot, wenn du dich nicht augenblicklich von hier verpisst!", brülle ich und gebe ihn frei. Noch bevor er sich wieder erhoben hat, trete ich ihm in den Rücken. Er stolpert drei Schritte nach vorn, genug Zeit, um meine Waffe zu ziehen und damit auf seinen Kopf zu zielen. Als er sich gefangen hat und mir zuwendet, verschwindet sein wütender Blick. Die Pistole verfehlt ihre Wirkung nicht, abwehrend hebt er die Hände.

„Das ist doch nur ’ne kleine Nutte, nichts wofür man gleich so ausfallend werden muss!", seine Stimme nimmt einen bebenden Unterton an, trotzdem bleiben seine Worte abfällig. Ich krümme den Zeigefinger um den Abzug.

„Noch ein Wort und du wirst die Sonne nie wieder aufgehen sehen!"

„Ihr tut gut daran, jetzt zu verschwinden! Mein Freund hat einen sehr nervösen Zeigefinger", meint Toni belustigt. Der Greis sieht von ihm zu mir und wieder zurück, dann erst beginnt er sich langsam in Bewegung zu setzen. Er verlässt die Gasse und spricht noch etliche unverständliche Flüche, bevor er aus unserem Blickfeld verschwindet. Als ich seine Schritte nicht mehr hören kann, nehme ich die Waffe runter und verstaue sie im Hohlster.

„D... Danke!", keucht Darla, dann kommen schon die beiden Gorillas um die Ecke. Für den geschätzten Kunden scheinen sie Partei ergreifen zu wollen, denn sie schreien aufgebracht, als sie zu uns kommen: „Was fällt euch ein, unsere Kunden zu bedrohen?"

„Wer seid ihr überhaupt?", faucht der Andere und schnippt seinen Zigarettenstummel fort.

„Mach du das!", weise ich Toni an und überlasse es ihm, die Situation zu bereinigen. Er geht auf die Beiden zu und beginnt eine heftige Diskussion, die von wilder Gestik und Mimik der Gorillas begleitet wird. Ich beachte sie nicht weiter. Stattdessen wende ich mich der gepeinigten Darla zu, die noch immer auf dem Boden kniet. Ich nehme mein Jackett ab und lege es ihr über die Schultern. Dann reiche ich ihr meine ausgestreckte Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Mit einem dankbarem Lächeln, nimmt sie das Angebot an und lässt sich von mir auf die Beine ziehen. Sie ist so leicht, dass ich mich kaum bemühen muss. Ihre Hände sind blutig und feucht, ihre Augen mit Tränen gefüllt. Jetzt, wo ich die Zeit habe, sie eingehend zu betrachten, erschrecke ich. Von der jungen, lebenslustigen Frau, ist nicht mehr, als ein geschundenes Gerippe übrig. Einige der Schrammen und blauen Flecke sind älter, beginnen schon zu heilen. Es ist also nicht der einzige Vorfall, bei dem ihr Gewalt angetan wurde. Aber warum? Erik hat nie zugelassen, dass jemand Hand an seine Mädels anlegt. Sicher nicht aus Menschenliebe, sondern weil sie so weniger Geld einbringen, aber trotzdem ging es den Frauen hier sehr viel besser, als auf dem Straßenstrich. Während ich Darla eingehend mustere, schaut auch sie mich ganz genau an. Sie legt den Kopf schief und fragt leise, mit Zweifel in der Stimme: „Enrico?"

Ich reiße die Augen weit auf und lege ihr meine Hand auf den Mund, kopfschüttelnd gebe ich ihr zu verstehen, dass dies nicht der richtige Ort ist, meine Identität preis zu geben. Sie nickt. Anscheinend hat sie verstanden, also nehme ich meine Hand wieder weg.

„Meinst du, du kannst uns rein schmuggeln und zu Erik bringen?", frage ich sie flüsternd. Sie lächelt verstehend, dann sieht sie zu den beiden Gorillas, die sich noch immer in einer heftigen Diskussion mit Toni befinden.

„Die Beiden sind zahlende Kunden. Sie gehören zu mir", erklärt sie ihnen und findet langsam zu einer aufrechten Haltung zurück. Toni wirft einen fragenden, fasst schockierten Blick zu uns, als wolle er wissen, ob sie das ernst meint. Ich muss über seine Schüchternheit schmunzeln.

Die Gorillas winken ab. Sie zünden sich eine neue Zigarette an, dann verschwinden sie.

„Das war leichter als gedacht", verkünde ich triumphierend.
 

Darla setzt sich in Bewegung. So gut es geht, versucht sie, die zerrissene Kleidung an ihrem Platz zu halten, als sie uns durch den Dienstboteneingang ins Lokal führt. Über eine Treppe, gelangen wir in das Kellergewölbe. Vor uns öffnet sich ein kleiner Raum, in dem etliche Bänke und Spinde stehen. Aufgeregte Frauen kommen uns entgegen. Die meisten haben noch ihre normale Straßenkleidung an, nur zwei von ihnen stecken bereits in ihrer spärlichen Arbeitskleidung. Sie fallen Darla um den Hals und erkundigen sich besorgt, nach ihrem Befinden.

„Es geht schon. Ich hatte ja Hilfe", erklärt sie ihren Kolleginnen und deutet in unsere Richtung.

„Das ist schon das vierte Mal diese Woche", berichtet eine Blondine.

„Nicht genug, dass uns ständig diese Schläger auflauern, jetzt werden auch die Freier immer brutaler", fügt eine Andere hinzu. Ihr Geschnatter lässt mich aufhorchen. Schläger, die die Mädels bedrohen? Damit hatte Erik schon einmal zu kämpfen, weil er sich weigerte, an die Red Dragons Schutzgeld für sein Lokal zu zahlen. Mit der Hilfe meiner Gang sind wir sie damals losgeworden, aber die Wölfe gibt es nicht mehr. Sind damit auch die Geldeintreiber zurück?
 

„Bitte wartet hier einen Moment! Ich will mir schnell etwas Neues anziehen", erklärt uns Darla und geht ihrem Spind entgegen. Die Frauen verteilen sich wieder im Raum. Die einen beginnen damit, sich für ihre Schicht einzukleiden und die, die bereits fertig sind, versammeln sich um Toni. Sie klimpert mit ihren langen Wimper und schmiegen sich, gleich einer Katze, an ihn.

„Und Schöner, wie können wir dir danken, dass du unsere kleine Darla beschützt hast?", schnurrt die Blonde, mit den endlos langen Beinen und presst ihren üppigen Busen gegen Tonis Oberkörper. Dieser erstarrt förmlich und sieht hilfesuchend zu mir, während er kein Wort mehr herausbringt. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich muss über ihn schmunzeln. Die Reize der Frauen hier, haben ihn schon immer aus der Fassung gebracht. Er kann einfach nichts mit ihnen anfangen, dabei ist er bei den Mädels heiß begehrt. Es wurden sogar Wetten darauf abgeschlossen, welche von ihnen ihn zuerst ins Bett bekommt. Gewonnen hat sie bisher noch keine. Selbst bei seiner Freundin Anette ist ihm Zweisamkeit ein Graus. Ich frage mich nach wie vor, wie er es geschafft hat, seine Tochter zu zeugen. Auch wenn er Anette immer gut behandelt hat, habe ich das Gefühl, sie ist nur sein Alibi.

„Das ist vergebene Liebesmüh, er ist in festen Händen", versuche ich ihm zu helfen. Sie wenden sich mit bedauerndem Blick von ihm ab, allerdings nicht, ohne ihre Hüften schwingen zu lassen.

„Das ist ein Grund, aber kein Hindernis!", säuseln sie und versuchen es nun bei mir. Ich spüre einen weichen Busen in meinem Rücken und einen warmen Schritt über meinem Knie. Zwei schlanke Schenkel pressen sich gegen mein Bein. Ich kann nicht anders, mein Blick verirrt sich in der Oberweite, die mir die Blonde unter die Nase hält, während meine Hand, wie von allein, zum Hintern der Brünetten wandert, die sich neben sie drängt. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie Toni das alles kalt lassen kann.

„Wie wäre es denn mit uns beiden?", funkelt mich die Blonde an und dreht ihren Zeigefinger über meinen Oberkörper. Wenn ich doch nur genug Geld dabei hätte, aber so muss ich wohl leider passen.

„Tut mir leid, heute sind wir rein geschäftlich hier. Aber der Tag ist ja noch jung. Vielleicht komme ich auf das Angebot zurück." Ich kann meinen Blick einfach nicht von den schlanken Beinen und diesen großen Brüsten lassen. Es ist ehrlich ein Jammer.

„Du wirst es nicht bereuen", schnurrt die Brünette. Daran habe ich keinen Zweifel. Ihr heißer Schritt jagt mir jetzt schon wohlige Wärme in die Lenden.

„Doch wird er!" Tonis Stimme ist auf einmal so nah. Er legt mir seinen Arm um den Hals und zieht mich nah zu sich. Die jungen Frauen weichen einige Schritte zurück und beobachten uns verwirrt. Tonis harter Griff schnürt mir die Luft ab. Ich greife nach seinem Arm und versuche ihn von mir zu schieben. Es gelingt mir nicht! Sein heißer Atem stößt mir ins Ohr, als er mich leise aber bestimmt wissen lässt: „Wenn wir hier zu Geld kommen und du es für Nutten raus wirfst, schwöre ich dir, kastriere ich dich eigenhändig." Ich bin mir sicher, dass er das ernst meint. Toni versteht keinen Spaß, wenn er Hunger hat.
 

„Dein Jackett hat leider ein paar Blutfecken abbekommen. Ich werde es reinigen lassen, du kannst es dann bei mir ..." Darla kommt zu uns zurück, hält jedoch inne, als sie uns in dieser vertrauten 'Umarmung' vorfindet. Ein vorsichtiges Lächeln huscht über ihre schmalen Lippen.

„Wie schön, dass sich bei euch Beiden nichts geändert hat", lacht sie. Toni und ich sehen uns fragend an. Ist dem so? Benehmen wir uns immer so? Toni schaut verlegen weg, sein Griff lockert sich, sodass ich entkommen kann.

„Kennst du die Beiden etwa?", wollen ihre Kolleginnen von ihr wissen. Ich werfe Darla einen mahnenden Blick zu.

„Ja, von früher. Aber das ist schon lange her", sagt sie nur und setzt dabei ein warmes Lächeln auf. Ihr Blick gilt mir, doch ich weiß nicht, was er zu bedeuten hat.
 

„Na kommt!", fordert sie uns auf. Toni wirft mir noch einen letzten warnenden Blick zu, bevor er ihr folgt. Also keine Nutten für heute Abend? Ich schaue noch einmal durch die Umkleide und sehnsüchtig zu den jungen Frauen, die uns zum Abschied winken. Mal von Darla abgesehen, scheint Erik sein ganzes Personal ausgetauscht zu haben. Die Frauen, die hier vor fünf Jahren gearbeitet haben, hatte ich alle schon durch, diese hier sind mir unbekannt. Aber vielleicht ist das gerade gut so. Es reicht, dass Darla mich erkannt hat. Ich hoffe nur, sie kann mein Geheimnis bewahren, bis die Zeit gekommen ist, meine Rückkehr offiziell zu verkünden.
 

Sie öffnet uns eine Tür und führt uns über eine Treppe hinauf ins Lokal. Der Barkeeper hinter dem Tresen poliert gerade gelangweilt einige Gläser. Die roten Hocker vor ihm sind leer, auch an den Tischen und den knallroten Lederbänken, die im Halbkreis drum herum aufgebaut sind, sitzt noch niemand. Sanfte Soulmusik schwebt durch den Raum, der in ein gedämmtes Licht getaucht ist. Auf den ersten Blick, hat sich hier nichts verändert.

Da wir die einzigen Gäste sind, ziehen wir unweigerlich die Aufmerksamkeit des Barkeepers auf uns. Verwirrt beobachtet er Darla, wie sie uns am Tresen vorbei führt. Ich sehe mir das Gesicht des Mannes an, das sofort einen Namen in mir wachruft: Maike arbeitet also noch hier. Um die Oberarme hat er ordentlich zugelegt. Ob das wohl etwas mit der Bedrohung durch die Schläger zu tun hat? Er schüttelt mit dem Kopf, als er Toni sieht. Zumindest ihn hat er erkannt.

„Der Chef ist oben beim Pokern, ihr kennt ja den Weg", erklärt uns Darla und stoppt vor einer breiten Treppe, mit dünnem Geländer. Ihr ausgestreckter Arm weißt die Stufen hinauf. Typisch, das Lokal hat noch nicht mal offiziell geöffnet und Erik betreibt schon wieder illegales Glücksspiel. Ich nicke Darla dankend zu und betrete die erste Stufe. Direkt neben ihr halte ich noch einmal an und lege meinen Kopf an ihr Ohr, um ihr zu zuflüstern: „Bitte behalte für dich, dass du mich gesehen hast. Es ist noch nicht offiziell, dass ich wieder zurück bin."

Sie verschließt ihren Mund und deutet einen Schlüssel an, den sie symbolisch wegwirft. Ihre Augen lächeln und geben mir das Gefühl, ihr vertrauen zu können. Ich schenke ihr ebenfalls ein Lächeln und will meinen Weg fortsetzen, als sie mich am Handgelenk festhält. Was will sie denn noch?

„Ich freue mich, dass du wohlauf bist", sagt sie und schaut mich verträumt an. Noch immer kann ich nicht einschätzen, was mir dieser Blick sagen soll.

„Und Enrico!", fügt sie leise hinzu.

„Ja?"

„Danke!" Wieder muss ich lächeln. War ja keine große Sache, den Greis in seine Schranken zu weisen. Ich nicke, dann gibt sie mich frei und lässt uns allein. Sie läuft den Weg zurück, den wir gekommen sind. Echt ein Jammer, dass sie noch keinen Job gefunden hat, der besser zu ihr passt.

„Die steht auf dich", sagt Toni auf einmal. Erschrocken sehe ich ihn an.

„Blödsinn!" Ich und Darla? Auf keinen Fall! Sie ist eine der wenigen von Eriks Mädels, mit der ich niemals ins Bett steigen würde. Irgendwie ist sie für mich mehr eine kleine Schwester.

„Sag, was du willst, aber die hat ein Auge auf dich geworfen." Na und? Selbst wenn, gehören da immer noch zwei dazu. Mal ganz davon abgesehen, dass sie mit ihrem kleinen Busen und dem dürren Körper überhaupt nicht mein Typ ist. Um die Diskussion nicht noch zu vertiefen, setze ich meinen Weg fort und erklimme die wenigen Stufen, die uns zu den Spieltischen führen.
 

Erik sitzt uns mit dem Rücken zugewandt an einem der kreisrunden Tische, auf dem etliche Dollar aufgetürmt sind. Eine gelblich verfärbte Stofflampe darüber, sorgen gerade für genug Licht, dass der Tisch und die Karten darauf ausgeleuchtet sind. Der Rest des Raumes liegt im Dunkeln. Die Luft hier oben ist angefüllt von Zigarrenqualm und lässt mich die Nase rümpfen. Die fünf Männer in ihren Smokings beachten uns nicht, sie sind ganz in das Spiel vertieft.

Ich steige die letzte Stufe empor und gehe zwei Schritte weiter, bis ich das Spielfeld und Eriks Karten einsehen kann. Er hat ein ziemlich schlechtes Blatt auf der Hand. Eine Herzsieben und eine Karoacht.

Im Augenwinkel sehe ich Toni zu mir kommen. Als er näher an den Tisch heran treten will, versperre ich ihm mit dem Arm den Weg. Ich will erst noch zusehen, bevor wir auf uns aufmerksam machen. Er versteht wortlos und bleibt neben mir stehen. Wir verschränken die Arme und ich versuche abzuschätzen, was wohl die anderen Männer auf der Hand haben und wie ihre Taktiken sind. Ganze drei Spiele lang bleiben wir unbemerkt. Erik verliert eines davon, die letzten zwei kann er für sich entscheiden. Eine neue Runde beginnt und so langsam durchschaue ich seine Mitspieler. Der Bär mit der Halbglatze blufft immer, wenn er sich am Hosenbein kratz, der Blonde mit der Brille spielt ehrlich und steigt aus, sobald er kein gutes Blatt auf der Hand hat. Der Kerl mit dem ungepflegten Dreitagebart nuckelt, bei schlechten Karten, immer an seiner Zigarre herum, während der junge Mann neben ihm, nervöse Schweißperlen an der Stirn bekommt, sobald er ein gutes Blatt hat. Erik hingegen verzieht keine Miene. Könnte ich seine Hand nicht wie jetzt einsehen, würde mir seine Körpersprache rein gar nichts über seine Karten verraten. Um ihn zu schlagen, bliebe nur anhand der schon gefallenen Karten und der Reaktionen der anderen Spieler abzuschätzen, welche Karten noch im Spiel sind. Aber gerade das macht das Spiel mit ihm so reizvoll. Ich bekomme Lust mich dazu zu setzen und ebenfalls eine Partie mitzuspielen, doch ich traue den Kerlen am Tisch nicht. Meine Intuition sagt mir, dass mindestens einer von ihnen ein Drache ist. Ich muss Erik also vom Tisch weg bekommen, um unter vier Augen mit ihm sprechen zu können.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Schatten direkt hinter ihm zu treten. Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und beuge mich vor zu seinem Ohr. Er zuckt kaum merklich zusammen, rührt sich sonst aber nicht.

„Das Spiel kannst du nicht mehr gewinnen. Der Blonde hat ’nen Full House, der Glatzkopf ’ne Straße und du, mein Freund, nur zwei lächerliche Neuner. Gib auf und lass uns reden. Der weiße Wolf ist zurück", flüstere ich ihm zu. Das Nennen meines Spitznamens, den mir die Unterwelt gegeben hat, dürfte reichen, ihn aufhorchen zu lassen. Er hält die Luft an, während uns seine Mitspieler verwirrt mustern.

„Wir warten in deinem Büro", füge ich hinzu und ziehe mich vom Tisch zurück. Erik hat sich noch immer nicht zu uns umgedreht, offensichtlich muss er das Gehörte erst einmal verdauen. Ich deute Toni mit einem Schwenk meines Kopfes an, dass wir ins Büro gehen. Da sich hier nicht viel verändert hat, nehme ich an, dass es sich noch immer hinter den letzten Tischen in einer Nische des Raums befindet und gehe auf die kleine Tür zu, die hinter einem dunkelroten Vorhang versteckt liegt. Toni folgt mir kommentarlos.

„Kanntest du eine von den Gestalten am Tisch?", will ich von ihm wissen, als er mich eingeholt hat. Da er unter den Drachen ausgebildet wurde, kennt er fast jedes einflussreiche Gesicht unserer Feinde.

„Der Kahlköpfige macht bei den Drachen die Buchhaltung. Der Junge neben ihm, wurde erst vor kurzem in den Clan aufgenommen." Also habe ich recht behalten. Erik von seinen Gästen wegzulocken, ist die richtige Entscheidung gewesen.

Der Stuhl des Barbesitzers bewegt sich kratzend über den Steinboden.

„Ich muss mich entschuldigen. Es wartet ein Geschäft, das ich nicht aufschieben kann", verabschiedet er sich von den Männern. Seine Schritte eilen uns nach.

Ich ziehe den Vorhang ein Stück zur Seite, bis er die Klinke frei gibt und öffne das Büro. Noch bevor Erik uns eingeholt hat, betreten wir den Raum. Durch ein breites Fenster, fällt genügend Tageslicht herein, dass es unnötig wäre, den Lichtschalter zu betätigen. Ein langer Schreibtisch steht vor einem bequemen Sessel, die Regale rechts und links davon, sind gefüllt mit Aktenordnern. In der linken Ecke steht eine Minibar, mit einigen Whiskygläsern und teuren Weinen, Schnäpsen und anderen Spirituosen. Ich öffne eine Flasche Scotch und gieße den Inhalt in ein Glas, bis es sich zur Hälfte gefüllt hat. Die Flasche stelle ich zurück und nehme das Glas in die Hand, als Erik das Büro betritt. Er wirft die Tür nach sich ins Schloss und sieht uns wütend an.

„Was fällt euch ein, mich hier so einfach zu überfallen und diesen Namen in den Mund zu nehmen, ihr ...!", bricht es aus ihm heraus. Unbeeindruckt davon gehe ich auf ihn zu und reiche ihm das gefüllte Glas. Bei dem, was er gleich erfahren wird, braucht Erik mit Sicherheit einen Drink.

„Nimm und setzt dich!", schlage ich ihm vor. Er sieht von mir zu Toni. Seine Wut weicht einer allgemeinen Ratlosigkeit.

„Antonio? Was wird das für ein Spiel? Du weißt ganz genau, dass ich diesen Namen hier nie wieder hören will."

„Setzt dich lieber!", pflichtet auch er ihm zu. Erik funkelt uns beide noch einmal wütend an, dann entreißt er mir das Glas und leert es mit einem Zug. Wusste ich es doch, dass er dieses Gespräch nicht nüchtern überstehen wird. Er kneift die Augen zusammen und atmet hörbar durch, dann schaut er uns mahnend an.

„Ich hoffe für euch, dass ..." Sein Blick bleibt an mir hängen. Je länger er mein Gesicht mustert, umso größer werden seine Augen. Sein Mund öffnet sich und ihm kommt ein tonloser Name über die Lippen. Schließlich schüttelt er mit dem Kopf. Er muss kräftig schlucken, dann schiebt er sich an mir vorbei zur Minibar.

„Ich brauche noch einen!", sagt er mehr zu sich selbst. Er füllt sich das Glas mit zitternden Händen bis zum Rand und stolpert mehr schlecht als Recht zu seinem Schreibtisch. Schwerfällig lässt er sich auf dem Sessel fallen und verschüttet die Hälfte des Drinks über sein Sakko.

„Verflucht!", schimpft er aufgebracht und schüttelt sich den Scotch von der Hand. Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Es gefällt mir, den Pokerkönig aus der Fassung zu bringen. Während er ein Tuch aus seiner Tasche zieht und die gröbsten Spuren des Scotch zu beseitigen versucht, gieße ich mir nun auch ein Glas ein. Nicht ganz bis zur Hälfte, dann gehe ich zum Schreibtisch. Ich setze mich auf den schmucklosen Holzstuhl davor und lehne mich zurück.

Erik ist noch immer mit dem Flecken auf seinem Sakko beschäftigt, während sich Toni auf die Platte des Schreibtisches gesetzt hat. Er hält eine Glasschale in der Hand und steckt sich immer wieder deren Inhalt in den Mund. Er isst so schnell, dass ich nur vermuten kann, dass es sich um Erdnüsse handelt. Er muss wirklich Hunger haben. Ich rolle mit den Augen und schüttle mit dem Kopf. Typisch!

„Du hättchst mir ruhig mal einen mitch machen können!", mahnt er mit vollem Mund, als ich das Glas gerade an die Lippen setze. Ich halte ein, um ihm zu antworten: „Mach dir gefälligst selbst einen!" Wer bin ich denn? Sein Diener? Tonis Gesicht verzieht sich wütend. Er setzt die Schale klangvoll auf dem Tisch ab und erhebt sich. Während er sich an der Minibar einen Drink einschenkt, entspannt sich Erik langsam. Er lehnt sich in seinem Sessel zurück und leert den Rest, der sich noch in seinem Glas befindet. Das befleckte Tuch lässt er achtlos auf den Boden fallen. Eine seiner Putzfrauen, wird es früher oder später beseitigen.

„Bring die Flasche gleich mit her!", ruft er Toni nach, dann wendet er sich mir zu.

„Okay, ihr beiden Spaßvögel! Was um alles in der Welt, zieht ihr hier ab? Du müsstest tot sein." Ich will gerade meinen ersten Schluck nehmen, doch Eriks ernste Worte halten mich davon ab. Ich stelle das Glas auf meiner Stuhllehne ab, fühle ich mich doch zu einer Antwort genötigt: „Das war ich auch so gut wie, besonders nach den missglückten Anschlägen im Krankenhaus." Ich schaue in mein Glas und auf die braune Flüssigkeit darin, während ich das Geschehene Revue passieren lasse.

„Robin, Jan und Lui haben mich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Krankenhaus geholt und alles Nötige in die Wege geleitet, um mich für tot zu erklären." Toni kehrt mit einem vollen Glas und einer zweiten Flasche Scotch zum Tisch zurück, die Erste ist bereits leer.

„Na schön, aber wo warst du dann die letzten fünf Jahre?" Ich zögere. Auch, wenn Erik die Frage noch nicht ausgesprochen hat, so scheint sie mir dennoch in der Luft zu liegen. Warum hat meine Rückkehr so lange gedauert? Meine eigene Feigheit ist mir peinlich. Je mehr ich erfahre, umso deutlicher wird mir vor Augen geführt, dass meine Anwesenheit hier dringend nötig ist.

„Ich habe ihn in Italien gefunden", antwortet Toni für mich. Ich werfe ihm einen grimmigen Blick zu. Wenn jemand diese Geschichte erzählt, dann ja wohl ich! Als er kein weiteres Wort verliert, fahre ich fort: „Ich lag zwei Jahr im Koma, weitere zwei brauchte ich, um auf die Beine zu kommen und meine Erinnerung wieder zu finden ..." Ich stoppe.

„Und das letzte Jahr?" Soll ich ehrlich sein? Besser nicht!

„Das ist nicht wichtig. Ich bin jetzt hier. Das ist alles was zählt." Von meinen Selbstzweifeln und den Versuchen, mir das Leben zu nehmen, muss Erik nichts wissen. Schlimm genug, dass Toni darüber Bescheid weiß.

„Hast du überhaupt ’ne Ahnung, was hier abläuft, seit du weg bist?", mault Erik und beugt sich ein Stück vor. Ich sehe schuldbewusst unter seinem Blick hinweg.

„Ich bekomme so langsam einen Überblick, ja." Ich stoppe, um endlich einen Schluck aus dem Glas nehmen zu können. Auch ich will bei diesem Thema nicht mehr nüchtern bleiben. Den Kloß in meinem Hals schlucke ich gleich mit hinunter und sehe Erik wieder direkt an, als ich frage: „Du hast den Schutz meiner Gang verloren und zahlst trotzdem kein Schutzgeld an die Drachen, oder?" Erik weicht meinem Blick aus. Ich habe also recht.

„Woher weißt du ...?"

„Deine Mädels reden viel und ich kann eins und eins zusammen zählen." Erik lächelt versöhnlich.

„Du hast deine schnelle Beobachtungsgabe nicht verloren. Wie schön! Dann wirst du mir doch sicher deine Hilfe anbieten?"

„Klar, warum nicht, solange die Bezahlung stimmt.“

„Dann soll ich also anstatt den Drachen, dir Schutzgeld zahlen?" Und damit beginnen wohl die Verhandlungen. Ich schmunzele.

„Schutzgeld ist so ein böses Wort. Du benötigst ein paar fähige Türsteher und wir brauchen was zu Essen auf dem Tisch. Sieh dir Toni an: Er ist schon so verzweifelt, dass er die Nüsse isst, die schon vor fünf Jahren auf deinem Schreibtisch standen." Toni sieht mich erschrocken an. Ihm wird sichtlich schlecht bei dem Gedanken, dass ich mit meiner Aussage recht haben könnte.

„Na schön! Wie viel?"

„Das Dreifache, was du den Schwachköpfen da draußen zahlst."

„Du willst mich wohl ruinieren?" Er blufft doch nur. Bei dem Eifer, den die beiden Gorillas an den Tag gelegt haben, wird deren Bezahlung lächerlich sein.

„Mir machst du nichts vor. Deine Gorillas schlagen sich noch nicht mal mit einem Greis für dich. Die bekommen nicht mehr als einen Apfel und ein Ei, oder?" Erik schmunzelt und sieht zur Seite weg. Wieder liege ich richtig.

„Das Doppelt, und da tu ich euch schon einen Gefallen." Na immerhin, besser als nichts. Doch ich bin mir sicher, dass sich noch mehr rausholen lässt.

„Okay, das Doppelte und 60 Dollar jetzt auf die Kralle. So können wir ja schlecht arbeiten." Ich deute auf mein Hemd, über dem das Jackett fehlt. Auch Tonis Kleidung ist abgetragen und fleckig. Kein besonders gutes Aushängeschild für sein Lokal.

Er lacht abfällig. Erik weiß genau, dass er mich nicht so leicht übers Ohr hauen kann.

„Du bist kaum zurück und ich kann dich schon nicht ausstehen", brummt er, doch sein Tonfall bleibt freundlich, „Ihr bekommt eure Arbeitskleidung von mir und 30 Dollar auf die Hand." Klingt gar nicht schlecht. Mit dem Geld kommen wir ’ne Weile über die Runden. Toni bekomme ich damit auf jeden Fall zwei Monate satt.

„Einverstanden!" Ich reiche Erik die Hand, um den Deal zu besiegeln, doch er zögert. Da kommt also noch eine Bedingung?

„Eins noch!" Ich wusste es!

„Ihr beseitigt die Bande, die mir ständig den Laden demoliert und meine Mädels bedrohen. Ich finde schon kaum noch Schlampen, die für mich arbeiten wollen." Ich verstehe und ziehe meine Hand zurück.

„Das kostet aber extra. Du weißt was wir fürs Saubermachen nehmen." Einen Auftragsmord wird Erik nicht bezahlen können, dass wissen wir beide. Den Job werde wir ihm wohl oder übel, als Freundschaftsdienst machen müssen. Trotzdem kann es nicht schaden, den Preis noch etwas in die Höhe zu treiben.

„Wenn ich dicht machen muss, weil ich keine Nutten mehr habe, seht ihr beide gar kein Geld." War ja klar, dass er diese Karte ausspielt.

„Ach komm schon Erik. Allein die Munition für den Auftrag übersteigt unsere momentanen Mittel. Du sitzt doch an der Quelle. Das kostet dich keinen Cent." Erik knirscht mit den Zähnen. Er weiß genau, dass ich auf seinen illegalen Waffenhandel anspiele. Wenn wir schon keine Kohle für den Auftrag sehen werden, dann wenigstens neue Waffen und ausreichend Munition, um die Bande hochgehen zu lassen.

Erik zieht eine Schublade an seinem Schreibtisch auf. Er holt drei graue Schachteln heraus und stellt sie auf den Tisch. Munition konnte ich ihm also schon mal abquatschen. Läuft doch gar nicht so schlecht! Als Erik die Schublade wieder schließt, sehe ich ihn dennoch so an, als wenn ich ihn fragen wolle, ob das schon alles sein soll. Er seufzt und wendet sich Toni zu: “Du brauchst ein Gewehr, oder?" Toni schluckt den Scotch runter, dann antwortet er: „Ja, aber nicht so ein Billigteil, wie das letzte Mal. Ich will das, was ich dir verkauft habe." Ich schaue ihn überrascht an. Er hat tatsächlich das Gewehr verkauft, das er einst von seinem Ausbilder bekommen hat?

„Ja, sicher!", murrt Erik und erhebt sich. Er kramt einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schließt damit einen Tresor auf, der die ganze linke Wand des Raumes einnimmt. Seine private Waffensammlung befindet sich darin. Er zieht einen schwarzen Gitarrenkoffer hervor. Toni hat also tatsächlich sein Scharfschützengewehr verkauft. Erik reicht ihm den Koffer. Mein Begleiter streicht über das feine Leder des Deckels, bevor er die silbernen Schnallen an der Seite öffnet. Prüfend betrachtet er den Inhalt und scheint zufrieden zu sein.

„Also sind wir im Geschäft?", will Erik wissen und reicht mir seine Hand. Das laute Knurren meines Magens verneint seine Frage. Ich schaue ihn verlegen an, als ich unsere letzte Bedingung stelle: „Wenn du noch ein Abendessen drauflegst. Wir sind am Verhungern." Erik muss lachen.

„Bestellt euch unten bei Maike was. Das geht aufs Haus." Ich lächle dankbar und schlage ein.

~Der weiße und der schwarze Wolf~

Ungeduldig rutschen wir auf unseren Hockern hin und her und können nicht erwarten, das Mike endlich die Teller vor uns abstellt. Auch ich verspüre seit langem wieder Heißhunger. Der Duft von gebratenem Fleisch steigt mir in die Nase und lässt das Wasser in meinem Mund zusammen laufen. Messer und Gabel habe ich griffbereit in beiden Händen und schaue den Barkeeper erwartungsvoll an, als er aus der Küche zurückkommt. Rasch stellt er die Teller vor uns ab und zieht seine Hände eilig zurück. Es ist nicht das erste Mal, dass wir ausgehungert an seinem Tresen sitzen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als er einmal die Hand zu langsam wegzogen hat und Tonis Gabel seinen Handrücken aufspießte. Daraus hat er offensichtlich gelernt. Während wir uns wie ausgehungerte Tiere über das gebratene Fleisch und das gedämpfte Gemüse hermachen, wendet er sich wieder seinen Gläsern zu. Seinen Blick kann er nicht von uns lassen. Er schüttelt verständnislos mit dem Kopf, während ein spöttisches Lächeln seine Lippen ziert.

Ich bin beim Essen so hastig, dass ich mich an einem großen Bissen Fleisch verschlucke. Hustend lasse ich das Besteck fallen und greife mir an den Hals. Ich suche mit der freien Hand das Wasserglas, das mir Mike hingestellt hat. Ich leere es in einem Zug und muss die Tränen wegblinzeln, die der Hustenreiz mir in die Augen treibt. Der Barkeeper lacht und auch Tonis Lippen ziert ein belustigtes Lächeln. Ich kann ihre Freude nicht Teilen, mir steckt noch immer das viel zu große Stück Fleisch im Hals. Erst als ich mir mit der Faust auf den Brustkorb schlage, rutscht es endlich meine Kehle hinab. Erleichtert atme ich durch.

"Ich hätte nie gedacht euch beiden noch einmal hier zu sehen! Es war schlichtweg langweilig, seit deinem Verschwinden", sagt Mike. Auch ihm haben wir kurz und knapp erklären müssen, wie es zu meinem vermeintlichen Tod gekommen ist. Die Liste der Menschen, die Bescheid wissen, wächst rasant. Mir wird nicht mehr viel Zeit bleiben, bis es die Runde macht.

"Ich dachte ihr hättet so viel Stress mit dieser Geldeintreiberbande?", frage ich und bemühe mich langsamer zu essen, um nicht noch einen Erstickungsanfall zu erleiden.

"Ja schon, aber die zu verprügeln macht nicht halb so viel Spaß, wie euch beim Essen zuzusehen." Ich sehe von meinem auf Tonis Teller. Wir haben unsere erste Portion schon vertilgt, während die letzten Überreste sich auf dem Tresen verteilen. Tischmanieren sind uns wahrlich fremd, wenn wir hungrig sind.

Toni reicht seinen Teller über den Tresen und ich tue es ihm gleich. Wir brauchen nichts sagen, Mike weiß auch so, dass wir einen Nachschlag wollen und nimmt uns die Teller ab. Er verschwindet noch einmal in der Küche.

"Schön, dass du wieder Hunger hast." Toni sieht mich mit einem sanften Lächeln an, das ich selten zu sehen bekomme. Sonst schaut er nur nach dem Sex derart verträumt drein. Bei dem Gedanken an die Nächte mit ihm, spüre ich, wie mir die Wärme in die Wangen steigt. Betreten wende ich meinen Blick ab.

"Woran denkst du schon wieder?", will er wissen. Ich räuspere mich und greife nach meinem Glas. Verdammt, nichts mehr drin! Jetzt komme ich um eine Antwort nicht herum.

"An nichts!", brumme ich. Seine letzte Abfuhr steckt mir noch in den Knochen. Ich will mir nicht schon wieder eine Predigt mit dem Inhalt - wir sind nur Freunde - anhören. Toni scheint trotzdem zu wissen, was ich gedacht habe, denn er rollt mit den Augen und wendet sich ab.

Ein Glück taucht im selben Moment Mike mit einer zweiten Portion auf. Ein Themenwechsel fällt mir jetzt leicht: "Du hörst doch als Barkeeper viel. Hast du 'ne Ahnung, wo wir diese Bande finden können? Haben sie irgendeinen Treffpunkt, oder so?" Jetzt, wo der größte Hunger gestillt ist, kann ich meine zweite Mahlzeit wesentlich gesitteter zu mir nehmen. Toni hingegen spießt das Steak mit der Gabel auf und beißt immer wieder große Stücke vom Ganzen ab. Während mir der zweite Teller genügen wird, ist dieses sicher nicht Tonis letztes Steak. Mike überlegt und sieht dabei nachdenklich an die Decke.

"Gute Frage!" Er braucht einige Zeit, bis er uns wieder ansieht, "Ich habe gehört, dass sie öfters an den Docks rumlungern sollen. Meistens sehe ich sie aber aus einer Kneipe zwei Blocks weiter kommen, kurz bevor sie hier Stress machen. Vielleicht haben sie dort irgendwo einen Unterschlupf"

"Kannst du die Männer beschreiben? Ich will nicht wieder die falschen erwischen." Das eine Mal hat mir gereicht. Besonders der Zoff mit Aaron danach, weil er die Sache mit viel Geld bereinigen musste.

"Sind das die Kerle um Hideo Sugita?", unterbricht uns Toni. Scheinbar hat er eine Ahnung, um wen es sich bei dieser Bande handelt. Mir sagt der Name nichts und auch Mike schaut fragend drein. Toni seufzt und versucht sich in einer Erklärung: "So ein kleiner Japse mit 'ner Narbe quer übers Gesicht. Hat meistens 'ne Bowler auf dem Kopf." Mike nickt zustimmend.

"Ja genau. Er sieht aus wie 'ne Fratze aus 'nem Horrorfilm."

"Ich weiß, wo sich die Kerle treffen", erklärt Toni. Umso besser, dann bleibt uns der Aufwand erspart, erst Informationen zusammentragen zu müssen. Dann ist dieser Job wenigstens schnell über die Bühne gebracht.
 

„Hier, die soll ich euch geben." Darla taucht auf einmal wie aus dem Nichts neben uns auf. Erschrocken zucke ich zusammen. Ich habe sie auf dem weichen Teppich gar nicht kommen gehört. Sie hält zwei schwarze Anzüge in der Hand, die fein säuberlich auf Bügel gehangen sind. Erik hält also Wort, die Arbeitskleidung bekommen wir von ihm.

"Wir haben hinten noch welche zum Wechseln. Wenn sie schmutzig werden, gebt sie einfach in unserer Wäscherei ab." Ich nicke verstehend. Als ich ihr die Anzüge nicht abnehme, legt Darla sie über den sauberen Teil des Tresens.

"Ab nächster Woche könnt ihr anfangen. Bis dahin laufen noch die Verträge unserer jetzigen Türsteher", erklärt sie und fügt an, "Um achtzehn Uhr geht es los und Feierabend ist, wenn der letzte Gast gegangen ist." Also alles wie gehabt!

"Da fällt mir ein: Erik hat mich gebeten euch das hier auszuzahlen. Euren Lohn bekommt ihr dann auch immer am Letzten des Monats bei mir", erklärt uns Mike und öffnet seine Kasse. Er zieht ein ganzes Bündel Eindollarscheine hervor. Er zählt uns dreißig davon ab und legt sie auf den Tresen. Ich nehme das Geld an mich. Fünfzehn Scheine reiche ich Toni, die Restlichen behalte ich. Während ich in den Taschen meiner Hose nach meinem Geldbeutel fische, zieht das Geschrei der beiden Gorillas meine Aufmerksamkeit auf sich:

"Was soll das heißen?"

"Wir arbeiten jetzt seit gut drei Monaten für dich! Es gab nie Klagen!" Sieht so aus als hätten die beiden gerade von ihrer Kündigung erfahren.

"Ach nein?", Eriks Stimmlage bleibt ruhig und gelassen, es ist nicht seine Art ausfallend zu werden. "Wenn ich mir meine Mädels so ansehe, ist nicht viel Verlass auf euch. Ihr könnt den Monat noch voll machen, dann seid ihr raus!"

"Du elender Geizkragen!"

"Jetzt reg dich nicht auf. Der findet nie so schnell Jemanden, der für den Hungerlohn arbeitet."

"Ich habe schon Ersatz für euch", entgegnet Erik trocken. Mit den Händen in den Hosentaschen kommt er ins Lokal zurück und setzt seinen Weg, mit einem zufriedenen Lächeln, fort.

"Du Missgeburt!"

"Elender Mistkerl! Bleib gefälligst stehen!"

"Wer soll das denn bitte sein?" Es dauert nicht lange, bis auch die beiden Gorillas rein stürmen. Sie sehen sich suchend im Lokal um und da Toni und ich noch immer die einzigen Gäste sind, dauert es nicht lange, bis ihre wütenden Fratzen auf uns anstarren.

"Die zwei halben Hemden etwa?", faucht der Schrank aufgebracht. Na, zumindest kann er eins und eins zusammen zählen und besitzt neben den aufgepumpten Muskeln auch noch ein Hirn. Etwas, dass ich ihm nicht zugetraut hätte. Erik winkt nur ab, er hat anscheinend kein Interesse an einer Diskussion und lässt sie stehen. Sein Pokerspiel wartet und so läuft er die Treppe zu den Tischen hinauf. Diesen Bereich dürfen nur seine engste Geschäftspartner betreten. Das scheinen die Gorillas zu wissen, denn sie wagen nicht ihm dorthin zu folgen. Ich rechne damit, dass sie nun murrend das Feld räumen und wende mich wieder meinem Teller zu. Erik kann froh sein diese aggressiven Idioten los zu sein. Solche Türsteher sind schädlich fürs Geschäft. Ich vermute, dass er ohnehin schon lange vorhatte, sie vor die Tür zu setzen, aber noch keinen brauchbaren Ersatz gefunden hat.
 

Eine große Hand legt sich auf meiner Schulter, irritiert wende ich mich um. Ich sehe die Faust nicht kommen, die mich mitten im Gesicht trifft und vom Hocker fegt. Bevor ich richtig begreife, was überhaupt passiert, finde ich mich auf dem Boden wieder. Orientierungslos schaue ich auf. Der Geschmack von Blut verteilt sich in meinem Mund, es läuft meinen Mundwinkel und mein Kinn hinab. Der hämmernde Schmerz folgt einige Sekunden später. Ich fahre mir mit dem Handrücken über die blutende Unterlippe, während sich der Zwei-Meter-Schrank vor mir aufbaut. Er knetet seine Fäuste durch und schaut belustigt auf mich herab.

"Und das soll unser Ersatz sein? Ist doch lächerlich!", lacht er. Mieses Schwein, einfach so ohne Vorwarnung zuzuschlagen. Sein Hieb war so heftig, dass mir noch immer schwindlig ist. Ich werde einen Moment brauchen, mich davon zu erholen.

Mein Blick fällt suchend auf Toni. Dieser hat Gabel und Messer in die Reste seines Fleisches gespießt. Sein Blick ist unheilvoll dunkel. Ich kenne diesen mordlüsternen Ausdruck in seinen Augen. Der Schrank weiß ja nicht, mit wem er sich hier anlegt!

"Ich hasse es, beim Essen gestört zu werden!" Ist das alles was ihn nervt? Dass dieser Schrank auf mich losgeht, stört ihn gar nicht? Ich rolle mit den Augen.

"Ach, du willst wohl auch aufs Maul, was? Keine Sorge, du kommst als Nächster dran!" Der Schrank legt Toni die Hand auf die Schulter und will ihn zu sich umdrehen. Das sollte er lassen!

"Pfoten weg!", knurrt mein Begleiter angriffslustig, doch der Gorilla lacht nur abfällig. Er nimmt die Hand nicht weg, sondern ballt seine zweite zur Faust. Als er zuschlägt, fängt Toni sie ab und zieht sie auf den Tresen. Der Schrank schaut überrascht und leistet keinen Widerstand. Mein Leibwächter nutzt diesen Umstand und greift nach dem Messer im Steak. Mit voller Wucht rammt er es dem Gorilla in den Handrücken. Dieser jault auf und zieht sich eilig einige Schritte von ihm zurück.

"Du Missgeburt!", keucht er, während er sich krampfhaft die verletzte Hand hält. Ich nutze die allgemeine Verwirrung, um mich unbemerkt wieder aufzurichten. Der Moment scheint mir günstig dem Scheißkerl seine Freundlichkeit von eben mit gleicher Münze zurück zu zahlen. Ich tippe ihm auf die Schulter. Als er sich nach mir umdreht, ramme ich ihm meinen Ellenbogen in den Magen. Er würgt und krümmt sich vor Schmerzen. Ich grinse ihn finster an, nun bin ich mit ihm auf Augenhöhe und hole aus. Ich verpasse ihm denselben Faustschlag ins Gesicht, den ich von ihm kassiert habe. Seine Unterlippe platzt auf und er gerät ins Wanken, wie ein Sack Kartoffeln kippt er um. Triumphierend sehe ich auf ihn herab und weide mich an seinem lächerlichen Anblick.

Er und sein Kollege sehen uns gleichermaßen erschrocken an. Mit einer wirklichen Gegenwehr haben sie anscheinend nicht gerechnet. Sie tauschen ratlose Blicke aus. Schließlich kommt Mr. Segelohren seinem Kollegen zu Hilfe und zieht ihn auf die Beine.

"Das werdet ihr mir büßen!", flucht der Schrank und spuckt auf den Boden. Er zieht das blutige Messer aus der Wunde und wirft es, wie einen Dolch nach mir. Ich drehe meinen Oberkörper gerade soweit zur Seite, dass es mich um Haaresbreite verfehlt. Es bleibt in der Wand hinter dem Tresen, zwischen zwei Weinflaschen stecken. Mich juckt es in den Fingern, diesen Scheißkerl über den Haufen zu schießen.

"Nicht in meinem Lokal!", höre ich Erik von oben rufen. Offensichtlich hat er meinen Griff zur Pistole bemerkt. Wie Schade!

"Brauchst du Hilfe?", will Toni beiläufig von mir wissen. Er ist noch nicht einmal aufgestanden oder hat sich umgedreht. Mit der Gabel stochert er in seinem Gemüse herum.

"Nicht nötig!" Die Sache ist bereits zu persönlich, um sie ihm zu überlassen.

"Was glaubt ihr denn wer ihr seid? Ich mache euch fertig!" Soll er doch kommen, ich rühre mich nicht vom Fleck.

"Nein, warte!" Mr. Segelohr zögert. Er mustert mich und Toni nachdenklich. Sein Blick wandert zu einem Bild, das hinter dem Tresen hängt. Es zeigt Erik, Mike, Toni und mich, in den Tagen, als wir hier noch als Türsteher gearbeitet haben. Damals sind wir zu zweifelhaftem Ruhm gelangt, weil wir das einzige Lokal schützten, das kein Schutzgeld zahlte.

Offensichtlich wurde noch immer darüber gesprochen.

"Die beiden sind Wölfe", vermutet Mr. Segelohr. Sein verletzter Kollege schaut verdutzt drein. Sein Blick ist zweifelnd. Erst als sein Freund ihn auf das Bild hinter dem Tresen aufmerksam macht, beginnt er zu begreifen.

"Ist mir doch egal! Ungeschoren kommt ihr mir nicht davon!" Ich schaue den Schrank unvermittelt an und verschränke die Arme vor der Brust. Seine Drohung macht mir keine Angst. Es dauert nicht lange, bis er unter meinem Blick hinweg sieht. Große Klappe, nichts dahinter!

"Lass uns gehen! Wir können uns nicht leisten den Lohn für eine ganze Woche zu verlieren", schlägt sein Kollege ihm vor, doch ich bin mir sicher, dass es nicht der eigentliche Grund ist. Zähneknirschend gibt der Schrank nach. Während er sich mit einem Taschentuch notdürftig die blutende Hand verbindet, folgt er Mr. Segelohr vor die Tür. Ich sehe ihnen noch einen Moment lang nach, bis ich mir sicher bin, dass sie auch wirklich draußen bleiben. Was für aufgeblasene Idioten.

Noch immer läuft Blut meine Lippe hinab, mit dem Handrücken wische ich es mir vom Mund.

"Scheiße!", fluche ich, als sofort frisches nach läuft. Ich bin kaum einen Tag in New York und schon ist mein Hemd blutbeschmiert. Zum Kotzen! Meine Wange beginnt bereits anzuschwellen, mein Unterkiefer schmerzt, wenn ich ihn bewege. Kraft hatte dieser aufgepumpte Scheißkerl. Es hat nicht viel gefehlt und ich wäre K.O. gegangen. Mein Blick wandert zurück auf Toni. Er hat sich noch immer nicht von seinem Hocker erhoben. In aller Seelenruhe isst er weiter. Mein Appetit ist mir inzwischen vergangen. Mich juckt es noch immer in den Fingern, jemandem über den Haufen zu schießen.

"Lass uns diese Bande ausschalten! Ich brauch jetzt jemanden, an dem ich mich abreagieren kann", schlage ich vor. Toni schlingt seinen letzten Bissen hinunter, dann wischt er sich mit einer Serviette den Mund ab. Er sagt nichts, dafür erhebt er sich und greift nach dem Gitarrenkoffer, den er vor dem Tresen abgestellt hat.

Als er mich erreicht, wischt er mir das neue Blut mit dem Daumen von der Lippe.

„Steht dir!“, meint er belustigt. Elender Idiot! Ich schlage seine Hand weg und raune ihn an: "Leck mich!" Um seinem blöden Grinsen zu entkommen, setze ich mich in Bewegung, gemeinsam verlassen wir das Lokal.

Vor der Tür treffen wir noch einmal auf die Gorillas. Sie weichen respektvoll einen Schritt zurück, als wir ins Freie treten. Ich schenke ihnen keine Beachtung und auch Toni sieht uninteressiert an ihnen vorbei. In einer Woche sind die beiden verschwunden und wir müssen ihre Gesichter hoffentlich nie wieder sehen.
 

Schon wieder U-Bahn fahren. Wie ich es hasse! Wäre es nicht einfacher, wir klauen uns irgendwo zwei Motorräder, als uns ständig in diese überfüllten Wagons zu quetschen? Warum müssen wir überhaupt so weit fahren? Hat Mike nicht behauptet diese Bande würde sich zwei Blocks weiter in einer Kneipe aufhalten? Warum sind wir dann auf dem Weg zum Hafen? Aus Toni ist nicht viel heraus zu bekommen. Er schweigt schon seit einer ganzen Weile und antwortet nicht auf meine Fragen. Mental bereitet er sich auf unseren Auftrag vor. Es ist typisch für ihn, dass er dabei immer ruhiger wird. Ich seufze und sehe aus dem Fenster des Wagons. Es ist lange her, dass ich jemanden getötet habe. Es ist keine besonders reizvoller Job, aber nötig, um in dieser Stadt etwas zu erreichen.

"Willst du alle umlegen, oder Michael eine Nachricht schicken?", will Toni auf einmal leise von mir wissen.

Eine gute Frage. Es wissen inzwischen schon so viele wichtige Menschen über meine Rückkehr Bescheid, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis auch Michael Kenntnis darüber erlangt. Vielleicht sollten wir stilvoll von selbst auf uns Aufmerksam machen? Andererseits bin ich noch weit von meiner ehemaligen Topform entfernt und einer offenen Konfrontation noch nicht gewachsen. Ich habe die letzten drei Wochen in Italien gerade erst wieder mit dem Training begonnen und meinen Appetit erst vor wenigen Minuten wieder gefunden. Dieser Auftrag könnte meine Kondition schon deutlich überstrapazieren. Ginge es nicht um Erik und unseren neue Job, würde ich mir mit den Auftragsmorden noch etwas Zeit lassen.

"Enrico?" Toni wartet noch immer auf eine Antwort.

"Wir legen sie alle um!", entscheide ich.
 

Toni führt mich zu den Docks, in ein leerstehendes Fabrikgelände. Es ist von einem zwei Meter hohen Drahtzaun geschützt. Am Tor hängt eine dicke Eisenkette, mit einem großen Schloss daran. Es ist unnatürlich still hier. Die Dunkelheit hat bereits eingesetzt und wir können auf dem Gelände kaum etwas erkennen. Nur zwei dunkelrote Automobile stechen uns ins Auge und verraten, dass wir hier nicht so allein sind, wie es den Anschein macht.

"Und, hast du schon irgendeinen Plan?" Toni sieht mich fragend an. Ich lasse meinen Blick über das unübersichtliche Gelände schweifen. Die Lagerhallen sind einfache Blechkonstruktionen. Es gibt keine Fenster und auch keinen Weg auf ihre Dächer. Ein Anschlag aus sicherer Entfernung ist somit ausgeschlossen. Es wird uns wohl oder übel nichts anderes übrig bleiben, als das Gelände auszukundschaften und sobald wir die Bande gefunden haben, einen Köder vorzuschicken. Im Zweifel bin das immer ich. Meine Nahkampftechniken sind ausgefeilter, als die von Toni, dafür kann er besser mit Schusswaffen umgehen und mir auf diese Weise Rückendeckung geben.

"Wir gehen rein und sehen uns erst mal um", schlage ich vor. Vielleicht tut sich ja noch ein sicherer Weg auf. Toni zeigt sich einverstanden. Wir überwinden den Zaun kletternd und verschwinden anschließend im Schatten der Halle, die uns am Nächsten ist. Ich vermute die Kerle eine Halle weiter, genau dort, wo ihre Autos parken. Ich deute Toni mit einem Fingerzeig an, dass ich dort hin will. Gemeinsam schleichen wir uns durch die Dunkelheit. Unbemerkt erreichen wir die nächste Lagerhalle. Vor ihr steht nur ein stämmiger Mann Wache. Seinen kahlen Hinterkopf ziert ein rotes Drachentattoo, das Gesicht ist gedrungen, mit weit vorstehenden Augenbrauen. Ich kenne die Glatze nicht. Entweder ist er ein zu kleiner Fisch oder neu.

Wenn wir sehen wollen, was sich in der Halle abspielt, müssen wir ihn wohl oder übel als Erstes aus dem Weg räumen. Ich deute Toni mit einem Schwenk meines Kopfes an, dass er das tun muss. Die Glatze ist zu groß für mich, um ihn lautlos zu überwältigen. Er versteht und stellt seinen Gitarrenkoffer lautlos ab, dann drückt er sich an mir vorbei. Ich bücke mich nach einem Stein und werfe ihn an die Hallenwand uns direkt gegenüber. Das scheppernde Geräusch erregt die Aufmerksamkeit der Glatze, er setzt sich in Bewegung. Mit langsamen Schritten kommt er in unsere Richtung. Toni zieht ein Messer aus seiner Hosentasche, er packt sich den Kerl von hinten, als er an uns vorbei kommt. Das Messer legt er ihm an die Kehle und zieht es durch seinen Hals. Kein Laut kommt dem Riesen über die Lippen, als er gurgelnd in die Knie geht. Das Messer hat ihm neben der Halsschlagader auch die Stimmbänder durchtrennt. Toni gibt ihm einen Stoß in den Rücken. Die Glatze fällt in den Schatten zwischen den beiden Lagerhallen. Dort kann er von mir aus liegen bleiben. Ich wende meinen Blick vom Todeskampf des Mannes ab und gehe wieder vor. Toni tauscht das Messer gegen seine Pistole und folgt mir. Auch ich ziehe jetzt meine Waffe, während ich mich mit dem Rücken zur Wand bis zum geöffneten Rolltor voran taste. Undeutliche Männerstimmen sind zu hören. Ich schätze, dass es sich um mindestens vier weitere Personen handeln muss. Um mir sicher zu sein, werfe ich einen vorsichtigen Blick in die Halle. Ich habe mich nur knapp verschätzt. Im Kreis stehend, kann ich fünf Männer erkennen. Der Asiat mit der Narbe im Gesicht bildet ihr Zentrum. Sie unterhalten sich, aber nicht miteinander. Ihre Körper verdecken eine sechste Person. Ich kann nur zwei Arme erkennen, die an ihren Gelenken mit dicken Ketten gefesselt sind. Sie sind weit nach oben ausgestreckt, während die Eisenkette hinauf zu einem Balken führen. Wer auch immer dort hängt, steht mit Sicherheit nicht mehr auf seinen eigenen Füßen. Wir sind mitten in ein Verhör geplatzt, wird mir schlagartig bewusst.

"Was ist los?", flüstert mir Toni zu. Er steht hinter mir und kann die Halle nicht einsehen.

"Sei still!", mahne ich ihn zur Ruhe. Ich will erst wissen worum es geht, bevor wir den Sauhaufen aufmischen. Angestrengt lausche ich und versuche etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen.

"Also noch mal von vorn Junge." Das Narbengesicht beginnt sein Opfer zu umkreisen. Erst jetzt kann ich den jungen Mann in ihrer Mitte sehen. Sein Oberkörper ist frei, er hat zwei Schusswunden, eine in der linken Schulter, die andere knapp über seiner rechten Leiste. Sein ganzer Körper ist mit blauen Flecken und tiefen Schnittwunden übersät. Doch erst sein Wolfstattoo auf dem Oberkörper lässt mir wirklich den Atem stocken. Das ist einer von meinen Männern. Ich sehe dem jungen Mann ins Gesicht. Sein Name fällt mir nicht ein, nur seine Aufgabe. Er war einer meiner Laufburschen, keine besondere Stellung, trotzdem sollte er als Wolf unter meinem Schutz stehen. Ich muss mich zur Ruhe zwingen. Bevor ich nicht weiß, was sie von ihm wissen wollen, werde ich nicht eingreifen.

"Wer ist der Begleiter des schwarzen Wolfes?", wird er befragt. Schwarzer Wolf? Sie meinen Toni. Also suchen sie nach mir? Die Unterwelt ist also schon in Aufruhr? Das ging schneller als mir lieb ist.

"Enrico?" Toni wartet noch immer auf eine Antwort.

"Fünf Kerle, sie haben einen von uns da drin", erkläre ich schnell. Tonis Blick wird finster.

"Schnell und schmerzlos?" Ich schüttle mit dem Kopf. Aus toten Männern bekommen wir nichts mehr heraus. Ich will wissen, wie viel sie schon über meine Rückkehr herausgefunden haben.

"Ich geh rein, du bleibst noch im Hintergrund. Greife erst ein, wenn es notwendig wird!", weiße ich ihn an und stecke meine Pistole in den Halfter zurück. Ich atme tief durch, um meinen rasenden Puls zu senken.

"Enrico!" Was denn noch? Toni ballt seine Hand zur Faust und streckt sie mir entgegen. Ich seufze. Das er ausgerechnet jetzt auf dieses alte Ritual zwischen uns bestehen muss. Etwas gereizt lege ich meine Faust an seine und sage: "Bis in den Tod ..."

"... und wieder zurück!", beendet er den Satz. Darf ich jetzt gehen? Toni sieht mich besorgt an.

"Pass auf dich auf!", fügt er hinzu. Ich rolle mit den Augen. Das ist nicht unser erster Auftrag in diesem Umfang. Ich weiß, was ich tue! Ohne Antwort setze ich mich in Bewegung. Meine Hände verstaue ich in den Hosentaschen. Ich will möglichst gelassen wirken, wenn ich diesen Mistkerlen gegenüber trete. Wie selbstverständlich betrete ich die Halle durch das Rolltor, ohne mir Deckung zu suchen.

"Schönen guten Abend, die Herren!", mache ich mit lauter Stimme auf mich aufmerksam. Alle Blicke richten sich auf mich. Selbst der junge Wolf hebt das geschwollene Gesicht. Ich zwinge meinen Atem zur Ruhe und bleibe gute fünf Schritte vor ihnen stehen. Zwei von fünf, tragen Schusswaffen in den Händen, die anderen scheinen auf den ersten Blick unbewaffnet, aber die Erfahrung sagt mir, dass sie irgendetwas verdeckt bei sich tragen. Keines der asiatischen Gesichter ist mir bekannt. Scheinbar gehören sie nicht zur Elite. Sie sind nur unwesentlich größer als ich und auch ihre körperliche Fitness lässt zu wünschen übrig. Das Narbengesicht hat einen gewaltigen Bauchansatz, während seine vier Verbündeten magre Jungspunde sind. Kleine Fische also, doch ich werde nicht den Fehler machen, sie zu unterschätzen. Zahlenmäßig sind sie uns immerhin überlegen.

Die Narbenfratze des Asiaten verzieht sich zu einem spöttischen Lachen. Er tritt näher an den jungen Wolf und fährt ihm mit dem Lauf seiner Pistole die Wange hinab. Mit der Zunge leckt er sich über die Lippe. Widerlich! Ich kämpfe die Wut in mir hinunter, ich muss jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Die Kerle bekommen ihre Strafe noch früh genug!

"Ein Freund von dir?" Der Junge schüttelt mit dem Kopf. In seinem Zustand ist es ihm unmöglich, mich auf diese Distanz zu erkennen. Gut so, so bleibt es an mir mich vorzustellen.

"Ich habe gehört ihr sucht jemanden!", sage ich laut und kraftvoll. Beiläufig ziehe ich meine rechte Hand aus der Tasche und lasse sie herabfallen. Meine Fingerspitzen berühren den Lauf meiner Pistole. Nun lachen alle fünf.

„Was bist du denn für ein Spaßvogel?" Der Asiat mit der Narbe, kommt einen Schritt auf mich zu. Er hebt den Arm und fuchtelt mit seiner Waffe herum. Glaubt er ernsthaft damit Eindruck auf mich zu machen? Ich gehe weiter, direkt auf die Männer zu. Im Augenwinkel fallen mir, kaum einen Meter von mir entfernt, einige Holzkisten auf. Sie bilden die einzige Deckung in meiner unmittelbaren Nähe. Ich merke mir diese Stelle und wende meine ganze Aufmerksamkeit den Männern zu.

"Ich bin der Begleiter des schwarzen Wolfes!", lasse ich sie wissen. Erst jetzt werden ihre Minen ernst. Sie versuchen die Situation neu abzuschätzen.

"Man, nennt mich den weißen Wolf!", verkünde ich und greife die Waffe in meinem Halfter. Ich werde schnell sein müssen, wenn sie die Nachricht verstanden haben. Doch sie sehen sich nur belustigt an.

"Der weiße Wolf ist tot!", entgegnet einer der jungen Asiaten. Er wird der erste sein, entscheide ich. Ich bleibe gut zwei Schritte vor den Kerlen stehen und drehe meinen Oberkörper seitlich von ihnen weg. So biete ich ihnen so kaum Angriffsfläche. Den Kerl, der gesprochen hat, sehe ich unentwegt direkt an. Angst spiegelt sich in den kleinen Mandelaugen. Gut so!

"Bist du dir da so sicher?" Seine Augen weiten sich. Seine Hand wandert unter sein Jackett. Ich ziehe meine Waffe, richte den Lauf auf seinen Kopf aus und drücke ab. Aus dieser Entfernung kann nicht mal ich verfehlen. Die Kugel durchbohrt seine Stirn und tritt aus seinem Hinterkopf wieder aus. Die Wucht des Schusses lässt ihn nach hinten umfallen. Im Augenwinkel kann ich sehen, wie das Narbengesicht seine Pistole hebt. Seine Hand ist mein zweites Ziel. Ich drehe mein Arm und schieße. Zwei Schüsse knallen durch die Halle. Seine Waffe fällt zu Boden. Er hält sich die getroffene Hand. Spätestens jetzt habe ich meine Schonfrist verspielt. Gleich drei Pistolen zielen auf mich.

Ich höre Schritte hinter mir und bin mir Tonis Anwesenheit bewusst, bevor ich ihn sehen kann. Er schießt und auch ich feuere meine Waffe ab. Er nimmt die zwei links von mir, ich den rechts. Zielsicher tötet Toni einen der beiden Asiaten, der andere kann rechtzeitig in Deckung gehen. Auch meine Kugel trifft, jedoch nur den Arm des Mannes. Das Chaos ist perfekt. Die Kerle springen auseinander und suchen Schutz hinter den Holzkisten.

"Das Narbengesicht will ich lebend!", rufe ich meinem Leibwächter zu, während ich nach rechts gehe und er nach links. Drei von den Scheißkerlen sind noch übrig. Ich suche Schutz hinter den Kisten, die ich mir schon zuvor als Deckung ausgesucht habe. Toni hingegen steigt auf zwei der Kisten auf der gegenüberliegenden Seite. Er will sich einen Überblick verschaffen und von oben schießen, doch dort wird er selbst ein leichtes Ziel abgeben. Ich werde ihn decken müssen, also lade ich schnell nach. Als ich fertig bin, nicke ich ihm zu, dann erst erklimmt er die letzte Kiste. Augenblicklich verlasse ich meine Deckung wieder. Toni schießt nach links. Er treibt einen der Asiaten aus seiner Deckung direkt vor den Lauf meiner Pistole. Ein Schuss in seine Brust und auch dieser Kerl ist keine Gefahr mehr. Nur noch zwei! Tonis Schüsse wechseln die Richtung. Ich spüre einen heftigen Schlag an meiner rechten Schulter, mein Muskel beginnt zu brennen. Ich beiße die Zähne zusammen. Nur ein Streifschuss, rede ich mir ein, doch ich habe genau gespürt, dass die Kugel stecken geblieben ist. Scheiß Asiaten! Ich suche den Mann, der auf mich geschossen hat, doch als ich ihn mit den Augen finde, fällt er mir schon tot vor die Füße. Bleibt nur noch das Narbengesicht. Doch wo steckt der Kerl? Es ist still geworden, selbst Tonis Pistolen schweigen. Er hat noch kein neues Ziel gefunden.

"Enrico!" Tonis Warnung kommt zu spät. Ich spüre eine scharfe Klinge am Hals und kann gerade noch so meinen Arm zwischen mich und den Angreifer schieben, um ihn daran zu hindern, mir die Kehle aufzuschlitzen.

"Du willst mich also lebend? Dann will ich dich tot! Sag deinem Wachhund, dass er da runter kommen soll!" Heißer Atem raunt mir in den Nacken und jagt mir eine Gänsehaut den Rücken hinab,trotzdem muss auflachen. Fühlt sich der Kerl wirklich so sicher, nur weil er mich als Schutzschild zwischen sich und Toni hält? Ich vertraue auf die Zielgenauigkeit meines Leibwächters, er ist der beste Schütze den ich kenne. Toni zielt auf uns und ich nicke ihm zu. Als sich sein Zeigefinger um den Abzug legt, drücke ich mich mit all meinem Körpergewicht gegen den Arm des Mannes. Er beugt sich mit mir und gibt so ein besseres Ziel ab. Die Klinge seines Messer verletzt die Haut an meinem Hals, doch den Kratzer nehme ich gern in Kauf. Ein einziger Schuss fällt. Die Kugel durchschlägt die Schulter des Mannes.

Ahhhrg!“, kreischt er auf, sein Arm gibt meiner Kraft nach. Ich packe ihn am Handgelenk und ziehe sie von meinem Hals weg, dann ramme ich ihm meinen Ellenbogen in den Magen. Als er sich vor Schmerzen krümmt, werfe ich ihn über die Schulter. Seine Hand lässt das Messer los. Es schlägt auf den Boden auf und rutscht weit von uns weg. Die Finger des Asiaten greifen nach meinem rechten Hemdärmel. Sie krallen sich daran fest. Der Stoff reist, die Nähte geben nach. Gemeinsam mit dem Narbengesicht, fällt auch der Ärmel zu Boden und gibt meinen blanken Oberarm frei. Der Blick des Mannes bleibt an meinem Tattoo hängen. Ein Wolfskopf mit der Aufschrift LEADER darunter.

"Du bist es wirklich", haucht er atemlos. Krampfhaft fasst er nach seiner verwundeten Schulter und drückt das Einschussloch zu. Blut quillt zwischen seine Finger hindurch. Sein Atem geht stoßweise. Er muss ahnen, dass er hier nicht mehr lebend raus kommt.

"Sehr richtig! Doch du wirst niemanden mehr davon erzählen können." Toni ist die Kisten herabgestiegen. Er tritt hinter den Asiaten, richtet den Lauf auf dessen Kopf und drückt ab. Die Kugel durchdringt die Schläfe des Mannes, er kippt um und bleibt regungslos liegen.

"Ich wollte ihn lebend!", knurre ich wütend. Jetzt werde ich nie erfahren, was sie wussten.

"Ich aber nicht!", entgegnet Toni mit todernster Miene. Anscheinend hatte er noch eine persönliche Rechnung mit diesem Kerl offen. Ich seufze. Jetzt ist es sowieso zu spät. Das Blut des Mannes verteilt sich bereits unter unseren Füßen. Ich atme durch. Das Adrenalin jagt noch immer durch meine Adern und lässt meine Haut kribbeln. Ich schließe für einen Moment die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Ein Brennen zieht sich durch meine Schulter, der stechende Schmerz nimmt immer mehr zu, je weiter sich mein Pulsschlag beruhigt. Warmes Blut strömt meinen Arm hinab und tropft von meinen Fingern. Verdammt, ich hätte vorsichtiger sein müssen. Ich bin einfach nicht mehr so schnell und wendig, wie früher. Einige Male atme ich tief durch, bis ich spüre, wie Toni mir etwas fest um Schulter und meinen Oberarm bindet. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich zwei mal getroffen wurde.

"Die Kugel steckt noch drin, wir müssen das behandeln lassen", sagt er streng. Na toll! Dann steht heute Abend also auch noch ne OP an? Ich bin begeistert! Langsam öffne ich die Augen und senke meinen Blick, bis er an dem jungen Wolf hängen bleibt. Er rührt sich nicht. In seinem Oberkörper klaffen etliche Schusswunden. Er konnte dem Kugelhagel unser Feinde nicht, wie wir, ausweichen. Ich bin mir sicher, dass er inzwischen tot ist. Meinen Blick wende ich von ihm ab. Statt mich um ihn zu kümmern, knie ich mich zu dem toten Asiaten.

"Willst du ihn da hängenlassen?" Toni sieht den jungen Wolf mitleidig an.

"Ja!", entgegne ich ihm emotionslos. Wenn wir ihn mitnehmen, weiß jeder dass es Wölfe waren, die zu seiner Rettung kamen. Das gibt nur unnötige Vergeltungsschläge. Außerdem, was sollen wir mit seiner Leiche anfangen?

Ich schaue in den Taschen des Toten nach und finde einen Wagenschlüssel und eine Geldbörse. Den Wagenschlüssel stecke ich ein, die Geldbörse sehe ich durch. Die Fächer sind voller Zwanzig und Fünfzig Dollarscheine. Grob geschätzt vierhundert Dollar. Ich nehme sie an mich und werfe die Geldbörse achtlos neben den Toten. Das Geld können wir gut gebrauchen. Ich beschließe dasselbe bei den restlichen Männern zu tun. Während ich ihre toten Körper nach Wertsachen durchsuche, geht Toni zu dem jungen Wolf. Ich beobachte ihn dabei, wie er nach dem Puls des Jungen an dessen Hals fühlt. Seinem betrübten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte ich Recht, er ist bereits tot. Toni fährt ihm mit den Fingern über die geöffneten Augen und schließt sie. Ich kann nicht nachvollziehen warum er das tut. Lebendig macht es den Jungen auch nicht mehr und seine Ehre hatte er schon verloren, bevor wir hier ankamen. Ich stecke die letzten Geldscheine ein, die ich gefunden habe, dann erhebe ich mich.

"Lass uns verschwinden!", schlage ich vor. Toni folgt mir nur widerwillig. Ich sehe ihm an, dass er den Jungen nur ungern so zurück lässt. Das er bei so etwas immer so sentimental werden muss.

Bei seinen Verletzungen hätte er es eh nicht mehr lange gemacht und tot nützt er uns nichts. Auf unserem Weg über das Gelände kommen wir an den Autos der Bande vorbei. Ich bleibe stehen und sehe sie mir einen Moment lang an. An ihnen ist nichts Besonderes. Schade, dass es keine Motorräder sind.

"Sieh du denn rechts durch! Ich nehme den hier", weise ich Toni an und werfe ihm einen der beiden Schlüssel zu, die ich gefunden habe. Er fängt ihn auf und nickt mir zu.

Ich gehe zu dem größeren der beiden Automobile und öffne mit dem Schlüssel die Beifahrertür. Im Handschuhfach kann ich nichts finden und auch auf den Sitzen liegen keine Wertsachen, also wende ich mich dem Kofferraum zu.

Ich finde einen schwarzer Aktenkoffer. Was sich wohl in ihm befindet? Neugierig öffne ich die Verschlüsse und klappe den Deckel auf. Säuberlich nebeneinander aufgereihte Geldbündel. Jackpot! Ich nehme eines der Bündel heraus und sehe es durch. Grob geschätzt hundert Dollar. Zwanzig solcher Bündel liegen in dem Koffer, also zweitausend Dollar. Kein schlechter Schnitt für unseren ersten Auftrag. Ich lege das Bündel zurück, klappe den Koffer zu und nehme ihn an mich, dann gehe ich zu Toni. Er hat das Handschuhfach durchgesehen und nichts Wertvolles gefunden. Als ich bei ihm ankomme, öffnet er gerade den Kofferraum. Wir sehen beide hinein. Neben einem Benzinkanister ist er leer. Schade! Ich hätte nichts gegen noch so ein Geldkoffer gehabt.

"Willst du die Autos mitgehen lassen?", will Toni von mir wissen. Ich schüttle mit dem Kopf und drücke ihm den Koffer in die Hand. Beim Anblick des Benzinkanisters kommt mir eine andere Idee. Ich schraube den Deckel ab und hebe ihn aus dem Auto. Die stinkende Flüssigkeit verteile ich um die beiden Fahrzeuge, lege eine Spur bis in die Lagerhalle und eine zweite wieder hinaus zu dem toten Mann im Schatten. Die letzten Reste kippe ich über ihn und werfe den leeren Kanister zu seinen Füßen, dann sehe ich zu meinem Begleiter zurück. Er versteht wortlos und wirft mir sein Feuerzeug zu. Als ich damit den Leichnam in Brand stecke, kommt er zu mir. Wir sehen den Flammen dabei zu, wie sie sich auf den Spuren des Benzins ausbreiten. Mit dem Aktenkoffer in der einen und der anderen Hand in der Hosentasche, bleibt Toni neben mir stehen.

"Kommt einem irgendwie bekannt vor", sagt er. Ich verziehe das Gesicht und wende meinen Blick von den Flammen ab.

"Los verschwinden wir von hier!", schlage ich vor und setze mich in Bewegung. Toni holt noch seinen Gitarrenkoffer, den er im Schatten der Lagerhalle zurück gelassen hat, dann folgt er mir. Unsere Arbeit hier ist getan, den Rest wird das Feuer erledigen.

~Zu heiß geduscht~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Aarons Erbe~

Sicher war alles nur ein Traum. Dieses -Ich liebe dich- aus seinem Mund, das habe ich mir bestimmt nur eingebildet. Sobald ich die Augen auf mache, ist er verschwunden. Er haut immer nach dem Sex ab.

Ich höre sein Herz schlagen, ganz ruhig und gleichmäßig. Die Luft ist angefühlt von seinem holzig wilden Duft. Sein Oberkörper hebt und senkt sich gleichmäßig unter mir. Unsere Finger sind noch immer ineinander verhakt. Ich wage es die Augen zu öffnen.

Es ist wirklich Tonis Hand, da unter meiner. Er ist noch hier? Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. So lange habe ich mir einen Moment, wie diesen gewünscht, dass es mir jetzt unwirklich vorkommt. Ich kann meinen Blick einfach nicht von unseren verhakten Fingern lassen. Wir gehören zusammen. Dieses Mal ist es nicht nur so ein unbestimmtes Gefühl in mir, dass ich bei Seite schieben muss. Dieses Mal ist es greifbar. Ich schmiege mich eng an ihn und genieße seinen warmen Körper, seinen Herzschlag, den Duft seiner Haare. Könnte die Welt doch nur aufhören sich zu drehen und in diesem Moment verharren. Mehr brauche ich nicht zum Glücklich sein.

Wie lange wir wohl schon hier liegen? Ist er einfach zu erschöpft gewesen, um zu verschwinden, oder ist er gern bei mir? Tonis Finger ziehen sich um meine zusammen, sein Herzschlag wird schneller. Ist er wach?
 

Geräusche auf dem Flur. Jemand kommen hier her. Oh, bitte nicht, nicht jetzt! Ich erkenne Raphael schon am Klang seiner Schritte. Verflucht, ich habe vergessen die Tür abzuschließen! Er bleibt stehen und drückt die Klinke. Jeder Muskel in Tonis Körper spannt sich an. In mir keimt eine dunkle Vorahnung.

Raphael öffnet die Tür, seine Haltung ist angespannt, als er sich im Zimmer umsieht. Er findet uns schließlich übereinander auf dem Bett liegend. In dieser Position dürften nicht mehr viele Fragen offen bleiben, aber es ist auch nicht das erste Mal, dass er uns so findet. Der Blick meines Bruders wird erst kritische, dann wütend.

"Sagt mal, habt ihr beide zu heiß geduscht?"

Tonis Finger lösen sich aus meine. Er dreht sich so ruckartig, dass er mich von seinem Rücken wirft. Sein gehetzter Blick geht an Raphael vorbei, er wagt nicht ihm ins Gesicht zu sehen.

"Raphael! Verschwinde!", fauche ich, in der Hoffnung meinen Bruder zum Schweigen zu bringen und fische nach meiner Unterhose, die neben dem Bett liegen geblieben ist. Als ich sie endlich gefunden habe, ziehe ich sie mir hastig über.

"Ich denk nicht daran! Ich habe lange genug weggesehen. Verflucht noch mal! Ihr beide seid keine Schwuchteln! Ihr habt Frau und Kinder. Denkt doch auch mal an die! Das was ihr hier tut ist krank und pervers!" Ich schlucke schwer, diesen Vorwurf höre ich nicht zum ersten Mal von ihm. Kann er uns damit nicht endlich in Ruhe lassen? Toni zieht sich eilig die Hose hoch und schließt den Knopf. Dann rutscht er an den Rand des Bettes.

"Toni, warte!", versuche ich ihn aufzuhalten, doch er hört mir nicht zu. Er wirft nicht einen Blick zurück, als er an Raphael vorbeirennt. Verdammt noch mal, dass macht alles kaputt. Ich könnte so kotzen!

"Konntest du nicht einfach deine Klappe halten?", schreie ich meinen Bruder an. Auch ich klettere aus dem Bett und laufe zur Tür. Ich muss ihm hinterher. Absichtlich stoße ich Raphael an der Schulter an, als ich an ihm vorbei stürme. Er soll mir ja aus dem Weg gehe!

"Du bleibst schön hier! Wir haben zu reden!" Seine Hand packt mein Armgelenk. Ich komme nicht los. Verdammt! Toni verschwindet im Wohnzimmer, gleich darauf knallt dir Haustür zu. Energisch zerre ich an Raphaels festem Griff.

"Lass mich los! Bitte!", flehe ich ihn an. Ich muss ihm nach! Er wird sich dafür hassen, dass er mich schon wieder so unsittlich berührt hat. Ich muss ihm sagen, dass es mir nichts ausmacht, dass ich jeden Moment genossen habe. Doch der Blick meines Bruders bleibt unverändert.

"Zieh dich gefälligst an!", knurrt er und zerrt mich in das Gästezimmer zurück. Er stößt mich hart zu meinen verstreuten Kleidungstücken und lässt meine Hand los. Ich falle rücklings auf den Boden und sehe entsetzt zu ihm auf. Was ist denn in ihn gefahren?

"Sieh dich doch mal an!" Ich verstehe überhaupt nicht, was er meint. "Deine Hände und Knie sind blutig, die Nähte an deinem Arm sind aufgeplatzt und du hast überall blaue Flecke! Der Kerl bringt dich noch mal um!" Ich sehe an mir hinab. Raphael hat Recht, meine Knie und Hände habe ich mir auf dem rauen Teppich aufgeschürft, mein Arm ist mit getrocknetem Blut verkrustet und ich habe tatsächlich überall blaue Flecke. Aber es stört mich nicht. Die Nummer mit ihm war geil. Die Spuren davon heilen wieder. Ich liebe es nun mal auf die harte Tour, was kann ich denn dafür? Ich ziehe die Beine eng an den Körper und sehe unter dem wütenden Blick meines Bruders hinweg. Er muss mir nicht immer wieder vor Augen führen wie 'unnormal' das ist.

"Enrico!" Raphael kommt zu mir, er geht vor mir auf die Knie. Der Zorn in seinen Augen weicht Sorge. "Ich habe schon immer etwas gegen eure Freundschaft gehabt, das ist kein Geheimnis. Seinetwegen wollen dich die Drachen töten, nur wegen ihm bist du zu einem Mörder geworden. Das ist schon schlimm genug. Aber ..." Seine Hand greift nach meinem Kinn. Er hebt es an und sieht mir in die Augen. "... es geht einfach zu weit, dass er dich auch noch vergewaltigt." Was? Ich schlage Raphaels Hand von meinem Gesicht weg.

"Erzähl nicht so einen Scheiß! Ich liebe den Sex mit ihm. Es gefällt mir, okay! Ich steh selbst auf den Schmerz, wenn er es ist, der ihn mir zufügt“, gebe ich das erste Mal ganz offen zu. Ich muss das einfach los werden, damit er endlich aufhört, Toni dafür verantwortlich zu machen, immerhin bin ich genau so schlimm wie er. Raphael sieht mich entsetzt an, seine Augen weiten sich, sein Mund verzieht sich vor Ekel.

"Das ist krank! Hat dieser Kerl dich jetzt auch noch mit dieser verfluchten Krankheit angesteckt? Muss ich dich erst einweisen lassen, damit das aufhört?" Ich will doch gar nicht das es aufhört! Das alles ist meine Sache, es geht ihn nichts an!

"Misch dich doch nicht ständig in meine Angelegenheiten ein!", schreie ich ihn an. Raphaels Blick bleibt unverändert. Er macht sich nichts aus meinen ernsten Worten. Bei diesem finsteren Ausdruck in seinen Augen muss ich unwillkürlich schlucken. Ich fühle mich wieder, wie in unserer Kindheit, als er für mich Vater, Mutter und Bruder zugleich war. Verdammt, nein! Ich bin jetzt erwachsen und ich weiß, was ich tue und was ich will!

"Toni kommt mir hier nicht mehr rein und du scherst dich in die Praxis und lässt dich versorgen!", fügt er streng an. Was? Spinnt er jetzt völlig?

"Wenn er hier nicht mehr rein darf, verschwinde auch ich!", entscheide ich ganz klar. Ich will aufstehen, gehen und sehen, ob ich Toni noch einholen kann. Was wenn er irgendwas Dummes anstellt? Er kommt noch viel weniger mit diesen Vorwürfen klar, als ich. Mit aller Kraft zwinge ich mich auf die Beine.
 

Ein heftiger Schlag trifft mich mitten im Gesicht und schickt mich zurück auf den Boden. Ich greife nach der getroffenen Wange und sehe Raphael erschüttert an. Es ist Jahrzehnte her, das er mich geschlagen hat. Wofür war das? Ich schaue fragend. In seinen Augen lese ich Wut und Sorge. Er packt meinen verletzten Arm und dreht meinen Kopf am Kinn so, dass ich ihn mir ansehen muss.

"Schau dich an, verflucht noch mal! Gestern wärst du uns fast verblutet und jetzt ist dein ganzer Arm entzündet, die Nähte sind auf und du willst diesem Mistkerl hinterher? Toni ist alt genug, er kommt auch ohne dich klar. Sie zu, dass du dich um dich selbst kümmerst!"

"Du verstehst das nicht", versuche ich vergeblich dagegen zu halten. Was kümmern mich all die Verletzungen? In mir schmerzt etwas ganz anderes.

"Ich verstehe sehr gut. Dieser Kerl hat unsere Freundlichkeit schon immer ausgenutzt und mit Füßen getreten. Als Kind hat er sich bei uns durchgefressen und jetzt benutzt er dich für seine abartigen Triebe. Merkst du gar nicht, dass er dich nur ausnutzt?"

"Gar nichts verstehst du. Du hast überhaupt keine Ahnung von unseren Gefühlen! Glaubst du wir können uns das aussuchen?" Wir haben beide seit Jahren dagegen angekämpft, aber es ist nun mal, wie es ist.

"Weißt du wie scheiß egal mir das ist? Du wirst diesen widerlichen Kerl nicht mehr wieder sehen und gut!" Wieso nur redet Raphael so abfällig über ihn? Ich habe sie für Freunde gehalten.

„Aber ich liebe ihn!“, halte ich vergebens dagegen.

"Erzähl nicht so einen Mist. Du bist verheiratet und hast Kinder. Du hast schon die halbe Frauenwelt dieser Stadt flach gelegt! Was willst du da von einem Kerl?“ Das ist doch was völlig anderes. Mir eine Frau zu unterwerfen ist doch nicht das Selbe.

„Du hast Verantwortung. Du bist Anführer eines Clans und wenn es nach Aaron geht, bald Pate der Locos. Was glaubst du machen diese Kerle mit dir, wenn sie herausfinden, dass es ihr Chef mit Männern treibt?" Ich schlucke schwer. Das alles will ich nicht hören. Er soll endlich aufhören damit! Ich kann ja jetzt schon kaum noch die Tränen zurück halten.

"Sei einfach still!", knurre ich und ziehe die Beine noch enger an den Körper.

"Nein, ich war lange genug still." Raphael kniet sich vor mich. "Ich werde dich nicht noch einmal beerdigen, da lieber lege ich ihn um." Er meint das ernst, das sehe ich in seinen Augen. Verdammt, wann hat er nur angefangen Toni so zu hassen? Das hat er nicht verdient. Ja, er ist schwierig und unberechenbar und ein verdammter Idiot, aber er würde sein Leben für Meines geben. Zählt das denn gar nicht?

"Was schreit ihr hier so herum?" Susen steht in der Tür. Sie schaut durch das verwüstete Zimmer. Ihr Blick sagt alles. Sie hasst es, meinetwegen aufräumen zu müssen.

"Hör auf zu heulen! Er vergießt für dich auch keine Tränen. Und jetzt steh auf!", fordert Raphael mich auf. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich mich gegen die Tränen nicht mehr wehren konnte. In mir tobt das Chaos, ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll. Als ich nicht sofort seiner Aufforderung nachkomme, zieht er mich auf die Beine, grob stößt er mich von sich.

„Zieh dich an!“, fordert er streng. Ich schniefe und blinzle die Tränen weg, dann sehe ich mich nach meiner Hose um. Wie ferngesteuert hebe ich sie auf und siehe sie an. Raphael wartet nicht ab, bis ich auch mein Hemd gefunden habe. Grob packt er mich am Arm und schiebt mich in Susens Richtung.

"Nimm ihn mit und schau dir seine Verletzungen an, bevor ich ganz meine Geduld mit ihm verliere", knurrt er und sieht verächtlich auf mich herab. Ich wage nicht mehr aufzusehen, oder gar zu protestieren.

Susen legt ihre Hand auf meine Schulter und schiebt mich in den Flur. Ich gebe ihr kampflos nach. Als sie mich überholt und voraus geht, folge ich ihr, ohne einmal aufzusehen. Ich weiß das mein Bruder mit allem Recht hat, aber warum ist mir das so scheiß egal? Selbst wenn meine eigenen Leute mich dafür umlegen würden, ich würde das Risiko in Kauf nehmen, nur um bei Toni sein zu können. Vielleicht bin ich ja wirklich krank!

Susen führt mich in die Praxis und deutet auf den Stuhl neben der Pritsche. Schon wieder diese Folterkammer. War ich ihr nicht eben erst entkommen? Es lässt sich nicht mal leugnen, dass Toni schuld daran ist, dass ich jetzt wieder hier bin. Ich setze mich und betrachte meinen zerschundenen Körper. Wir haben es wirklich ganz schön übertrieben, aber ich bereue es nicht.

Susen setzt sich mit einem zweiten Stuhl vor mich. Sie behandelt Wortlos meine Wunden, ich ertrage es ebenso stumm. Das erste Mal überhaupt liefern wir uns keinen Kampf dabei. Der Sturm in meinem Inneren ist hundert Mal schmerzhafter, als ihr Desinfektionsmittel. Ich zucke noch nicht einmal zusammen, als sie meine Schulter näht.

"Raphael meint es nicht so. Er macht sich nur Sorgen", sagt sie mit ungewohnt sanfter Stimme. Ich sehe sie irritiert an. Sie setzt ein freundliches Lächeln auf, dann wendet sie sich wieder meiner Schulter zu.

"Man konnte euch bis ins Wohnzimmer hören." Ich schlucke. Waren wir wirklich so laut?

"Ich habe ja schon immer gewusst, dass da was zwischen euch läuft. Ein Blinder hätte das gesehen, aber das es so ernst ist ..." Ich schaue unter ihrem Blick hinweg. Meine Wangen werden ganz warm, sicher bin ich jetzt rot angelaufen.

„Eigentlich müsste ich dich dafür einweisen lassen, das ist dir schon klar, oder?“ Ich seufze nur und glaube an dem fetten Kloß zu ersticken, der sich mir in die Kehle zwingt.

„Weißt du eigentlich, was du meiner Schwester damit antust? Du kannst heil froh sein, das Vater davon nichts weiß! Er würde dich ohne mit der Wimper zu zucken abknallen!“ Furchtsam sehe ich zu ihr auf. Sie wird es ihm doch nicht etwa erzählen, oder? Susen sieht mich nicht an, konzentriert näht sie meine Wunde.

"Liebst du meine Schwester überhaupt?", will sie schließlich wissen. Ich atme erschwert durch. Mit dem Gedanken habe ich mich lange nicht mehr befasst. Judy habe ich bisher nur einmal kurz im Hof unserer Fabrik gesehen. Doch auch dieser flüchtige Moment hat gereicht, mein Verlangen nach ihr zu wecken. Ich kann mich gut an die ersten Wochen unserer Beziehung erinnern. Wir sind kaum aus dem Bett gekommen. Sie war die Erste, der ich über ein Jahr lang treu geblieben bin. Das ist mir davor nie passiert. Ich liebe sie, aber es ist anders als mit Toni. Das mein bester Freund eine Freundin hat, kümmert mich wenig, ich weiß, dass sie nur sein Alibi ist. Bei Judy hingegen macht mich schon der Gedanke krank, dass sie in zwischen wieder mit ihrem Ex-Freund zusammen ist. Ein Umstand, den ich in naher Zukunft zu ändern gedenke. Sie soll nur mir allein gehören. Ich will sie besitzen, von Toni hingegen, bin ich besessen. Ach, verdammt! Warum muss das alles so kompliziert sein? Ich raufe mir die Haare.

„Ich weiß es nicht“, gestehe ich kleinlaut.

Susen berührt mich an der Schulter. Ihre Finger legen sich vorsichtig über den Verband, den sie gerade angelegt hat.

"Du kannst nicht ewig so weiter machen. Irgendwann, wirst du dich entscheiden müssen." Ich sehe sie erschrocken an. Mir wird klar, dass sie recht hat, aber ich weigere mich seit Jahren, diese Entscheidung zu fällen. Es ging bisher auch so, irgendwie.

Susen steht auf, sie packt das restliche Verbandszeug zusammen und wirft die blutigen Tupfer in den Müll, dann geht sie. Ich seufze schwer und fühle mich ganz plötzlich von aller Welt verlassen.
 

Ich sitze noch lange völlig geistesabwesend auf dem hölzernen Stuhl. Wenn es wirklich darauf ankäme, für wen von beiden würde ich mich entscheiden? Mit Judy habe ich eine Zukunft, sie ist die Mutter meiner Kinder. Mit Toni hingegen ist das Leben ein einziger Kampf. Höchstwahrscheinlich werden wir unsere Gefühle nie gefahrlos ausleben können. Trotzdem, ich kann einfach nicht ohne ihn. Wenn es nach mir ginge, würde ich jeden Nacht so verbringen, wie eben. Ach scheiß drauf! Vielleicht bin ich morgen schon tot! Ich habe doch nichts zu verlieren! Mir sitzen hier so viel Feinde im Nacken, das es nicht mehr darauf ankommt, weswegen man mich verfolgt.

Ich schaue in einen kleinen Spiegel, der an der Wand über der Pritsche hängt. Meine Augen sind heute eisblau, das sind sie schon lange nicht mehr gewesen. Wenn ich mich nicht wohl fühle, sind sie graublau. Toni tut mir einfach gut, ganz gleich, wie der Rest meines Körpers aussieht. Verbände sind sowieso ein gewohntes Bild für mich. Das gehört zu mir, genauso wie meine Gefühle für ihn. Meine Aufmerksamkeit wandert zur Kette um meinen Hals. An ihr ist ein Stein in Form eines Wassertropfens befestigt. In seiner Mitte ist eine Wolfspfote eingraviert. An meinem zwanzigsten Geburtstag, habe ich sie von Toni geschenkt bekommen. Seit dem habe ich sie nicht mehr abgenommen. Selbst beim Angriff der Drachen, später im Krankenhaus und auch in Italien, sie war immer bei mir. Ich greife nach dem Stein und befühle seine glatte Oberfläche, während ich mir im Spiegel dabei zusehe. Es muss aufhören! Ich habe es satt mir Vorschreiben zu lassen, was gut für mich ist oder wer ich sein soll. Ich bin ich, wie alle Welt damit klarkommt, ist nicht mein Problem. Das Versteckspiel hat lange genug gedauert. Sollen ruhig alle sehen, dass ich wieder da bin! Ich habe lange genug Angst gehabt. Angst mit Toni erwischt zu werden, Angst von den Drachen erschossen zu werden, Angst Michael zu begegnen. Genug! Ich erhebe mich vom Stuhl und setze mich in Bewegung. Entschlossen verlasse ich Susens Praxis und folge dem Flur bis ins Wohnzimmer. Raphael und seine Frau sitzen auf dem Sofa. Mein Bruder liest gerade die Tageszeitung. Er schaut auf, als er mich kommen hört und betrachtet mich noch immer wütend. Ich wende mich demonstrativ von ihm ab. Auch Susen, die an einer Tasse Kaffee nippt, lasse ich links liegen. Vor ihnen werde ich mich nicht mehr erklären, das ist vorbei.
 

Ich laufe die Treppe hinauf, gehe ins Bad und werfe die Tür geräuschvoll hinter mir zu. Wird Zeit das ich diese ganze Maskerade loswerde!

Wo bewahrt mein Bruder wohl sein Rasierzeug auf? Ich schaue mich im Badezimmer um und werde schließlich im Spiegelschrank fündig. Raphaels Rasiermesser, ein dicker Pinsel und ein Fläschchen Rasierschaum. Ich schäume mir das Gesicht ein und beginne mit der Rasur. Nach einigen säuberlichen Zügen, sind alle Haare von Kinn, Wange und Oberlippe verschwunden. So ganz langsam erkenne ich mich wieder. Zufrieden wasche ich mir die Reste des Schaumes vom Gesicht und trockne es mit einem Handtuch. So ist es schon viel besser!

Ob Raphael auch noch etwas zum Färben da hat? Er selbst färbt sich seine schwarzen Haare blond. Meine natürliche Haarfarbe ist zwar etwas dunkler, aber ich habe nicht die Geduld darauf zu warten, dass die schwarze Farbe von allein heraus wächst. Zwischen einigen Flaschen auf dem Wannenrand finde ich tatsächlich etwas. Ein Glück ist mein Bruder so eitel und färbt sich jeden beginnenden Haaransatz sofort nach. Daran hat nicht mal ihre finanzielle Krise etwas geändert. Ich schmunzle und trage das Mittel auf. Es muss einige Zeit einwirken, also entscheide ich mich in der Zwischenzeit ein Bad zu nehmen. Die Spuren der Nacht mit Toni, kleben noch immer an mir. Kein angenehmes Gefühl. Während das warme Wasser in die Wanne läuft, nehme ich die Verbände von meiner Schulter und dem Oberarm ab und ziehe mir die Hose und Unterhose aus, dann schaue ich mir im Spiegel meine Verletzungen an. Die Schulter ist knallrot und geschwollen, der Streifschuss hingegen ist nur leicht gerötet. Von ihm wird nur eine kleine Narbe übrig bleiben. Alles halb so schlimm. Auch meine Unterlippe ist nicht mehr geschwollen. Die eingerissene Stelle heilt bereits. Was macht Raphael nur für einen Aufstand? Ich sah schon wesentlich schlimmer aus.
 

Nach dem heißen Bad fühle ich mich gleich wie neu geboren. Auch meine Haare sind inzwischen wieder blond und ich kann das Mittel auswaschen. Geföhnt und durcheinander gewuschelt, sind sie endlich wieder so, wie ich sie immer getragen habe. Ich lege den Verband an und erledige die restliche Körperhygiene im Eiltempo, dann kehre ich mit einem Handtuch um die Hüften ins Wohnzimmer zurück. Wieder ziehe ich die Aufmerksamkeit von Susen und Raphael auf mich, doch noch bevor ihren fragenden Blicken Worte folgen können, ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. Meine Klamotten sind bereits vom Boden verschwunden. Auch das Bett ist gerichtet, nur meine Pistole mit ihrem Halfter liegt noch dort. Nichts deutet mehr darauf hin, dass Toni und ich hier geschlafen haben. Susen hat wirklich einen Reinlichkeitstick. Aber davon mal abgesehen ist alles noch so, wie ich es in Erinnerung habe. Ein Bett, Nachttisch und ein großer Kleiderschrank. Mehr Möbel gibt es nicht. Ob im Kleiderschrank noch meine Klamotten hängen? Neugierig halte ich auf ihn zu und öffne die Türen. Tatsächlich. Es ist alles noch da. Meine Hemden, die Hosen, einige Jacketts, sogar meine weiße Lederjacke und der weiße Mantel sind noch da. Ich freu mich wie ein kleines Kind und krame Unterwäsche, Socken, ein schwarzes Hemd und eine weiße Hose heraus. Beim Anziehen fällt mir allerdings auf, das die Hose viel zu groß ist, sie rutscht mir im Stehen von den Hüften. Auch in dem Hemd hänge ich, wie in einem weiten Jutesack. Unvorstellbar, dass ich diese Sachen einmal ausgefüllt habe. Nicht nur mein Körperfett ist unter dem langen Hungern verschwunden, auch ein Großteil meiner Muskelmasse. Ich werde nicht drum herum kommen, mich völlig neu einzukleiden. Doch jetzt habe ich nichts anderes. Ich suche im Schrank nach einem geeigneten Gürtel. Das letzte Loch ist gerade eng genug, um die Hose nicht beim Laufen zu verlieren. Erschreckend! Ich muss unbedingt wieder mehr trainieren und regelmäßig essen. Wie auf ein geheimes Stichwort beginnt mein Magen zu knurren. Meine letzte Mahlzeit bei Erik ist schon wieder eine halbe Ewigkeit her. Ob Raphael was Leckeres gekocht hat? Ich werde gleich mal in der Küche nachsehen.

Zuvor greife ich noch einmal in den Kleiderschrank. Ob mir auch meine Lederjacke zu groß ist? Ich ziehe sie heraus und betrachte den Wolfskopf auf ihrer Rückseite. Es ist derselbe, den ich als Tattoo auch auf meinem Oberarm trage. Ihm und dem weißen Mantel, verdanke ich meinen Spitznamen. Während Toni stets in Schwarz gekleidet ist, mag ich den weißen Kontrast zu ihm. Die Jacke muss einfach noch passen. Ich ziehe sie über. Meine Arme gehen in den Ärmeln unter. Muss ich die jetzt etwa auch neu anfertigen lassen? Wie ärgerlich!

"Enrico! Telefon für dich!" Susens Stimme schrillt aus dem Flur bis hier her. Ein Anruf? Für mich? Wer will den bitte mit mir reden? Für Toni ist es noch zu früh, sich nach all dem zu melden. Oder? Ich lasse die Jacke an und nehme meine Pistole vom Bett. Erst als ich sie mir wieder um den Oberschenkel geschnallt habe, verlasse ich das Zimmer. Susen steht im Flur vor einem kleinen Schuhschrank. Auf ihm steht ein Telefonapparat. Den Hörer hält sie in der Hand und streckt ihn mir entgegen.

"Wer ist das?", will ich von ihr wissen. Susen antwortet nicht. Sie sieht mich irritiert an. Meine äußeren Veränderungen sind nicht zu übersehen.

"Willst du wirklich so ..."

"Ja!", entgegne ich ihr kurz und nehme ihr den Höher aus der Hand. Ich will nicht diskutieren.

"Ja?", sage ich in die Sprechmuschel und ignoriere Susens besorgten Blick.

"Enrico! Wir müssen reden!" Aaron? Hat Susen ihn angerufen? Sie wird ihm doch nicht etwa von mir und Toni erzählt haben. Kritisch betrachte ich sie, doch Susen lächelt freundlich.

"Ja, das müssen wir", pflichte ich Aaron zu und versuche mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

"In einer halben Stunde bist du bei mir!" Wie ich diesen Befehlston hasse. Ich lass mich nur ungern hetzten.

"In zwei Stunden! Ich hab noch nicht mal was gegessen."

"Du hast 30 Minuten! Ich sage Jester Bescheid, dass er dir was fertig machen soll ..." Aufgelegt! Mit Aaron kann man einfach nicht diskutieren. Wie soll ich denn bitte in einer halben Stunde in Manhattan sein? Selbst mit dem Taxi ist es unmöglich, sich um diese Zeit durch den Berufsverkehr zu quetschen. Ich bräuchte schon ein Motorrad, um rechtzeitig da zu sein. Warum muss bei Aaron immer alles sofort sein? Ist er etwa so sauer, dass er nicht warten will, um mich über den Haufen zu schießen?

"Was wollte er?", will Susen wissen. Weiß sie das nicht? Hat sie ihm nichts gesagt? Dann war es wohl Aaron, der angerufen hat und nicht sie ihn. Sie und Raphael machen sich scheinbar wirklich nur Sorgen um mich und würden mir niemals in den Rücken fallen. Ich bin erleichtert und antworte mit deutlich festerer Stimme: "Ich soll in einer halben Stunde bei ihm sein." Ihre Augen weiten sich. Auch ihr ist klar, dass das unmöglich zu schaffen ist.

"Sag mal bist du jetzt völlig übergeschnappt? Wenn du dich unbedingt erschießen lassen will, dann male dir doch gleich ein Zielscheibe auf den Rücken." Raphael kommt zu uns. Er sieht mich schon wieder mit diesem herablassenden Blick an. Das nervt!

"Das mit der neuen Identität, war die Idee von dir und Toni, nicht meine. Es ist sowieso nur noch eine Frage der Zeit, bis die Drachen von meiner Rückkehr Wind bekommen, dann muss ich auch irgendwie damit klar kommen." Raphael schweigt. Habe ich ihn wirklich so leicht überzeugen können?

"Na, zumindest siehst du jetzt wieder, wie mein kleiner Bruder aus." Wieso schaut er jetzt so stolz. Ich werde aus dem Kerl einfach nicht schlau.

"Musst du nicht los?", erinnert Susen mich. Ich habe fast vergessen, dass ich ja schon in einer halben Stunde bei Aaron sein soll.

"Wo will er denn hin?" Raphael sieht seine Frau fragend an. Von dem Telefonat hat er scheinbar nichts mitbekommen.

"Mein Vater will ihn schon in einer halben Stunde sehen."

"Kann ich dein Auto haben?" Ich werde damit zwar niemals pünktlich sein, aber immer noch schneller als zu Fuß. Raphael lächelt mich verschwörerisch an. Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Heißt das nun ja oder nein? Er geht zurück ins Wohnzimmer und kommt mit einem Schlüsselbund zurück.

"Mein Auto bekommst du nicht, aber du kannst das hier haben." Neben fünf silbernen Schlüssel, baumelt ein Anhänger in Form einer goldenen Pistolenkugel an einem Ring. Ich kenne diesen Schlüsselbund, aber ist er es wirklich? Toni hat doch behauptet, sie hätten alle Fahrzeuge verkaufen müssen. Vor lauter Erstaunen bekomme ich den Mund nicht mehr zu.

"Fang!" Raphael wirft mir den Schlüsselbund zu. Er ist es tatsächlich. Der Schlüssel für mein Motorrad. Unbändige Freude ergreift von mir Besitz.

"Er hat es nicht übers Herz gebracht, es zu verkaufen", berichtet Susen mit einem Lächeln im Gesicht.

"Es war das letzte Fahrzeug, an dem wir zusammen geschraubt haben", fügt er hinzu. Ich kann einfach nicht anders. Ich laufe zu ihm und falle ihm um den Hals.

"Danke, danke, dank!"

"Übertreibe nicht so, du erwürgst mich noch." Da muss er jetzt durch. Ich drücke ihn noch einmal besonders fest, dann will ich aufgeregt wissen: "Wo ist es? Hast du es gut gepflegt? Ist der Tank voll?" Meine Worte überschlagen sich. Endlich, endlich kann ich wieder Motorrad fahren. Die zwei können sich nicht vorstellen, wie sehr mir das die letzten Jahre gefehlt hat.

"Es steht in der Garage. Ich hab's ein bisschen aufgemotzt. Der Motor hat jetzt doppelt so viel PS und hey ..." Noch während Raphael redet, laufe ich ins Wohnzimmer. Gleich rechts neben der Haustür ist eine weitere Tür. Sie führt in die Garage. Was Raphael verändert hat, will ich nicht hören, sondern mit eigenen Augen sehen. Mein geliebtes Motorrad, ich will es streicheln, es fahren, ihm ein Kleid kaufen! Ich muss über meine eigenen Gedanken schmunzeln und reiße die Tür auf. In der Garage wütet das übliche Chaos. Überall liegt Werkzeug und alte Farbeimer verstreut. An der Wand links von mir hängen zwei Fahrräder. Raphaels Wagen scheint draußen geparkt zu sein, denn neben einer großen grünen Plane, kann ich nichts weiter ausmachen. Es muss also unter dieser Plane versteckt sein? Zielstrebig halte ich darauf zu. Raphael folgt mir. Als ich die Plane erreiche, hat er mich eingeholt. Gemeinsam packen wir an und heben sie ab. Tatsächlich, da steht es. Auf Hochglanz poliert. Die Reifen sind neu, das Profil ist noch tief und der Gummi schwarz. Die haben sich noch nie auf einer Straße gedreht. Die Felgen sind verchromt und selbst der schwarze Lack ist eindeutig neu aufgetragen. Ich kann keinen einzigen Kratzer erkennen. Bei meiner Fahrweise ein Unding.

"Ich dachte ihr habt kein Geld?" Die ganzen Schönheitskorrekturen müssen eine ganze Stange gekostet haben und wenn Raphael sogar den Motor überholt hat, möchte ich nicht wissen, was für ein Wert inzwischen in dieser Maschine steckt.

"Das waren alles Teile, die bei mir in der Werkstatt über waren. Und Farbe und Reifen habe ich auf Vorrat, wie du weißt."

"Du meinst du hast einen Haufen Schrott in meiner Maschine verbaut?" Ich sehe Raphael kritisch an.

"Für dich nur den besten Schrott", lacht er.

"Er hat die letzten zwei Wochen an nichts anderem mehr herum geschraubt. Ich hatte mich schon gewundert. Vorher hat er die Plane ganze fünf Jahre lang nicht runter genommen und dann so einen Aufwand." Susen tritt zu uns und betrachtet das Motorrad kritisch. "Du brauchst nicht denken, dass ich ihn in der Zeit mal zu Gesicht bekommen habe. Essen und Trinken durfte ich ihm hier her bringen." Ja, so kenne ich meinen Bruder. Wenn er sich an einem Fahrzeug fest gebissen hat, findet er kein Ende mehr. Selbst wenn Susen ihm nackt vor der Nase herum springen würde, Raphael würde sie nicht einmal bemerken. Aber ich bin auch nicht viel besser. An diesem Motorrad ist kein einziges Teil von einem Fließband gekommen. Wir haben es von Grund auf gemeinsam geplant und gebaut. Wenn Raphael nun auch noch die Leistung verdoppelt hat, dürfte kein Motorrad in ganz New York mit diesem hier mithalten können. Damit schüttle ich jeden Verfolger mit Leichtigkeit ab. Doch grau ist alle Theorie. Ich will es testen und sehen, zu was der zusammen gebastelte Schrotthaufen wirklich in der Lage ist. Während Raphael die Garage für mich öffnet, setze ich mich auf das Motorrad. Der Ledersitz ist viel weicher, als ich ihn in Erinnerung habe. Ob er auch ausgetauscht wurde? Ich greife in eine Tasche meiner Lederjacke und finde darin meine Schutzbrille. Gut das sie noch da ist, sie wird meine Augen vor Insekten und dem schneiden Fahrtwind schützen. Nachdem ich sie aufgesetzt haben, ziehe ich die Kupplung und starte den Motor. Erfahrungsgemäß erwarte ich ein lautes Geräusch, doch der neue Motor schnurrt nur leise. Das ist ungewohnt aber auf seltsame Art faszinierend. Bei Gelegenheit muss Raphael mir ganz genau erklären, was er verändert hat.

"Wenn ich wieder zurück bin, bügeln wir die neuen Macken zusammen aus", schlage ich vor und trete den Ständer zurück.

"Du glaubst ernsthaft, dass die Maschine noch Mängel hat?" Aber sicher. Wenn Raphael allein daran herum geschraubt hat, übersieht er immer etwas.

"Ohne mich hast du noch nie ne Karre zusammen gebaut, die einwandfrei funktioniert hat." Ich kann es einfach nicht lassen ihn zu necken, auch wenn ich weiß, dass er ein ausgezeichneter Mechaniker ist. Sein grimmiger Blick ist es einfach wert.

"Los verschwinde Kleiner!", brummt er und deutet nach draußen. Nichts lieber als das. Ich trete das Fußpedal in den ersten Gang und lasse die Kupplung kommen. Das Motorrad rollt los.

"Warte!" Seufzend ziehe ich die Kupplung wieder an, bis das Motorrad steht. Was will Susen denn noch? Ich will endlich auf die Straße und Gas geben.

"Kannst du denn meinem Vater geben? Da ist das Geld drin, was wir ihm noch schulden." Sie reicht mir einen dicken Umschlag.

"Meinst du nicht, wir sollten den persönlich hinbringen?"

"Wenn er doch eh schon mal dort ist."

"Ich mach schon", erkläre ich mich bereit und stecke den Umschlag ein, "Sonst noch was?"

"Ja, es wäre nett wenn du ihn wegen Robins Verschwinden aufklären könntest. Er macht sich wirklich Sorgen um sie."

"Mach ich!" Auffordernd sehe ich Susen an. Mir juckt es in den Fingern, ich will endlich los. Sie nickt schließlich und auch Raphael tritt einen Schritt zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich gebe die Kupplung wieder frei und ziehe am Gas. Das Motorrad prescht nach vorn. Die neue Beschleunigung überrascht mich. Ich bekomme den Lenker gerade noch so in eine gerade Haltung, um meinen Bruder nicht umzufahren. Das ist echt mehr als erstaunlich. Auf dem Highway werde ich sie erst einmal richtig ausfahren müssen, um mich an den neuen Fahrstil zu gewöhnen.

"Sie zu dass du es nicht bei der ersten Fahrt schon zu Schrott fährst!", ruft Raphael mir nach, als ich an ihm vorbei rausche.

"Das ist mein Motorrad, ohne Kratzer erkennt das doch gar keiner!", entgegne ich und halte auf die Straße zu. Ich fädele mich in den Verkehr ein und bin froh, dass die Lücken groß genug sind, um gleich zwei Gänge hoch zu schalten. Vielleicht schaffe ich es ja doch noch pünktlich zu sein. Damit wird Aaron sicher nicht rechnen.
 

Gut zwanzig Minuten später habe ich das Anwesen erreicht. Der neue Motor hat die Maschine auf 100 km/h beschleunigt. Das sind zwanzig mehr als die üblichen Modele und wäre der Verkehr nicht so dicht gewesen, wäre sicher noch mehr drin.

Noch immer jagt mir das Adrenalin vom Geschwindigkeitsrausch durch die Adern. Meine Haut kribbelt, die Haare an meinem Unterarm haben sich aufgestellt. Als ich vom Motorrad steige und die Brille abnehme, zittern meine Beine. Ich bin echt nichts mehr gewöhnt!
 

Lautes Gebell und Pfoten, die über den Boden traben. Scotch und Brandy kündigen sich schon von weitem an. Heute sind sie also nicht im Zwinger, dann erwartet Aaron scheinbar nur mich allein.

Ihre Ruten pendeln wild hin und her, als sie aus dem Schatten der Tannen auftauchen. Sie springen gegen den Zaun und versuchen ihre Köpfe zwischen die Streben hindurch zu quetschen. Immer wieder stoßen sie sich gegenseitig weg, um mir so nah wie möglich zu sein. Die beiden sind einfach die besten Hunde der Welt. Ich ziehe den Schlüssel vom Motorrad ab und laufe zum Tor. Die Dobermänner folgen mir mit lautem Gebell. Ich freue mich schon darauf ihnen das glatte Fell zu raufen. Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden sie aussehen wie Plüschhunde.

Vor dem großen Tor bleibe ich stehen. Die Dobermänner verstummen. Scotch setzt sich rechts Brandy links vom Tor. Nur ihre wehenden Ruten verraten noch ihre Aufregung. Sie wissen also noch, was ich ihnen mit viel Mühe beibringen musste. Als Kind habe ich Aarons Hund immer heimlich mit Hotdogs bestochen, wenn sie im Zwinger waren und wir ihn besucht haben. Irgendwann konnte ich sie streicheln und sie verloren ihren Willen mich in Stücke zu reißen. Dafür gingen sie in meinen Taschen auf Futtersuche. Ich hatte nichts dagegen, dass ihre Begrüßung darin bestand, mich zu Boden zu reißen und neben meinem Gesicht und den Händen, auch noch all meine Taschen abzulecken. Aber Aaron fand, dass es für ein Mitglied der Locos unschicklich sei, sich mit den Wachhunden am Boden zu wälzen und so verbrachte ich etliche Nachmittage damit, die Hunde dazu zu bringen, mich ohne diese Begrüßung ins Haus zu lassen. Jetzt wissen sie, was sich gehört.

Ich schaue meinen Schlüsselbund durch und finde tatsächlich den Langen für das Tor. Wie praktisch, dass ich ihn wieder habe. So brauche ich nicht mal klingeln. Ich öffne das Tor und schließe es nach mir wieder. Scotch und Brandy sitzen noch immer brav an Ort und Stelle. Doch sie treten von einer auf die andere Pfote. Eigentlich wollen sie mich umrennen, aber sie wagen es nicht, bis ich ihnen die Erlaubnis erteile.

„Na kommt her, ihr Kuschelhunde!“ Das lassen sich die beiden nicht zwei mal sagen. Freudig bellend umrunden sie mich und versuchen mir das Gesicht zu lecken.

Ich kann einfach nicht anders, ich geh vor ihnen auf die Knie und packe mir jeden einzeln. Fest umarme ich sie am Hals und knete ihren Kopf durch. Es dauert nicht lange, bis ihre Haar in alle Himmelsrichtungen abstehen. Ich muss über ihren Anblick lachen und wuschle noch kräftiger durch ihr Fell. Den Hunden scheint es zu gefallen, denn sie bellen fröhlich. Während sich Brandy raufen lässt, durchwühlt die Schnauze von Scotch die Taschen meiner Lederjacke. Als er dort nicht fündig wird, durchsucht er meine Hose. Er ist eindeutig der Verfressenere von beiden.

"Ich hab heute nichts für euch", versuche ich ihm begreiflich zu machen, aber er scheint anderer Meinung zu sein. Um ihm von meiner Hose loszubekommen, nehme ich seine Schnauze in beide Hände und wuschle über seinen Kopf. Er lässt es sich gefallen und versucht meine Hände ab zu lecken.

Brandy Schnauze schiebt sich unter meinen Arm. Eifersüchtig sucht sie ebenfalls meine Aufmerksamkeit. Wenn man die beiden so sieht, kann man sich gar nicht vorstellen, dass sie eigentlich scharfe Wachhunde sind, die ausgebildet wurden, jeden Fremden zu zerreißen.

"Ihr seid viel zu liebe Kuschelhunde, ja das seid ihr." Ich kraule beide ein letztes Mal, dann erhebe ich mich. Während ich dem Kiesweg zum Anwesen folge, laufen die Hunde mir nach. Brandy hat sich mittlerweile beruhigt, sie läuft friedlich neben mir her. Scotch hingegen ist weiterhin auf Futter aus und springt immer wieder bellend neben mir in die Luft, um auf sich aufmerksam zu machen. Als er nicht aufhört, bleibe ich stehen. Ich sehe den Hund ernst an, strecke den Arm weit aus und sage streng: "Ab!" Augenblicklich bleibt Scotch stehen. Er sieht mich an, als wenn er fragen wollte, ob das mein ernst ist. Als ich meine Haltung nicht verändere, zieht er den Schwanz ein und entfernt sich einige Schritte von uns. Es funktioniert also noch. Ich bin begeistert. Als ich meinen Weg wieder fortsetze, wagt Scotch es nicht den Abstand zu mir zu verringern. Obwohl ich so viel Jahre weg war, haben die Hunde nichts von dem vergessen, was ich ihn ihnen beigebracht habe. Sie sind wirklich erstaunlich. Ich weiß gar nicht, warum Aaron immer so unzufrieden mit ihnen ist.

Als ich die Treppe zum Anwesen besteige, bleiben beide Hunde vor der letzten Stufe sitzen. Ich schaue sie irritiert an. Dieses Verhalten ist mir neu. Dürfen sie etwa nicht mehr ins Haus? Das wäre wirklich schade, die beiden sind im Winter tolle Fußwärmer. Ich laufe bis zur Tür und sehe noch einmal zurück. Tatsächlich, die Hunde wagen es nicht mir zu folgen. Seltsam! Ich zucke mit den Schultern und öffne die Haustür mit einem anderen Schlüssel. Mir kommt es so vor, als wenn ich endlich wieder nach Hause kämme. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich der einzige im Clan, der einen Schlüssel zum Haus des Paten besitzt. Aaron hatte wirklich großes mit mir vor. Warum ist mir das damals nicht bewusst geworden? Ich hätte ahnen müssen, dass er mich als Nachfolger wollte.
 

Der Flur ist leer, dafür liegt der Duft von Tee und Rührei in der Luft. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ob das für mich ist? Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und werfe die Haustür nach mir zu, dann folge ich dem Duft, zwei Türen weiter, in die Küche.

Auf einem unscheinbaren Holztisch steht ein silbernes Tablett. Auf ihm ist bereits eine Tasse Tee, Besteck und ein Teller mit Speck und Rührei angerichtet. Jester steht in der rechten Hälfte des Raums, vor der Küchenzeile und schneidet mühsam eine Scheibe Brot vom Ganzen ab. Seine Hand zittert unter der Anstrengung, während das Messer kaum vorankommt. Wäre es nicht langsam mal an der Zeit für ihn, in Rente zu gehen? Das kann man sich ja nicht mit ansehen. Ich schüttle mit dem Kopf und gehe zu ihm.

"Lass mich das machen!" Ich greife nach seiner Hand, die das Messer hält und nehme es ihm ab. Bevor er die Scheibe geschnitten hat, bin ich längst verhungert. Jester sieht mich erstaunt an. Er überlässt mir bereitwillig das Messer, während er wissen will: "Enrico? Wie bist du hier rein gekommen?" Ich halte ihm den Schlüssel hin und grinse breit.

"Hiermit!" Er nickt verstehend.

"Du solltest erst mal zum Master hoch gehen. Er wartet schon, ich bring das in der Zwischenzeit ins Esszimmer." Jetzt macht er mir auch noch Stress. Ich schüttle mit dem Kopf.

"Der kann warten, ich bin am Verhungern. Außerdem, bis du die Treppen hoch bist, ist alles kalt." Ich stelle mir Jester mit dem Tablett in der Hand vor, wie er quälend langsam die Stufen erklimmt. Nein, ich tu uns beiden einen Gefallen damit, gleich hier zu essen.

"Du willst wirklich hier an diesem schäbigen Tisch essen?"

"Warum denn nicht? Machst du doch auch." Ich nehme die beiden Brotscheiben, die ich abgeschnitten habe und setzte mich an den Tisch. Das Tablett ziehe ich zu mir. Ungläubig beobachtet Jester mich dabei. Aaron würde sich nie dazu herablassen hier zu essen. Da lieber sitzt er allein an seinem riesigen Esstisch. Dort kämme ich mir verloren vor.

"Setzt dich doch!", fordere ich Jester auf. Er steht so verloren in der Küche, dass es mir schon fast Leid tut.

"Das steht mir nicht zu." Immer diese Förmlichkeiten.

"Jetzt setz dich! Du machst mich nervös, wenn du so verloren dort rum stehst." Der alte Butler wäscht sich die Hände und trocknet sie mit einem Tuch, dann kommt er zu mir. Seine Knie knacken, als er sich setzt und den Stuhl zurecht rückt.

"Wo hast du denn deinen Leibwächter gelassen?" Jester sieht mir beim Essen zu. Will er denn nicht selbst ein paar Bissen zu sich nehmen. Ich reiche ihm die zweite Scheibe Brot, doch er hebt abwehrend die Hand. Es scheint ihn schon genug Überwindung zu kosten, bei mir zu sitzen. Ich lasse ihm seinen Willen.

"Keine Ahnung, wo der sich rum treibt. Wir hatten Stress mit meinem Bruder. Ich denke so schnell sehe ich ihn nicht wieder."

"Du solltest in dieser Gegend nicht ohne Begleitschutz unterwegs sein."

"Ich kann schon auf mich aufpassen."

"Das sehe ich." Jester greift nach meinem Hemdkrangen. Seine zitternden Finger schieben ihn ein Stück nach unten, bis er einen Teil des Verbandes freilegt. Sicher hat er bemerkt, dass ich meinen Arm schone und mit links esse. Er verzieht das Gesicht mahnend. Ich rolle mit den Augen und widme mich wieder dem Essen. Jester schweigt von nun an. Ein offener Tadel steht ihm nicht zu. Daran könnte ich mich gewöhnen.

Es wird bedrückend still, nur die Standuhr im Flur macht Geräusche. Das ist ungewohnt. Sonst wuselt hier immer jemand im Haus umher und macht etwas sauber.

"Wo ist eigentlich der Rest vom Dienstpersonal?" Auch beim letzten Besuch hier, habe ich weder ein Zimmermädchen noch einen Gärtner oder sonst jemanden gesehen, der sich um die Pflege des Anwesens kümmert.

"Wir haben alle entlassen müssen." Ich sehe Jester ungläubig an.

"Das heißt du bewirtschaftest dieses riesige Anwesen ganz allein?" Er nickt. Ich bin sprachlos. Das ist selbst als junger Mensch nicht zu schaffen.

"Das ist doch kein Zustand!", empöre ich mich.

"Es geht schon irgendwie." Das glaube ich ihm nicht. Seine Augen haben tiefe Ringe. Jester wirkt kraftlos und überarbeitet. In der Küche stapelt sich das Geschirr. Auf den Schränken liegt eine dicke Staubschicht. In dem Tempo, in dem er das Brot scheidet, wird er sicher auch abwaschen und Staub wischen. Mal von den restlichen Arbeit, die im Haus anfallen, ganz zu schweigen.

"Ich rede mal mit Aaron. Du brauchst wenigstens ein Zimmermädchen oder ne Küchenhilfe, die dir zur Hand geht. Dann muss er eben mal ne teure Zigarre weniger rauchen." Jester schmunzelt sagt aber nichts. Er würde es niemals wagen, sich zu beschweren oder ein schlechtes Wort über seinen Herrn verlieren. Ich hingegen werde bestimmt kein Blatt vor den Mund nehmen.
 

"Ist Aaron in seinem Büro?" Jester nickt. Ich trinke den Rest des Tees aus und erhebe mich. Jetzt wo ich gesättigt bin, beginnt die Frage in mir zu brennen, warum Aaron mich her bestellt hat. Es gibt so vieles, was wir miteinander besprechen müssen. Hoffentlich lässt er mich wenigstens dieses Mal zu Wort kommen.

Den Flur entlang, die Treppen hinauf. Ich bin mit den Gedanken schon mitten im Gespräch. Als ich die Tür zum Büro öffne, stößt mir der Qualm von etlichen Zigarren entgegen. Ich rümpfe die Nase. Das er immer so viel qualmen muss, wenn er wartet. Mit der Hand wedle ich den unmittelbaren Rauch vor meiner Nase weg, dann trete ich ein.

"Klopf gefälligst an!", raunt mich Aaron mit tiefer Stimme an. Ich belächle seinen Versuch mich zu erziehen. Langsam müsste er doch wissen, dass bei mir Hopfen und Malz verloren ist.

"Wozu? Ich klingle ja nicht mal, wenn ich deine Villa betrete."

"Raus! Klopf an!"

"Lass den Mist! Warum wolltest du mich sprechen?" Können wir die Höflichkeitsfloskeln nicht einfach überspringen? Aaron macht eine abfällige Handbewegung, dann deutet er auf den Sessel vor seinem Schreibtisch. Ich komme seiner Aufforderung nach und nehme vor ihm Platz.

"Du bist zu spät!" Ich schaue auf die Uhr. Ja, ganze fünf Minuten. Wie schlimm! Will er mich testen, oder warum legt er so viel Wert auf diese ganzen Kleinigkeiten?

"Ich konnte nicht an der Küche vorbei gehen. Es roch einfach zu lecker."

"Dann hast du dir erst mal den Bauch vollgeschlagen?"

"Ich habe dir gesagt ich hab noch nichts gegessen und dafür, dass ich in zwanzig Minuten von Raphael bis hier her gebraucht habe, kann ich mir das ja wohl erlauben." Aaron sieht mich kritisch an, sagt aber nichts mehr. Er kramt aus seinem Schubfach etwas heraus und wirft es auf meine Seite des Schreibtisches.

"Unterschreibe das!" Über den Stapel Papiere legt er einen Füllfederhalter. Jetzt bin ich es, der ihn kritisch ansieht. Erwartet er wirklich, dass ich irgendetwas ungelesen unterschreibe, was er mir gibt? Ich werfe einen flüchtigen Blick über die erste Seite des Dokumentes. In Druckbuchstaben ist ganz oben Adoptionsurkunde zu lesen. Ein finsteres Lächeln legt sich auf mein Gesicht, das ich mir nicht verkneifen kann. Ist das sein ernst? Sein Gesichts ist regungslos, während er an seiner Zigarre pafft. Er beobachtet mich, studiert meiner Reaktion. Ich lehne mich im Sessel zurück.

"Vergiss es!" Aaron schläft das Gesicht ein. Er öffnet den Mund leicht, während ihm der Qualm der Zigarre über die Lippe rollt.

"Das war keine Bitte!" Das war mir schon klar, aber meine Antwort bleibt die gleiche. Irgendetwas ist faul an der Sache und ich traue meiner Intuition mehr als ihm. Es geht gar nicht um die Adoption. Hinter seinem Drängen steht etwas anderes und ich ahne auch schon was.

"Wer ist hinter dir her? Irgendjemand hat es auf dein Leben abgesehen, oder?" Aaron zieht sich in seinen Sessel zurück. Er beginnt zu husten. Vor Schreck hat er den Qualm eingeatmet anstatt ihn nur zu paffen. Ich sehe ihn unverändert fragend an und warte darauf, dass er sich davon erholt.

"Ich habe nichts dergleichen angedeutet." Das braucht er auch nicht.

"Ach komm schon. Wenn du selbst Toni in Betracht ziehst, obwohl ihm wahrscheinlich bei seiner Vergangenheit keiner folgen wird, musst du schon sehr verzweifelt sein." Aaron sieht zur Seite weg. Er knirscht mit den Zähnen. Dass ich Recht habe, gibt er nur ungern zu.

"Na schön, du Klugscheißer! Es stimmt, meine Zeit läuft ab. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, sind gleich mehrere Anschläge auf mich geplant, um die Locos endgültig handlungsunfähig zu machen. Ich habe meine Fühler zwar ausgestreckt, aber du weißt selbst gut genug, dass man sich nicht vor allem schützen kann. Ich brauche einen fähigen Nachfolger, für alle Fälle." Ich atme schwer durch und versuche das Gehörte einzuordnen. Aaron hat schon einige Anschläge frühzeitig abgewandt. Er hatte einflussreiche Verbündete, in Wirtschaft und Politik, selbst unter der Polizei. Doch dieser ganze Schutzmantel scheint inzwischen gebröckelt zu sein. Ich verstehe seine Sorge, aber ...

"Aaron, bei allem Respekt, aber für mich ist es noch zu früh." Nicht das ich den Gedanken nicht reizvoll finde, der Chef der Locos zu werden, aber nicht jetzt.

"Was willst du damit sagen?" Aarons Stimme zittert. Er versucht vergeblich sie unter Kontrolle zu halten. Ist die Gefahr wirklich so allgegenwärtig? Trotzdem, so wie die Dinge jetzt stehen, kann ich ihm nicht helfen.

"Ich bin fünf Jahre weg gewesen. Ich kann nicht einfach wieder auftauchen und so tun, als wenn nichts gewesen wäre. Mein Clan ist zerschlagen, ich weiß noch nicht mal, wer noch am Leben ist. Welchen Clan soll ich dir zur Seite stellen, wenn da gar keiner mehr ist? Außerdem muss ich mir meinen Respekt erst mal wieder verdienen und vor den anderen drei Clanchefs bestehen, bevor ich auch nur daran denken kann, das hier zu unterzeichnen. Ich habe auch keinen Bock ins Gras zu beißen, nur weil die anderen drei sich für fähiger halten deinen Platz einzunehmen. Mal ganz davon zu schweigen, dass du mit meinem Erzfeind zusammen arbeitest. Ich kann nicht mit dem Menschen verhandeln, der mich umlegen wollte." Aaron schweigt, er sieht mich mit einer Mischung aus stiller Begeisterung und Erstaunen an. Ich stoppe meine Ausführungen und frage verwirrt: "Was ist denn?"

"Du bist erstaunlich." Ich schaue fragen. Was will er damit sagen? "Du widersprichst mir völlig ungeniert und weißt mich dabei auch noch zu überzeugen." Ach ja, tue ich das? Ich habe doch nur meine Gedanken dazu ausgesprochen. Ich kann doch nichts dafür, dass sich das sonst keiner in seiner Gegenwart traut.

"Das heißt also, wenn ich den Pakt mit den Drachen breche und du deinen Clan und Einfluss wieder aufgebaut hast, nimmst du mein Angebot an?" Er kann es nicht lassen, darauf herum zu reiten. Na schön, wenn er es nicht anders will, stell ich halt meine Bedingungen: "Wenn ich deine erste und einzige Wahl bin, dann ja."

"Überheblich bis zum Schluss." Aaron schüttelt mit dem Kopf. Ich bin mir nicht sicher, ob er das aus Anerkennung oder Widerwillen tut. Er steckt sich eine neue Zigarre an. Seine Haltung entspannt sich. Er wirkt wieder so souverän, wie ich es von ihm gewohnt bin.

"Ich war schon nah daran zu vergessen, warum ich dich gewählt habe." Ach ja? Mich würde brennend interessieren, was seine Gründe waren. "Aus dir wird mal was Großes", sagt er mehr zu sich. Ob das sein ernst ist? Im Moment fühle ich mich noch nicht so.

"Ich habe für nächste Woche am Samstag ein Clantreffen einberufen. Auf dem wirst du deine Rückkehr bekanntgeben." Habe ich da auch noch ein Mitspracherecht?

"Wie schön, dass du mich vorher gefragt hast." Aaron sieht mich finster von unten herauf an. Sein Blick ist warnend.

"Übertreibe es nicht! Noch hab ich hier das Sagen! Außerdem ..." Er pafft übertrieben lange an seiner Zigarre und mustert mich. "... du scheinst dich ja schon selbst dazu entschieden zu haben, auf die alberne Maskerade zu verzichten. Warum also noch länger warten?" Seine Beobachtungsgabe steht meiner in nichts nach. Trotzdem gönne ich ihm den Triumph nur ungern.

"Na schön, von mir aus. Und als was gedenkst du mich einzusetzen?"

"Am liebsten würde ich ja Vincent absetzen. Der Scheißer muckt mir zu sehr auf, aber ich ahne dass du deinen eigenen Clan haben willst." Sehr richtig! Ich nicke. Meine Wölfe gebe ich nicht auf. Aaron verzieht das Gesicht. Ihm schmeckt meine Antwort nicht.

"Du bleibst der Chef der Wölfe, aber legst bei Gelegenheit Vincent um." Ich schaue erschrocken. Ist das sein ernst? Ich soll einen der großen Vier töten?

"Jetzt schau nicht so! Ich weiß genau, dass du längst dein Unwesen treibst. Das Feuer am Pier sechs, geht doch auf dein Konto, oder?" Ich muss schmunzeln. Aaron hat seine Augen und Ohren wirklich überall.

"Ich weiß nicht wovon du redest", lüge ich mit gespielter Ernsthaftigkeit. Bei der Gelegenheit fällt mir etwas ein. Ich habe ja noch den Umschlag von Susen.

"Dachte ich mir schon. Ich überlasse dir, wie du bei Vincent vorgehst. Hauptsache keiner bringt dich damit in Verbindung. Lass dir von Antonio helfen, er kennt die Gewohnheiten dieses Kerls und arbeitet sauber und diskret. Vor dem Clantreffen, sollte die Sache erledigt sein." Nur eine Woche? Ich schaue zur Seite weg und seufze leise. Wer weiß ob ich Toni bis dahin überhaupt zu Gesicht bekomme.

"Gibt es ein Problem?"

"Hast du dich noch nicht gefragt, warum ich heute allein zu dir gekommen bin?" Aaron rollt genervt mit den Augen.

"Hört auf mit dem Kindergarten. Bring die Sache so schnell wie möglich in Ordnung. Ich brauch euch jetzt als Team! Ich habe keine Lust abzutreten ohne mein Lebenswerk in guten Händen zu wissen." Einfacher gesagt als getan. Ich weiß ja noch nicht mal, wo er abgeblieben ist.

"Weißt du, wo er inzwischen wohnt?" Aaron sieht mich ungläubig an. Es hört sich sicher seltsam an, dass ich nicht mal weiß, wo mein bester Freund wohnt, obwohl ich sonst Tag und Nacht mit ihm unterwegs bin. Bisher gab es noch keine Notwendigkeit, ihn danach zu fragen.

"Jester hat die Adresse, frage ihn, wenn du gehst." Ich nicke verlegen.

"Gut, dann verbleiben wir so." War es das schon? Aaron stützt sich mit den Armen auf die Lehne seines Sessels. Will er aufstehen und gehen?

"Warte!" Aaron setzt sich wieder. Ich hole den Umschlag aus meiner Hosentasche und lege sie auf Aarons Seite des Tisches. "Das soll ich dir von Susen geben." Der Pate betrachtet den Inhalt. Er zählt die Scheine geübt durch.

"War ja klar, dass dein Bruder sich hier nicht persönlich herwagt." Geht das wieder los.

"Er wollte kommen, aber Susen wollte, dass ich es dir bringe."

"Ja, weil sie genau weiß, dass ich diesen Bittsteller hochkant wieder raus werfe." Muss das sein? Immer wieder hackt er auf Raphael herum, nur weil er mit seinen dunklen Geschäften nichts mehr zu tun haben will.

"Schau nicht so kritisch!", mahnt er mich, als ich ihn dafür finster ansehe, "Er hat bisher nichts auf die Beine gestellt. Ohne mich würden sie auf der Straße sitzen. Ehrlich, Susen hat was Besseres verdient."

"Einen Mann, der sie schlägt und schlecht behandelt, dafür aber Geld hat?", frage ich gerade heraus.

"Tzzzee!" Mehr weiß er wohl nicht dazu zu sagen? Er kann doch froh sein, dass die beiden glücklich sind.

"Wie viel hast du denen Typen abgenommen?", wechselt Aaron das Thema. Welchen Typen? Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass er die Aktion am Pier meint.

"3.000 Dollar." Aaron nickt anerkennend, schließlich verfinstert sich sein Blick wieder.

"Und wie viel hast du davon behalten?" Er spielt sicher wieder auf Raphael an. Ich schweige zu diesem Thema. "So viel also, sieh an." Verdammt, dabei habe ich extra nichts gesagt, doch Aaron ist mein Schweigen Antwort genug. Besser ich wechsle ebenfalls das Thema: "Wo wir gerade bei den Finanzen sind, deine Hütte sieht schäbig aus. Das macht keinen guten Eindruck, wenn du planst das Clantreffen hier abzuhalten, findest du nicht auch? Du hast nicht mal die Tapeten auswechseln lassen, nachdem du die Bilder abgehangen hast. Jester schafft es niemals hier allein für Ordnung zu sorgen. Kein Wunder, dass die anderen den Respekt vor dir verlieren."

"Worauf willst du hinaus?" Aaron pafft genervt am Rest seiner Zigarre. Er weiß schon längst, was ich zu sagen versuche, er will nur sehen, ob ich den Mut habe es auszusprechen.

"Stell wenigstens ne Küchenhilfe und zwei Putzfrauen ein. So viel Geld musst du doch noch über haben."

"Sieh zu, dass du Vincent aus dem Weg räumst, dann sehe ich wenigstens das Geld wieder, das mir der Dreckskerl unterschlägt." Daher weht also der Wind. Vincent bescheißt ihn.

"Na, von mir aus. Ich konnte den Kerl eh noch nie leiden." Er hat die Angewohnheit sich kleine Jungen für sein sexuelles Vergnügen beschaffen zu lassen. Auch bei mir und Toni hat er es versucht, als wir noch Kinder waren. Seit dem fehlt dem Scheißkerl sein linker Hoden. Ist sicher keine schlechte Idee ihm seine Freundlichkeit von einst zurückzuzahlen.

"Gut, jetzt wo das geklärt ist, muss ich dich um noch etwas bitten." Noch etwas? Reicht das nicht langsam. Ich schaue fragend.

"Deine Frau sitzt im Wohnzimmer und wartet auf dich. Sie hat die Wahrheit verdient, findest du nicht auch?" Ich schlucke heftig. Judy ist hier? Augenblicklich schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich bin überhaupt nicht darauf vorbereitet, ihr über den Weg zu laufen. Aaron erhebt sich. Er kommt um den Schreibtisch herum und legt mir seine Hand auf die Schulter. Er hat mein Unwohlsein bemerkt.

"Ich habe ihr noch nichts gesagt. Ich hielt es für das Beste, wenn du das selbst tust." Das ist ja noch viel schlimmer. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie sie reagieren wird. Ihr Temperament ist schon unter gewöhnlichen Umständen nicht zu beherrschen. Am liebsten möchte ich auf der Stelle im Erdboden versinken. Mir ist, als wenn ich im Sessel immer kleiner werde.

"Soll ich mitkommen?", fragt Aaron amüsiert. Ich schaffe es nicht ihm zu antworten.

"Na komm!", fordert er mich auf und gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Ich atme tief durch und erhebe mich. Je schneller ich es hinter mich bringe, umso besser.

~Kaminfeuer und heiße Schenkel~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Nicht ohne dich~

In meinen Ohren dröhnt es, meinen Schläfen hämmert und pocht. Mir ist so kalt und elend zumute. Ich spüre, wie mir der Kopf immer wieder nach vorn fällt, wenn ich eindöse. Jedes Mal schrecke ich auf. Hier ist nicht der richtige Ort, um zu schlafen, spukt es durch meine Gedanken und lässt mich keine Ruhe finden. Wo sich Toni wohl die ganze Zeit herumtreibt? Schließlich siegt die Erschöpfung und trägt mich fort in einen dumpfen Schlaf.

"Enrico? Was machst du hier?" Undeutlich erreicht mich der Ruf meines Namens, doch ich will nicht aufsehen. Ich bin doch gerade erst eingeschlafen.

"Wie siehst du überhaupt aus?" Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter, eine andere greift in meine Haare.

"Was hast du mit deinen Haaren angestellt? Warum hast du die Jacke an? Kann ich dich nicht mal ein paar Stunden allein lassen, ohne dass du was Dummes machst? Ich rede mit dir, wach endlich auf!" Die Stimme wird immer lauter und eindringlicher. Mein Kopf wird grob an den Haaren zurückgezogen. Verflucht! Das tut weh! Ich öffne die Augen und schaue grimmig.

Smaragdgrün! Gott, wie ich diese Augen hasse! Sie sind so tief und ausdrucksstark und diese Lippen ... Ich will ihn küssen. Verdammt! So schaffe ich es doch nie, ihm zu sagen, was ich mir vorgenommen habe.

Er schaut so sorgenvoll. Warum? Ist irgendwas passiert?

"Was ist los mit dir? Du bist kreidebleich." Bin ich? Mir ist, als wenn die Welt in Watte gepackt wurde, alles wirkt, wie in einem Traum. Aber dafür schmerzt mein Rücken, mein Arm, mein Kopf, einfach alles viel zu sehr. Also doch kein Traum?

"Mir geht's nicht so gut", murmle ich schwach.

"Das sehe ich. Hast du seit wir bei Erik waren überhaupt was gegessen und getrunken?" Ich muss nachdenken. Hab ich? Ich bin mir nicht sicher.

"Ich weiß es nicht."

"Oh Mann! Mit dir hat man schon sein Kreuz. Los, steh auf!" Toni packt mich unter den Armen und zieht mich auf meine schwankenden Beine. Alles dreht sich. Ich greife mir an die schmerzende Stirn und atme erschwert durch.

"Mir ist schlecht", jammere ich und bin froh darüber, dass Toni nicht von meiner Seite weicht und mir Halt gibt. Als er sich in Bewegung setzt, taumle ich ihm mehr schlecht als recht hinterher.

"Sag mal, hast du was getrunken?" Habe ich? Das könnte meinen Zustand erklären, aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern.

"Nein, ich ... ich glaube nicht."

"Du glaubst?" Er schüttelt abfällig mit dem Kopf. "Will ich wissen, was du die letzten Stunden getrieben hast?" Ich grinse breit. Nein, das will er bestimmt nicht. Denke ich, oder? Was habe ich überhaupt in den letzten Stunden gemacht? Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Irgendwas war mit Robin und Judy. Ich habe was ziemlich Blödes angestellt und es hatte irgendwas mit Sex zu tun. Toni schließt uns das Apartment auf. Er schiebt mich durch den Türrahmen.

Ziemlich dürftige Einrichtung: Ein durchgelegenes Bett, zwei Nachttische, ein Kleiderschrank und ein Puppenhaus. Letzteres passt irgendwie gar nicht zum Rest der Einrichtung. Es ist aufwendig gearbeitet, die kleinen Puppen und Möbel, sind mit viel Liebe geschnitzt. Seit wann spielen Toni und Anette mit Puppen? Ich brauche eine halbe Ewigkeit, um zu begreifen, dass es sich bei dem Puppenhaus, um ein Spielzeug ihrer Tochter handelt. Toni hatte mir mal davon erzählt, dass er ihr eines aus den Holzresten gebaut hatte, die bei den Arbeiten an den Docks übrig geblieben sind. Ist hübsch geworden!

Toni schiebt mich in die linke Hälfte des Raumes, in ihm ist eine kleine Küche untergebracht, die akkurat aufgeräumt ist. Gewürze stehen in Reih und Glied aneinander, der Messerblock ist nach Größe sortiert, selbst die Tassen auf dem Regal zeigen mit ihren Henkeln exakt in die gleiche Richtung. Toni hat schon immer ein übertriebenes Maß an Ordnung an den Tag gelegt und hat dabei auch noch ein photographisches Gedächtnis. Früher habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, die Gegenstände in seinem Zimmer zu verstellen oder gegeneinander auszutauschen. Er hatte jede noch so kleine Veränderung bemerkt und sich tierisch darüber aufgeregt. Das war lustig. Ich muss lächeln.

"Was grinst du denn so blöd?" Ich winke ab, das jetzt zu erklären ist mir zu anstrengend. Er atmet genervt aus.

"Setz dich!", fordert er mich auf und schiebt einen Stuhl für mich zurecht. Mir fällt erst jetzt der Esstisch in der Mitte des Raumes auf. Ich war so fasziniert von der Ordnung der Küche, dass ich fast dagegen gelaufen wäre. Wie ein nasser Sack lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Ich lege meine Arme übereinander auf den Tisch und bette meinen Kopf darauf. Dann beobachte ich ihn. Er holt ein Glas aus dem Schrank und füllt es mit Leitungswasser. Auch dort ist alles nach Größe sortiert. Die großen Gläser hinten, nach vorne werden sie immer kleiner. Was er wohl mit dem Wasser vor hat? Er stellt es vor mir ab. Ich betrachte es eine Weile ohne besonderen Grund. Was soll ich damit machen?

"Trink!", knurrt er, dann durchsucht er einen anderen Schrank. Ja, das wäre eine gute Idee! Ich erhebe meinen viel zu schweren Kopf und greife nach dem Glas. Mein Arm will mir nicht gehorchen, ich habe kaum die Kraft das volle Glas zu halten und nehme die andere Hand zur Hilfe. Ich führe es zum Mund und leere es gierig. Mir wird erst beim Trinken bewusst, wie viel Durst ich eigentlich habe.

"Ich habe nicht wirklich viel da, was ich dir anbieten könnte. Wir waren noch nicht einkau ..." Toni beobachtet mich, ich spüre seinen Blick auf mir. Er schüttelt mit dem Kopf und bringt den Satz nicht mehr zu ende. Hab ich was falsch gemacht? Er wendet sich wieder dem Schrank zu. Ich stelle das Glas auf den Tisch und lege Hände und Kopf daneben ab. Was sucht er denn da so lange?

Mir ist heiß! Ich schwitze in der Jacke und dem langen Hemd. Seltsam, gerade war mir noch kalt. Es wird so unerträglich, dass ich die Jacke ausziehe und anfange das Hemd aufzuknöpfen.

"Was machst du denn da?" Toni kommt mit Wurst und Käse zum Tisch zurück. Er sieht mich mahnend an.

"Mir ist heiß", entgegne ich und löse den letzten Knopf, dann schiebe ich den Stoff von meinem Körper und lasse ihn über die Stuhllehne fallen. So ist es besser. Toni stellt die Lebensmittel ab, dann beugt er sich über den Tisch und legt seine Hand auf meine Stirn.

"Du glühst ja förmlich." Ernsthaft? Ätzend! Ich brumme genervt und lege meinen schmerzenden Kopf auf der kalten Tischplatte ab. Ich bin mir sicher, dass er gleich explodieren wird.

"Wo hast du die her?" Wo habe ich was her? Ich begreife nicht, was er meint. Toni umrundet mich und bleibt hinter mir stehen, seine Hand fährt über meinen Rücken. Die Haut spannt und brennt entsetzlich. Ich zucke zusammen. Was macht er denn da? Das tut echt höllisch weh!

"Aua!", murre ich kraftlos.

"Hast du etwa mit Judy gepennt?" Habe ich? Ich versuche vergeblich einen Blick auf meinen Rücken zu erhaschen. Nur dunkel fällt mir die Nummer mit meiner Frau auf Aarons Sofa ein. Doch meine Gedanken halten sich nicht lange dort auf.

"Weißt du mit wem ich gerne schlafe?" Toni sieht mich gereizt an. Ich beschließe es ihm trotzdem zu sagen: "Mit dir!"

"Du treibst mich in den Wahnsinn! Warum pennst du erst mit mir und gleich darauf mit der?"

"Du bist abgehauen und ich hab mich einsam gefühlt." Selbst schuld! Was haut er auch einfach so ab?

"Ich sollte dich rauswerfen. Nein erst sollte ich dich erwürgen und dann rauswerfen." Warum ist er denn so wütend? Egal, ich will nur noch schlafen.

"Kann ich mit in deinem Bett pennen?"

"Nein, kannst du nicht!", knurrt er aggressiv. Was hat er denn für ein Problem? Ich werde ihn schon nicht vergewaltigen, während er schläft. Dafür bin ich viel zu müde, denke ich.

"Ich fasse dich auch nicht an ... eventuell ... vielleicht." Er sieht so niedlich aus, wenn er schläft, manchmal kann ich mich dann nicht mehr beherrschen. Ich grinse ihn an, doch seine finstere Mine hellt sich kein Stück auf.

"Du bist echt das Letzte!" Er wendet sich von mir ab und stützt sich mit den Armen auf die Küchenzeile, seine Hände sind zu Fäusten geballt. Er ist wirklich sauer auf mich.

"Hab mich lieb!" Mir geht es echt beschissen. Ich will geknuddelt werden! Tonis finsterer Blick richtet sich wieder auf mich. Ich ahne schon, dass ich das mit dem Knuddeln vergessen kann.

"Ich kann das nicht mehr." Was meint er?

"Ich habe mit Anette gesprochen." Seine Stimme ist brüchig, irgendwie niedergeschlagen. Hat er ihr etwa von uns erzählt? Ich schlucke schwer und zwinge meine vernebelten Gedanken dazu, sich auf das Thema zu konzentrieren.

"Was hast du ihr erzählt?" Er atmet schwer, mit dem Rücken lehnt er sich an die Küchenzeile und verschränkt die Arme, sein Blick gleitet zu Boden.

"Dass du wieder da bist und dass ich mich bei dir viel zu wohl fühle." Ist das sein ernst? Er hat ihr von uns erzählt? Ich fasse es nicht! Mein Herz rast, das Blut dröhnt mir in den Ohren, meine Gedanken überschlagen sich: Wie hat sie reagiert? Was genau hat er ihr gesagt? Wird sich jetzt alles zwischen uns ändern?

"Wie hat sie reagiert?"

"Sie hat es schon die ganzen Jahre gewusst." Er sieht noch immer nicht auf. Mich wundert nicht einmal, dass Anette etwas geahnt hat. Susen wusste es ja auch. Frauen haben ein natürliches Gespür dafür, wenn man sie betrügt. Judy weiß sicher auch Bescheid. Die drei Frauen hängen immerhin oft genug zusammen, sie werden sicher darüber gesprochen haben.

Toni schweigt, also frage ich nach:  "Ja, und weiter?" Mir graut es vor der Antwort. Ich kenne Anette seit unserer Schulzeit. Sie wird sicher nicht einfach weiter machen wollen, wie bisher. Nach all den Jahren, wird sie endlich geklärte Verhältnisse schaffen wollen und eine Entscheidung gefordert haben.

"Hat getobt wie der Teufel und mich vor die Wahl gestellt. Sie und Kira, oder du." Toni sieht mich traurig an, die Entscheidung kann ich in seinen Augen lesen. Er wird niemals zu mir stehen. Ein großer Felsen legt sich auf meinen Brustkorb und lässt mich schwer atmen. Ich hätte nie gedacht, dass mir diese Wahl mal abgenommen wird. Ich merke erst jetzt, dass mein Herz ganz anderes entschieden hätte. Mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen wende ich mich von ihm ab.

"Du würdest deine Familie nie für mich verlassen."

"Würdest du es für mich?" Ich schweige und denke darüber nach. Selbst wenn ich es wollte, Aaron würde einer Scheidung niemals zustimmen, schon gar nicht, wenn er den Grund dafür erfährt. Wahrscheinlich würde er lieber mich beseitigen lassen, als seine Tochter dieser Schande auszusetzen, von dem Ruf seines Clans mal ganz zu schweigen. Ich komme aus der Nummer nicht mehr raus. Als ich nicht antworte, wendet sich Toni von mir ab.

"Dachte ich mir." Er verlässt die Küche, geht zum Bett und setzt sich. Unter seinem Gewischt knarrt es entsetzlich.

"Und wenn wir einfach verschwinden und nie wieder kommen?" Der Gedanke ist absurd, aber er beginnt mir zu gefallen. Über Tonis Lippen huscht ein bitteres Lächeln.

"Und was wird dann aus unseren Kindern?" Irgendwie sind die mir gerade ziemlich egal. Sie sind fünf Jahre ohne mich zurechtgekommen, also schaffen sie es auch weiterhin.

Ich hasse mich für diesen Gedanken. Warum nur fühle ich so? Ich müsste mich für sie entscheiden, aber mein Herz sagt etwas anderes. Ich spreche meinen Gedanken nicht aus, es kommt mir so falsch vor.

Toni zieht sich die Schuhe von den Füßen und stellt sie vor dem Bett ab. Er sieht mich nicht an, als er wieder zu sprechen beginnt: "Es ist besser wir gehen getrennte Weg." Ein Stich durchfährt mein Herz, erschrocken sehe ich ihn an. Das kann nicht sein ernst sein! Uns nie wieder sehen? Das letzte Mal, als ich mit diesem Gedanken leben sollte, hab ich versucht zu sterben. Ich halte es nicht ohne ihn aus!

"Das kann ich nicht!"

"Es ist besser du gehst jetzt!" Seine Stimme ist kühl und abweisend. Er schmeißt mich raus? Das war es jetzt, einfach so?

"Nein, ich brauche dich! Wir haben einen neuen Auftrag." Toni dreht sich zu mir. Er funkelt mich wütend an. Ich begreife zu spät, was ich gesagt habe. Warum nur ist das das Einzige, was mir einfällt?

"Bist du nur deswegen hier?"

"Nein!" Verflucht, warum will mir einfach kein besseres Argument einfallen?

"Los verschwinde!" Toni streckt den Arm aus und deutet auf die Tür. Ich verfluche mich selbst für meine unbedachten Worte, es ist überhaupt nicht das, was ich eigentlich sagen will. Unschlüssig bleibe ich sitzen.

"Geh einfach!", setzt er nach. Ich atme tief durch und dränge die Tränen zurück, die mich zu überwältigen drohen. So darf es nicht enden! Ich erhebe mich, gehe zu ihm und umrunde das Bett. Hinter Toni knie ich mich auf die Matratze

"Hau ab Enrico! Ich will dich nicht mehr wieder sehen." Seine harten Worte tun entsetzlich weh, beinahe möchte ich wirklich gehen, doch nicht ohne vorher alles versucht zu haben. Ich lege meine Arme um seinen Oberkörper und drücke ihn an mich. Er rührt sich nicht, zeigt keinerlei Gefühlsregung, trotzdem. Ich bin mir ganz sicher, dass er nicht meint, was er sagt. Ich lege meinen Kopf an sein Ohr und flüstere ihm zu: "Wenn du willst, dass ich aus deinem Leben verschwinde, dann musst du mich töten." Ich meine, was ich sage mit ganzem Herzen. Egal wohin er geht oder was er tut, um mich los zu werden, ich werde immer einen Weg zu ihm zurück finden.

Toni braucht eine gefühlte Ewigkeit für eine Reaktion. Schließlich legt er seine Hand über meinen Unterarm.

"Du kannst heute hier pennen, aber bevor Anette am Nachmittag von ihrer Schicht im Krankenhaus zurück ist, bist du verschwunden!" Seine Stimme ist wieder ruhig und freundlich. Ich lächle erleichtert, während die Anspannung aus meinem Körper weicht. Erschöpfung und Müdigkeit ergreifen einmal mehr von mir Besitz. Ich lasse mich über Tonis Rücken hängen und schließe die Augen.

"Warum nur kann ich dich nicht hassen?", murmelt er.

"Weil du mich liebst", erinnere ich ihn, mit verschwindend dünner Stimme. Er lacht wehmütig auf.

"Das ist ja das Schlimme."
 

"Was will der hier?" Lautes Geschrei weckt mich aus meinem tiefen Schlaf. Es ist die Stimme einer Frau, die Stimme von Anette. Ich drehe mich um und suche nach etwas, das ich mir über den Kopf ziehen kann. Sie ist viel zu laut, ich will weiter schlafen. Mit der Hand taste ich die Matratze ab und findet ein Kissen. Perfekt!

"Er saß bei uns vor der Tür und ..." Toni bewegt sich, er rutscht an den Rand des Bettes und setzt sich auf. Hat er etwa die ganze Zeit neben mir gelegen? Ich hab nicht mal mitbekommen, wie ich eingedöst bin. Mist, sollte ich nicht verschwunden sein, bevor sie auftaucht? Ich hebe das Kissen vorsichtig an und sehe nach den Beiden. Warum hat Toni mich denn nicht geweckt? Ist er etwa auch eingeschlafen?

"Na und! Wenn er von einer Brücke springen würde, würdest du das dann auch tun?" Ich muss grinsen und kann mir ein Kommentar darauf nicht verkneifen: "Das hat er schon getan." Das war in dem Jahr, als wir uns kennen lernten. Es war später Herbst und der erste Schnee des Jahres ist gefallen. Auf der Flucht vor unseren Verfolgern, habe ich vorgeschlagen in den Fluss zu springen. Toni hat zwar zuvor gezetert und gemeckert, aber als ich ihn mitgezogen habe, ist er trotzdem gesprungen. Gott, wir wären damals fast erfroren, aber die Nacht, in der wir uns gegenseitig wärmen mussten, war geil. Wenn ich so darüber nachdenke, geht das mit uns wirklich schon ewig. Er war 14, ich 15, als wir in dieser Nacht das erste Mal miteinander schliefen.

"Halt die Klappe Enrico! Scher dich lieber zu deiner Frau, wo du hingehörst und lass deine Pfoten von meinem Freund!" Mir liegt schon der passende Spruch auf den Lippen, dass ihr Freund seine Pfoten eben so wenig von mir lassen kann, doch ich verkneife ihn mir. Toni hat schon genug Stress mit ihr.

"Er hatte hohes Fieber? Was hätte ich denn machen sollen? Ihn draußen vor die Hunde gehen lassen?", verteidigt er sich.

"Ja, warum eigentlich nicht? Ich bin die letzten fünf Jahre ganz gut ohne ihn klar gekommen. Alles ist besser, als euch in meinem Bett zu finden." Das glaube ich ihr aufs Wort. Dabei ist doch gar nichts passiert, zumindest heute nicht. Ich seufze resigniert und ziehe das Kissen wieder über den Kopf.

"Wir hatten gar nichts miteinander. Wir haben nur geschlafen. Hier gibt es nun mal nur ein Bett!" Als wenn sie uns das, nach seinem Geständnis, glauben wird.

"Raus! Alle beide!", keift sie und zieht mir die Decke weg. Dieses grausame Weib! Es ist eiskalt, ich habe nicht mal mein Hemd wieder angezogen. Ein eisiger Schauer überzieht meinen Körper mit Gänsehaut.

"Raus!", schreit sie schon wieder. Ich sehe hilfesuchend zu Toni.

"Kannst du sie nicht abstellen?" Mein Kopf schmerzt noch immer und ihre schrille Stimme, bringt ihn gleich zum Platzen.

"Komm schon, steh auf!" Mieser Verräter! Er packt mich am Handgelenk und zerrt mich auf die Beine. Ich habe wohl keine Wahl. Als ich gehen will, trifft mich meine Jacke und das Hemd im Gesicht. Mit den Händen in die Hüfte gestemmt, faucht Anette: "Verschwindet, bevor ich mich vergesse!" Sie streckt den Arm aus und deutet auf die Tür. Ich seufze und ziehe mir Hemd und Jacke an. Zumindest wird mir damit wieder wärmer.

Anette geht es noch immer nicht schnell genug, sie geht zur Tür und öffnet sie. Ihr wütender Blick lässt keine Diskussionen mehr zu, also komme ich ihrem Wunsch nach und verlasse die Wohnung.

"Du kannst deine Sachen die nächsten Tage hier abholen!", ruft sie Toni nach. Als auch er die Wohnung verlassen hat, knallt sie die Tür zu.

"Na prima, und jetzt?", will er seufzend von mir wissen.

"Also ich wäre für Frühstück." Toni sieht auf die Uhr.

"Frühstück? Wir haben es drei Uhr Nachmittags."

"Was für ne nervige Haarspalterei." Als wenn das einen Unterschied machen würde. Er sieht wehmütig auf die geschlossene Tür. Ich habe ihm das mit Anette gründlich versaut. Das tut mir leid!

"Sie beruhigt sich schon wieder. Das hat sie immer", versuche ich ihm Mut zu machen und lege ihm meine Hand auf die Schulter.

"Und was wenn nicht?" Er sieht mich nicht mal an.

"Dann hast du immer noch mich?"

"Ja, genau!" Er lacht spöttisch und holt mit der flachen Hand weit aus. Mit voller Wucht schlägt er mir auf den Rücken. Ich schreie gequält auf und gehe vor Schmerzen in die Knie. Dieser miese Dreckskerl! Auf die Nacht mit Judy hätte er mich auch anders hinweisen können. Er hat nicht nur die Kratzspuren auf meinem Rücken erwischt sondern auch noch meine Schulter. Ich ringe nach Atem, während er in Seelenruhe an mir vorbei geht und die Treppe nach unten läuft.

"Warte Saftsack!", schreie ich ihm nach, doch er denkt gar nicht daran, stehen zu bleiben.

~Hotdogs, Drogen und ein kleiner Junge~

Das hat mir gefehlt, ein großer, dicker New Yorker Hotdog mit viel Senf und noch mehr Ketchup. Ich hatte schon fast vergessen, wie gut das schmeckt. Es ist bereits mein Zweiter und ich schaffe bestimmt auch noch einen Dritten. Den Verkäufer, hinter seinem kleinen Wagen, aus dem es wunderbar nach gekochten Würstchen duftet, wird es freuen, denn auch Toni isst bereits seinen dritten. Wir haben uns auf einer Parkbank im Central Park nieder gelassen, dem Hotdog-Stand direkt gegenüber. Der Verkäufer beobachtet uns zufrieden und wirft gerade neue Würstchen auf den Grill.

"Raphael hat mir gar nicht gesagt, dass er das Motorrad behalten hat", beginnt Toni ein Gespräch und sieht den Weg zurück zur Straße, den wir gekommen sind. Wir haben das Motorrad am Straßenrand geparkt und können es von hier aus dort stehen sehen. Ich bin wirklich heilfroh, dass es nicht gestohlen wurde.

"Susen meinte es wäre fünf Jahre unter eine Plane versteckt gewesen."

"Ist doch Verschwendung." Toni schiebt sich den letzten Rest des Brötchens in den Mund, dann springt er auf.

"Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?" Seine Augen strahlen voller Vorfreude. Ich bin froh, dass er wieder gute Laune hat und schaue ihn fragend an.

„Auf ein Eis!", erklärt er fröhlich. Ich lächle. Wie kommt er denn jetzt darauf? Doch sein Vorschlag gefällt mir, ein Eis zum Nachtisch, dazu werde ich sicher nicht nein sagen. Ich nicke zustimmend und schlucke den letzten Bissen hinunter, dann erhebe auch ich mich.

Wir folgen dem Weg und halten nach dem nächsten Eisverkäufer Ausschau. Tonis Blick verschwindet irgendwo in der Ferne, er scheint über etwas nach zu denken, etwas Schönes, denn er lächelt.

„Weißt du eigentlich, dass das Eis von dir, in meinem Leben war?" Er spielt auf den Tag an, als wir uns kennen lernten. Toni hatte ganz allein auf dem großen Basketballplatz gespielt und sah dabei so einsam aus, dass ich ihn angesprochen habe. Er hat mich beim Körbe werfen haushoch geschlagen und ich Idiot habe auch noch um ein Eis gewettet. Das war auch hier im Central Park. Ich weiß noch ganz genau, dass er Schokolade haben wollte.

„Ernsthaft?", frage ich. Das erklärt, warum er sich gewundert hat, dass es kalt ist. Ich habe mich damals nicht mehr ein bekommen vor Lachen. Trotzdem stimmt mich der Gedanke daran jetzt traurig. Toni war vierzehn Jahre alte und bis da hin hat es keiner für nötig gehalten, ihm mal ein Eis zu kaufen? Weder Mutter noch Vater? Andererseits, bei der Familie wundert mich nichts mehr. Tonis Vater war ein Alkoholiker und erschlug im Suff die Mutter. Alles, was ihm von ihr geblieben ist, ist das goldene Kreuz, das er immer um den Hals trägt. An diesem Tag ist er von zu Hause abgehauen und auf der Straße gelandet. Irgendwann wurde er dort von den Drachen aufgegabelt und für Botengänge eingespannt. Als sie sein Talent für Schusswaffen erkannten, bildeten sie ihn zum Auftragskiller aus. Mit 14 Jahren war er schon für den Tot von zwanzig Menschen verantwortlich.

Doch für mich war er nur ein normaler Junge. Ich nahm ihn mit nach Hause, spielte im Park mit ihm, stellte Dummheiten mit ihm an. Ich habe nie etwas von seinem Job mitbekommen, bis ich ihm einmal folgte. Ich kletterte ihm nach, als er über eine Feuerleiter bis auf das Dach eines Hauses emporstieg. Damals sah ich zum ersten Mal einen Mord. Ich war so geschockt, dass ich die Flucht ergriff und einfach nur gelaufen bin. Noch am selben Abend stand ich auf der Abschussliste der Drachen. Toni sollte auch diesen Mord erledigen, aber er konnte es nicht. Damit fing alles an ...

„Sag mal, hast du es eigentlich bereut, mich nicht erschossen zu haben?" Er sieht mich irritiert an und braucht einen Moment, bis er versteht, was ich meine.

„Nein!", sagt er dann entschieden, „Ich hätte mir das nie verzeihen können. Und du? Hast du's bereut Denjiel erschossen zu haben?" Als Toni kam, um mich zu töten, war er nicht allein. Seine Ausbilder Michael und Butch und sein Chef Denjiel wollten sehen, ob er sich widersetzte und spionierten ihm nach. Sie wussten von unserer Freundschaft und ahnten, dass es ihrem Schützling schwer fallen würde. Als Toni es nicht über sich brachte, nahm sein Chef die Sache selbst in die Hand. Toni hatte mich noch angeschrien, ich soll weglaufen, aber ich bin nicht geflohen. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, als ich die Pistole aufhob und abdrückte. Dieser Moment veränderte mein ganzes Leben. Ich erschoss nicht irgendwen, sondern Michaels besten Freund und den damaligen Paten der Red Dragons. Seitdem bin ich auf der Flucht. Ich sehe Toni ernst an, als ich antworte: „Ich hätte nicht abhauen können, während sie dich töteten, aber manchmal frage ich mich schon, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären." Ich wäre sicher wie Raphael Mechaniker geworden, ich habe schon damals gern mit ihm in der Werkstatt gearbeitet. Meine Schulnoten waren ausgezeichnet und auch wenn wir kein Geld für ein College hatten, hätte ich vielleicht ein Stipendium bekommen können. Wer weiß welche Wege mir offen gestanden hätten. Mit Sicherheit wäre es nicht nötig gewesen, unter den Locos Schutz zu suchen und gemeinsam mit Toni die harte Ausbildung zum Auftragskiller zu durchlaufen, nur weil Aaron das Potential dazu in mir sah. Alles wäre viel ruhiger, vielleicht zu ruhig.

"Wahrscheinlich würdest du jetzt irgendwo in einem Kontor sitzen und ein ruhiges Leben führen", entgegnet Toni. Seine Fröhlichkeit ist verschwunden, er starrt bedrückt vor sich her. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.

"Hey, jetzt schau nicht so! Ich will gar kein Banker sein. Mein Leben ist gut so, wie es ist. Ich bin gern der Chef der Wölfe und würde in keinem anderen Beruf 3000 Dollar an einem Tag verdienen. Außerdem ...", ich schaue ihn wieder ernst an, " ... kann ich mir mein Leben nicht mehr ohne dich vorstellen. Ich bereue keine Minute, nicht mal die, in denen ich dich erwürgen möchte." Er lächelt wieder.

Wir finden endlich einen Eisverkäufer und ich hole für uns beide dieselben Sorten, wie an jenem Tag. Für Toni Schokolade, für mich Vanille. Mit den Tüten in der Hand, gehen wir weiter. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag und das erste zarte Grün zeigt sich an den Bäumen und auf den weitflächigen Wiesen. Es tut gut, dass es endlich wieder wärmer wird. Ich hasse die Kälte des Winters und auch der Frühling ist mir noch nicht warm genug.

"Du hattest heute Morgen von einem Auftrag erzählt. Um was geht's da?", unterbricht Toni unser Schweigen und leckt über sein Eis. Ich werde von seiner Frage unsanft aus meinen Gedanken gerissen. Vincent habe ich bereits erfolgreich verdrängt. Ich schaue mich um. Niemand zu sehen, nur ein alter Mann, der seinen Hund ausführt. Er ist nicht mal in Hörweite, also wage ich es offen zu sprechen: "Wir sollen Vincent umlegen." Toni sieht mich erschüttert an.

"Vincent Sivori?", versichert er sich, dass wir über denselben Vincent sprechen. Ich nicke.

"Er scheint Aaron schon seit längerem Geld zu unterschlagen", füge ich erklärend hinzu. Toni schweigt, sein Blick verliert sich in der Ferne.

"Ich glaube nicht, dass es nur daran liegt." Was gibt es denn noch für Gründe? Aaron hatte mir nur den Einen angedeutet. Ich betrachte meinen Freund fragen.

"Einmal hat sein Drogenkonsum ganz schön überhand genommen. Er vernachlässigt seine Pflichten und sein Verschleiß an Knaben lässt sich nicht ewig decken. Er hat mehrere Verfahren laufen. Als Geschäftsmann ist der zu nichts mehr zu gebrauchen." Das leuchtet mir ein. Es gibt nichts schädlicheres für den Ruf eines Mannes, als ein Kinderschänder zu sein. Doch sein übermäßiger Drogenkonsum bringt mich auf eine Idee.

"Wie wäre es, wenn wir ihm einfach ne Überdosis setzen? Um auf Nummer sicher zu gehen, könnten wir ihm auch noch ein bisschen Luft mit in die Adern jagen. Das merkt bei einem Junkie eh kein Mensch."

"Dann müssten wir aber in sein Apartment", gibt Toni zu bedenken.

"Schon, aber reizt dich nicht der Gedanke noch mal mit ihm zu sprechen? Es gibt da so einiges, das ich ihm sagen will, bevor wir ihn umlegen." Toni schweigt, während er die letzten Reste seines Eises aus dem Hörnchen leckt, scheint er seine Gedanken dazu geordnet zu haben, denn er sieht mich wieder an.

"Ich fände es zwar besser, wir legen ihn aus der Entfernung um, aber ich hätte auch noch das ein oder andere Hühnchen mit ihm zu rupfen und ich muss gestehen, ihn an seinem eigenen Dreck krepieren zu sehen, fände ich äußerst reizvoll." Um ihn gefügig zu machen, hat Vincent Toni damals unter Drogen gesetzt. Wäre ich nicht zufällig dazu gekommen, wer weiß was geschehen wäre.

"Dann brauchen wir nur noch einen Ort und Zeitpunkt", gebe ich zu bedenken.

"Soviel ich weiß, hat er in Harlem ein Apartment gemietet, in das er sich die Knaben schicken lässt und sich mit ihnen und einem Schuss den Tag versüßt." In der Gegend kümmert sich kein Mensch um den anderen, der perfekte Ort für ein Verbrechen. Einziges Problem stellen das Kind dar, die eventuell im Apartment sind.

"Und was machen wir mit dem Kind, wenn er eines da hat?"

"Denen setzt er doch meistens schon ne riesen Dosis, um sie gefügig zu machen. Ich hab damals auch kaum noch was mitbekommen."

"Was solls, notfalls müssen wir es eben auch umlegen." Toni sieht mich kritisch an, es ist derselbe Blick, wie bei dem jungen Wolf, den wir in der Lagerhalle an den Docks zurückließen.

"Jetzt schau nicht so! Vincent tötet die doch so oder so und wir können keine Zeugen brauchen." Toni seufzt schwer und wirft seine leere Tüte in einen der Mülleimer.

"Na schön!", stimmt er zu, doch ich bin mir sicher, dass ich wieder derjenige sein werde, der die Drecksarbeit erledigen muss.

Eine ganze Woche stellten wir Vincent jetzt schon nach und so langsam bekommen ich ein Gefühl für seinen Tagesrhythmus. Den Vormittag verbringt er mit geschäftlichen Unternehmungen, zu Mittag isst er stets im selben Restaurant. Er bestellt immer ein Steak und zwei Flaschen Rotwein dazu. Er nutzt gründlich aus, das die Prohibition seit einem Monat außer Kraft gesetzt wurde. Wenn er keine Termine hat, verbringt er die Nachmittage bei Erik mit Glücksspiel und einer Flasche Scotch. Es gibt kaum einen Moment, in dem wir ihn nüchtern erleben. Scheinbar sind die Drogen nicht sein einziges Problem. Wenn er dann Abends zu seinem zweiten Apartment nach Harlem fährt, ist er bereits so betrunken, dass er laut singend durch die Straßen taumelt. Es dürfte wirklich kein Problem sein, ihn in diesem Zustand zu überwältigen.

Das Haus in dem Vincent sich einquartiert hat, um in Ruhe seinem Hobby nachgehen zu können, ist der perfekte Schauplatz für ein Attentat. Von den zwanzig Apartments, sind fünfzehn belegt. Vincents Wohnung ist im ersten Stock, auf seiner Etage sind alle Apartments leer. Die restlichen Mieter verteilen sich auf das Erdgeschoss und die drei oberen Stockwerke. Trotzdem haben Toni und ich so gut wie nie eine Menschenseele zu Gesicht bekommen und wenn uns im Haus doch einmal jemand begegnete, hastete er nur schnell die Treppen hinauf. Die Türen hier werden zügig geschlossen, Kindergeschrei und wilde Beleidigungen sind ein ständiger Geräuschpegel. Bei diesen Zuständen ist es kein Wunder das Vincent auf seiner Etage schalten und walten, wie er will. Was für ein Pech für ihn, denn wir können das dort ebenso.

Am letzten Abend vor dem Clantreffen bin ich der Meinung, dass wir genug Informationen zusammen haben. Uns läuft auch langsam die Zeit davon, doch der Auftrag ist mir zu heiß, als dass ich etwas dem Zufall überlassen möchte. Wie die letzten Abende warten Toni und ich auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses auf Vincent. Ich spähe durch ein Fernglas und kann seinen Gesang schon hören, bevor ich seine groß gewachsene Gestalt ausmachen kann.

Er taumelt aus einer Seitenstraße heraus. Unter dem Arm hat er eine leere Weinflasche geklemmt, in den Händen hält er einen Schlüssel. Er sucht nach dem passenden für die Haustür und läuft einen weiten Bogen. Um die Kurve zu schaffen, nutzt er die ganze Straße aus. Ich schüttle mit dem Kopf und sehe ihm belustigt dabei zu, wie er bis zur Tür schwankt. Er braucht ganze vier Versuche um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Wir können uns mit dem Abstieg über die Feuerleiter Zeit lassen. Bis wir unten sind, hat er wahrscheinlich gerade mal sein Apartment erreicht. Vielleicht pennt er auch wieder auf der Treppe ein. Ein ziemlich ungünstiger Ort um ihn umzulegen. Ich hoffe inständig, dass er es heute wenigstens bis in seine Wohnung schafft.

Ich verstaue das Fernglas in meinem Rucksack und gebe Toni mit einem Schwenk meines Kopfes zu verstehen, dass wir uns auf den Weg machen. Er nickt mir zu und zieht sich schwarze Lederhandschuhe über die Finger. Als er damit fertig ist, wirft er mir ein zweites Paar zu. Auch ich streife sie mir über und balle meine rechte Hand zur Faust.

"Bis in den Tod ...", gebe ich dieses mal den Satz vor und strecke die Faust in Tonis Richtung. Er legt seine Faust an meine.

"... und wieder zurück!"

Gemeinsam steigen wir die Feuerleiter hinab. Als wir unten ankommen, ist Vincent nicht mehr zu sehen. Er hat es scheinbar geschafft die Tür aufzuschließen. Ich krame ebenfalls einen Schlüssel aus meiner Jackentasche. Gestern ist es mir gelungen Vincents Schlüssel für einen Moment in die Finger zu bekommen, als er bei Erik pokerte. Er hatte seine Jacke an der Garderobe abgegeben, dort fiel sie mir in die Hände. Mit dem Abdruck, war es ein leichtes, ihn bei einem Schlosser nachmachen zu lassen. Keine Einbruchsspuren werden darauf hinweisen, dass wir in seinem Apartment waren.

Ich öffne die Tür und spähe in den Hausflur. Alles ist still. Das Licht im Treppenhaus ist noch an, doch ich höre keine Schritte. Entweder hat Vincent auf der Treppe das Saufkoma ereilt oder er ist bereits in seinem Apartment. Ich hoffe auf letzteres und winke Toni zu, dass die Luft rein ist. Wir folgen der Treppe in den ersten Stock. Von Vincent fehlt jede Spur und ich bin erleichtert, ihn nicht erst in seine Wohnung schleppen zu müssen.

Vor dem neunten Apartment bleiben wir stehen und ich lausche an der Tür. Alles ist still, nur das Rauschen von Wasser ist zu hören. Wie jeden Abend ist Vincents erster Gang der unter die Dusche. Perfekt! Bisher läuft alles nach Plan. Ich schiebe den Schlüssel geräuschlos ins Schloss und drehe ihn vorsichtig. Die Tür springt auf und ich öffne sie einen Spalt, gerade weit genug, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Das Zimmer ist in ein schwaches Licht gehüllt, das von einer kleinen Lampe auf einem zerkratzen Nachttisch stammt. Die Fenster sind mit dunklen Vorhängen zugezogen, die jegliche neugierige Blicke verhindern. Auch wir hatten bisher nicht sehen können, was sich im Inneren dieses Apartments abspielt und den Schlüssel habe ich erst seit ein paar Minuten. Schnell versuche ich mir einen Überblick zu verschaffen. Mir direkt gegenüber steht ein schmutziges Sofa, dass allerhand Flecken übersät ist. Bei den braunen tippe ich auf getrocknetes Blut, über die weißen versuche ich nicht nachzudenken.

Vor dem Sofa steht ein Tisch, auf dem eine benutzte und etliche aufgezogene Spritzen liegen, daneben verteilt liegen Tütchen mit weißem Pulver. Unsere Mordwaffe hat er uns also schon vorbereitet, wie praktisch. Auf Boden und Tisch stehen Wein- und Schnapsflaschen, einige leer die anderen halbvoll.

Mein Blick wandert zum Heizkörper, an ihm sind Handschellen befestigt und davor stehen zwei Hundenäpfe, einer gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, der andere mit undefinierbaren brauen Brocken. Ich ahne wofür dass alles gut ist und schiebe die Tür weiter auf, um mich im ganzen Raum umsehen zu können. Er ist leer! Nirgends hockt ein Kind. Das erleichtert mich. Vielleicht komme ich ja doch um den Mord herum, der uns bei einem Zeugen nicht erspart bliebe. Neben einem Schreibtisch und einem Holzstuhl davor, gibt es keine weiteren Möbel. Was für ein trostloses Verließ! ich schaffe es nicht den Gedanken gänzlich zu verdrängen, wie es wohl für ein entführtes Kind sein muss, hier eingesperrt zu sein. Als wir eintreten kleben unsere Schuhsohlen auf dem Parkettboden, große Flecken zieren ihn wie ein Muster und verteilen sich durch den ganzen Raum. Ich will gar nicht wissen, was hier alles verschüttet oder ausgeschieden wurde. Es stinkt nach Urin, Kot und Erbrochenem. Besonders der Boden vor der Heizung, ist stark verunreinigt. Er lässt seinen Opfern scheinbar nicht mal pissen gehen. Was für ein kranker Psychopat!

Hinter der Tür in der linken Hälfte des Zimmers kann man deutlich das laufende Wasser der Dusche hören. Sicher ist Vincent noch eine ganze Weile dort beschäftigt. Ich schließe die Tür ab und versuche nicht durch die Nase zu atmen. Der Gestank treibt mir die Tränen in die Augen und lässt mich würgen. Hier kann man es tatsächlich nur besoffen aushalten. Ich möchte die Fenster aufreißen um wenigstens etwas Frischluft hereinzulassen, aber dann würde jeder Laut ungehindert nach draußen dringen. Wir werden das aushalten müssen. Auch Toni rümpft die Nase und hält sich die Hand vors Gesicht. Er sieht sich ebenso angeekelt um, wie ich.

"Widerlich!", empört er sich leise. Auch ihm fällt sofort die Stelle vor dem Heizkörper auf. Sein Blick wird finster.

"Ich leg den Wixer dort in die Scheiße während er stirbt, ehrlich." Ich grinse. Die Idee finde ich gut, warum soll er nicht genau so elendig sterben, wie seine minderjährigen Opfer.

"Willst du ihn in der Dusche überwältigen oder hier auf ihn warten?", will mein Leibwähter schließlich wissen. Ich sehe mich noch einmal um, dann entscheide ich: "Wir warten! Ich will, dass er den Schock seinen Lebens bekommt, wenn er da rauswankt." Ich hole mir den Stuhl vor dem Schreibtisch und stelle ihn gut drei Schritte vor der Badezimmertür ab. Mit der Lehne voran, setze ich mich. Ich freu mich jetzt schon auf sein dummes Gesicht. Toni setzt sich auf die Lehne des Sofas, die als einzige keine Flecken aufweist und winkelt sein rechtes Bein an. Er zieht seine Pistole und hält sie griffbereit. Er hat sicher nicht die Absicht hier, mitten in einem Wohnhaus, zu schießen, aber als Druckmittel kann eine Waffe nie schaden.

Hinter der Tür tut sich etwas, das Wasser der Dusche wird abgedreht. Seltsame Laute sind zu hören, wie als wenn jemand versucht, mit einem Knebel im Mund zu sprechen. Ich sehe fragend zu Toni, der mir einen ähnlichen Blick zuwirft. Verdammt! Ich hatte so gehofft Vincent hätte heute mal keinen Jungen hier, aber dann wäre er sicher nicht in diese Loch gekommen.

Die Klinke der Tür bewegt sich, sie wird geöffnet und eine kleine, dunkelhäutige Person fällt heraus. Sie landet direkt neben mir. Ich sehe in die großen braunen Augen, die wild erschrocken zurückblicken. Sie sind gerötet und mit Tränen überflutet. Im Mund des Jungen, der kaum älter als 12 Jahre sein dürfte, steckt ein Tuch, seine Hände sind mit Seilen auf seinem Rücken fixiert und zwischen seinen Fingern steckt eine rote Rose, die bereits verwelkt und ihre Blätter verliert. Bis auf seine Fesseln ist er nackt. Ich wende mich kopfschüttelnd von ihm ab, doch seine ängstlichen Augen haben sich längst in mein Gedächtnis gebrannt.

Vincent tritt nur einen Moment später durch die Tür, doch als er uns in seinem Wohnzimmer sitzen sieht, weicht er einen Schritt zurück. Ich lächle verschwörerisch, als ich ihn anspreche: "Guten Abend Vincent! Lange nicht gesehen!" Der große Mann mit den schwarzen kurzen Haaren und dem Dreitagebart, atmet tief durch. Er trägt lediglich ein Handtuch um die Hüften. Seine Gesichtszüge glätten sich, den anfänglichen Schrecken hat er rasch überwunden. Er bemüht sich gerade auf seinen schwankenden Beinen zu stehen und eine stolze Haltung zu bewahren. Hat er etwa mit uns gerechnet?

"Ichhhhh wusste ihr wür ... würdet früher oder ssscchpäter kommen", lallt er. Jetzt bin ich es, der überrascht ist. Hat er sich deswegen die ganze Woche so zulaufen lassen, weil er geahnt hat, dass seine Tage gezählt sind? Woran hat er es denn gemerkt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Toni und ich unauffällig verhalten haben.

"Ach wirklich? Woher?", frage ich.

"Man erhält nur am Ende schheeines Lebens eine rote Roschee von Aaron." Vincents Blick fällt auf die Rose, die er dem Jungen zwischen die Finger geschoben hat. Wie geschmacklos!

"Aber ichhhh hätte nicchhht gedacht, das er einen Geist schicken würde", lallt er weiter und scheint das ernst zu meinen. Ist er high? Die Pupillen seiner Augen sind geweitet, ich erinnere mich an die benutzte Spritze auf dem Tisch. Er hat sich also schon einen Schuss gesetzt?

"Ich bin kein Geist, aber du wirst gleich einer sein!", lasse ich ihn ruhig wissen. Vincents Lippen umspielt ein seltsames Lächeln. Er macht nicht den Eindruck, als wolle er sich kampflos ergeben und das trotz seines zugedröhnten Zustandes. Er sieht mich noch einen Moment lang an, dann greift er nach etwas, dass sich hinter der halb geöffneten Badezimmertür befindet. Ich drücke mich vom Stuhl hoch, in Erwartung eines Angriffes. Im Augenwinkel kann ich schon das Rasiermesser sehen, mit dem er sich auf mich stürzen will. Als er über die Türschwelle tritt, stolpert er über die Beine des Jungen, der sie ihm in den Weg gelegt hat. Zeit zum Nachdenken, dass das Absicht von dem Knaben war, habe ich nicht mehr. Ich stehe auf, packe seinen Arm mit dem Messer und werfe ihn zu Boden. Mit eiserner Faust hält er es auch dort noch fest umschlugen und schlägt damit nach mir. Ich trete auf seine Hand und verlagere mein ganzes Gewicht auf sie, bis seine Finger das Messer freigeben. Er knurrt wütend und strampelt wild mit den Armen und Beinen, doch seine Koordination ist schlecht, er schlägt immer wieder ins leere. Ich nehme ihm das Messer ab und werfe es zurück ins Badezimmer. Toni kommt zu mir, gemeinsam packen wir ihn unter den Armen und ziehen ihn zum Heizkörper. Dieses Mal sind es Vincents Hände, die mit den Handschellen fixiert werden. Er sieht uns wütend an und spuckt.

"Ihr Missgeburten! Meine Leute werden euch dafür die Kehle aufschlitzen!" Ich muss über seine Drohung schmunzeln.

"Wie sagst du immer so schön, es ist alles erlaubt, solange keiner etwas davon erfährt. Und keine Sorge, wir sagen es Niemandem."

Toni ist zum Tisch gegangen, er holt zwei Spritzen. Vincents Augen weiten sich, erst jetzt scheint sein vernebelter Geist zu begreifen, was ihm blüht. Mit den Füßen tritt er nach mir, doch seine Kraft ist lächerlich, ich nicht schwer, sie mit beiden Händen festzuhalten.

"Was hältst du davon, wenn wir beide jetzt mal ein bisschen Spaß miteinander haben?", wiederholt Toni den Wortlaut, mit dem Vincent ihm damals die Drogen verabreicht hat.

"Das werdet ihr noch bereuen!", knurrt er und klingt dabei erstaunlich nüchtern. Die Todesangst scheint ihn noch einmal zur Besinnung kommen zu lassen.

"Das glaube ich nicht. Die Welt kann auf jemanden, wie dich gut verzichten. Für das Vergnügen dir beim Sterben zuzusehen, geh ich auch gern in den Knast." Toni setzt die zwei Spritzen an dieselbe Stelle, die Vincent zuvor schon selbst benutzt hat. Er stöhnt gequält auf und beginnt am ganzen Körper zu zittern. Seine Gesichtsmuskulatur verzieht sich zu einer wilden Fratze, er will noch etwas sagen, doch es gelingt ihm nicht mehr.

Ich gebe seine Beine frei und löse auch seine Arme, bevor die Handschellen rote Striemen an seinen Handgelenken bilden können. Sich vor Schmerzen windend und von Muskelkrämpfen gepeinigt, kippt der große Mann zur Seit und bleibt mit dem Kopf in einem der Näpfe liegen. Ich sehe ihm noch eine Weile dabei zu, wie er sich von einer auf die andere Seite wälzt und sich sein Körper mit dem Dreck des Bodens besudelt. Wie gern würde ich ihm noch eine Kugel in den Kopf jagen.

"Stirb schneller!", knurre ich ihn an. Die letzte Spritze steckt noch in seinem Arm, sie wippt in seinem Todeskampf auf und ab, die andere legt Toni zurück auf den Tisch. Unter den starken Krämpfen setzt schließlich Vincents Atmung aus, sein Brustkorb hebt und senkt sich noch zweimal, dann erstarrt er. Ein Schwein weniger!

Mein Blick wandert zu dem Jungen am Boden, die großen dunkelbraunen Augen mustern uns hoffnungsvoll und mit stiller Bewunderung. Irgendetwas an seinem Gesicht kommt mir bekannt vor, doch ich bin mir sicher, ihm noch nie begegnet zu sein. Seine dunkelbrauenen Augen musstern mich, ohne einmal zu blinzeln. Ob er uns wohl für seine Retter hält? Wie dumm von ihm!

"Was wird jetzt aus dem da?", will mein Begleiter wissen. Ich wende meinen Blick von dem Jungen ab, als ich kalt antworte: "Lass ihn uns schnell umlegen und dann von hier verschwinden, bevor ich mich bei dem Gestank hier wirklich noch übergeben muss." Ich spüre den entsetzten Blick des Kindes auf mir, auch wenn ich nicht hinsehe. Jetzt sind wir wohl nicht mehr seine Helden. Toni kniet sich zu dem Jungen, seine Worte richtet er an mich: "Weißt du noch, dass wir uns mal geschworen haben, keine unschuldigen Kinder und keine Frauen?" Ich rolle mit den Augen. Das ist Jahre her und inzwischen hat sich meine Einstellung dazu völlig verändert.

"Das war bevor Frauen und Kinder versucht haben mich umzulegen. Glaub mir, niemand ist unschuldig."

"Mag sein", seufzt Toni und sieht wehmütig auf den Jungen hinab, "Aber trotzdem."

"Ich kann arbeiten!", ruft die helle Stimme des Jungen dazwischen. Erst jetzt sehe ich ihn wieder an. Der Knebel in seinem Mund hat sich gelöst, er sieht uns eindringlich an, ich kann keine Angst in seinen Augen erkennen. Dieser entschlossene Blick imponiert mir. Er glaubt also wirklich uns von Nutzen sein zu können?

"Tatsächlich?", entgegne ich ihm amüsiert, "Wer glaubst du denn, wer wir sind, dass wir ein Kind wie dich brauchen könnten?" Er hockt sich auf die Knie und richtet seinen Oberkörper schwerfällig auf. Seine dunkle Hautfarbe verbirgt die meisten blauen Flecke, doch ich bin mir sicher, dass Vincent nicht zimperlich mit ihm war. Trotzdem hat seine Haltung etwas Stolzes.

"Ihr seid Wölfe!", sagt er standhaft. Ich wundere mich einmal mehr über ihn. Woher weiß das Kind etwas von uns, obwohl es die Wölfe seit fünf Jahren nicht mehr gibt?

"Du bist Enrico River, der weiße Wolf." Ich fühle mich wie vor den Kopf gestoßen und kann mir dieses Wissen nicht erklären. Der Junge lächelt freundschaftlich und verwirrt mich damit nur noch mehr.

"Der Kurze hat was, lass ihn uns mitnehmen", höre ich Toni sagen, doch in meinem Geist kommen seine Worte nicht an. Krampfhaft überlege ich, warum mir die Gesichtszüge dieses Jungen so bekannt vorkommen. Als ich ihm nicht antworte, löst Toni die Fesseln des Kindes. Der Junge reibt sich die wunden Handgelenke und steht auf. Seine Haut ist noch ganz nass vom Duschen, er zittert am ganzen Körper und umfasst seine Schultern um sich wenigstens etwas warm zu halten. Als mich seine dunkelbrauen Augen erwartungsvoll mustern, fällt es mir wieder ein. Der Knabe ist viel jünger und schmächtiger, aber er sieht Angelo Fernandes zum Verwechseln ähnlich. Der Zwei-Meter-Schrank, den ich fast verblutet in einer Gasse aufgelesen habe und der daraufhin bei mir als Türsteher und Bodyguard angeheuert hat. Er war ein stattlicher Mann, der schon durch seine Statur Respekt einflößte, eigentlich aber ein sehr sanftmütiges Wesen besaß. Angelo hat nie viel über seine Vergangenheit oder Familie gesprochen, ich kann mich aber dunkel erinnern, dass er mal einen kleinen Bruder erwähnt hat. Doch noch bevor ich den Jungen danach fragen kann, beginnt er von allein zu erzählen:

"Mein großer Bruder hat für dich gearbeitet. Er ist bei dem Anschlag vor fünf Jahren getötet worden." Ich seufze schwer und sehe einen Moment lang unter dem festen Blick des Kindes hinweg. Ich habe bisher noch nicht gewagt, nach den Namen der Opfer zu fragen. Angelo ist der Erste, den ich ganz offiziell höre. Ich habe nicht gesehen, wie er getötet wurde. Er hatte auch an diesem Tag Dienst als Türsteher vor dem Tor der Fabrik. Er sollte die Geburtstagsgäste auf Schuss und Stichwaffen kontrollieren. Sicher ist er als einer der Ersten getötet wurden. Es tut weh zu wissen, dass er nicht überlebt hat.

Ich bin wirklich ein schrecklicher Mensch geworden, um ein Haar hätte ich seinen kleinen Bruder geopfert. Ganz gleich welches Risiko ein Zeuge auch darstellt, ich bin es Angelo schuldig, mich um den Kleinen zu kümmern. Ich hebe den Blick und sehe dem Jungen wieder ins Gesicht. Die großen Augen schauen mich noch immer mit diesem festen Blick an, so wie es Angelo auch immer getan hat, wenn er mich auf einen Fehler aufmerksam machen wollte. Ich streife mir meine Jacke von den Armen und lege sie dem Kind über die nackten Schultern. Sie ist ihm so groß, dass sie bis zu seinen Knien reicht. Er lächelt dankbar und zieht sie eng um seinen frierenden Körper.

"Wie ist dein Name?", will ich wissen.

"Leandro Fernandes!", erwidert er mit zitternden Lippen, die sich bereits blau gefärbt haben.

"Nun dann Leandro Fernandes, du hast gesagt du könntest arbeiten. Ich könnte helfende Hände beim Aufbau meiner Fabrik brauchen. Willst du für mich arbeiten?" Ein düsterer Blick legt sich auf das kindliche Gesicht.

"Nur, wenn ich mich an den Mördern meines Bruders rächen darf." Toni muss lachen, er wuschelt dem Jungen durch die kurzen schwarzen Haare und meint fröhlich:

"Der Kurze gefällt mir." Der Blick des Jungen ändert sich nicht, er schaut noch immer zu allem entschlossen. Auch ich kann mich nicht dagegen wehren ihn gern zu haben.

"Du wirst deine Gelegenheit bekommen, dafür sorge ich." Ein Lächeln stiehlt sich auf das Gesicht des Kindes, doch es hält sich nicht lange dort. Jetzt wo er sein Ziel erreicht hat, weicht die Willenskraft aus seiner Haltung. Er senkt den Blick und schaut müde und ermattet vor sich hin.

"Können ... können wir weg von hier gehen ... bitte?", fragt er zaghaft. Mir wird erst in diesem Moment wieder bewusst, was er hier durchgestanden hat. Mitleid erfüllt mich und ich spüre noch mehr das Verlangen, mich seiner anzunehmen.

"Nichts lieber, als das", sage ich und werfe einen letzten Blick auf Vincent. Er liegt mit dem Kopf in einem Haufen Fäkalien. Ein würdiges Ende, für jemanden wie ihn.

Leandro hat meine Jacke geschlossen und folgt uns auf seinen nackten Füßen, mit gesenktem Kopf. Er sieht schrecklich aus, nichts ist mehr übrig, von der Stärke, die mich so beeindruckt hat.

"Wie viel hast du noch einstecken?", will ich von Toni wissen. Er sieht zu dem Kind, das mit zwei Schrittlängen Abstand hinter uns her schleicht. Er versteht, worauf ich hinaus will und sieht in seiner Geldbörse nach.

"Zwei Dollar und ein paar Pennys." Er zeigt mir die letzten beiden Schein, die er einstecken hat.

"Nur? Was ist mit dem Geld von den Docks?", frage ich entsetzt.

"Ich hab meine Schulden damit getilgt." Ich seufze und ziehe meine eigene Geldbörse. Als ich alle Scheine durchgesehen habe, kommen nicht mehr als zehn Dollar zusammen. Zwölf also zusammen. Ich schaue über die Schulter zurück zu Leandro und seufze. Es hilft alles nichts. Der Kurze braucht was zum Anziehen und wir alle drei was zu Essen. Dann muss ich mir eben was einfallen lassen, bis wir unseren ersten Lohn von Erik erhalten.

"Leandro, was hältst du von ein paar Klamotten, die passen?", rufe ich dem Jungen zu. Er braucht einen Moment, um zu reagieren. Scheinbar war er tief in seinen Gedanken versunken.

"Ehrlich? Ich darf mir was aussuchen?" Ein flüchtiges Strahlen legt sich in die müden Augen, die von tiefen Augenringen umrahmt sind. Er holt zu uns auf und läuft neben mir.

Ich schaue ihn kritisch an.

"Du darfst anziehen, was ich dir kaufe!", entgegne ich streng. Das Strahlen schwindet aus dem kindlichen Gesicht, er nickt verstehend.

"Du hörst dich schon an wie Aaron", mahnt Toni. Ernsthaft? Bin ich schon genauso spießig, wie er? Ist ja schrecklich! Das muss ich mir dringend abgewöhnen.

Wir kommen an einem Geschäft für Kinderbekleidung vorbei. Ich bleibe stehen, Leandro und Toni tun es mir gleich. Aus meiner Geldbörse ziehe ich fünf Dollar Scheine und reiche sie dem Kind.

"Geh und such dir dafür was aus!" Leandros Augen werden wieder größer, er sieht mich fragend an und wagt es nicht, nach den Scheinen zu greifen.

"Nun nimm und geh! Die Leute bleiben schon stehen, weil du in meiner Jacke so lächerlich aussiehst." Der Junge nickt, er nimmt das Geld und verschwindet im Geschäft. Tatsächlich sind einige Passanten stehen geblieben, die uns verwirrt mustern, doch als ich jedem von ihnen einen finsteren Blick zuwerfe, gehen sie alle weiter. Zwei weiße und ein schwarzes halbnacktes Kind. Ich will gar nicht wissen, was die denken.

"Du hättest den Kurzen wirklich umgelegt, oder?", will Toni plötzlich von mir wissen. Ich brauche einen Moment, bis ich über seine Frage nachgedacht habe und ihm bitter antworte: "Ja!"

Toni tritt neben mich, gemeinsam beobachten wir Leandro durch das Schaufenster, wie er die Kleiderständer durchsucht und von der Bedienung argwöhnisch beobachtet wird.

"Seit dem Anschlag hast du dich ganz schön verändert", fährt mein Freund fort ohne mich anzusehen. Seine Hände stecken in den Taschen seines Jacketts, seine Augen beobachten den Jungen. Ich schweige.

"Du vertraust keinem mehr, oder?" Da hat er Recht. Seit ich weiß, dass wir eine Ratte unter uns hatten, bin ich vorsichtig geworden. Ich habe noch immer keine Ahnung, wem der leere Platz an meinem Geburtstag gehört hat, somit ist jeder verdächtig. Jeder, bis auf einen.

"Ich vertraue dir! Das muss reichen!"

Leandro ist fündig geworden. Mit einer Unterhose, einer Jeans, einer dünnen Jacke und einem langen Pullover verschwindet er in der Umkleidekabine. Er zieht sich rasch um und kommt mit meiner Jacke unter dem Arm wieder heraus. Für alles zusammen hat er nicht mal fünf Minuten gebraucht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er so schnell Entscheidungen fällen kann. Eigentlich ist es viel zu schade um ihn, als dass ich ihn in meine Geschäfte verwickeln sollte. Er ist ein kluger Junge mit einem erstaunlich festen Charakter, er sollte zur Schule gehen und ein anständiges Leben führen. Leandro wechselt ein paar Worte mit der Verkäuferin und bezahlt die Kleidungsstücke, dann kommt er zu uns. Kommentarlos reicht er mir das Wechselgeld. Es sind noch 2 Dollar und ein paar Pennys übrig. Wieder sehe ich den Knirps überrascht an. Ich habe damit gerechnet, dass er alles ausgibt. Die Sachen, die er sich ausgesucht hat sind einfach und aus billigem Stoff. Er ist bescheiden, eine Eigenschaft, die mir in den letzten Tagen selten untergekommen ist. Ich nehme Leandro meine Jacke ab und lasse ihm das Geld.

"Behalte den Rest. Kauf dir davon was zu essen und geh dann heim, deine Familie macht sich sicher schon Sorgen um dich." Der Junge sieht mich mit großen Augen an. Ich wende mich von ihm ab und gehe weiter. Diese Entscheidung werde ich sicher noch bereuen, spätestens wenn die Bullen nach mir suchen, aber er hat noch eine Zukunft, bei Toni und mir ist es längst zu spät.

"Wir lassen ihn laufen?", ruft Toni mir nach. Er folgt mir mit schnellen Schritten. Doch noch bevor ich ihm antworten kann, hat Leandro uns eingeholt. Er stellt sich mir in den Weg und sieht mich mit diesem festen Blick an, den ich so an ihm mag.

"Ich dachte ich darf mit euch kommen und meinen Bruder rächen?" Ich laufe einen Bogen um das Kind und lasse ihn stehen.

"Geh nach Hause Kleiner und freu dich darüber, dass du noch am Leben bist. Rache wird dich weder ernähren, noch dir ein Dach über dem Kopf geben, es bringt dich nur früher oder später um."

"Ich habe keine Familie und kein zu Hause und wenn ich bei dem Versuch meinen Bruder zu rächen sterbe, ist mir das egal! Ihr habt mich gerettet, jetzt seid ihr auch für mich verantwortlich!", schreit Leandro uns hinterher. Ich bleibe seufzend stehen und drehe mich zu ihm um. Mit gesenkten Armen, die Fäuste geballt und die Beine weit auseinander gespreizt, sieht Leandro uns stur an. Diese Kind ist gerade erst der Hölle entkommen, woher nimmt er nur diesen Mut, sich mit zwei Mördern, wie uns, anzulegen?

"Ich hätte ihn umlegen soll'n, als es noch einfach war", flüstere ich Toni zu.

"Wie würde Aaron jetzt sagen: Aus dem wird mal was Großes", lacht er.

"Halt die Klappe!", belle ich. Es nervt mich schon die ganze Zeit, dass er dieses Kind am liebsten adoptieren will.

"Ach komm schon! Lass ihn uns zu einem Wolf machen."

"Wenn du nen Haustier willst, dann kauf dir nen Hund!"

"Was ist denn dein Problem?", schreit Toni.

"Ich will nicht, dass er so endet wie wir!"

Kleine Hände packen meinem Hosenbein, ich sehe an mir hinab. Leandro klammert sich an mich und sieht mich mit nassen Augen an.

"Bitte, ich will mit euch kommen. Ich will ein Wolf werden, wie mein großer Bruder."

"Nein, das willst du ganz bestimmt nicht." Ich greife die Schultern des Kindes und knie mich zu ihm hinab. Dieses Mal sehe ich ihm fest in die Augen.

"Du bist noch ein Kind, du gehörst in die Schule und in eine Familie, die sich um dich kümmert. Dein Bruder war ein starker Mann und ist trotzdem getötet worden. Was glaubst du, wie lange du in meiner Welt überleben würdest?"

"Ich sterbe auch so, wenn ihr mich allein lasst." Tränen überfluten sein Gesicht, er schluchzt herzzerreißend und schlingt seine dünnen Arme um meinen Hals.

"Bitte lasst mich nicht allein! Diese Männer werden mich finden und dann verkaufen sie mich an einen anderen brutalen Kerl. Bitte, ich will das nicht mehr ... ich hab so große Angst! Lasst mich nicht allein!" Leandros Stimme wird immer brüchiger, ganz langsam weicht die Kraft aus seinem geschundenen Körper und er sinkt mir gänzlich in die Arme.

"Ich will nicht mehr allein sein", schnieft er verzweifelt. Ich atme schwer durch und versuche vergeblich die Gedanken daran zu verdrängen, was das Kind in den letzten Tagen ertragen musste. Aus seinen Worten werde ich zwar nicht ganz schlau, aber ich ahne, dass er einem Kinderhänderring in die Hände gefallen ist. Wenn Vincent gefunden wird und bei ihm kein Kind ist, wird das in diesen Kreisen schnell die Runde machen. Leandro ist jetzt nicht nur Zeuge eines Mordes, sondern kennt auch die Männer, die ihn an Vincent verkauft haben.

Ich hebe den Jungen hoch und stehe auf. Seine Arme sind noch immer fest um meinen Hals geschlungen, seine heißen Tränen laufen mir in den Nacken, mein Hemdkragen ist schon ganz nass. Was mach ich denn jetzt nur mit ihm?

Leandros Schluchzen wird leiser, seine Arme verlieren an Spannung. Was für ein verrücktes Kind, schläft einfach in den Armen eines Mörders, ein. Ich seufze resigniert. Warum habe ich ihn nicht einfach umgelegt? Jetzt ist er mir bereits viel zu sehr ans Herz gewachsen. Besser ich denke nicht darüber nach, was ich mir da für Probleme aufhalse. Mit dem Kind auf den Armen laufe ich weiter. Toni folgt mir mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Er legt die Arme hinter den Kopf und stolziert fröhlich neben uns her.

"Soll ich ihm ne Hundehütte bauen, wenn wir im Lager sind?", will er irgendwann lachend wissen. Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Ich mache mit Leandro gerade dasselbe, was man mir als Kind zugemutet hat.

"Halt die klappe Toni, das ist nicht lustig! Wir zerstören hier ein Leben!"

"Und das stört dich auf einmal? Seid wir in New York sind haben wir schon sieben Leben ausgelöscht."

"Das waren keine unschuldigen Kinder." Toni klopft mir auf die Schulter.

"Na das klingt doch endlich wieder nach dir. Ich wusste von Anfang an dass du den Kurzen nicht sich selbst überlässt." Ich murre in mich hinein. Als wenn wir hier etwas Heldenhaftes tun würden. Wir sind nicht die Guten in Leandros Geschichte, nur weil wir sein Leben gerettet haben!

~Clantreffen~

Wenn wir nicht gerade Vincent überwachten, waren Toni und ich mit dem Wiederaufbau der Fabrik beschäftigt. Da Anette ihn aus ihrem gemeinsamen Apartment rausgeworfen hatte und er auch bei Raphael nicht mehr erwünscht war, blieb uns nichts anderes übrig, als in die verwüstete Ruine zu ziehen. Unsere alten Schlafzimmer haben wir inzwischen vom Schutt befreit, doch für neue Möbel war noch kein Geld übrig. Lediglich zwei Matratzen und Bettzeug konnte ich uns organisieren. Unser erster Lohn bei Erik wird wohl vollständig für Lebensmittel, Kleidung und neue Möbel draufgehen. Wahrscheinlich wird das nicht einmal reichen, jetzt wo wir auch noch Leandro mitversorgen müssen.

Ich seufze, als ich den Jungen durch den verbrannten Aufenthaltsraum trage. Er schläft inzwischen tief und fest und lässt sich nicht mal von dem lauten Knarren der Eisentür wecken, die Toni für sie uns öffnet.

Während Toni in seinem Zimmer verschwindet, bringe ich Leandro in den Raum daneben zu meinem provisorischen Nachtlager. Als ich ihn auf die Matratze lege und zudecke, öffnet er nur kurz die Augen. Er scheint mich zu erkennen, denn er lächelt, als er sich die Decke bis zum Kinn zieht und rasch wieder einschläft. Noch immer spukt mir das verdreckte Apartment durch den Kopf und ich werde den Gedanken nicht los, was Leandro dort erlebt haben mag. Ihn schnell und schmerzlos zu töten ist das eine, aber ihn wochenlang festzuhalten und zu ... Ich verbanne diese Gedanken aus meinem Kopf. Unter der Decke schaut nur noch ein schwarzer Haarschopf heraus. Es ist sicher eine Ewigkeit her, dass der Junge ein solches Nachtlager genossen hat. Für Heute werde ich es ihm überlassen, für alle kommenden Nächte, sollten wir ihm einen anderen Raum fertig machen. Eine alte Matratze werde ich sicher auftreiben können. Ich würde ja auch bei Toni schlafen, aber seit der Sache mit Anette, spinnt er diesbezüglich rum. Es muss wohl so irgendwie gehen. Ich betrachte den Jungen noch eine Weile, sein Schlaf ist friedlich, doch ich kann mir vorstellen, dass es nach all diesen schrecklichen Erlebnissen nicht so bleibt. Selbst mich plagen noch regelmäßig Alpträume, dabei ist der Anschlag schon fünf Jahre her. Ich entschließe mich die Nacht im Zimmer zu bleiben und ihn zu wecken, sollte er sich im Schlaf hin und her werfen.

"Du überlässt ihm dein Bett?" Ich fahre zusammen. Toni steht in der Tür und betrachtet den Jungen unter der Decke.

"Erschreck mich nicht so", klage ich, doch er lächelt nur versöhnlich. Mein Freund kommt zu mir und legt mir seine Hand auf die Schulter.

"Du bist gar kein so schlechter Mensch, wie du immer denkst."

"Ach findest du?" Ich kann ihm nicht zustimmen. "Ich denke du täuschst dich. Wir brauchen neue Mitglieder, wenn wir die Wölfe wieder aufbauen wollen, das ist der einzige Grund, warum ich ihn am Leben lasse."

"Erzähl keinen Mist. Du magst ihn. Das ist der Grund." Ich brumme in mich hinein und schweige. Er würde mir sowieso die Worte im Mund umdrehen und eigentlich hat er ja auch Recht. Toni streckt sich und gähnt ausgiebig.

"Also ich weiß nicht wies dir geht, aber ich bin hundemüde. Ich hau mich aufs Ohr." Er geht zur Tür, doch noch bevor er den Raum verlässt, dreht er sich noch einmal zu mir.

"Und Enrico!" Ich schaue fragend. "Glaub ja nicht, nur weil der Kurze jetzt da ist, dass du bei mir pennen kannst."

"Leck mich!" Das braucht er mir nicht jeden Tag sagen. Als er geht, folge ich ihm und werfe ich die Tür schwungvoll nach ihm zu. Seit wir seine Sachen bei Anette abgeholt haben, geht er auf Abstand und das nur, weil sie ihm noch einmal ordentlich die Meinung gesagt und bei der Gelegenheit auch gleich den Umgang mit seiner Tochter verboten hat. Seit Tagen versucht er sich mit geklauten Blumen oder anderen Dingen bei ihr wieder einzuschleimen. Mich nervt sein rückgratloses Verhalten. Ich renne meiner Frau doch auch nicht hinterher, obwohl ich seit dem Besuch bei Aaron nichts mehr von ihr gehört habe. Wir könnten es hier so schön haben, Anette müsste nicht mal etwas davon erfahren.

Ich durchquere das Zimmer und lasse mich auf dem Fensterbrett nieder. Der Vollmond ist so hell, dass er den ganzen Raum ausleuchtet. Der Jung schläft friedlich, scheinbar fühlt er sich wirklich wohl in unserer Mitte, oder er ist einfach nur erschöpft? Etwas Gutes hat es, dass er hier ist. Meine Gedanken hören auf sich nur um Toni und unsere Frauen zu drehen.

"Guten Morgen!", spricht mich eine fröhliche Kinderstimme an. Ich blinzle in das grelle Tageslicht und kann zwei dunkelbraune Augen erkennen, die mich hilfesuchend ansehen. Leandro ist also schon wach? Wie lange habe ich denn geschlafen?

"Guten Morgen!", antworte ich mit einem langgezogenen Gähnen und muss mich erst mal strecken. Nach der Nacht auf dem Fensterbrett sind alle meine Muskeln verspannt. Leandro tritt unterdessen nervös von einem Bein auf das andere.

"Wo ist denn hier das Klo?", will er von mir wissen. Ich lächle verstehend, doch muss ich den Jungen enttäuschen. Unsere sanitären Einrichtungen funktionieren noch nicht, ein Baum oder Busch muss ihm vorerst genügen. Ich rutsche vom Fensterbrett und lege meinen Arm um die Schulter des Jungen.

"Wir haben noch kein funktionierendes Klo. Ich hoffe ein Baum wird es auch tun?" Leandro sieht mich breit grinsend an, als er mir entgegnet: "Wenn ich mir den Baum aussuchen darf." War das etwa eine Anspielung auf den gestrigen Abend? Ich muss über den Jungen schmunzeln und wuschle ihm durch die zerzausten Haare. Frech kann er also auch noch sein, mit ihm werde ich sicher noch meine liebe Not haben.

Ich begleite Leandro nach draußen. Während wir uns gemeinsam erleichtern, fängt er wieder an zu sprechen: "Mein Bruder hat mir ganz viel von der alten Fabrik erzählt und auch von den Wölfen. Es soll immer lustig hier gewesen sein. Ihr habt hier ganz viele Spiele gespielt und gefeiert. Warum ist denn jetzt keiner mehr hier?" Ich sehe von Leandro über den zugewucherten Innenhof. Das Gelände ist so weitläufig, dass man ohne Probleme zwanzig Lkws unterbringen kann und noch immer genug Platz wäre, damit sie rangieren können. Auf den zugewachsenen Bodenplatten kann man noch dunkle Reifenspuren erkennen. Zum Zeitvertreib und um die schnellsten und besten Fahrer zu ermitteln, sind wir hier oft Rennen gefahren. Die ersten drei haben an illegalen Straßenrennen teilgenommen, auch Toni und ich sind oft mitgefahren. Die Wölfe hatten einen gefährlichen Ruf in dieser Szene, wir haben beinah jedes Rennen gewonnen und auch etliche selbst veranstaltet.

Mein Blick wandert zu dem leerstehenden Fabrikgebäude. Etliche Fensterscheiben sind eingeschlagen und zwei Birken ranken sich über den Backstein der Sonne entgegen. Es ist kaum zu glauben, dass wir hier während der Prohibition, mal ein gut besuchtes Lokal führten. Neben den Teestuben gab es etliche Hinterzimmer, mit den unterschiedlichsten Glücksspielen. Mal von den Auftragsmorden für Aaron und den gelegentlichen Diebstählen abgesehen, war das unsere größte Einnahmequelle. Hier war immer etwas los, selbst früh am Morgen konnte man die verschiedensten Stimmen hören, die miteinander scherzten, sich stritten oder grölten. Ich hatte ständig irgendetwas zu tun. Ob es nun galt ein paar Streithähne zu trennen oder die Aufgaben für den Tag zu verteilen. Hier habe ich Millionengeschäfte abgewickelt, Waffen vertickt, reiche Geschäftspartner mit kurzweiligen Glücksspielen und Partys für unsere Sache gewonnen. Und jetzt? Es ist so unnatürlich still geworden. Nur das Zwitschern der Vögel begleitet meine Gedanken. Ich schließe den Hosenstall, dann versuche ich mich an einer Antwort: "Die Wölfe gibt es nicht mehr." Meine Stimme klingt bitter. Ich habe so lange den Gedanken an meinen Clan vor mir her geschoben, dass mir erst jetzt klar wird, wie sehr mich der Verlust schmerzt.

"Viele meiner Leute sind getötet worden und ich selbst bin auch erst seit ein paar Wochen zurück." Viel weiter will ich vor dem Knaben nicht ins Detail gehen. Leandro hört aufmerksam zu, seine dunkelbraunen Augen mustern mich durchdringend.

"Sind denn wirklich alle tot?" Die Frage des Kindes lässt mir den Atem stocken. Genau das habe ich nie gewagt in Erfahrung zu bringen. Ich seufze gequält, bevor ich zugebe: "Ich weiß es nicht."

"Dann sollten wir es vielleicht herausfinden?" Leandros unschuldiger Blick und seine einfache unbeschwerte Art die Dinge zu sehen, verschlägt mir einmal mehr die Sprache. Ich denke darüber nach. Eigentlich hat er Recht, es wird langsam Zeit, mich der Vergangenheit zu stellen und die unausweichliche Wahrheit heraus zu finden.

"Da hast du Recht, das sollten wir." Der Versuch zu lächeln missglückt mir. Ich weiß noch nicht mal, wo ich mit der Suche anfangen soll. Fünf Jahre sind einfach eine viel zu lange Zeit. Ich hätte schon hier sein müssen, um zu wissen, wohin sich die Überlebenden zerschlagen haben. Toni ist der Einzige, den ich fragen kann. Bei seinem guten Gedächtnis, weiß er mit Sicherheit, wer wohin gezogen ist. Das Beste wird sein, ich beauftrage ihn damit, mir eine Liste zu erstellen und die besagten Personen zu einem Treffen zusammen zu rufen. So hat er wenigstens was zu tun, wenn ich heute zum Clantreffen fahre, denn mitnehmen werde ich ihn nicht. Ich bin ganz froh ihn mal für eine Weile los zu sein.

Mein Blick wandert auf die Uhr an meinem Handgelenk. Es ist schon Neun? Ich habe nicht mal mehr eine Stunde. Verflucht, ich habe viel zu lange geschlafen. Eilig wende ich meine Schritte zurück zur Fabrik. Leandro läuft mir nach, seine Kinderaugen sehen mich aufgeregt an.

"Was machen wir jetzt?"

"Ich schicke dich und Toni auf die Suche nach den überlebenden Wölfen."

"Ehrlich? Ich darf helfen!"

"Sicher! Sieh es als deine erste Aufgabe als richtiger Wolf an." Leandros Augen bekommen einen strahlenden Glanz. Ihm scheint wirklich viel daran zu liegen, wie sein großer Bruder, ein Teil meines Clans zu werden. Verrückter Junge!

Aus meinem Zimmer hole ich Stift und Notziblock und gehe zu Toni. Ohne anzuklopfen öffne ich die Tür. Er schläft friedlich und tief vergraben unter seiner Decke. Dieser elende Faulpelz!

"Toni aufstehen! Ich hab nen Job für dich!", schreie ich. Meine laute Stimme wird noch durch das Echo des leeren Raumes verstärkt. Neben der Matratze und seinem Gitarrenkoffer am Boden, liegen nur seine Klamotten ordentlich zusammengelegt und aufgereiht auf dem Fensterbrett. Erschrocken fährt Toni aus dem Schlaf.

"Boar! Spinnst du?", knurrt er und sieht mich schlaftrunken an. Ich werfe ihm Block und Stift in den Schoß.

"Während ich auf dem Clantreffen bin, wirst du mit Leandro eine Liste aller noch lebenden Wölfe aufstellen. Dann sucht ihr euch ne Telefonzelle und ruft alle an oder fahrt vorbei. Nächstes Wochenende halten wir hier ein Treffen ab. Wird Zeit dass ich das Rudel zusammenrufe." Toni sieht mich irritiert an, er zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe.

"Wer bist du und was hast du mit Enrico gemacht?" Ich schenke ihm nur ein amüsiertes Lächeln, dann schiebe ich Leandro in den Raum.

"Nimm den Kurzen mit, bei der Gelegenheit kannst du ihm gleich erklären, wie es hier bei uns läuft." Mein Blick wandert auf die Uhr an meinem Handgelenk. Mir bleiben noch 45 Minuten, um bei Aaron aufzuschlagen. Besser ich mache mich sofort auf den Weg.

"He Enrico! Soll ich dich wirklich nicht begleiten?"

"Nicht nötig. Mit Aaron und den anderen Beiden, werde ich schon allein fertig." Ich werfe die Tür nach mir zu und mache mich auf den Weg.

Das Tor steht bereits offen, als ich Aarons Anwesen erreiche. Im Garten ist niemand zu sehen, nur Scotch und Brandy bellen heiser aus ihrem Zwinger. Ich fahre über den Kiesweg bis zum Anwesen hinauf und stelle mein Motorrad neben der Steintreppe ab, die zur Eingangstür führt. Mir fallen zwei Automobile auf, die etwas abseits neben Aarons Wagen parken. Die anderen sind also schon da. Na super, ich bin der Letzte, dass sieht mir mal wieder ähnlich. Ich nehme rasch die Brille ab und steige vom Motorrad. Als ich die Treppen hinauf eile, ruft eine bekannte Stimme nach mir:

"Enrico!? Verflucht! Es stimmt also? Und ich hab es für ein Gerücht gehalten." Ich drehe mich auf der Suche nach dem jungen Mann um. Aus einem der Autos steigt Diego. Mir ist gar nicht bewusst geworden, dass dort noch jemand saß. Er wirft die Autotür nach sich zu und kommt zu mir. Diego hat sich kein Stück verändert, sein Sakko ist aus teurer Seide, ebenso das weiße Hemd darunter. Die Designerschuhe an seinen Füßen sind auf Hochglanz poliert. Obwohl er straff auf die Dreißig zugeht, ist er um keinen Tag gealtert. Ich freue mich riesig, dass er in so guter Verfassung ist. Das letzte Mal, als wir uns sahen, fiel er mir blutüberströmt in die Arme. Sein Leibwächter hatte ihn aus der Schusslinie bringen müssen, während Toni und ich zurückblieben, um ihnen und den anderen Überlebenden den Rücken zu decken. Er ist also durch gekommen und führt noch immer seine Clan, dann wird dieses Treffen vielleicht nicht ganz so steif, wie ich befürchtet hatte.

Ich gehe ihm für eine Begrüßung entgegen, wir fallen uns in die Arme und geben uns gegenseitig einen kräftigen Schlag auf den Rücken.

"Du siehst gut aus", freue ich mich und gebe ihn frei.

"Das macht der teure Anzug." Er lacht und zieht sein Sakko zurecht, dann mustert er mich von oben bis unten.

"Aber du siehst echt scheiße aus." Dass er immer so gnadenlos ehrlich sein muss.

"Die vergangenen fünf Jahre waren hart und die letzte Nacht habe ich kaum geschlafen", entgegne ich lediglich.

"Du musst mir alles darüber erzählen! Wo du gewesen bist und so weiter." Der Bandenchef legt mir seinen Arm freundschaftlich über die Schulter. Seine Stimme überschlägt sich und noch bevor ich etwas entgegnen kann, spricht er weiter: "Wenn du jetzt wieder da bist, heißt das, wir können bald wieder ein paar bei dir heben und ein bisschen zocken?" Er ist unmöglich! Ist das wirklich sein einziger Gedanke, wenn er mich sieht, die Partys und das Glücksspiel in meinem Lokal?

"Wenn du das Geld für den Wiederaufbau hast, gern", entgegne ich belustigt.

"Ach komm mir bloß nicht mit Geld! Wer kam eigentlich auf die hirnverbrannte Idee die Prohibition aufzuheben? Du ahnst nicht, wie viele Firmen sich in mein Geschäft reindrängen. Wenn das so weiter geht, kann ich mir bald ein neues Standbein suchen." Gemeinsam laufen wir die Stufen zum Anwesen hinauf. Ich öffne uns die Tür und wir treten ein. Diego redet noch immer wie ein Wasserfall: "Ich hatte eigentlich vermutet Aaron will mich wegen dem Ende der Prohibition sehen. Ich habe mich schon auf einen langweiligen Tag eingestellt."

"Das ging mir genauso. Ich bin heil froh, dass du noch die Luca führst. Mit dir kann man wenigstens anständige Geschäfte machen, im Gegensatz zu Gio ..." Der Name des vierten Clanchefs bleibt mir im Halse stecken, als er direkt vor uns auftaucht. Der stattliche Italiener ist Mitte fünfzig, er trägt einen Bart über Kinn und Unterlippe und zieht seine buschigen Augenbrauen tief ins Gesicht. Ich kann den Kerl nicht ausstehen und sehe ebenso grimmig zurück. Seit ich mit meinem Clan zu einem der großen vier aufgestiegen bin, versucht er mir das Leben schwer zu machen und mich bei jeder Gelegenheit vor Aaron bloß zustellen. Auch gegen Diego wettert er nur all zu gern. Wir sind ihm zu jung und er traut uns diese hohe Position einfach nicht zu. Sollte ich jemals die Adoptionsurkunde unterzeichnen, wird er mein größtes Problem sein.

"Dann bist du also der Grund für das Treffen?", raunt er und macht auf mich einen genervten Eindruck. Er hasst es vor zehn Uhr auf den Beinen sein zu müssen.

"Sieht so aus!", entgegne ich ihm schnippisch.

"Dass du es wagst hier aufzukreuzen, nach so vielen Jahren. Was willst du überhaupt hier? Du hast nicht mal mehr nen Clan, den du vertreten könntest." Ich gehe an ihm vorbei, während ich ihm entgegne: "Stell keine so dummen Fragen, wenn du die Antwort schon kennst!" Ich habe keine Lust mit ihm zu diskutieren. Die Wölfe baue ich schon wieder auf, da braucht er sich keine Sorgen machen. Während ich Giovanni hinter mir lasse, eilt Diego mir nach, er hat ein breites Grinsen auf den Lippen und dreht sich beim Laufen nach Giovanni um.

"Jetzt schaust du dumm aus der Wäsche was? Damit kannst du deinen Platz als Aarons Liebling ein für alle Mal vergessen." Warum muss er unbedingt damit anfangen? Es ist ein offenes Geheimnis, das Aaron mich den anderen dreien vorgezogen hat. Diego kommt damit klar, doch Giovanni hat sich stets Chancen für sich selbst ausgemalt, einmal der Pate der Locos zu werden.

"Übertreib's nicht! Er hasst mich schon genug", mahne ich, doch der Chef der Luca lässt sich den Mund nicht so einfach verbieten.

"Ach lass mir den Spaß! Endlich habe ich mal wieder etwas Verstärkung. Du ahnst ja nicht, wie schwierig es mit Vincent und Giovanni allein war." Doch ich kann es mir sehr gut vorstellen. Die beiden sind gut doppelt so alt wie wir und haben schon immer auf uns herab gesehen. Gemeinsam war es kein Problem, ihnen die Stirn zu bieten, aber ganz allein hat sich Diego sicher nur schwer behaupten können. Giovanni folgt uns mit langsamen Schritten. Dass er nichts erwidert, macht mir Sorgen. Sicher wird er erst richtig loslegen, wenn wir mit Aaron zusammen sitzen. Ich stelle mich besser auf eine offene Konfrontation mit ihm ein.

Wir folgen der Treppe hinauf in den ersten Stock. Aaron wartet auf der letzten Stufe auf uns, er begrüßt zuerst Giovanni und dann Diego mit einer herzlichen Umarmung und bedeutet ihnen dann, dass sie ins Besprechungszimmer vorgehen sollen. Mich hingegen nimmt er ohne Begrüßung zur Seite. Die Beiden sehen noch einige Male zurück, bevor sie schließlich hinter einer der Türen verschwinden. Erst als sie nicht mehr zu sehen sind, legt Aaron sein Hand auf meine Schulter und beginnt zu sprechen: "Das war eine reife Leistung. Die Polizei geht davon aus, dass er sich die Überdosis selbst gesetzt hat. Besser hätte es nicht laufen können. Deinen Lohn bekommst du nach der Besprechung, wenn die anderen beiden weg sind."

"Das trifft sich gut. Ich bin sowieso gerade pleite." Aaron schweigt einen Moment, er sieht mich durchdringend an.

"Und du bist dir sicher, nicht Vincents Geschäfte übernehmen zu wollen?" Ich nicke. Drogenhandel war noch nie mein Ding, außerdem fühle ich mich nicht wohl dabei, den Clan zu übernehmen, dessen Boss ich auf dem Gewissen habe.

"Nimm doch Diego an Vincents Stelle. Das Ende der Prohibition versaut ihm früher oder später eh das Geschäft und mit Tabakwaren dealt er schon lange. In den Drogenhandel arbeitet er sich schnell ein, er ist noch jung und kennt sich in der Szene aus."

"Na schön, er wäre ohnehin meine zweite Wahl gewesen. Wie sieht es eigentlich mit deinen Geschäften aus? Hast du schon einen Plan, wie es mit den Wölfen weitergehen soll?" Ich schweige, um mir die Zeit zu verschaffen, darüber nachzudenken. Bisher hatte ich so viel um die Ohren, dass ich noch nicht dazu gekommen bin. Am liebsten würde ich ja an all das anknüpfen, was ich schon vor fünf Jahren aufgebaut hatte, nur dass ich mir nun keine Gedanken mehr um die Tarnung des Alkoholkonsums machen muss.

"Ich würde gern meinen Club wieder aufbauen und das Glücksspiel zum Laufen bringen. Außerdem stelle ich dir meinen Clan wieder als Cleanertrupp und Geldeintreiber zur Verfügung." Aaron folgt meinen Überlegungen, während ein verstecktes Lächeln seine Mundwinkel umspielt.

"Du hast noch eine andere Aufgabe für mich, oder?", frage ich gerade heraus.

"Lass dich überraschen", schmunzelt er und setzt sich in Bewegung. Zufrieden lächelnd folgt er Giovanni und Diego ins Besprechungszimmer. Ich hasse Überraschungen, besonders bei einem Clantreffen, seufzend gehe ich ihm nach.

Da sitzen wir also seit fünf Jahren mal wieder an einem Tisch. Giovanni Salvatore hat mir direkt gegenüber Platz genommen, sein Blick geht ständig von seiner Armbanduhr zur Tür. Er wartet auf Vincent. Die beiden haben oft geschäftlich miteinander zu tun gehabt. Eines von Giovannis Standbeinen ist der Menschenhandel und da Vincent ständig neue Jungen verbrauchte, war er bei ihm Stammkunde. Ich gehe jede Wette ein, dass Leandro von einem seiner Männer an Vincent verkauft wurde.

Leider kam auch ich nicht umhin, ständig mit Giovanni zu tun zu haben. Neben dem Menschenhandel, stützt sich sein Clan auf den Vertrieb und die Beschaffung von Automobilen. In diesem Rahmen kam er oft mit einem Auftrag zu mir. Er spannte mich für Diebstähle ein, oder suchte in meinen Reihen nach einer Transportmöglichkeit. Ich besaß mehrere LKWs und Lastzüge und zudem die schnellsten Fahrer der ganzen Stadt. In meinem Bruder fand er zusätzlich einen fähigen Mechaniker, der die ein oder andere geklaute Karre umbaute oder Reparaturen vornahm. Zu Freunden hat uns das trotzdem nicht gemacht. Ich musste ihm mehr als einmal wegen der Bezahlung unserer Dienste hinterher laufen. Ohne Druck auf ihn auszuüben, nimmt er mich nicht für voll.

Mit Diego De Luca hingegen, war ich von Anfang an auf einer Wellenlänge. Während der Prohibition leitete er mehrere illegale Brennereien und vertrieb so ziemlich alle Spirituosen, die es unter der Hand zu bekommen waren. In meinen Teestuben setzte ich ein Viertel seiner Ware um. Wir hatten beinahe täglich miteinander zu tun, allerdings weniger wegen den Geschäften, die meist von allein liefen, sondern weil er die Atmosphäre in meinem Club genoss. Diego braucht immer Action um sich herum und lässt keine Gelegenheit aus Geld auf den Kopf zu hauen und Partys zu feiern.

Vincent Sivori hingegen hatte sich auf Drogen und Tabakwaren spezialisiert. Dabei war er selbst sein bester Kunde. Ein Teil seiner Zigarren und Zigaretten landete auch bei mir im Club, doch mit seinen Drogengeschäften hatte ich wenig am Hut. Die verwahrlosten Junkies wollte ich bei mir nicht haben. Ich duldete nicht mal betrunkene Gäste, wenn sie sich nicht benehmen konnten. Dabei war mir egal, um wen es sich dabei handelte. Wer zweimal für Ärger sorgte bekam zudem Hausverbot. Randalierende und ungepflegte Gäste waren einfach kein gutes Aushängeschild, schon gar nicht, wenn ich hochrangige Personen aus Wirtschaft und Politik zu Besuch hatte und das war beinahe täglich der Fall.

Aaron ist der einzige von uns, der stehen geblieben ist. Er nimmt eine Tageszeitung vom Schreibtisch und wirft sie in die Mitte des Tisches. Wir alle lassen unseren Blick über die aufgeschlagene Schlagzeile schweifen. Es geht um Vincent und seinem vermeintlich, selbst gesetzten, goldenen Schuss. Er ist wirklich erstaunlich schnell gefunden worden und die Presse scheint auch nicht geschlafen zu haben. Es steht zwar nicht auf dem Titelblatt, aber der Artikel nimmt immerhin eine halbe Seite ein. Als wir uns alle einen groben Überblick über den Inhalt verschafft haben, sieht Giovanni mich vorwurfsvoll an. Auch wenn er unmöglich Beweise dafür haben kann, so bin ich mir sicher, dass er ahnt, was ich getan habe. Immerhin bin ich hier der einzige am Tisch, dessen Clan offiziell für Auftragsmorde zuständig ist.

"Was schaust du mich so an? Vielleicht hat er sich ja einfach mit dem falschen Strichjungen eingelassen", komme ich seinem Vorwurf zuvor.

"Tu nicht so unschuldig! Vincent würde nie ..."

"Keiner von uns bedauert diesen Verlust, nicht mal du, Giovanni!", fährt Aaron dazwischen. Ernsthaft? Die beiden waren doch immer so dicke miteinander. Ich schaue fragend in die Runde, doch nur Diego nimmt meinen Blick war. Er beugt sich zu mir und flüstert mir zu: "Vincent stand mit mehreren tausend Dollar bei Giovanni in der Kreide." Ich nicke verstehend. Dann hatte dieser Scheißkerl also nicht mal die Kinder bezahlt, die er sich kommen ließ?

"Wie auch immer. Sein Platz ist nun frei geworden und damit dem Ende der Prohibition die Geschäfte mit dem Alkohol schlechter laufen, wird von nun an Diego Vincents Aufgaben übernehmen." Diego schaut entsetzt, ihm ist sichtlich unwohl in diese Geschäfte verwickelt zu werden. Der Drogenhandel in New York ist hart umkämpft. Beinah 80 Prozent werden von den Red Dragons kontrolliert und die lassen sich nur ungern in ihre Geschäfte pfuschen.

"Na dann, viel Spaß Kleiner!", meint Giovanni spöttisch. Diego schluckt schwer und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als er mich leise fragt: "Habe ich das dir zu verdanken?" Ich lächle entschuldigend.

"Tut mir leid, aber ich stehe bei den Drachen auch so schon ganz oben auf der Abschussliste."

"Dann wäre es darauf doch auch nicht mehr angekommen."

"Gibt es irgendwelche Probleme damit?", will Aaron streng wissen. Diego holt Luft für einen Einspruch, doch Aaron spricht unvermittelt weiter: "Nein, gut! Dann weiter im Text. Dass Enrico mittlerweile wieder da ist, brauche ich euch ja nicht mehr sagen. Die Umstände seines Verschwindens haben mit seiner Genesung zu tun und sind hier nicht weiter von Belang."

"Du hattest wohl zu viel Schiss Heim zu kommen, was?", bellt Giovanni in meine Richtung. Wie ich diesen Kerl hasse!

"Ich kann dich ja mal ins Koma schießen, mal sehen, wie schnell du wieder auf die Beine kommst!", kläffe ich zurück.

"Versuchs doch! Ich lass mich nicht so leicht töten wie Vincent!"

"Ruhe! Herr Gott! Sind wir hier im Kindergarten?", ruft Aaron laut dazwischen. Er sieht mich und Giovanni warnend an. Ich schaue unter seinem strengen Blick hinweg und auch Giovanni wendet sich ab. Warum lasse ich mich auch immer von dem Kerl provozieren. Ich ärgere mich über mich selbst, so langsam müsste ich doch gelernt haben, dass es besser ist ihn einfach zu ignorieren.

"Genau das ist unser Problem! Diese ständigen internen Streitereien machen uns schwach. Was auch immer ihr für ein Problem miteinander habt, kommt darüber hinweg. Ihr seid meine fähigsten Männer und alt genug zu verstehen, was auf dem Spiel steht." Giovanni und ich sehen uns schuldbewusst an. Stumm schließen wir vorerst einen Waffenstillstand, doch ich bin mir sicher, dass er nicht lange halten wird. Aaron erkennt an unserem Schweigen, dass wir uns von nun an zusammen reißen werden. Seine finstere Mine hellt sich etwas auf und er spricht weiter: "Ich will zwei neue Zweige ausbauen, in denen vor allem ihr beide noch enger als bisher zusammen arbeiten werdet." Er sieht von mir zu Giovanni. Er und ich tauschen unwillige Blicke aus. Mir hatte es schon gereicht, dass er ständig wegen irgendwelchen geklauten Karren zu mir kam. Ich habe keine Lust ihn auch noch wegen anderen Geschäften regelmäßig um mich zu wissen. Aaron bemerkt unsere kritischen Blicke, stört sich aber nicht weiter daran und erklärt uns seine Ideen: "Enrico, ich will, dass du in Eriks Waffenhandel einsteigst und dafür sorgst, dass kein Bordell der Stadt ohne unsere ausdrückliche Genehmigung arbeitet."

"Ja, das passt zu dir! Du treibst dich doch sowieso ständig in seinem Bordell rum", lacht Giovanni süffisant. So viel zum eben geschlossenen Waffenstillstand. Ich will ihm gerade etwas erwidern, als Aaron mir zuvor kommt:

"Genau deswegen ist er ja der richtige Mann dafür."

"Wo sie Recht haben ...", stimmt Diego zu. Ich atme durch und schlucke meinen Protest hinunter. Zu meiner Schande muss ich mir eingestehen, dass ich mich in diesen Kreisen tatsächlich sehr gut auskenne. Trotzdem gebe ich eine Sache zu bedenken: "Erik ist neutral."

"Dann ändere das! Wenn seine Waffen nur noch an uns fließen, bleiben weniger für unsere Feinde. Damit schwächen wir sie und stärken zugleich unsere eigenen Reihen." Ich bin mir nicht sicher, ob es so einfach funktioniert, aber wenn Aaron einmal etwas beschlossen hat, muss es umgesetzt werden. Erik wird alles andere als begeistert sein. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich ihn dazu überreden soll, aber Aaron wird keine Widerworte dulden.

"Na schön und was stellst du dir mit den Nutten vor? Soll ich ein eigenes Bordell aufmachen?" Meine letzten Worte sind als Scherz gedacht, doch Aaron bleibt ernst, als er mich wissen lässt: "Ja, du funktionierst die Teestuben um und siehst zu, dass du die anderen Bordelle unter deine Kontrolle bekommst. Giovanni wird dafür sorgen dass du immer an ausreichend fleißige Mädel kommst." Na super, nun steige ich auch noch in seinen dreckigen Menschhandel ein.

"Die finde ich auch ohne seine Hilfe!", werfe ich dazwischen und sehe Giovanni finster an, dieser verschränkt die Arme vor der Brust und will etwas erwidern, doch wieder kommt Aaron ihm zuvor: "Ihr werdet lernen müssen miteinander auszukommen", beschließt er.

Wir diskutieren noch lange über alle Einzelheiten und je mehr ich über die Geschäfte der anderen erfahre, umso deutlicher erscheint mir meine Position in Aarons Plan. Sobald mein Club wieder aufgebaut ist, laufen dort alle Fäden zusammen. Neben dem Menschenhandel, der sich vor allem auf Prostitution spezialisieren wird, bleibt wie gehabt der Vertrieb von Automobilen und anderen Fahrzeugen. Die riesige Fabrik wird wie zuvor als Lager und Umschlagplatz dienen. Auch Fahrer, Diebe und Mechaniker werde ich stellen dürfen. Diego soll sein Spirituosengeschäft auf offizieller Basis und als Deckmantel weiter betreiben. Meine kompletten alkoholischen Getränke und Tabakwaren werden von ihm kommen. Damit hat Aaron uns einmal mehr geschäftlich aneinander gebunden und was noch schlimmer ist, die meisten organisatorischen Dinge bleiben an mir hängen. Ich habe keinen Schimmer, wie ich das alles auf die Beine stellen soll. Der Chef der Locos ist wahrlich ein Sklaventreiber.

Mir qualmt der Kopf, als wir die Besprechung endlich beenden und alle wieder getrennte Wege gehen. Diego verabschiedet sich mit einer Umarmung und dem Versprechen mir beim Wiederaufbau des Clubs zu helfen, während Giovanni kommentarlos verschwindet. Als sie weg sind, lege ich meinen Kopf in die Hände und versuche all die neuen Aufgaben und Informationen zu verdauen. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst anfangen soll. Aaron hat mir zwar großzügige, finanzielle Mittel zugesichert, aber woher ich die Männer nehme, die alles umsetzen sollen, weiß ich nicht. Hoffentlich ist die Liste von Toni lang genug und unter den Namen auch verlässliche Mitglieder, mit denen ich etwas anfangen kann. Wenn ich daran denke ein Bordell aus dem Club zu machen, trauere ich jetzt schon um Angelo Fernandes. Einen so fähigen Türsteher wie ihn, werde ich nie wieder finden. Seufzend, lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Ich fühle mich wie erschlagen.

Aarons legt mir seine Hand auf die Schulter. Als ich aufsehe, sieht er mich mit einem aufmunternden Lächeln an.

"Du hast dich besser geschlagen als ich dachte. Jetzt schlafe erst mal ne Nacht darüber und mach dir nicht so einen Kopf. Du bist schon immer an neuen Aufgaben gewachsen und wirst deinen Wert einmal mehr beweisen, auch vor Giovanni." Ich lächle dankbar und stehe auf. Er hat recht, ich sollte nicht so viel Grübeln. Wenn ich wieder in der Fabrik bin, werde ich Toni in die Pläne einweihen und mich mit ihm beraten. Zusammen ist uns immer etwas eingefallen.

Nach dem langen Sitzen muss ich mich erst mal strecken und recken. Ich habe total das Zeitgefühl verloren und sehe auf meine Armbanduhr. Es ist bereits vier Uhr am Nachmittag. Ich erschrecke. Haben wir wirklich sechs Stunden diskutiert?

"Was hältst du von einem guten Glas Scotch, um auf deine Rückkehr anzustoßen, während Jester uns was zu essen macht?", schlägt der Pate vor. Dazu kann ich nicht nein sagen, mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen.

"Sehr gern!", erwiedere ich zustimmend. Gemeinsam verlassen wir das Besprechungszimmer und folgen dem Flur zur Treppe. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Tapeten gewechselt wurden und auch der Staub von den Möbeln und dem Geländer der Treppe verschwunden ist. Auf den Stufen liegt wieder ein samtener Teppich und ein blutjunges Dienstmädchen, das kaum älter als 19 sein dürfte, stellt gerade rote Rosen in eine Vase und zupft sie in Form. Aaron hat also meinen Rat befolgt und neues Dienstpersonal eingestellt. Ich will ihn gerade darauf ansprechen, als er schon von selbst erzählt: "Das mit dem Dienstmädchen war eine gute Idee. So knackige junge Dinger, bringen richtig Leben in die alten Wände." Elender Lustmolch! Aaron beobachtet die junge Frau und studiert eingehend ihre straffen Hüften und den großen Busen. Mir ist augenblicklich klar, nach welchen Kriterien er bei der Einstellung vorgegangen ist, denn der Strauß sieht aus, wie ein chaotisches Bild von Picasso, dafür quellt der Vorbau der jungen Frau aus ihrem knappen Dekoltee. Kein Wunder, dass er nie etwas zu meinem verschwenderischen Umgang mit Frauen sagt. Er ist selbst nicht viel besser. Ich muss über ihn schmunzeln und steige die erste Treppenstufe hinab.

Auf halber Höhe kommen uns zwei Personen entgegen, die sich in einer angeregten Unterhaltung befinden:

"Danke, dass du extra deine Geschäftsreise unterbrochen hast." Die glockenhelle Stimme lässt mich aufsehen. Es ist Judy, die in Begleitung eines Mannes die Treppe hinaufkommt.

"Hey, ich bin doch immer für dich da, wenn du mich brauchst. Um was geht es denn jetzt, was du mir nicht am Telefon sagen konntest?"

"Nun ..." Die beiden halten an, als sie uns kommen sehen. Der Blick des jungen Mannes bleibt an meinem hängen. Wir schauen uns stumm an. Sam, schießt mir seine Name in den Kopf, dicht gefolgt von einem stechenden Schmerz. Sams Augen weiten sich, er sieht mich entsetzt an und ich begreife im selben Moment auch warum. Es war sein Platz der leer wurde, am Tisch meiner Geburtstagsfeier. Er kam zu mir und lockte mich von der Tafel weg. Er war es, der mich und den ganzen Clan unseren Feinden auslieferte.

"Enrico, aber das kann nicht ...", sagt er leise und erstickt fast an den Worten. Mein Blick verfinstert sich, mit jedem Moment, in dem diese Erinnerung in mir weiter aufkeimt, werde ich wütender. Er scheint zu ahnen, was ihm blüht, denn er zögert nicht länger und ergreift die Flucht. Ich brauche einen Augenblick länger als er, um zu reagieren. Als ich ihm nacheile, ist er schon die Treppe hinunter gerannt und läuft in den Flur, der Haustür entgegen. Er ist so schnell, dass sich der Abstand zwischen uns immer weiter vergrößert. Im Weglaufen war er schon immer gut.

Sam reist die Haustür auf und verschwindet im Garten. Als ich die Tür erreiche, sehe ich ihn mit quietschenden Reifen in seinem Auto davon brettern. Dieser Hurensohn! Ich will zu meinem Motorrad rennen und ihm nachjagen, doch jemand hält mich am Arm fest. Wütend sehe ich zurück.

"Was ist denn in dich gefahren?", Judy sieht mich erbost an. Ich reiße mich aus ihrem Griff los. Dafür habe ich jetzt keine Zeit! Als ich meinen Blick, auf die Straße vor dem Anwesen richte, ist dort kein Automobil mehr zu sehen. Ich weiß nicht mal, ob er nach links oder rechts abgebogen ist. Verdammt! Meine ganze Wut richte ich nun gegen meine Frau. Ich packe sie an den Armen und schüttle sie durch, als ich wissen will: "Warum hast du mich aufgehalten, verdammt! Wo wohnt dieser elende Hurensohn?" Judy sieht mich entsetzt an. Sie begreift nicht, was ich von ihr will, also werde ich lauter: "Sag mir sofort, wo er wohnt!"

"79 North 11th Street in Brooklyn Apartment 3", stammelt sie eine Adresse. Ich gebe sie wieder frei und laufe die ersten Stufen hinunter, die letzten drei überspringe ich.

"Enrico, was soll der Aufruhr?", fragt Aaron. Als ich auf mein Motorrad steige, tritt er neben seine Tochte, die sich ihre schmerzenden Arme reibt.

"Setz Sam auf die schwarze Liste! Er war es, der uns an die Drachen verraten hat!", erkläre ich kurz und starte den Motor. Ungläubig schauen mich beide an. Judy eilt mir entgegen, sie ist völlig aufgelöst und panisch. Macht sie sich etwa Sorgen um den Scheißkerl?

"Enrico warte, das kann gar nicht sein ... er!", versucht sie mich zu beschwichtigen, doch ich stoße sie von mir und fahre los.

Er war es, da bin ich mir ganz sicher! Je länger ich über die Straßen heize, umso mehr Puzzleteile fügen sich in meinem Kopf zu einem Ganzen zusammen:

Obwohl er stets einen auf guter Freund gemacht hat, habe ich seinen abgrundtiefen Hass immer gespürt. Er kam nicht darauf klar, dass sich Judy für mich entschieden hat. Was liegt also näher, als mich aus dem Weg zu räumen und die trauernde Witwe zu trösten. Schlimm genug, dass er sich auf diese Weise an mir rächen wollte, aber das er wissentlich so viele Unschuldige in den Tod gerissen hat, dafür knüpfe ich ihn auf und trenne ihm die Eingeweide einzeln aus dem Körper.

Je länger ich fahre, umso weiter sortieren sich meine Gedanken. Ein Tier, das man in die Enge treibt, kann durchaus gefährlich werden. Sam wird wissen, was ich mit ihm mache, wenn ich ihn in die Finger bekomme. Er kennt mich gut genug. Ich sollte ihn in seiner Panik nicht unterschätzen. Anstatt nach Brooklyn zu fahren, rase ich zurück zur Fabrik. Ich werde mir von Toni helfen lassen und einen unauffälligeren Tod wählen, als den Blutigen, nach dem es mir so dürstete. Wegen dem Hurensohn gehe ich ganz bestimmt nicht in den Knast!

Das Tor steht offen, so fahre ich ohne anzuhalten auf das Fabrikgelände. Ich hoffe inständig, Toni und Leandro haben ihre Aufgabe schon erledigt und sind wieder zurück. Je mehr Zeit vergeht, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Sam bereits aus dem Staub gemacht hat.

Ein lauter Knall wird von den Wänden der Fabrik zurückgeworfen und verhalt in dutzende Echos. Ein zweiter und dritter folgen. Mir gefriert das Blut in den Adern. Das sind eindeutig Pistolenschüsse. Ich gebe Gas und greife nach der Neun-Millimeter an meinem Oberschenkel. Die Schüsse kommen vom Innenhof, also biege ich um die Kurve rechts am Fabrikgebäude vorbei. Von Weitem kann ich Toni und Leandro sehen. Mein Leibwähter führt die Hände des Kindes und zielt gemeinsam mit ihm auf eine leere Coladose. Sie drücken ab, wieder halt ein lauter Knall durch den Innenhof. Ich schüttle mit dem Kopf und atme erleichtert durch. Verdammt, was müssen die mich so erschrecken? Ich habe mir schon die schlimmsten Situationen ausgemalt. Meine Waffe lasse ich stecken und halte weiter auf die Beiden zu. Direkt neben Toni ziehe ich das Motorrad herum und hinterlasse eine lange Schleifspur auf dem Boden. Erschrocken weichen beide einen Schritt zurück und starren mich mit aufgerissenen Augen an. Ich lasse ihnen keine Zeit Fragen zu stellen, sondern fordere eindringlich: "Lad nach und steig auf!" Mein ernster Blick gilt Toni, der mich verwirrt mustert. Leandro sieht von ihm zu mir, er begreift genau so wenig, was los.

"Jetzt mach schon! Ich erklär dir alles auf dem Weg." Erst nach meiner zweiten Aufforderung, lädt Toni seine Pistole nach und steigt zu mir aufs Motorrad.

"Und was ist mit mir?" Leandro kann ich bei dieser Sache nun wirklich nicht gebrauchen, am besten ich gebe ihm eine Aufgabe, bis wir wieder zurück sind.

"Du bewachst die Fabrik!", sage ich schnell. Etwas besseres fällt mir gerade nicht ein. Diese Anweisung wird ihn zumindest an die Fabrik binden, damit ich ihn später nicht suchen muss. Ohne weiter auf Leandros fragenden Blick einzugehen, gebe ich wieder Gas und verlasse das Gelände.

"Warum bringst du dem Jungen das Schießen bei?", will ich auf unserem Weg wissen. Ich habe weder die Anweisung dazu gegeben, noch will ich das der Kurze den Umgang damit erlernt.

"Er muss lernen sich zu verteidigen, wenn er bei uns überleben will! Wir werden nicht immer da sein, um ihm den Arsch zu retten!", brüllt Toni gegen den Fahrtwind an. Ich bin zwar noch immer nicht begeistert davon, kann aber sein Argument verstehen. Selbstverteidigung war stets das Erste, was ein neues Mitglied bei uns lernte. Leandro wird da keine Ausnahme bilden, nur müssen es unbedingt gleich Schusswaffen sein?

"Wohin fahren wir überhaupt?", unterbricht Toni meine Gedanken.

"Wir statten Sam einen Besuch ab!"

"Wir fahren zu Hunter? Aber wieso?"

"Als ich ihn heute bei Aaron gesehen habe, habe ich mich endlich wieder erinnert. Er ist die Ratte!"

"Ernsthaft? Aber er hat doch gar kein Motiv!"

"Ach nein? Ich hab ihm seine Verlobte ausgespannt, reicht das nicht als Motiv?", knurre ich. Zugetraut hätte ich ihm das damals auch nicht. Sam ist ein riesen Feigling, der sich vor jeder Konfrontation scheut. In einem offenen Kampf gegen mich anzutreten, hätte er nie gewagt, aber sich hinter meinem Rücken mit unseren Feinden zu verbünden, das passt zu ihm.

"Willst du ihn umlegen?"

"Worauf du einen lassen kannst!"

"Warum fährst du dann nach Brooklyn?" Ich stutze. Hatte Judy nicht behauptet er würde in Brooklyn wohnen? Hat mich dieses Miststück etwa angelogen? Sie wusste das ich Sam nicht aus Spaß hinterher jage. Verdammt!

"Dann sag mir den Weg, wenn du ihn weißt!"

"Bieg hier ab!" Toni führt mich in den hintersten Winkel von Manhattan, in ein gehobene Wohngegend mit schmucken Apartments. Die Mieten hier würden meinen ganzen Monatslohn von Erik verschlingen. Wie kann es sich dieser Drecksack leisten, hier zu wohnen?

Ich parke vor dem Wohnhaus, auf das Toni deutet, und sehe mich in der Straße um. Das Auto, mit dem Sam geflohen ist, ist nirgendwo zu sehen.

"Bist du dir sicher, dass er hier her kommt?", fragt mich mein Begleiter. Ich steige vom Motorrad und setze die Brille ab. Sicher bin ich mir nicht, aber es ist der einzige Anhaltspunkt, den wir im Moment haben.

"Nein, aber wenn er untertauchen will, wird er noch mal her kommen müssen." Geld und Klamotten braucht er auf jeden Fall. Toni geht voraus und führt mich durch das leere Treppenhaus, bis in den dritten Stock. Alle Appartementtür sind verschlossen, bis auf Eines. Seltsam! Kein Laut ist zu hören, weder aus dieser noch aus den anderen Wohnungen. Toni wird langsamer, er zieht seine Pistole und ich tue es ihm gleich. Er hält auf die offene Tür zu und späht vorsichtig in den Raum dahinter. Noch bevor ich ihn eingeholt habe, betritt er mit der Waffe voraus das Apartment. Auch ich werfe erst einen Blick in den Raum, bevor ich ihm folge. Alle Schränke stehen weit offen, Kleidung und wichtige Papiere liegen auf dem Boden verstreut. Während Toni die restlichen zwei Räume durchsucht, ahne ich bereits, dass wir zu spät gekommen sind.

"Er ist schon weg!", bestätigt Toni meine Vermutung.

"Verdammt!" Mit der Faust schlage ich hart gegen den Türrahmen. Sam ist nicht auf den Kopf gefallen. Ich gehe jede Wette ein, dass er bereits auf dem Weg zu den Drachen ist, um mich ein weiteres Mal zu verraten und seine eigene Haut damit zu retten. Eine dunkle Vorahnung überkommt mich.

"Was machen wir jetzt?", will Toni von mir wissen und kommt zu mir. Ich schaue ihn ratlos an. Die Stadt ist viel zu groß, um einen einzelnen Mann zu finden, der nicht gefunden werden will. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als von jetzt an doppelt und dreifach so vorsichtig zu sein und unser Augen und Ohren überall zu haben.

"Von jetzt an, wirst du mir nicht mehr von der Seite weichen!", weise ich meinen Leibwähter streng an. Ohne ihn werde mich von nun an besser nicht mehr auf die Straße wagen. "Einverstanden!"

~Das Rudel~

Nun geh endlich ran! Noch immer höre ich nur das gleichmäßig Tuten im Hörer. Toni wartet vor der Telefonzelle und beobachtet die Straße, er ist ebenso angespannt, wie ich. Obwohl Sam die Drachen unmöglich so schnell mobil gemacht haben kann, rechnen wir beide ständig mit einem unfreiwilligen Zusammentreffen.

"Bei Longhard", meldet sich Aaron am anderen Ende der Leitung. Ich bin froh gleich ihn am Telefon zu haben und nicht erst Jester.

"Aaron, ich bin's, Enrico."

"Verflucht! Wo steckst du? Was sollte dieser ganze Aufstand? Judy ist völlig fertig und heult sich die Seele aus dem Leib. Bist du dir wirklich sicher mit Sam?"

"Meine Frau ist mit gerade ziemlich egal Aaron und ja ich bin mir sicher. Der Scheißkerl hat sich schon aus dem Staub gemacht. Ich gehe jede Wette ein, dass er bereits auf dem Weg zu Michael ist, um mich ein weiteres Mal zu verraten. Hast du noch irgendjemanden, denn du auf den Kerl ansetzen kannst?"

"Ja, gewiss. Aber ich bezweifle, dass meine Leute ihn schnell genug finden werden."

"Das befürchte ich allerdings auch!" Wir schweigen einen Moment lang. Weder Aaron noch ich können das Unvermeidliche aufhalten. Mir bleibt nur noch eines, was ich tun kann:

"Aaron, kannst du mir einen Privattrainer besorgen? Einen der nicht zimperlich ist und sein Handwerk versteht. Ich muss so schnell wie möglich wieder in Form kommen." Robin, die einst meine Ausbildung und mein Training übernommen hatte, ist noch immer in Italien, es muss also jemand anderes her.

"Ich habe da tatsächlich noch bei jemandem einen Gefallen gut. Allerdings ist der Mann sehr speziell und sein Training mörderisch!"

"Um so besser!"

"Gut dann meld ich mich bei dir, sobald ich alles in die Wege geleitet habe." Aaron schweigt wieder und auch ich atme durch. Die Dinge stehen alles andere als gut. Die nächsten Wochen werden über Leben und Tod entscheiden.

"Ist Antonio bei dir?", will Aaron schließlich wissen. Ich sehe vor die Telefonzelle. Toni steht noch immer zwei Schritte von mir entfernt und beobachtet die Menschen auf dem Bürgersteig.

"Ja", entgegne ich Aaron.

"Gib ihn mir bitte!" Ich lasse Toni in die Zelle und reiche den Hörer an ihn weiter.

Während die beiden miteinander sprechen, schaue ich mich auf der Straße um. Jeder Passant, ob alt oder jung, erscheint mir verdächtig. Wenn das so weiter geht, werde ich noch paranoid. Die Panik in mir versuche ich schon die ganze Zeit runter zukämpfen. Ein Tag wie meinen zwanzigsten Geburtstag, will ich nie wieder erleben müssen.

Toni hängt den Hörer ein und kommt mit den Händen in den Hosentaschen zu mir. Die Schultern lässt er fallen, sein Kopf ist gesenkt, er wirkt niedergeschlagen.

"Was wollte Aaron von dir?"

"Ich soll ein Auge auf dich haben, mehr nicht." Ist das wirklich alles gewesen? Warum schaut er dann so betrübt.

"Ist das alles?" Ich betrachte ihn kritisch.

"Ja, ich komm nur mit der Gesamtsituation nicht klar. Ich will nicht das sich alles wiederholt."

"Das wird es nicht! Dieses Mal sind wir ja gewarnt", sage ich und versuche vergeblich meiner Stimme die nötige Willensstärke zu verleihen, doch ich kann mir selbst kaum glauben.

"Wir hätten deine Identität doch länger geheim halten sollen." Ich nicke flüchtig. Wahrscheinlich hätten wir so noch etwas mehr Zeit gehabt, doch nun ist es wie es ist.
 

Den ganzen Nachmittag sitze ich nun schon in unserem Aufenthaltsraum am Esstisch und hänge über dieser verfluchten Liste. Die Namen darauf wirbeln durch meinen Kopf und ergeben immer wieder dasselbe Bild. Beinah meine ganze Führungsspitze wurde ausradiert. Michael ist nicht wahllos vorgegangen, als er meine Leute erschießen ließ. Ich habe keine brauchbaren Führungspersönlichkeiten mehr, die ich als Geschäftsführer einsetzen oder denen ich Verantwortung übertragen könnte. Auch sind jegliche Türsteher und Geldeintreiber getötet worden. Mit jedem Moment, den ich länger auf dieses Blatt starre, verzweifle ich ein bisschen mehr. Mir die Haare raufend, lasse ich den Kopf auf den Tisch sinken und lege meine Stirn auf dessen Platte ab. Ich habe einfach keine Lust mehr. Der Wiederaufbau des Midnightclubs erscheint mir schlichtweg unmöglich.

"Was machst du da?" Ich schaue zur Seite, an den Rand des Tisches und direkt in die dunkelbraunen Augen Leandros, die mich neugierig mustern. Seine fröhliches Lächeln passt überhaupt nicht in das Chaos hier.

"Verzweifeln!", entgegne ich lediglich und lasse meinen Blick noch einmal über die Tabelle schweifen, die ich erstellt habe. Die Spalte für Handlangerarbeiten und Botengänge ist gut gefüllt, auch ein paar Mechaniker, Fahrer und einen Barkeeper habe ich noch. Doch unter den Führungspersönlichkeiten steht nur ein einziger Name: Romeo Cortes

Er war der Geschäftsführer des Midnightclubs und kümmerte sich um sämtliche Finanzen. Mathematisch machte ihm keiner etwas vor, zudem ist er ein hervorragender Menschenkenner und weiß sein Personal gekonnt einzusetzen. Er hatte die anfänglichen Krisen unseres Clubs immer wieder aufs Neue gemeistert und oft genug auf sein eigenes Gehalt verzichtet, um unser Personal bezahlen zu können. Das er am Leben ist, gleicht einem Wunder. Am Tag meines Geburtstages lag er mit Fieber im Bett. Er ist der einzige Trumpf, den ich noch habe, vorausgesetzt er will wieder für mich arbeiten. Sicher hat er längst ein neues Leben angefangen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er bereit ist noch einmal einen Club von Grund auf aufzubauen, wenn er bereits einen anderen übernommen hat.

"Hier, trink was!" Toni stellt ein Glas Wasser vor mir auf den Tisch. Ich sehe erschrocken zu ihm auf.

"Du vergisst schon wieder alles um dich herum. Du solltest auch langsam mal was Essen!" Er nimmt mir die Papiere aus der Hand und stellt stattdessen einen Teller mit Eintopf vor mir ab. Wo hat er das denn her? Wir haben gar keine Küche mehr und mir ist nicht mal aufgefallen, dass er weg war.

"Iss und vergiss den Kram mal! Du wirst doch noch verrückt dabei. Außerdem wissen wir nicht mal, wer sich uns wieder anschließt. Warte doch erst mal das Treffen ab." Toni reicht mir einen Löffel. Ich nehme ihn seufzend an mich. Er hat ja recht, aber ich kann einfach nicht untätig herumsitzen. Das Warten macht mich erst recht wahnsinnig.

"Wenn du unbedingt eine Aufgabe brauchst, dann lass uns den Aufenthaltsraum ausbauen. Da haben wir genug zu tun." Während ich esse, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Mein Konto hat Aaron mir inzwischen reichlich gefüllt, wir können also Baumaterial kaufen. Allerdings müssten wir uns dann erst einmal einen Lkw besorgen. Auch können wir nicht alle Arbeiten selbst machen, doch bis wir eine Baufirma finden, die gut und günstig arbeitet, vergehen auch wieder Tage. Einen Statiker sollten wir ebenfalls kommen lassen, der erst mal überprüft, wie sinnvoll ein Wiederaufbau ist. Schon wieder kreisen meine Gedanken. Das ist ja auch nicht viel besser, als sich über den Club den Kopf zu zerbrechen.

"Darf ich?" Leandro greift nach den Papieren in Tonis Händen. Er überlässt sie dem Kind und setzt sich zu mir. Auch Leandro nimmt bei uns Platz und schaut konzentriert auf die Tabelle. Ob ihm wohl etwas Kluges dazu einfällt? Es ist ein Jammer, dass er nicht älter ist. Sein unbeugsamer Charakter ist genau das, was ich in diesen Zeiten brauche. Doch bis ich ihm wirklich Verantwortung übertragen kann, müssen noch etliche Jahre ins Land gehen.

"Ich könnte noch ein paar Freunde fragen, ob sie bei uns mitmachen wollen", sagt der Knabe schließlich. Ich verschlucke mich augenblicklich an der Suppe und muss heftig husten. Bei Leandro klingt das so, als wenn wir ein Schulverein wären und neue Mitglieder für das Basketballteam suchen würden. Toni schmunzelt vor sich hin und sieht den Jungen belustigt an. Nur Leandro bleibt ernst und sieht irritiert zurück.

"Was ist denn?"

"Wie alt sind den deine Freunde?", frage ich und versuche den Jungen ernst zu nehmen, auch wenn ich mir die ganze Zeit vorstelle, demnächst einen Heim für Waisenkinder aufzumachen, wenn Leandro all seine Freunde hier anschleppt.

"Ich glaube, so alt wie ihr und viele suchen schon lange einen Job." Überrascht schaue ich in die Kinderaugen. Leandro sieht in seiner altklugen Art zurück. Ich habe ihn einmal mehr unterschätzt.

"Soll ich sie auch zum Treffen einladen?", fragt er mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen. Ich schaffe es nur zu nicken und ärgere mich noch einmal, dass Leandro erst zwölf Jahre alt ist.
 

Die Woche bis zum Treffen haben wir gut genutzt: Drei Schlafzimmer sind fertig eingerichtet und komplett möbliert. Strom und Öfen sind im Aufbau, die letzten Leitungen werden in den nächsten Tagen verlegt, so müssen wir zumindest in unseren Schlafräumen nicht auf Licht und Wärme verzichten. Fließend Wasser hingegen wird noch auf sich warten lassen. Die Klempnerarbeiten kommen nur schleppend voran. Viele der Rohrleitungen sind so marode, dass sie neu verlegt werden müssen. Dafür ist der Flur vor den Zimmern frisch gestrichen und auch den Boden haben wir neu verlegt. Im Aufenthaltsraum hingegen sieht es noch genauso wüst aus wie zuvor. Lediglich in einem Viertel der riesigen Halle haben wir Parkettboden verlegt. Mehr werden wir wohl auch nicht mehr schaffen, bis die ersten Wölfe eintreffen. Dafür haben wir uns einen neuen Esstisch schreinern lassen. Er ist doppelt so lang, wie der alte, und zieht sich quer durch den halben Raum, er ist das einzige, das auf dem fertigen Teil des Bodens steht. Unzählige Stühle haben wir bereits herein getragen und immer noch sind nicht alle um den Tisch herum verteilt. Als der erste Gast eintrifft, sind wir noch immer dabei, sie vom Lastwagen zu holen.

"Braucht ihr Hilfe?" Diego klettert auf die Ladefläche und noch bevor ich ihm antworten kann, hat er auch schon einen Stuhl in der Hand. Ich lächle ihn an. Er hat schon immer mit angepackt und war sich für keine Arbeit zu fein. Wenn man ihn so sieht, in seinem teuren Anzug, traut man ihm das gar nicht zu.

"Was machst du denn hier?", frage ich ihn, während wir die Stühle in die Halle tragen.

"Du hattest mir doch von eurem Treffen erzählt und das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Außerdem brauchte ich mal eine Ablenkung von dem Stress mit Vincents Leuten. Ganz ehrlich, bei dem herrscht keine Ordnung, weder in seinen Finanzen noch in der Aufgabenverteilung seiner Leute. Willst du vielleicht ein paar von den Spinnern abhaben?" Diego meint das scheinbar ernst, denn er sieht mich unvermittelt an. Ich hatte nur selten mit Vincents Clan zu tun und kenne seine Leute nur vom Hören. Wenn Diego sie nicht brauchen kann, sind sie sicher auch für mich wertlos, andererseits benötige ich jede helfende Hand.

"Ich könnte 'fähige' Männer brauchen", sage ich und lege die Betonung auf fähig.

"Na, damit kann ich nicht dienen." Diego lächelt resigniert, während wir die letzten Stühle an ihren Platz stellen. Auf dem Tisch liegt ein schneeweißes Tischtuch, über die ganze Länge sind Diegos edelste Spirituosen verteilt, die er mir am Tag zuvor vorbei gebracht hat. Bei einem guten Tropfen ließ es sich noch immer am besten übers Geschäft reden, außerdem habe ich etwas wieder gut zu machen. Immerhin habe ich meinen Clan ganze fünf Jahre sich selbst überlassen. Ich freue mich eben so sehr auf das Wiedersehen mit allen, wie ich mich davor fürchte.
 

Im Hof kann ich die unterschiedlichsten Stimmen hören. Einige erkenne ich sofort wieder, andere kann ich nicht zuordnen. Begrüßungen werden ausgetauscht, Hände schlagen ineinander, es wird gelacht und gequatscht. Für einen kurzen Moment fühle ich mich in die Zeit vor fünf Jahren zurück versetzt. Auf einen Schlag kehrt das Leben in die alte Fabrik zurück.

Schritte unzähliger Füße, sie kommen über den Korridor in die Halle. Ich stehe ihnen mit dem Rücken zugewandt und umklammere krampfhaft die Lehne des Stuhls vor mir. Mir stockt der Atem, während sich die Schritte in der Halle verteilen und schließlich ersterben. Ich spüre die Blicke all dieser Leute auf mir, all der Freunde, Verbündeten, Mitarbeiter, der Menschen, die mir vertrauten und die auf mich bauten. Ich zwinge mich zum Durchatmen und drehe mich um. So viele vertraute Gesichter, so lange ist es her. Es sind sehr viel mehr, als auf Tonis Liste stand. Die Nachricht muss sich von selbst verbreitet haben und wirklich jeder lebende Wolf scheint gekommen zu sein. Viele von ihnen habe ich von Kugeln getroffen zu Boden gehen sehen und doch sind sie jetzt hier. Sie alle wohlauf zu sehen, rührt mich zu Tränen. Mir wird erst in diesem Moment wirklich bewusst, wie sehr mir mein Rudel gefehlt hat. Schuld und Reue überkommt mich, nicht früher zurück gekommen zu sein und zwingt mich vor all diesen Menschen, die mir einmal untergeben waren, auf die Knie. Mit ausgebreiteten Armen rufe ich ihnen zu:

"Willkommen zu Hause!" Für einen Moment wird es ganz still, dann setzten sich die ersten in Bewegung, alle anderen folgen. Bevor ich weiß wie mir geschieht, werde ich zurück auf meine Beine gezogen. Ich muss in so viele Umarmungen einfallen, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wem ich gerade begrüßt habe. In vielen Augen stehen die Tränen, doch alle haben ein Lächeln auf den Lippen.
 

Nach der überschwänglichen Begrüßung verteilen wir uns alle am Tisch. Ich nehme in einem neuen Sessel an der Stirnseite Platz und lasse meinen Blick über all die Menschen schweifen, die gekommen sind. Vergeblich suche ich nach Romeos Gesicht. Das er nicht gekommen ist enttäuscht mich maßlos, doch ich habe ja schon geahnt, dass er inzwischen einen neuen Job gefunden hat.

"Enrico, jetzt musst du uns aber ganz genau erklären, wo du warst und wieso du für tot erklärt wurdest!", ruft einer der Männer in meine Richtung, die restlichen stimmen ihm zu. Ein wildes Durcheinander an Stimmen entsteht, doch als ich zu sprechen beginne, wird es ganz still. Ich erzähle ihnen von den Anschlägen im Krankenhaus, von Robins Plan meinen Tod vorzutäuschen, den zwei Jahren im Koma und der Amnesie danach. Selbst von meiner Zeit in Italien erfahren sie das meiste, lediglich die Selbstmordversuche lasse ich aus. Hin und wieder wird eine Frage gestellt, doch bis ich die Geschichte zu Ende gebracht habe, bleibt es ruhig am Tisch.

"Und jetzt bin ich seit gut drei Wochen wieder hier und, wie ihr sehen könnt, dabei unsere Heim und den Club wieder aufzubauen. Ihr habt sicher alle schon längst ein neues Leben angefangen, trotzdem möchte ich euch um eure Mithilfe bitten. Ihr seht ja, wie es hier nach all den Jahren aussieht, ohne euch ist dieses Mammut-Projekt einfach nicht zu stemmen." Wilde Diskussionen entflammen und es bilden sich zwei Lager bei Tisch. Die einen, die ihre Leben ohne große Nachfrage sofort wieder in meine Dienste stellen wollen und jene die sich bereits ein neues Leben aufgebaut haben. Still beobachte ich die Gespräche, die mal energisch, mal melancholisch sind. Ich brauche gar nicht viel tun, die Wölfe die sofort wieder in den Clan einsteigen wollen, leisten von sich aus Überzeugungsarbeit. Sie erinnern die anderen daran, wie gut es ihnen hier ging, wie hoch die Bezahlung und eng der Zusammenhalt war. Für jene die kein anständiges Dach über dem Kopf hatten, gab es die Möglichkeit in die Fabrik einzuziehen. Da ich viele meiner Leute auf der Straße aufgegabelt hatte, haben dieses Angebot etliche von ihnen in Anspruch genommen. Somit hatten sie neben ihrem Lohn auch freie Kost und Logis. Das ist mehr als die allermeisten von ihnen jetzt haben. Es dauert nicht lange bis gut drei Viertel von ihnen bereit sind, sich den Wölfen wieder anzuschließen, während das letzte Viertel noch immer bearbeitet wird.

Bei der Wahl meiner Leute habe ich immer viel Wert auf Selbständigkeit und Motivation gelegt, das macht sich jetzt bezahlbar. Stolz sehe ich über den Tisch und betrachte jeden Wolf einzeln. Gedanklich teile ich ihnen schon Aufgaben zu. Drei Barkeeper sind unter ihnen, die sich in Schichten ablösen können, etliche gute Diebe, Mechaniker und Fahrer für Botengänge und Aufträge von Giovanni. Selbst einige fähige Dealer für die Kartenspiele sind unter ihnen. Nur an einem mangelt es mir nach wie vor: Führungskräfte. Trotz der guten Stimmung am Tisch drückt diese Tatsache meine Laune. Wenn ich doch wenigstens einen Geschäftsführer für das Midnights hätte. Ich werde mit der Koordination der ganzen Geschäfte und dem Gewinn neuer Kunden genug um die Ohren haben. Ich kann mich nicht auch noch um den ganzen Papierkram und das Personal des Clubs kümmern. Noch einmal schaue ich in die Runde, doch es ist keine Person dabei, der ich so viel Verantwortung anvertrauen kann.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter, irritiert sehe ich zu dem Mann auf. Toni steht neben mir, er beugt sich zu mir hinab und flüstert mir zu:

"Komm mit raus! Wir haben noch einen Gast, der aber nicht reinkommen will." Ich stutze und runzle die Stirn. Wer soll das denn sein? Alle Wölfe sitzen doch hier.

"Entschuldigt mich", verabschiede ich mich kurz von den anderen, doch die allermeisten sind so in ihre Gespräche vertieft, das sie mein Verschwinden nicht bemerken.
 

Toni führt mich in den Innenhof. Ein junger Mann Anfang dreißig zündet sich gerade ein Zigarette an und tritt eine aufgerauchte am Boden aus. Ich muss zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen. Romeo ist gealtert, seine Augen umrahmen tiefe Ringe, sein Kinn und die Oberlippe werden von dichtem Bartwuchs überwuchert, die Haare hängen ihm strähnig im Gesicht, als wenn er sie schon eine ganze Weile nicht mehr gewaschen hätte. Der graue Anzug hat etliche kleine Brandlöcher, er ist abgetragen und fleckig. Das ist nicht mehr der tüchtige Geschäftsmann, der etwas auf sich hielt. Was ist nur aus ihm geworden? Kein Wunder, dass er nicht reinkommen wollte.

Kritisch betrachte ich ihn, als ich zu ihm gehe. Er sieht nur flüchtig zurück und unter meinem Blick hinweg, nervös zieht er an seiner Zigarette. Als ich ihn erreiche schlägt mir ein derber Geruch nach abgestandenem Schweiß und Alkohol entgegen, der billige Tabak seiner Zigarette rundet das verwahrloste Bild gänzlich ab. Ich reiche ihm dennoch die Hand und ziehe ihn zu einer herzlichen Umarmung an mich. Er schaut erst erschrocken, doch dann schlägt er mir eben so freundschaftlich auf den Rücken, wie ich ihm. Als wir uns voneinander lösen, kann ich in seinen müden Augen ein funken Zuversicht aufblitzen sehen.

„Es stimmt also, du lebst!“, beginnt er mit zitternder Stimme.

„Du siehst scheiße aus, was ist passiert?“, will ich wissen und umgehe absichtlich das langatmige Prozedere meiner Rückkehr. Romeos Zustand ist mir gerade wichtiger. Seine Lebensumstände scheinen sich dramatisch verschlechtert zu haben.

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich hab Zeit.“ Romeo brauch gar nicht erst versuchen sich zu drücken, ich will alles wissen und im Anschluss dafür sorgen, dass er wieder auf die Beine kommt. Ich brauche ihn dringender als je zuvor. Er sieht von Toni zu mir und zieht mit zitternden Händen an der Zigarette. Romeo sagt kein Wort, er fühlt sich sichtlich unwohl unter Tonis kritischem Blick, der ihn mit gerunzelter Stirn von oben bis unten abschätzig mustert. Wenn ich etwas erfahren will, muss ich Toni loswerden.

„Ich kümmere mich schon um ihn. Geh du wieder rein und hab ein Auge auf die anderen!“, weise ich ihn an. Es ist sicher nicht nötig, den Clan zu beaufsichtigen, doch Toni begreift, dass ich mit Romeo unter vier Augen sprechen will. Er nickt und geht zurück in die Fabrik.

„Lass uns ein Stück laufen“, schlage ich vor, als er weg ist und gehe los. Beim Laufen lässt es sich leichter sprechen. Romeo folgt mir eine Weile stumm und zieht immer wieder an seiner Zigarette, an der er sich krampfhaft festhält.

„Ich hätte da sein müssen“, meint er irgendwann. Ich begreife nicht sofort, was er meint und sehe ihn fragend an.

„Am Tag deines Geburtstages“, fügt er hinzu. Noch immer verstehe ich nicht, was er mir damit sagen will. Macht er sich etwa Vorwürfe? Glaubt er seine Anwesenheit hätte die Katastrophe verhindern können?

„Ich hätte nicht nur Angelo als Türsteher einteilen sollen und …“

„Wir sind verraten worden“, werfe ich dazwischen. Romeo sieht mich verwirrt an. Bisher habe ich den anderen Wölfen noch nichts davon erzählt. Romeo ist der Erste.

„Selbst wenn alle Türsteher Dienst gehabt hätten, wir hätten es nicht verhindern können.“

„Aber wer sollte so etwas tun?“

„Sam Hunter“, erkläre ich nur kurz.

„Diese feige Spinner?“ Ich nicke.

„Nach dem er mich los geworden ist, hatte er bei Judy freie Bahn.“

„Ja, ich hab gehört, dass die beiden nach deinem Tod zusammen gekommen sind. Hast du ihn schon ...“ Romeo spricht nicht weiter, er hat einen Mord noch nie ausgesprochen.

„Nein, er ist mir entwischt“, gebe ich seufzend zu und verdränge den Gedanken an die Konsequenzen. Wir laufen eine Weile schweigend nebeneinander über den großen Innenhof. Romeo betrachtet durch die Fenster die bekannten Gesichter am Tisch. Sein Blick wird wehmütig.

„Ich habe den Club nach deinem Tod schließen müssen“, beginnt er zu berichten. Ich sehe ihn schweigend an und warte darauf, dass er von allein weiter spricht, „Alles ging seit dem den Bach runter und die Wirtschaftskrise macht alles noch schlimmer. Niemand brauchte einen Mann der 'nen Club leiten kann. Hier und da habe ich mich als Buchhalter durchgeschlagen, doch der Lohn reichte oft nur für das Nötigste. Letztes Jahr hat die Firma schließen müssen, für die ich gearbeitet habe, wie so viele andere zur Zeit auch. Nun was soll ich dir sagen? Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen und seit dem sitze ich auf der Straße und schlag mich mit betteln durch.“ Das ist bitter!

„Um das auszuhalten trinkst du oder?“, frage ich vorsichtig nach. Seine Fahne kann ich bis zu mir riechen und das obwohl uns gut eine Schrittlänge trennt.

„Nun es ist einfacher geworden an den Fusel ran zukommen, seit die Prohibition aufgehoben wurde. Da kann sich sogar ein armer Schlucker wie ich, 'ne Flasche billigen Wein leisten.“

„Hör auf mit dem Scheiß, so kann ich dich nicht gebrauchen!“, sage ich streng. Romeos Augen weiten sich, er sieht mich ungläubig an.

„Du willst mich einstellen? So wie ich jetzt bin und aussehe?“ Ich schüttle den Kopf und rümpfe die Nase.

„Nein, so nicht.“ Aus meiner Hosentasche ziehe ich meine Geldbörse und hole einen zwanzig und einen zehn Doller Schein heraus.

„Hier nimm! Werde nüchtern, geh irgendwo duschen, kauf dir was Anständiges zum Anziehen und komm wieder her. Ich brauch dich als Geschäftsführer, nicht als Bettler.“ Romeo wagt es nicht nach den Scheinen zu greifen. Seine Augen werden nur immer größer, während sein Mund ihm offen stehen bleibt.

„So viel? Bist du verrückt geworden? Das kann ich nicht annehmen.“ Er wird es annehmen müssen. Ich drücke ihm das Geld einfach in die Hand.

„Wenn's dir so schwer fällt, dann sehe es als ersten Lohn an. Ich kann wirklich nicht auf dich verzichten. Komm wieder auf die Bein, verstanden?!“ Er atmet tief durch und blinzelt die Tränen weg, die ihm in die Augen steigen. Dann umarmt er mich innig.

„Danke, danke! Ich werde dich sicher nicht enttäuschen.“ Ich rümpfe angewidert die Nase. Sein Geruch ist wirklich nichts für schwache Nerven. Ich schiebe ihn rasch von mir und sehe ihn dabei streng an.

„Boar Romeo geh dich waschen und zieh dir frische Klamotten an. Ehrlich! Du stinkst wie ein ganzer Schnapsladen.“ Er sieht mich verlegen an und kratzt sich am Hinterkopf.

„Tut mir leid“, stammelt er.
 

Romeo verschwindet wenig später, um meiner Anweisung nachzukommen. Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher. So schnell konnte es mit einem Menschen bergab gehen. Bisher hatte ich immer das Glück von Menschen umgeben zu sein, die mich in Notsituationen auffingen. Romeo hatte niemanden. Die letzten Jahre waren sicher hart für ihn. Nie hätte ich damit gerechnet, dass jemand wie er keine Anstellung finden würde. Doch umso besser für mich. Hoffentlich fängt er sich rasch, dann ist zumindest das Problem um die Geschäftsführung des Clubs gelöst. Zufrieden kehre ich zu den anderen zurück.
 

Den Abend und die ganze Nacht hindurch, stoßen wir auf die alten Zeiten an und diskutieren über die Zukunft. Als die letzten Wölfe den Heimweg antreten, ist es weit nach sechs Uhr morgens und wir drei wanken mehr schlecht als recht in unsere Betten. Selbst Leandro hat zu viel getrunken und läuft in Schlangenlinien seinem Zimmer entgegen. Bei der ganzen Aufregung haben weder Toni noch ich darauf geachtet, was er tut. Ich sehe dem Kind kopfschüttelnd hinter, als er mehrere Male vergeblich nach der Klinke greift. In ein paar Stunden wird er das mächtig bereuen. Schmunzelnd wanke ich in mein Zimmer und ahne, dass es mir auch nicht viel besser gehen wird.
 

Zwei Wochen sind vergangen und die Fabrik ist wieder voller Leben. Neben Romeo sind auch noch zwanzig andere Clanmitglieder bei uns eingezogen. Die Aufräumarbeiten gehen langsam voran. Fließendes Wasser gibt es inzwischen wieder und auch der Aufenthaltsraum nimmt Gestalt an. Der Boden ist komplett verlegt und die Wände neu verputzt worden. Dafür hängen noch überall offene Verkabelungen herum. Die Elektriker werden noch etliche Wochen beschäftigt sein, bis es in der ganzen Fabrik wieder Strom gibt. Ich bin heilfroh, dass wir viele Dinge selbst machen können. Aarons Geld wird nicht ewig reichen und mit dem Ausbau des Clubs im ersten Stock haben wir noch nicht einmal begonnen. Um wenigstens ein paar Einnahmen in dieser Übergangsphase zu haben, ließ ich im späteren Club etliche Spieltische aufstellen. Gegen die künftigen Dealer spielte ich selbst, um zu sehen, ob sie ihr Handwerk noch verstanden. Verluste können wir uns jetzt nicht leisten.

Neben dem Glücksspiel bin ich auch immer öfter gezwungen für Giovanni Aufträge zu erledigen. Er besorgte uns drei neue Lastwagen und einen Lastzug, im Austausch dagegen verlangte er etliche ausgesuchte Automobile, die wir nicht nur klauen sondern auch gleich umbauen sollten.

Doch all unsere Einnahm decken noch lange nicht die laufenden Kosten. Ohne Romeos Rechenkünste und seinen alten Kontakten zu Bau und Rohstofffirmen, wäre ich schnell mittellos gewesen. Trotzdem geht es voran, wenn auch nur langsam.
 

Neben dem ganzen Stress des Wiederaufbaus, bleibt nur wenig Zeit, mich um meine Fitness zu kümmern. Meine verletzte Schulter brauchte die letzten Wochen, um auszuheilen und so entschieden Aaron und ich, dass es erst jetzt Sinn machen würde, mit dem Training zu beginnen. Er hatte einen Termin für mich bei seinem Bekannten gemacht. Morgen soll ich das erste mal zu ihm gehen. Um nicht gänzlich unvorbereitet dort aufzutauchen, stehle ich mich schon den ganzen Tag von meinen Aufgaben davon und versuche mich an Klimmzügen und Liegestützen. Doch meine Bemühungen sind lächerlich. Mehr als zehn Liegestütze und fünf Klimmzüge am Stück bekomme ich nicht mehr hin. Ich hasse mich dafür und versuche es immer wieder aufs Neue, selbst als meine Muskeln schon zittern und mich meine Kräfte bei jedem einzelnen Liegestütz verlassen. Das mörderische Training, von dem Aaron gesprochen hat, werde ich niemals durchhalten. Völlig außer Atem bleibe ich schweißüberströmt am Boden liegen.
 

Ein leises Klopfen ist an der Tür zu hören, ich nehme es kaum war. In meinen Ohren rauscht das Blut und mir wird immer wieder schwarz vor Augen. Ich habe es eindeutig übertrieben. Morgen werde ich mich vor Muskelkater nicht mehr rühren können und vor meinem neuen Trainer eine noch schlechtere Figur machen.

Die Tür öffnet sich und Leandros dunkle Gestalt schaut durch den Schlitz ins Zimmer. Ich versuche mich wieder aufzurichten, doch meine Arme zittern so sehr, dass ich gleich wieder zusammen sacke.

„Was machst du denn da?“, will der Junge von mir wissen.

„Ich versuche zu trainieren“, sage ich belustigt und schaffe es mich wenigstens hinzusetzen und mich an die Rückwand des Bettes zu lehnen.

„Da machst du irgendetwas falsch“ Klugscheißer! Ich schmunzle über Leandros Worte und atme einige Male tief durch, bis sich mein Atem allmählich beruhigt.

Leandro steht noch immer in der Tür und sieht sich suchend in meinem Zimmer um.

„Was willst du?“, frage ich ihn, als er nicht von allein den Grund seines Kommens nennt.

„Hast du Toni gesehen? Er wollte mit mir schießen üben, aber das war schon vor zwei Tagen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

„Ich weiß auch nicht wo er steckt.“ Er war einfach verschwunden. In all dem Trubel um den Wiederaufbau, habe ich nicht mal gemerkt, dass er gegangen ist. Ich bin mir zwar sicher, dass er mir gesagt hat, wo er hin wollte, aber ich habe ihm nicht wirklich zugehört. Seitdem ist er verschwunden. Es ist zwar nichts ungewöhnliches, dass er sich mal für ein zwei Tage davonstielt und seinen eigenen Geschäften und familiären Verpflichtungen nach geht, aber so langsam mache auch ich mir Sorgen.

„Wenn er bis morgen früh nicht zurück ist, sollten wir ihn suchen“, schlage ich vor. Leandro nickt verstehend und wendet sich zum Gehen.

„Wenn er wieder auftauchen sollte, sag mir Bescheid!“, rufe ich ihm nach.

„Mach ich!“, kommt zurück. Dann bin ich wieder allein. Toni kann auf sich aufpassen, rede ich mir ein und versuche mich krampfhaft an das Gespräch zu erinnern, kurz bevor er verschwunden ist. Mir will einfach nicht einfallen, was er gesagt hat. Zu viele andere Wölfe standen bei uns und haben mich mit Fragen und Informationen bombardiert, dass ich völlig überhört habe, was er mir sagen wollte. Ich muss mir angewöhnen besser zuzuhören, jetzt habe ich nicht mal einen Anhaltspunkt, wo ich mit der Suche anfangen soll. Um mir nicht weiter den Kopf zu zerbrechen trainiere ich weiter, bis mich auch meine letzte Kraft verlässt. Mehr schlecht als recht schleppe ich mich im Anschluss in mein Bett. Ich nehme mir vor nach Toni zu suchen, sobald die Sonne wieder aufgeht und schließe die Augen.
 

Es ist nicht die Sonne, die mich aus meinem traumlosen Schlaf reißt, sondern zwei starke Arme, die sich um mich schlingen. Erschrocken öffne ich die Augen und sehe mich um. Es ist Toni, der hinter mich aufs Bett gestiegen ist und sich an mich schmiegt. Ich bin erleichtert ihn zu sehen, doch sein finsterer Blick irritiert mich. Ist irgendetwas passiert?

„Was ist los?“, will ich von ihm wissen, doch er antwortet mir nicht. Seine Umarmung wird nur immer fester, während er nicht wagt mich anzusehen. Er gibt mich nicht einmal frei, damit ich mich zu ihm umdrehen kann. Was ist nur los mit ihm? Seit Wochen darf ich sein Zimmer nicht betreten und nun kommt er zum Kuscheln zu mir?

„Was hast du?“, versuche ich es noch einmal.

„Nichts, ich will nur bei dir sein“, sagt er emotionslos. Ich glaube ihm kein Wort. Etwas belastet ihn, etwas das ich nicht wissen soll. Vergeblich versuche ich mich aus seinem festen Griff zu befreien, um ihn ansehen und ihn zur Rede stellen zu können, doch ich schaffe es kaum den Kopf zu heben. Ich habe es mit dem Training eindeutig übertrieben. Mir tut alles weh. Seufzend lasse ich mich zurück ins Kopfkissen fallen. Wenn Toni nicht reden will, dann bringe nicht mal ich etwas aus ihm heraus.

„Es tut mir leid“, flüstert er und ich glaube ein leises Schluchzen zu hören.

„Was tut dir leid?“, will ich wissen, doch ich bekomme keine Antwort mehr. Wo auch immer Toni war und was er dort gemacht hat, es muss ihn seine ganze Kraft gekostet haben, denn er schläft bereits. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen und hin und wieder höre ich ihn leise schnarchen. Super! Was hat er wohl gemeint mit 'es tut ihm leid' und warum will er auf einmal bei mir sein?

~Hochverrat~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Folter~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Verräter~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Mit dem Mut der Verzweiflung~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Ums nackte Überleben~

Ich heule, bis ich keine Tränen mehr habe, dann starre ich ins Leere. Die Welt um mich herum hört auf zu existieren. Ich höre auf zu existieren.
 

Schritte auf dem Flur, ich schließe die Augen. Nur noch ein Moment, dann ist alles vorbei. Die Tür schiebt sich auf, Licht flutetet den Raum, doch irgendetwas ist anders. Irgendetwas, an dem Schatten, der in der Tür stehen bleibt, ist mir vertraut. Die Gestalt betrachtet die verteilten Splitter des Anhängers am Boden, dann sieht sie zu mir. Ich schließe die Augen wieder, mein Ende will ich nicht sehen. Hoffentlich geht es wenigstens schnell und es ist nicht allzu schmerzhaft. Ein Seufzen ist zu hören, dann kommen die Schritte näher, bis sie direkt vor mir ersterben. Eine Hand berührt mich am Kopf. Ich zucke zusammen und weiche mit bebendem Körper und Herzen zurück. Panisch blicke ich auf die Hand, die sich schon wieder nach mir ausstreckt. Bloß keine Berührungen mehr, keine Schläge mehr, lasst mich doch einfach sterben.

"Enrico, schon gut!" Nein, nichts ist gut! Ich will nicht mehr und schüttle immer wieder mit dem Kopf. Eine warme Hand legt sich auf meine Wage. Nein! Ich zucke zusammen und zittere noch heftiger. Er geht vor mir in die Hocke, sein Daumen streicht ganz sacht über meine Wange und jagt mir einen kalten Schauer den Rücken hinab, Tränen überfluten mein Gesicht. Bitte, ich habe genug!

"Enrico, sieh mich an!" Nein, ich will nichts mehr sehen!

"Enrico, ich tue dir nichts. Bitte, sieh mich an!" Die Stimme ist sanft und weinerlich, das ist sie schon die ganze Zeit. Wo bleiben die harten, erniedrigenden Worte, das kalte und boshafte Lachen?

"Bitte ..." Ich schaue auf und sehe direkt in zwei gläserne, smaragdgrüne Augen. Toni? Aber er müsste doch inzwischen tot sein, Moment, bin ich dann auch schon ...

"Sind wir tot?", will ich mit schwacher Stimme wissen. Er schüttelt sacht mit dem Kopf, während ein wehmütiges Lächeln über seine Lippen huscht.

"Nein, sind wir nicht", antwortet er leise. Noch immer liegt seine heiße Hand auf meiner Wange, noch immer spüre ich seinen Daumen ganz sacht auf und ab streicheln. Das ist die erste Wärme seit Tagen und auch in seinem Blick liegt etwas Wärmendes, etwas Fürsorgliches. Immer mehr Tränen fluten meine Sicht. Was für ein grausamer Scherz, dass er es nun ist, der zu Ende bringen soll, was er als Kind nicht übers Herz gebracht hat.

"Bitte, mach es schnell und schmerzlos!", flehe ich inständig doch er schüttelt wieder den Kopf. Will er mir nicht mal das gönnen?

"Wir verschwinden jetzt von hier", sagt er stattdessen. Ungläubig sehe ich in die grünen Augen. Verschwinden? Aber wohin denn? Kann er es nicht einfach hier zu Ende bringen?

"Kannst du aufstehen?" Ich sehe ihn erst ungläubig, dann finster an. Soll das ein Scherz sein? Sehe ich so aus, als wenn ich aufstehen könnte? Toni seufzt, als sein Blick meinen geschundenen Körper abfährt. Ich sehe unter ihm hinweg und schließe die Augen. Ich will so nicht von ihm gemustert werden.

Tonis Hände legen sich um meine Arme, er setzt mich auf. Ein starkes Hämmern durchzieht meinen schweren Kopf und lässt mich laut stöhnen. Ich halte es nicht aus zu Sitzen, mein ganzer Unterleib zerreißt in dieser Position und auch mein restlicher Körper bebt unter den tausend Dornen, die sich durch ihn zu bohren scheinen. Mit beiden Armen umklammere ich mich selbst und will den Schmerz hinausschreien, doch Toni legt mir die Hand über den Mund. Hastig atme ich durch die Nase aus und ein und sehe ihn furchtsam an.

"Bitte, versuch leise zu sein", fleht er inständig und sieht immer wieder durch die offene Tür in den Flur. Ich schlucke schwer und zittere heftig, ich glaube nicht, dass ich es aushalten kann, ruhig zu sein. Immer wieder atme ich aus und ein, doch es wird einfach nicht erträglicher. Kann er mich denn nicht einfach töten, dann habe ich es hinter mir.

Sein Blick wendet sich wieder mir zu, er nimmt die Hand von meinem Mund. Als ich mich im Sitzen immer weiter zusammenkrümme, sieht er mich voller Sorge an. Ich schaue grimmig zurück - das kommt eindeutig zu spät.

Toni schiebt sich sein fleckiges Hemd von den Schultern, ich sehe ihm erschrocken dabei zu. Was hat er denn vor? Er legt es mir über die Schulter. Als es sich über meine eisige Haut legt, kann ich seine Körperwärme noch darin spüren. Mit zitternden Fingern greife ich nach dem dünnen Stoff und ziehe ihn enger um mich. Mir ist so entsetzlich kalt. Toni verknotet die Ärmel auf meinem Brustkorb, dann dreht er mir den Rücken zu und geht vor mir in die Hocke.

"Komm, ich trage dich." Auffordernd hält er die Hände hinter den Rücken, doch ich zögere. Wohin will er mich denn bringen? Wird es dort noch schrecklicher sein, als hier?

"Enrico, beeil dich! Uns läuft die Zeit davon", drängt er, doch ich rühre mich nicht, schüttle nur abwehrend mit dem Kopf. Toni sieht über die Schulter zurück und betrachtet mich eine Weile auffordernd. Als ich seiner Bitte nicht nachkomme, seufzt er resigniert und dreht sich ganz zu mir. Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und sieht mich eindringlich an.

"Enrico, bitte! Ich erkläre dir alles, wenn wir in Sicherheit sind, aber jetzt müssen wir von hier verschwinden, bevor es zu spät ist!" Es ist doch schon längst zu spät! Michael hat es geschafft, er hat meinen Willen gebrochen. Ich sehne mich nur noch nach dem Tode. Tränen strömen mir in großen Bächen übers Gesicht, Tonis Umrisse verschwimmen.

"Warum hast du mir das angetan?", schluchze ich. Auch in Tonis Augen sammeln sich Tränen, als er auf mich einredet, laufen sie ihm über die Wangen: "Bitte, ich erkläre es dir, wenn wir aus dieser Hölle hier raus sind. Lass uns jetzt gehen, bitte! Ich will hier weg, aber nicht ohne dich. Lass uns verschwinden, bevor sie was merken." Er rutscht kraftlos auf die Knie und fällt mir mit dem Kopf in den Schoß. Seid er hier ist, sehe ich ihn das erste Mal richtig an. Sein Oberkörper ist mit Brandwunden, Schnitten und blauen Flecken überzogen, seine linke Wange ist geschwollen und seine Unterlippe aufgeplatzt. Dann habe ich mich also nicht verhört, als ich seinen Schrei im Badezimmer hörte. Er wurde hier genauso festgehalten und gefoltert wie ich, aber warum in Gottes Namen hat er uns denn nur in diese Lage gebracht? Ich seufze schwer. Wenn ich das herausfinden will, muss ich ihm wohl oder übel noch einmal mein Leben anvertrauen.

"Na schön! Ich will hier auch weg." Toni sieht mich wieder an. Hoffnung spiegelt sich in seinen nassen Augen und steckt mich an. Mit seiner Hilfe entkommen wir vielleicht wirklich. Aber an seinem Verrat ändert das überhaupt nichts.

Er nickt und dreht mir den Rücken zu, auffordernd sieht er über die Schulter zurück. Ich hebe meine schmerzenden Arme und lege sie ihm zittern über die Schultern und um den Hals. Sein Oberkörper ist angenehm warm. Ich lehne mich an ihn und atme auf, als das unerträgliche Zittern meines Körper ein wenig nach lässt.

"Willst du die mitnehmen?", will er wissen. Verwirrt sehe ich ihn an und folge seinem Blick auf den Schreibtisch. Die Waffe, die Michael mir in den Rücken geworfen hat, liegt nun neben mir. Es ist meine eigne. Ich betrachte das Wolfsrudel auf dem Lauf und den Elfenbeingriff. Noch vor ein paar Minuten hätte sie dort liegen bleiben können und es wäre mir egal gewesen, aber wenn wir wirklich entkommen können, dann kann sie noch mal nützlich sein. Mir fallen meine Worte zu Michael während der Folter ein, als ich ihm den Tod androhte. Er wollte warten, sollte ich ihm entkommen. Überhebliches, sadistisches Arschloch! Wenn ich wirklich überlebe, mache ich meinen Schwur wahr.

"Wir nehmen sie mit!", entscheide ich und greife nach ihr.

"Ist sie geladen?", will Toni wissen, als ich sie an mich nehme und meinen Arm wieder über seine Schulter lege.

"Nein!"

"Wäre ja auch zu schön gewesen." Er greift nach meinen Beinen und lädt mich ganz auf seinen Rücken. Sein Atem geht ruckartig, er braucht zwei Versuche, um sich aufzurichten. Seine Muskeln zittern unter der Anstrengung. Er hat sicher starke Schmerzen, aber da muss er jetzt durch. Meinen hämmernden Kopf lege ich auf seiner Schulter ab und versuche den Schmerz meines eigenen Körpers zu ertragen, ohne bei jeder seiner Bewegungen, aufzuschreien.

Toni geht zur Tür und späht auf den langen Flur davor. Kein Laut ist zu hören, niemand außer uns, scheint hier zu sein, denn auch hinter den etlichen anderen Türen, ist alles ruhig. Toni wagt sich auf den hell erleuchteten Flur und läuft in Richtung Fahrstuhl los. Ich erinnere mich an den Schlüssel, der in Butchs Manteltasche verschwunden ist. Ohne ihn können wir den Aufzug nicht benutzen. Ob Toni ihm den Schlüssel abgenommen hat? Wir folgen dem Gang bis zum Fahrstuhl und biegen an ihm nach rechts in einen weiteren Flur ab. Verwirrt sehe ich zurück, während wir uns immer weiter von ihm entfernen. Es gibt doch nur diesen einen Weg nach unten. Verschwinden wir doch nicht von hier? Misstrauisch sehe ich ihn an. Wir bleiben vor einer Tür stehen, die letzte im Gang.

"Mach du sie auf, ich hab keine Hand frei!", bittet er und geht ein Stück in die Hocke, damit ich die Klinke erreichen kann. Ich strecke meine zitternde Hand nur zögernd aus und sehe Toni warnend an. Wenn das wieder eine Falle ist, schlage ich ihm mit der Pistole den Hinterkopf ein.

"Jetzt mach schon!", fordert er ungeduldig. Ich atme tief durch, drücke die Klinke und stoße die Tür weit auf. Eine Treppenhaus öffnet sich, dessen einzige Treppe nach oben führt. Wir wollen also aufs Dach? Ich atme erleichtert durch und lege meinen Kopf zurück auf Tonis Schulter. Anscheinend bringt er uns wirklich von hier weg. Das Hochhaus hat sicher eine Feuerleiter, die vom Dach nach unten führt. So umgehen wir den Fahrstuhl und müssen nicht durch die Empfangshalle. Wie gut, dass er noch klar denken kann, ich kann es nicht mehr.

Toni läuft die Stufen hinauf, doch auf knapp der Hälfte, hält er inne. Schwer atmend lehnt er sich gegen die Wand hinter dem Geländer. Er schwitzt so stark, dass ihm der Schweiß von den klammen Haaren in die Augen läuft.

"Wenn du jetzt schlapp machst und wir deswegen drauf gehen, reiß ich dir in der Hölle den Arsch auf!", schnauze ich ihn an.

"Danke für dein Mitgefühl!", entgegnet er und drückt sich keuchend von der Wand ab. Ein blutiger Abdruck seiner Hand bleibt auf ihr zurück. Mit quälend langsamen Schritten erklimmt er die nächsten Stufen.

"Ich will für dich hoffen, dass du wirklich einen triftigen Grund, für all das hier hast!" Toni sagt nichts mehr, er ist zu sehr damit beschäftigt, nicht unter meinem Gewicht zusammenzubrechen. Als wir endlich die letzte Stufe erreichen, geht sein Atem so stockend, dass ich damit rechne, dass er jeden Moment zusammenbricht. Jetzt tun mir meine harten Worte fast leid, doch ich bin immer noch viel zu wütend, um etwas Aufmunterndes zu sagen. Ihm Käfig hatte er auch keine Freundlichkeit für mich übrig.
 

Die Tür zum Dach öffne ich uns ebenfalls. Eisiger Wind und Regen schlägt uns entgegen, er pfeift über die Ränder des Hochhauses und drückt gegen die Tür. Tonis dünnes Hemd weht weit von meinem Körper weg. Augenblicklich verspannen sich all meine Muskeln, gepeinigt schreie ich auf und drücke mich eng an Tonis warmen Körper. Was gäbe ich jetzt nicht alles für ein heißes Kaminfeuer und ein vorgewärmtes Bett. Auch Toni beginnt unter dem schneidenden Wind zu zittern, dennoch tritt er ins Freie. Die Tür schlägt vom Wind erfasst hinter uns ins Schloss. Es ist Nacht, der Himmel ist bewölkt und der volle Mond ist zum großen Teil von ihnen verdeckt. Eisiger Regen prasselt auf uns herab und frisst sich mit scharfen Zähnen in meine Haut. Ich zittere so stark, dass ich kaum die Waffe in meiner Hand halten kann.
 

Toni sieht sich suchend um, als wenn er jemanden hier oben erwarten würde und ich tue es ihm irritiert gleich. Wer, wenn nicht ein Drache, sollte hier auf uns warten?

Aus dem Schatten des Geländers der Feuerschutztreppe, löst sich eine Gestalt. Sie kommt mit eiligen Schritten auf uns zu. Der junge Mann ist nicht viel größer als ich und seine Bewegungen kommen mir vertraut vor.

"Jan, nimm ihn mir ab!", ruft Toni dem Mann zu, der vor uns zum Stehen kommt. Jan? Hier in New York? Aber er müsste doch in Italien sein.

Jan zieht mich von Tonis Rücken und lädt mich auf seinen eigenen, seine Klamotten sind durchnässt, seine Körper ist eiskalt. Ich sehen mich nach Tonis warmen Oberkörper und werde von heftigem Zittern geschüttelt.

Von meinem Gewicht befreit sackt Toni vor uns auf die Knie.

"Verdammt, warum hat das alles so lange gedauert? Ich dachte sie hätten euch umgelegt."

"Das hätten sie auch fast", keucht Toni und stützt sich auf seine Knie. Er braucht einen Moment wieder zu Atem zu kommen, dann spricht er weiter: "Es lief nicht so, wie wir's geplant hatten." Wir? Heißt das Toni und Jan haben sich das hier zusammen ausgedacht?

"Hast du sie in Sicherheit gebracht?", will Toni nach einer langen Pause wissen. Sie? Wen meint er damit? Wer musste in Sicherheit gebracht werden?

"Ja, keine Sorge. Alle Drei sind bei Aaron!" Alle Drei? Verflucht, von wem reden die Beiden bitte?

"Kann mir endlich mal jemand sagen, was hier gespielt wird?", schreie ich gegen den heulenden Wind an.

"Er ist eiskalt, Toni", bemerkt Jan und sieht über die Schulter besorgt zu mir.

"Ja, ich weiß, wir müssen sofort aus diesem Regen raus! Bist du mit dem Auto hier?", entgegnet Toni und stemmt sich wieder auf die Beine. Beide ignorieren meine Frage. Ich will sie noch einmal stellen, doch meine Lippen und mein ganzer Kiefer zittern so stark, dass ich keine Worte mehr formen kann.

"Ja, mit was denn sonst!"

"Dann nichts wie weg von hier!"
 

Über die Feuerleiter steigen wir hinab. Der eisige Regen und der heulende Wind betäuben meinen Körper, ich kann weder meine Hände noch Füße spüren, selbst meine Gedanken sind wie eingefroren. Ich versuche aus dem Gespräch der Beiden schlau zu werden, doch ich kann keine Zusammenhänge mehr ziehen, habe beinah vergessen, was sie gesagt haben.

Als wir endlich die Treppe hinter uns gelassen haben und das Auto erreichen, steigt Toni als erster ein. Er klettert auf die Rückbank und streckt auffordernd die Arme aus, als er sagt: "Gib ihn mir!" Ich bin beinah besinnungslos vor Kälte, als sie mich zu ihm auf die Rückbank bugsieren und ich wieder die Wärme von Tonis Körper spüren kann. Obwohl er mit uns durch den kalten Regen gelaufen ist, glüht er förmlich. Hat er Fieber oder liegt das an den etlichen geschwollenen Verletzungen. Ganz egal, ich finde es sehr angenehm und rolle mich über ihm zusammen. Jan steigt auf der Fahrerseite ein und klemmt sich hinter das Lenkrad, er wirft die Tür nach sich zu und startet den Motor.

"Gib mir deine Jacke!", fordert Toni.

"Warum ist er den nackt?", will Jan wissen, als er sich die Jacke auszieht und über denn Sitz reicht. Von innen ist sie zwar feucht aber auch angenehm warm. Toni legt sie mir über den Rücken und ich ziehe sie krampfhaft über meine Schultern. Ich schlottere am ganzen Körper und auch Tonis Arme, die er nun um mich legt, können daran nichts ändern.

"Frag lieber nicht!", entgegnet Toni und auch ich habe keine Lust Jan zu antworten.

"Hält er durch, bis wir bei Raphael sind?" Jan lenkt den Wagen auf die Straße und beschleunigt.

"Ich weiß es nicht! Ich habe noch niemanden erlebt, der Michael so lange die Stirn geboten hat. Eigentlich müsste er längst tot sein. Je schneller wir bei Raph sind, umso besser." Der Wagen wird immer schneller und bringt uns endlich weg von diesem Ort. Jan ist der beste Fahrer, den mein Clan je beschäftigt hat, er schafft es selbst auf regennasser Fahrbahn, jeden Verfolger abzuschütteln. Alle Anspannung fällt von mir ab, mit ihm am Steuer, sind wir in Sicherheit.

Toni legt den Kopf zurück und schließt die Augen, er atmet einige Male tief durch, auch er beginnt sich zu entspannen.
 

Noch immer wird mein Körper von Kälte und Schmerz geschüttelt. Nur unmerklich kehrt etwas Leben in meine Gliedmaßen zurück. Es brennt und sticht entsetzlich in meinen Füßen und Händen. Ich atme gequält und kann das Zittern einfach nicht abstellen. Trotzdem will ich es jetzt endlich wissen und keusche angestrengt: "Jetzt sind wir in Sicherheit! Also! Warum?" Toni seufzt hörbar, er braucht noch zwei tiefe Atemzüge, bevor er mir entgegnet: "Sie hatten unsere Kinder!" Ich schlucke schwer und sehe Toni ins Gesicht. Ist das sein Ernst? Er sieht mich nicht an, hat die Augen noch immer geschlossen und atmet schwer. Von ihm sehe ich in den Rückspiegel zu Jan. Das kann doch gar nicht sein, Amy, Rene und Kira sind doch in Italien, in Sicherheit, weit Weg von diesem ganzen Chaos.

"Ich verstehe nicht", sage ich zweifelnd.

"Butch ist mir nach Italien gefolgt, als ich dich zur Heimkehr überreden wollte. Er hat uns die ganze Zeit beschattet. Als wir zurück nach New York sind, ist er auf Anweisung von Michael in Italien geblieben." Toni unterbricht seine Erzählung und atmet noch schwerer, scheinbar fehlt ihm die Kraft, die Geschichte zu Ende zu bringen.

"Ich war arbeiten, als er ins Sommerhaus eingedrungen ist. Er hat Lui erschossen und Robin und die Kinder mitgenommen", erzählt Jan die Geschichte weiter. Seine Stimme ist monoton und bricht immer wieder ab. 'Lui ist tot' - hämmert es durch meinen Kopf. Der Mann, dem ich das Wiedersehen mit Toni zu verdanken habe, der mich stütze, als ich das Laufen neu lernte, der mir die Tabletten aus der Hand riss, als ich den Inhalt der ganzen Packung schlucken wollte. Jans bester Freund! Ich sehe in den Rückspiegel und kann in den Augen unseres Fahrers Verzweiflung und Schmerz lesen. Die Beiden waren genau so eng miteinander, wie ich und Toni. Scheiße! Ich weiß nicht, was ich sagen soll, bis mir einfällt, das Toni auf dem Dach von drei Personen gesprochen hat, die nun in Sicherheit sind. Es müssten mit Robin aber vier sein.

"Was ist mit Robin?", will ich wissen und ahne die Antwort bereits.

"Butch hat sie nur am Leben gelassen, damit sie sich während der Überfahrt um die Kinder kümmert. Michael hat sie vor meinen Augen erschossen. Danach hat er mir gedroht, dasselbe mit den Kindern zu tun, wenn ich dich nicht ausliefere. Ich konnte nichts mehr für sie tun, sie ist in meinen Armen verblutet", antwortet Toni. Atemlos sehe ich immer wieder zwischen Jan und ihm hin und her. Nein!

"Nein! Robin ist nicht tot! Ich habe doch vor ein paar Tagen noch mit ihr telefoniert! Sie ist nicht ... sie ist doch ..." Tränen schießen mir in die Augen, doch keine einzige rollt mir über die Wange. In mir wird alles kalt, als ich an sie und das ungeborene Kind denke.

"Was ist mit dem Kind?", will ich atemlos wissen.

"Ich musste erst Rene, Amy und Kira finden und befreien, bevor ich dich holen konnte. Sie sind jetzt bei Aaron." Diese Kinder meine ich doch gar nicht.

"Nein, ich meine das Kind von Robin und mir! Das in ihrem Bauch!"

"Robin war schwanger?", rufen Toni und Jan fast zeitgleich.

"Ja!", antworte ich mit bebender Stimme. Ein fetter Kloß bildet sich in meiner Kehle und lässt mich schwer schlucken.

"Wenn sie schwanger war, dann ist es mit ihr gestorben!", entgegnet Toni nach einem Moment des Schweigens.

Verdammt, warum hab ich mir nur gewünscht, dass dieses Kind nie geboren wird? Mein Atem überschlägt sich und kratzt durch meine wunde Lunge. Ich beginne zu husten und kann mich einfach nicht beruhigen. Krampfhaft ringe ich nach Atem und huste immer wieder Blut aus.

"Enrico? Verdammt! Jan beeil dich!", drängt Toni und reibt mir beruhigend über den Rücken, doch der Hustenanfall lässt nicht nach. Er raubt mir meine letzte Kraft und lässt mich atemlos in Dunkelheit fallen.

"Ich fahre doch schon so schnell, wie ich kann!", höre ich noch Jan, bevor sämtliche Geräusche verstummen.
 

"Zwei Rippen sind gebrochen, der Rest sind Prellungen", höre ich Susens Stimme. Ihre Hände tasten meinen Oberkörper ab.

"Argghh!", stöhne ich auf und versuche vor ihrer Berührung zu fliehen, doch ich kann mich nicht bewegen. Alle meine Muskeln brennen und ziehen sich immer wieder krampfhaft zusammen. Die Wärme des Raumes, bohrt sich mit tausend Nadeln in meine eisige Haut. Gott, ich will was gegen diese unerträglichen Schmerzen, am besten eine Überdosis Morphium, dann spüre ich wenigstens nie wieder etwas und schlafe friedlich ein. Wenn ich doch nur meine bebenden Lippen unter Kontrolle bringen könnte, um Susen darum zu bitten, doch ich tue mich schon schwer damit, die Augen zu öffnen.

Es ist nicht nur Susen bei mir, um mich herum kann ich noch Raphael und Jan erkennen, ihre Gesichter sind sorgenvoll. Steht es denn so schlecht um mich?

"Er ist stark unterkühlt und dehydriert. Raphael hol ein Glas Wasser, Jan im Gästezimmer sind Decken, hol sie her!" Eine warme Decke wäre wirklich schön. Ich sehe Jan sehnsüchtig nach, hoffentlich beeilt er sich. Susens Blick wendet sich wieder mir zu. Als sie bemerkt, dass ich wach bin, lächelt sie sanft und legt mir ihre warme Hand auf die Wange.

"Hey, willkommen zurück!", säuselt sie. Was meint sie damit? Hat sie mich wiederbeleben müssen? Deswegen die gebrochenen Rippen, oder waren sie vorher schon kaputt? Ich stöhne gequält.

"Hast du was gegen die Schmerzen? Ich halt das nicht mehr aus", flehe ich sie an, doch meine Worte sind nicht lauter als ein Flüstern. Sie versteht mich trotzdem und nickt.

"Ich hol dir was." Als sie geht, kommt Jan mit einer weichen Wolldecke zurück. Er legt sie über mich, doch ich spüre kaum eine Veränderung. Ich schlottere noch immer am ganzen Körper und das obwohl im Kamin, neben mir, ein heißes Feuer lodert. Raphael kommt mit einem Glas Wasser zurück, er stellt es auf dem kleinen Tisch und kommt dann zu mir. Damit ich trinken kann, muss er mich aufrichten.

"Ahh!", schreie ich, als er meine wunden Arme berührt und mich in eine sitzende Position drückt. Raphael setzt sich hinter mich aufs Sofa und lehnt mich an seinen Oberkörper. Ich genieße seine Körperwärme und versuche aus dem Glas zu trinken, das er an meine aufgesprungenen Lippen führt, doch ich kann kaum schlucken. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis ich das Glas zur Hälfte gelehrt habe, dann kann ich die Kraft dafür nicht mehr aufbringen und drehe den Kopf weg. Susen kommt mit einer Spritze zurück. Das erste Mal überhaupt, freue ich mich darüber, eine Nadel zu sehen und störe mich nicht daran, als sie sich in meine Haut schiebt und ihren Inhalt in meine Blutbahn jagt. Ein Gefühl der Taubheit verteilt sich in meinem Körper. Ich atme erleichtert durch, schließe die Augen und lehne den Kopf an die Schulter meines Bruders. Schlafen, ich will nur noch schlafen.

"Er ist immer noch eiskalt!", mein Raphael besorgt. Susen zieht ein Fieberthermometer aus meiner Achsel, von dem ich erst jetzt merke, dass es dort war. Ich schaue müde zu ihr auf, während sie die Zahlen von der Skala abliest. Ihr Blick verdunkelt sich.

"Seine Körpertemperatur ist sogar noch gefallen", erklärt sie mit einem zitternden Unterton. Will sie damit sagen, ich erfriere hier mitten im warmen Wohnzimmer?

"Wir müssen irgendwie Wärme in ihn rein kriegen." Hilfesuchend sieht sie die anderen Beiden an.

"Wie wäre es mit einem heißen Bad?", schlägt Jan vor. Ich erschrecke fürchterlich bei dem Gedanken und sehe ihn kopfschüttelnd an. Bloß keine Badewanne, bloß kein Wasser! Doch weder er noch Susen und Raphael achten auf meinen Protest.

"Gute Idee, aber wir müssen die Temperatur schrittweise erhöhen, sonst fällt er uns noch in einen Schockzustand", gibt Susen zu bedenken, "Ich lass schon mal etwas Wasser ein!" Oh man, ich will doch nur schlafen. Ich spüre Raphaels Arme, wie sie unter meinen Körper gleiten. Er hebt mich unter der Decke heraus, die von mir herabrutscht. Ein eisiger Schauer ergreift von mir Besitz. Ich will wieder zurück und sehe sehnsüchtig auf das Sofa, während Raphael mich in den ersten Stock trägt.

Susen hat die Wanne zu einem Viertel gefüllt und dreht gerade den Hahn zu, als wir das Badezimmer betreten. Der Anblick des Wassers, lässt Panik in mir aufsteigen, mein Herz beginnt zu rasen und ich atme immer schneller. Ich will da nicht rein! Flehend sehe ich in das Gesicht meines Bruders, doch er sieht mich nicht an.

"Ich will nicht", protestiere ich, doch zu leise, um gehört zu werden. Er trägt mich bis zum Wannenrand und hebt mich darüber hinweg. Nein! Ich kralle meine Hände in sein Hemd und schreie nun kraftvoller: "Ich will nicht!" Verstört sehen mich alle Drei an.

"Es ist doch nur lauwarm!", versichert mir Susen. Sie schöpft mit ihrer holen Hand etwas Wasser aus der Wanne und lässt es über meinen Fuß fließen. Als es meine Haut berührt, hämmert die Erinnerung durch meinen Kopf. Das eisige Wasser, Michaels Pranken die mich unter Wasser drücken, seine Schläge, sein Gewicht, das er mir in den Rücken stemmt. Nein, ich will das nicht!

Als Raphael mich in die Wanne setzte, hallte ich mich krampfhaft an ihm fest und versuche vergeblich, mich aus dem Wasser zu stemmen.

"Neinn! Lasst mich hier raus!", schreie ich sie panisch an und rutsche immer wieder mit den Beinen weg.

"Enrico! Was ist denn los?" Raphael sieht mich verständnislos an und auch Jan und Susen wirken verstört. Doch mir ist alles egal, so lange ich nur aus dieser Wanne rauskomme.

"Es ist doch nur Wasser", pflichtet mir Susen in beruhigendem Ton zu, doch ich halte nicht still. Als sie versucht meine verkrampften Hände von Raphael zu lösen, schlage und trete ich nach ihr. Ich treffe sie ihm Gesicht. Erschrocken weicht sie zurück und reibt sich über die getroffene Wange. Ich spüre Jan und Raphaels Hände die meine Arme und Beine fixieren, während ich noch immer wild um mich schlage. Sie versuchen zu verhindern, dass ich mich an den Armaturen des Badezimmers verletze, doch für mich ist es, als wenn ich wieder von Michael festgehalten werde. Ich strample und zerre an ihnen und verteile das wenige Wasser in der Wanne im ganzen Badezimmer.

"Enrico, was ist den nur los mit dir?"

"Beruhige dich doch!"

"Dir passiert doch nichts!"

All ihr gutes Zureden erreicht mich nicht. Ich wehre mich weiter, bis Susen endlich ein Einsehen hat: "Das bringt nichts! Heb ihn raus!" Als ich Raphaels Arme unter mir spüren kann und er mich aus der Wanne hebt, kralle ich mich atemlos in seine Kleidung und vergrabe den Kopf unter seinem Arm. Ich bekomme kaum noch Luft und das Herz schlägt mir noch immer bis zum Hals.

"Ich will nicht! Ich will nicht mehr!", stammle ich immer wieder und zittere heftig.

"Was haben diese Schweine nur mit dir gemacht?", will Raphael mit einer Mischung aus Sorge und Wut wissen, doch ich weigere mich ihm zu Antworten. Nur langsam ebbt die Panik in mir ab und das Rauschen in meinen Ohren lässt nach. Die Kraft weicht aus meinem Körper und ich sacke, wie ein Häufchen Elend, in den Armen meines Bruders zusammen.

"Darf, darf ich es probieren?" Toni steht in der Tür des Badezimmers und sieht verstohlen zu mir und Raphael. Seinen Oberkörper zieren etliche Verbände. Wer ihm die wohl angelegt hat? Susen war doch die ganze Zeit bei mir.

Die Gesichtszüge meines Bruder verhärten sich, hasserfüllt sieht er Toni an, als er schreit: "Gerade du! Was machst du überhaupt noch hier? Ich habe dir doch gesagt, du sollst verschwinden, sobald Anette sich um deine Wunden gekümmert hat!"

"Ich habe den Tumult hier oben gehört und ...", Toni holt tief Luft, seine Haltung straft sich, er sieht Raphael direkt an, als er weiter spricht, "Lass es mich probieren!" Versucht er sich gerade gegen meinen Bruder aufzulehnen? Das hat er noch nie getan. Raphaels Blick wird noch zorniger.

"Verschwinde aus meinen Augen, bevor ich mich vergesse!" Tonis Atem geht schneller, seine Hände ballen sich zu Fäusten, doch er rührt sich kein Stück vom Fleck.

"Er stirbt, wenn er noch weiter auskühlt und ihr werdet ihn nie in diese Wanne rein bekommen", entgegnet Toni standhaft. Raphael holt schon Luft für einen erneuten Rauswurf, doch bevor er etwas sagen kann legt ihm Jan seine Hand auf die Schulter und meint: "Ich gebe es ja nicht gern zu, aber er hat recht. Wenn jemand Enrico wieder aufwärmen kann, dann er." Jan setzt einen vielsagenden Blick auf. Ich betrachte ihn mit einer hoch gezogenen Augenbraue. Was will er denn damit sagen? Raphael sieht von ihm zu Toni, dann zu mir, schließlich seufzt er resigniert. Er geht auf Toni zu und bleibt vor ihm stehen.

"Wenn er auch nur einen blauen Fleck mehr hat, drehe ich dir eigenhändig den Hals um!" Toni sieht ernst zurück und weicht dem Blick Raphaels nicht wie sonst aus. Beiden liefern sich einen stummen Machtkampf, schließlich legt mich Raphael in seine Arme.

"Lasst uns allein!", fordert Toni und drückt mich besitzergreifend an sich. Hat er etwa Angst, Raphael überlegt es sich noch einmal anders? Wieder holt mein großer Bruder Luft, um seinem Unmut darüber hinauszuschreien, doch einmal mehr geht Jan dazwischen. Er drückt ihm mit der flachen Hand in den Rücken und schiebt ihn aus der Tür, dabei sieht er ihn kopfschüttelnd an. Auch Susen kommt zu ihm und legt ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

"Lass uns gehen!", sagt sie mit zuckersüßer Stimme und warmen Lächeln.

"Höre ich auch nur einen Schrei im Wohnzimmer, bist du fällig!", droht Raphael noch einmal, dann geht er tatsächlich. Auch Susen und Jan verlassen das Badezimmer. Erst als sich die Tür schließt, lockert sich Tonis Haltung. Er seufzt hörbar und sieht für einen Moment an die Decke.

Es wird bedrückend still. Nach allem, was passiert ist, fühlt es sich seltsam an, mit ihm ganz allein zu sein. Sonst genieße ich so einen Moment, doch nur ein Blick auf die Badewanne und ein eisiger Schauer läuft mir den Rücken hinab.

"Bitte, nicht in die Badewanne", flehe ich inständig und mit kraftloser Stimme. Tonis Blick wendet sich wieder mir zu, er zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht, als er sagt: "Was denn? Du willst nicht mir mir zusammen baden? Bis du krank?" Es soll ein Scherz sein, doch wir können beide nicht wirklich darüber lachen.

Toni trägt mich bis zum Rand der Wanne. Ich schüttle immer wieder mit dem Kopf und spüre, wie mein Puls zu rasen beginnt. Gibt es denn keinen anderen Weg, meine Körpertemperatur zu stabilisieren? Ich habe kein Kraft gegen die Erinnerungen anzukämpfen, die einmal mehr in mir toben.

Toni setzt mich auf dem Wannenrand ab und lässt nur meine Füße ins Wasser hängen. Es sticht und kribbelt in meinen Zehen, dabei hat Susen doch behauptet, es wäre nicht warm. Mir erscheint es kochend heiß. Ich ziehe die Beine an, doch meine Bauchmuskeln schmerzen so sehr, dass ich sie schnell wieder fallen lasse.

Mein ganzer Brustkorb ist schwarz und dunkelblau verfärbt, auch meine Beine sind fast vollständig mit blauen und grünen Flecken übersät. Etliche Schürfwunden und Kratzer ziehen sich über die Knie und über meine beiden Unterarme. Die wenigen Stellen, die nicht von Blutergüssen oder Schrammen übersät sind, sind kreideweiß und bilden einen erschreckenden Kontrast. Oh man, ich sehe aus, wie eine wandelnde Leiche.

Toni legt mir ein Handtuch über die Schultern, dass ich sofort schützend umschlinge.

"Kannst du alleine sitzen?", will er von mir wissen. Ich versuche mich von seiner Hand zu lösen, um es zu testen. Es fällt mir schwer, aber es geht. Susens Mittel wirkt bereits, ich spüre kaum etwas und auch das Stechen in meinen Zehen wird langsam erträglicher. Als Toni merkt, dass es auch ohne seine Hilfe geht, entfernt er sich einen Schritt von mir und öffnet seine Hose. Ich zucke zusammen und sehe ängstlich über die Schulter zu ihm.

"Was hast du vor?", will ich mit bebenden Stimme von ihm wissen. Ein warmes Lächeln umspielt seine Lippen, als er sich die Hose und Unterhose von den Beinen streift.

"Ich hab seit drei Tagen kein Wasser mehr gesehen. Bevor Raphael mich wirklich raus schmeißt, könnte ich auch ein heißes Bad vertragen." Er setzt sich zu mir auf den Wannenrand und dreht den Knauf für das warme Wasser auf. Ich sehe zu, wie es sich verteilt und der Pegel in der Wanne zu steigen beginnt. Unwillkürlich beginne ich mich zu verkrampfen. Bald ist es genug, um darin untergetaucht zu werden. Mir stockt der Atem, ich fühle mich, wie in jenen furchtbaren Moment unter Wasser. Abwesend starre ich in den Strahl, der aus dem Wasserhahn läuft.

Tonis besorgter Blick ruht auf mir, doch ich kann nicht mehr reagieren. Immer wieder sehe ich schäumendes Wasser und tausend entweichende Luftblasen. Tonis warme Hand legt sich über meine krampfenden Finger, er steigt vor mir in die Wanne. Der Strahl des Wassers und die sich füllende Wanne werden von seinen weichen Gesichtszügen und den grünen Augen ersetzt. Er löst die Umklammerung meiner Hände und zieht sie zu sich auf seinen Brustkorb. Das Handtuch fällt von meinen Schultern, ein Schauer lässt mich erzittern. Seine Hände und sein Oberkörper sind heißer, als das Wasser, das sich um meine Fußknöchel verteilt und meine Beine hinauf wandert.

"Sie nur mich an und nicht das Wasser!", sagt er und zieht mich langsam zu sich. Ich stemme mich dagegen und schüttle mit dem Kopf.

"Vertrau mir!", fordert er sanft. Vertrauen? Ist das sein ernst? Ich ziehe meine Hände zurück und sehe ihn grimmig an.

"Das verlangst du nicht ernsthaft, nach allem was ..." Ein heftiger Schwindel überkommt mich, alles dreht sich. Ich kippe nach vorn, ihm genau in die Arme. Verdammt, warum ausgerechnet jetzt? Jetzt, wo ich ihn anschreien und verfluchen will.

Toni legt seine Arme um mich und lehnt sich in der Wanne zurück. Er zieht mich mit sich, hinein in das warme Wasser, dass sich um uns herum verteilt. Panisch versuche ich mich aus seiner Umarmung zu befreien.

"Lass mich los!", keife ich und schlage mit den Fäusten auf seinen Oberkörper ein.

"Ich will hier aus! Lass mich hier raus!", brülle ich ihn an, doch er gibt mich nicht frei. Ich schlage noch fester zu und treffe einen großen roten Fleck auf seinem Verband. Er schreit laut auf und wirft den Kopf in den Nacken, hastig zieht er die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Ich schaue erschrocken und betrachte meine Faust, die auf dem Verband ruht. Warmes Blut sickert hindurch.

"Tut ... tut mir leid", stammle ich und betrachte ihn besorgt. Er hat die Augen geschlossen und atmet noch immer gequält.

"Schon gut", meint er mit zusammen gebissenen Zähnen und sieht an die Decke, "Ich hab's nicht anders verdient! Schlag nur zu, so lange du willst, wenn es dir hilft. Aber ich werde dich nicht loslassen, bevor du nicht wieder aufgewärmt bist." Tränen spiegeln sich in seinen Augen, doch er drängt sie zurück. Eigentlich hat er es wirklich nicht anders verdient, ich sollte seinen Oberkörper so lange bearbeiten, bis der ganze Verband rot ist, aber meine Wut ist schon in dem Moment verpufft gewesen, als er laut aufgeschrien hat. Resigniert lege ich meinen Kopf auf seinen Oberkörper und seufze schwer.

Die Wärme des Wassers und Tonis Körper sucht sich langsam ihren Weg in meine bebenden Muskeln. Das Zittern lässt nach und hört schließlich gänzlich auf. Es tut gut, so unendlich gut, dass ich es wage die Augen zu schließen. Nichts, keine Erinnerungen nur wollige Wärme und das ermüdende Gefühl der völligen Erschöpfung. Als das Wasser hoch genug steht, dass es auch meinen Rücken umschließt, dreht Toni den Wasserhahn zu.
 

Wir liegen eine ganze Weile schweigend da und gehen beide unseren Gedanken nach. Wenn Toni wirklich um das Leben unserer Kinder erpresst wurde, kann ich zumindest verstehen, warum das alles passieren musste. Aber warum hat er mich nicht eingeweiht? Vielleicht wäre uns zusammen etwas besseres eingefallen.

"Warum hast du's mir nicht gesagt?", will ich noch völlig in Gedanken versunken wissen. Toni seufzt hörbar, sein Brustkorb hebt sich unter mir. Er braucht einen Moment, bevor er mir antwortet: "Es war Teil der Bedingungen, dass du nicht Bescheid weist." Toni atmet schwer ein, dann überschlagen sich seine Wort. "Ich wollte es dir trotzdem sagen, aber ich wusste nicht wie und ich hatte auch Angst, du würdest nicht freiwillig mitkommen und er würde die Kinder dann töten oder noch schlimmer. Er hatte Kira schon das Kleid runter gerissen und ..."

"Schon gut!", unterbreche ich ihn. Eigentlich will ich davon gar nichts mehr hören. Ich habe schon verstanden, natürlich ist seine Tochter wichtiger als ich und er hat ja auch meinen Kindern damit das Leben gerettet. Vielleicht hat er sogar recht und ich hätte gar nicht den Mut gehabt, mich so einer Situation freiwillig auszusetzen. Immerhin habe ich mich die letzten Jahre auch davor gedrückt, aber trotzdem. Also Toni Luft holt, um etwas zu sagen, komme ich ihm zuvor: "Ich verstehe schon, du wolltest deine Tochter schützen und du hast damit ja auch meinen Kindern das Leben gerettet, aber ..." Ich mache eine kurze Pause und bin mir nicht sicher, ob ich den Gedanken wirklich aussprechen soll. "... auch wenn das jetzt egoistisch klingt, ich wünschte, ich wäre dir wenigstens einmal wichtiger, als alle anderen Menschen." Resigniert schließe ich die Augen und spüren einen heftigen Stich im Herzen. Es ist ja nur natürlich, das Kira, Rene und Amy Vorrang haben, trotzdem tut es weh, dass es so ist. Toni schweigt, nur sein ruckartiger Atem verrät mir, dass er über meine Worte nachdenkt.
 

In dem warmen Wasser döse ich immer wieder ein. Auch Toni scheint es so zu gehen, denn er schreckt ständig hoch und weckt mich durch seine ruckartigen Bewegungen, schließlich entscheidet er: "Wir sollten raus, bevor wir ganz eingeschlafen sind!" Ich brumme nur unwillig, es ist gerade so schön. Toni legt meine Arme um seinen Hals und drückt sich vom Wannenrand ab.

"Halt dich fest!", fordert er, doch ich mache nicht mal die Augen auf. Müssen wir wirklich aus dem warmen Wasser raus? Toni steht auf und zieht mich auf die Beine. Als sich mein Körper streckt, stöhne ich auf. Die verdammte Schwerkraft reißt an meinen erschöpften Muskeln und lässt mich wieder zittern. Ein Bett, ein Königreich für ein Bett!

Toni steigt mit mir aus der Wanne und legt mir ein frisches Handtuch über die Schultern. Er setzt mich auf dem Deckel der Toilette ab und beginnt sich selbst mit einem zweiten Handtuch abzutrocknen. Ich hingegen schaffe es nicht mal die Arme zu heben. Obwohl ich fest im Handtuch eingewickelt bin, ist mir schon wieder kalt. Seufzend sehe ich dem Wasser dabei zu, wie es meine Beine hinab läuft und auf den Boden tropft.

Toni bindet sich das Handtuch um die Hüften, dann kommt er zu mir und geht vor mir in die Hocke. Seine Hand legt er mir auf die Schulter und sieht mich aufmunternd an.

"Soll ich dir helfen?", will er wissen. Seinem Blick weiche ich aus, ich hasse es auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Ich könnte nicht mal aufstehen, den Deckel des Klos aufklappen und ... das ist genauso beschissen, wie als ich in diesen Ketten hing. Verdammt! Dieses Büro wird mich auf ewig verfolgen. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, doch die Bilder wollen nicht aus meinem Kopf verschwinden.

Toni beginnt unaufgefordert damit meine Arme und meinen Rücken abzutrocknen. Immer wieder höre ich ihn leise seufzen, in regelmäßigen Abständen tropft mir etwas auf die Knie. Ich erhebe meinen Blick und sehe ihm ins Gesicht. Er heult ja, aber warum? Sein Blick ist fest auf meinen blauschwarzen Oberkörper gerichtet, schließlich sackt er vor mir auf die Knie und schluchzt laut. Erschrocken sehe ich ihm dabei zu, wie er mir in den Schoß kippt und bitterlich zu weinen anfängt. So habe ich ihn noch nie erlebt. Toni heult nie, schon gar nicht so laut und hemmungslos.

"Es ... es tut mir so leid!", schluchzt er immer wieder, "Ich wollte das alles nicht!" Trotzdem hat er es getan. Obwohl er so herzzerreißend heult, empfinde ich kein Mitleid mit ihm, nur Wut und Hass.

"Warum hast du mich im Käfig fast tot geprügelt?", will ich kalt von ihm wissen. Er sieht mich erschrocken an und weicht schließlich meinem wütenden Blick aus. Als er zu sprechen Beginnt, sieht er auf die weißen Fliesen am Boden:

"Du konntest es nicht sehen, aber Michael stand die ganze Zeit hinterm Käfig. Er hatte Kira bei sich. Immer, wenn ich seiner Meinung nach nicht hart genug zugeschlagen habe, hat sie Prügel kassiert, sie war schon gar nicht mehr bei Sinnen. Er hätte sie getötet!" Er sieht flehend zu mir auf und bittet stumm um Vergebung. Wieder alles nur wegen seiner Tochter, ich kann es ja verstehen aber, das macht es nicht besser.

"Du bist viel stärker als das Kind und du hast einen festen Charakter. Ich habe noch niemanden erlebt, der Michael so in Atem gehalten hat. Ich wusste du würdest lange genug durchhalten, bis ich einen Ausweg gefunden habe. Du bist stärker, als sie alle zusammen."

"Du täuschst dich in mir. Ich habe um meinen Tod gebettelt." Zornig starre ich vor mich hin und weiß nicht mal genau, ob ich auf Toni oder mich selbst wütend bin. Toni hält den Atem an. Mit dieser Antwort hat er offenbar nicht gerechnet. Lautlos fallen ihm immer neue Tränen von den Wangen.

Die Erinnerung an Michaels stinkendem Körper über mir, steigt in mir auf, mir wird schlecht. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen die Übelkeit an und atme tief durch, ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken.

"Bitte, bring mich ins Bett! Ich will nur noch schlafen und vergessen."

Toni wischt sich die Tränen vom Gesicht, er bemüht sich darum seine Fassung wiederzufinden. Er trocknet meinen restlichen Körper ab und bindet mir dann das Handtuch um die Hüften. Meine Arme legt er sich um den Hals und trägt mich aus dem Badezimmer.
 

Raphael, Susen, Anette und Jan sitzen auf dem Sofa und in den Sesseln verteilt um den Couchtisch. Sie haben dampfende Tassen in ihren Händen. Es riecht nach Tee und Kaffee. Ihre Blicke wenden sich uns zu, als wir die Treppe runterkommen, doch nur Anette sagt etwas: "Sieh zu das du hier fertig wirst, ich will endlich zu Aaron und bei Kira sein!" Ihr aggressiven Worte sind an Toni gerichtet, doch ihr abfälliger Blick gilt uns beiden.

Ich wende mich betreten von ihr ab. Das bedeutet also, selbst wenn ich Raphael überzeugen könnte, Toni wird die Nacht auf keinen Fall hier verbringen. Ich werde also allein sein. Bei dem Gedanken muss ich schwer schlucken.

Toni sieht Anette nicht an, er gibt auch keine Antwort. Unbeeindruckt von den Blicken, die uns folgen, trägt er mich in mein Zimmer. Wenn er mit Anette zu Aaron fährt, werde ich Susen um ein starkes Beruhigungsmittel bitten, in der Hoffnung die nächsten Tage einfach zu verschlafen, dann merke ich wenigstens nicht mehr, dass es wieder einmal seine Familie ist, die vorgeht.
 

Toni schließt die Tür mit dem Schlüssel von innen ab, dann legt er mich vorsichtig auf das Bett und nimmt mir das nasse Handtuch von den Hüften. Er wickelt mich in die Bettdecke, die ganz warm und weich ist. Dort wo sie zuvor gelegen hat, kommt eine metallene Wärmflasche, mit einem roten Stoffüberzug, zum Vorschein. Susen hat sie wohl dahin gelegt, damit das Bettzeug angewärmt ist. Wenn es darauf ankommt, kann sie ganz nett sein. Ich schmiege mich in den weichen Stoff und sehe Toni dabei zu, wie er in meinem Kleiderschrank kramt. Er sucht einen Pyjama heraus und kommt damit zu mir. Ich lächle dankbar und bin froh nicht nackt bleiben zu müssen. Er hilft mir dabei das Oberteil über meine Arme und den Kopf zu streifen. Ich beiße immer wieder die Zähne zusammen, wenn der Stoff über meine wunde Haut reibt. Die Wirkung von Susens Schmerzmittel lässt langsam nach, ich muss sie unbedingt um eine neue Dosis bitten, damit ich später schlafen kann.

Toni befreit mich von der Decke und will mir auch beim Anziehen der Hose helfen, als sich seine Stirn besorgt in Falten legt. Was hat er denn?

"Ich dachte Susen hat sich um deine Verletzungen gekümmert?" Ich schaue noch immer fragend und folge dann seinem Blick auf das Laken. Dort wo ich sitze, hat sich ein roter Fleck zwischen meinen Beinen gebildet.

"Enrico?" Toni klingt ernst und eindringlich, er kniet sich zu mir aufs Bett und packt meine Oberarme.

"Enrico! Was hat das Schein mit dir gemacht?" Stur sehe ich unter seinem Blick hinweg.

"Glaubst du ich bettle wegen ein paar Fausthieben, um einen schnelleren Tod?", ist die einzige Antwort, die ich ihm gebe.

"Ach verdammt! Ich wusste nicht das er so weit gehen würde. Es tut mir leid. Das habe ich nicht gewollt." Toni drückt mich eng an sich, ich kann seine heißen Tränen im Nacken spüren, doch in mir bleibt alles kalt. Nicht mal die Wärme seine Umarmung erreicht mich wirklich.

"Es tut mir leid!", schluchzt er wieder. Ich seufze schwer, so langsam kann ich es nicht mehr hören. Von seiner Entschuldigung habe ich auch nichts, das nimmt mir weder die Erinnerungen, noch die Alpträume. Ich werde sicher keine Nacht mehr durchschlafen können, ganz besonders nicht, wenn ich allein bin.

"Bleib wenigstens heute Nacht bei mir!", bitte ich ihn müde und schließe die Augen. Kraftlos sinke ich in seinen Armen und höre seine Antwort nur noch, wie aus weiter Ferne:

"Ich hatte nie vor, heute noch zu gehen!" Deswegen hat er also die Tür abgeschlossen? Bin ich ihm doch ausnahmsweise wichtiger? Ein flüchtiges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, bevor ich in einen tiefen Schlaf falle.

~Appetitlosigkeit~

Es duftet nach frischem Kakao, das Klappern von Besteck ist zu hören. Als ich die Augen öffne, bin ich allein. Der Platz neben mir ist leer, nur die zurückgeworfene, zweite Decke erinnert noch daran, dass er neben mir gelegen hat. War ja klar, dass auf seine Worte kein Verlass ist. Wahrscheinlich ist Toni gegangen, als er sich sicher war, dass ich fest eingeschlafen bin. Ich seufze und schließe die brennenden Augen. Ob er wohl schon mit Anette bei Aaron ist? Wie lange mag ich wohl geschlafen habe? Ich fühle mich kein Stück erholter.

"Anette wollte nicht mehr warten, sie ist allein zu Aaron gefahren. Hier nimm! Und jetzt will ich die ganze Geschichte von vorn hören!" Raphael? Mit wem spricht er da? Die Zimmertür steht weit offen, Licht aus dem Flur fällt herein.

"Danke! Nun, wo soll ich da anfangen?" Toni? Er ist noch hier? Die Beiden sprechen miteinander, ohne sich die Köpfe einzuschlagen? Irgendwas muss ich verpasst haben. Aber ich freue mich darüber. Wenn sie sich endlich einmal aussprechen vertragen sie sich vielleicht und das Zusammenleben wird um einiges leichter.

„Ich wollte eigentlich nur ein paar Besorgungen für den Wiederaufbau der Fabrik machen. Ich war zu Fuß unterwegs, als mich Jemand von hinten gepackt hat und in eine Seitenstraße zog. Ich kann mich nur noch an einen harten Schlag auf den Hinterkopf erinnern. Als ich wieder zu mir kam, waren meine Hände auf den Rücken gefesselt und ich spürte einen Pistolenlauf am Kopf. Ich kniete vor Michael und dachte sofort, dass es nun vorbei wäre. Aber er hatte überhaupt kein Interesse dran mich zu töten“, in Tonis Stimme mischt sich Ekel und Abscheu, „Er langweilt sich schon seit Jahren und hat sich ein abartiges Spiel für mich und Enrico ausgedacht. Ich sollte ihn verraten und in dem Glauben lassen, dass ich für die Drachen arbeite. Ich habe ihn ausgelacht, doch als ich Robin neben ihm knien sah, mit dem Gesicht voller blauer Flecken und den Augen blutunterlaufen, wusste ich sofort, dass er die Kinder hat. Er hat kein Wort gesagt, sondern seine Waffe auf Robin gerichtet und ihr in den Bauch geschossen.“ Ich schlucke schwer. Was hat Robin wohl in ihren letzten Tagen erleben müssen, bevor sie getötet wurde? Sicher hat sie nichts unversucht gelassen, um mit den Kindern zu entkommen, sonst wäre sie nicht so übel zugerichtet worden. Ich höre Raphael schwer durchatmen, dann fährt Toni fort: „Wenn ich nicht auch noch dabei zusehen wollte, wie er meine Tochter erschießt, sollte ich tun, was er verlangt. Er hat Kira aus einem angrenzenden Zimmer geholt und sie vor mir auf den Boden geworfen. Sie hat so entsetzlich geweint ...“, Toni unterbricht seine Erzählung, er braucht eine gefühlte Ewigkeit, um sich wieder zu fangen.

„Ich wollte nicht nachgeben, aber als er ihr die Kleider vom Leib riss und sie an Ort und Stelle vergewaltigen wollte, habe ich ihm alles versprochen, was er hören wollte.“ Der Kerl schreckt wirklich vor nichts zurück.

„Er hat mich noch einen ganzen Tag lang festgehalten und Robin beim Sterben zusehen lassen, bevor ich mich schließlich hinter irgendwelchen Mülltonnen in Brooklyn wieder gefunden habe ...“

„Warum hast du nicht mit uns gesprochen, wir hätten uns schon zusammen was einfallen lassen“, verlangt mein Bruder zu wissen. Die Frage habe ich ihm auch schon gestellt und die Antwort darauf war nicht wirklich befriedigend gewesen. Ob er jetzt eine besser hat?

„Ich hatte nicht mal ganz sechs Stunden Zeit Michaels Anweisungen folge zu leisten. Ich war total durch den Wind und wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte. Auf dem Heimweg ist mir durch Zufall Jan über den Weg gelaufen, er war gerade erst aus Italien zurück und genauso fertig, wie ich. Wir haben dann zusammen versucht einen Plan zu entwickeln: Wir wollten Michaels Spiel nur mitspielen, um Zeit zu gewinnen. Ich wusste ja, dass er deinen Bruder nicht töten wollte und habe gehofft Enrico hält lange genug durch, bis ich heraus gefunden habe, wo die Kinder festgehalten werden. Jan sollte jeden Abend zur selben Zeit auf dem Dach des Hochhauses auf mich warten. Wenn ich die Kinder finde, wollte ich sie zu ihm bringen und dann Enrico holen." Damit hat er sich ganz schön viel Zeit gelassen. Ich atme durch und versuche die Erinnerungen der letzten Tage zu verdrängen.

"Michaels Leibwächter ist ein guter Freund von mir, er war mein Mentor während meiner Zeit bei den Drachen und wie ein Vater für mich. Ich habe gehofft ihn überreden zu können, mir zu helfen. Das ist mir auch gelungen, ohne ihn säße ich jetzt nicht hier, nur leider hat das alles viel zu lange gedauert. Ich weiß nicht was Michael mit deinem Bruder in der Zeit gemacht hat, aber Enrico muss sich wie der Teufel gewehrt haben.“ Ein merkwürdiger Ausdruck von Stolz ist Tonis Stimme anzuhören.

„Und das findest du gut?“

„Nein! So war es nicht gemeint. Ich dachte nur er wäre längst tot, aber er war es nicht. Er ist viel stärker als ich. Ich hab schon nach 'nem halben Tag schlapp gemacht.“

„Das sieht dir ähnlich!“ Toni sagt nichts mehr und auch Raphael schweigt von nun an.
 

Die Ruhe ist bedrückend. Müdigkeit überkommt mich und ich döse langsam wieder ein, bis mich Raphaels Stimme aufschreckt: „Und er hat euch einfach so entkommen lassen?“ Toni schweigt einen Moment. Der Löffel in seiner Tasse klappert.

„Ich weiß nicht. Es war schon seltsam, dass alle Türen offen standen. Ich dachte erst Butch hat das organisiert, aber er wollte mir nur mit den Kindern helfen, nicht bei meiner und Enricos Flucht.“

Das hört sich fast so an, als wenn es noch nicht vorbei wäre. Ich schlucke schwer. Was wenn selbst die Flucht aus dem Hochhaus, Teil von Michaels Plan war. Immerhin war es schon mehr als seltsam, dass die ganze Etage wie ausgestorben wirkte und wir völlig unbehelligt entkommen konnten. Mir fallen Michaels Worte wieder ein, dass er auf mich warten wollte, wenn ich ihm entkommen kann. Ich traue ihm durchaus zu, dass er herausfinden will, ob ich nach all dem wirklich wieder auf die Beine komme. Seufzend sehe ich an die dunkle Zimmerdecke. Das Spiel geht also weiter?
 

„Und wie soll es jetzt weiter gehen?“, will Raphael irgendwann wissen.

„Ich weiß nicht. Michael wird niemals Ruhe geben, bis Enrico und ich tot sind.“

„Ja und deiner Tochter geht es auch beschissen und die Chancen stehen gut, dass sie wieder als Zielscheibe herhalten muss, um dich zu erpressen. Ich finde Anettes Vorschlag gar nicht so übel. Verlasst die Stadt und fangt irgendwo ein neues Leben an!“ Sind die Beiden etwa wieder zusammen? Wenn Toni wirklich die Stadt verlässt und ein neues Leben beginnen will, was mache ich denn dann? Wie nett von Raphael, dass er dieses Vorhaben auch noch unterstützt. Verdammt! Und ich habe mich noch gefreut, dass sie sich mal aussprechen. Am liebsten möchte ich jetzt aufstehen und auch etwas dazu sagen, doch mein Körper gehorcht mir nicht und immer wenn ich versuche nach ihnen zu rufen, bekomme ich ein so starkes Kratzen im Hals, dass ich heftig husten muss. Ich bin dazu verdammt ihnen tatenlos zuhören zu müssen.

„Was ist mit Enrico?“ Ja, genau! Was ist mit mir? Ich brauche Toni, mehr als Raphael sich das vorstellen kann, ganz besonders nach allem was passiert ist.

„Der ist doch bei uns gut aufgehoben. Er hat hier seine Familie, die sich um ihn kümmern wird. Vielleicht bekomme ich ihn ja nach diesem ganzen Scheiß auch endlich dazu, bei den Locos auszusteigen.“ Ist das Raphaels Ernst? Hat er vergessen, wer die Locos sind? Selbst wenn ich wollte, Aaron würde mich nie aus seinen Geschäften entlassen. Ich kann noch so hoch in seiner Gunst stehen, lebend komme ich da nicht mehr raus und selbst wenn, sitzen mir noch immer die Drachen im Nacken. Ein normales Leben, nach seinen Vorstellungen, ist nie wieder drin. Wann begreift er das endlich?

„Enrico geht in seiner Position als Chef der Wölfe voll auf. Er würde sich niemals aus dem organisierten Verbrechen zurückziehen“, setzt Toni Raphael entgegen. Da hat er nicht ganz unrecht, ich liebe meine Stellung und meine Aufgaben im Clan.

„Und was ist mit dir?“

„Ich kenne nur das Leben als Auftragskiller“, erklärt Toni kleinlaut.

„Dann solltest du vielleicht mal was Neues kennen lernen.“ Raphael versucht es wirklich mit allen Mitteln. Warum will er Toni nur unbedingt loswerden?

Zwischen den Beiden stellt sich Schweigen ein. Eine unangenehme Ruhe erfüllt die Luft. Ich seufze schwer und hoffe inständig, dass sich Toni nicht überreden lässt. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn er wirklich die Stadt verlässt.
 

„Was empfindest du eigentlich für meinen kleinen Bruder?“, will Raphael wissen. Endlich mal eine anständige Frage - das würde mich ja auch mal brennend interessieren. Toni lässt sich mit seiner Antwort lange Zeit, ich höre sein resigniertes Seufzen bis hierher.

„Mehr als ich mit Worten ausdrücken könnte.“ Ernsthaft? Ich spüre, wie mir die Hitze in den Kopf steigt.

„Liebst du ihn?“

„Ja!“, sagt er zögernd. Mir wird noch heißer.

„Du weißt schon, wie krank das ist, was ihr beide da miteinander treibt, oder?“ Ich höre Toni schwer durchatmen, er sagt nichts, rührt nur in seiner Tasse herum.

„Wenn du wirklich was für meinen Bruder empfindest, dann lasse ihn zur Ruhe kommen und mach sein Leben nicht noch mehr kaputt, als du's schon die ganzen Jahre getan hast!“ Schönen Dank auch Raphael. Die Freude über Tonis Worte verpufft augenblicklich. Wenn mein Bruder weiter so auf seinen Schuldgefühlen herumreitet, dann wird Toni auf jeden Fall das Weite suchen. Mein Bruder erhebt sich und geht, seine Schritte verlieren sich auf der Treppe in den ersten Stock.

Toni bleibt noch eine ganze Weile sitzen, hin und wieder höre ich ihn mit dem Löffel in seiner Tasse rühren, schließlich stellt er sie geräuschvoll auf dem Tisch ab und steht auf. Seine Schritte nähern sich dem Flur, er kommt zu mir. Ich halte den Atem an und sehe erwartungsvoll zur Tür. Wie er sich wohl entschieden hat?

„Du bist ja wach. Wie lange hast du denn schon zugehört?“ Stellt er fest, als er ins Zimmer sieht. Er bleibt in der Tür stehen und lehnt sich mit dem Rücken an den Rahmen, dann verschränkt er die Arme vor der Brust und sieht unter meinem Blick hinweg.

„Lange genug! Willst du wirklich die Stadt verlassen?“ Toni seufzt und lässt sich mit der Antwort Zeit. Kein gutes Zeichen.

„Ich ertrage dieses Leben einfach nicht mehr. Die ständige Angst um meine Familie und immer die Bullen im Nacken zu haben. Das ist doch kein Leben!“ Das sind doch nicht seine Worte, sondern die von Anette und Raphael. Wir sind Profis, mit der Polizei hatten wir nur einmal Stress und das lediglich wegen eines geklauten Autos. Mit ein paar Dollar unter der Hand, ist das schnell erledigt gewesen. Seine einzige Sorge ist also mal wieder seine Familie? Ich könnte so kotzen. Dass er wirklich etwas für mich empfindet, nehme ich ihm so langsam nicht mehr ab.

„Dann hau doch ab! Ist ja nicht so, als wenn ich dich hier brauchen würde.“ Ich dränge die Tränen zurück, die sich in mir stauen und wende meinen Blick von ihm ab. Ist denn in den letzten Tagen nicht schon genug passiert? Muss auch noch Toni aus meinem Leben verschwinden? Michael hätte mich gleich an Ort und Stelle erschießen sollen, dann müsste ich das hier nicht auch noch ertragen.

„Enrico ...“, beginnt Toni beschwichtigend und drückt sich vom Türrahmen ab, doch ich will nichts davon hören. Als er zu mir kommt, sehe ich ihn ernst an und schreie so laut, es meine kratzende Stimme zulässt: „Glaubst du ich ertrage dieses Leben? Der einzige Grund, warum ich es bisher ausgehalten habe, bist du!“ Die lauten Worte, strengen mich so sehr an, dass mich ein weiterer Hustenanfall überkommt. Toni bleibt auf halber Strecke stehen und mustert mich erst besorgt, dann traurig, schließlich wendet er sich ab. Als ich mich wieder beruhigt habe, sagt er leise aber bestimmt: „Ich hätte dich fast getötet. Ich habe dir immer nur Unglück gebracht. Du bist ohne mich besser dran.“ Ich sehe ihn fassungslos an. Ist das seine Rechtfertigung sich aus dem Staub zu machen? Er dreht sich um und verlässt das Zimmer, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.

„Warte!“, rufe ich ihm atemlos hinterher, doch er bleibt nicht stehen. Ich schiebe die Bettdecke von mir und stemme mich mit aller Gewalt nach oben, doch die Kraft meiner Arme reicht nicht aus, ich falle zurück ins Kissen.

„Toni!“, rufe ich ihm nach doch seine Schritte entfernen sich nur noch schneller. Es dauert nicht lange, bis die Haustür nach ihm ins Schloss fällt. Kraftlos sinke ich zurück auf die Matratze und atme schwer. Ein Gefühl der völligen Leere breitet sich in mir aus. Na wenigstens kann es jetzt nicht mehr schlimmer kommen. Ich schließe die Augen und wünsche mir noch immer, ich hätte diese ganze Folter nicht überlebt.
 

"Guten Morgen!", weckt mich die ruhige Stimme meines Bruders. Grelles Sonnenlicht fällt durch die Fenster ins Zimmer, das Rauschen des Meeres ist zu hören. Raphael betrachtet mich mit einem sanften Lächeln. Es riecht nach Pfefferminztee und frischem Gebäck. Er hält ein Tablett in der Hand und schaut erwartungsvoll zu mir. Ich rümpfe die Nase und ziehe mir die Decke weit über den Kopf. Er kann sich die Mühe sparen, ich will weder wach sein, noch etwas essen.

Raphael setzt sich zu mir, die Matratze senkt sich unter seinem Gewicht. Das Tablett stellt er auf dem Nachtisch ab, dann hebt er die Bettdecke von meinem Kopf. Ich schaue ihn grimmig an, doch er lächelt noch immer.

"Komm schon, du musst was essen, damit du wieder zu Kräften kommst."

"Verschwinde!", maule ich angriffslustig. Ich habe nicht vergessen, was er am Abend zuvor angerichtet hat und wenn er nicht augenblicklich mein Zimmer verlässt, bekommt er all meine Wut darüber zu spüren.

"Machst du schon wieder so ein Theater?", meint Jan und tritt ans Bett. Seufzend reise ich an der Decke und ziehe sie mir wieder über den Kopf. Können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Was macht Jan überhaupt noch hier? Ist er vorläufig bei Raphael untergekommen? Wie ärgerlich, ihn kann ich hier überhaupt nicht gebrauchen.

"Vergiss es, wenn er nicht will, dann ist es aussichtslos. Hab mich fünf Jahre lange mit ihm herum geärgert", meint Jan. Seine Stimme klingt seltsam. Hat er etwa getrunken? So früh am Morgen? Ich hebe die Decke ein kleines Stück an und kann tatsächlich eine Flasche in seiner Hand erkennen. Bier zum Frühstück, ist ja widerlich. Ich ziehe die Decke übers Gesicht und rolle mich ein. Vielleicht gehen sie beide, wenn sie merken, dass ich nicht mehr reagiere.

"Ich lass es dir hier stehen." Raphael erhebt sich, die Matratze hebt sich langsam.

"Wo ist überhaupt Toni?", will Jan wissen, während er und mein Bruder das Zimmer verlassen.

"Bei seiner Familie, wo er hingehört!" Ich brumme bei seinen Worten.

"Na dann viel Spaß! Enrico ist unausstehlich, wenn er nicht da ist."

"Er wird sich dran gewöhnen müssen!" Ich will mich nicht daran gewöhnen. Sie können froh sein, dass ich mich viel zu schlecht fühle, um hier einen Aufstand zu proben. Seufzend ziehe ich die Decke von meinem Kopf und schaue zum Kissen neben mir. Toni hat darauf geschlafen, zumindest eine Weile. Ich ziehe es mit unter meine Decke und rolle mich darauf ein. Es riecht sogar noch ein wenig nach ihm. Wieder muss ich seufzen. Obwohl das Haus voller Menschen ist, fühle ich mich einsamer, als je zuvor.
 

Ich muss wieder eingeschlafen sein, denn es dämmert bereits, als ich von einem brennenden Durst geweckt werde. Das Tablett, das Raphael am Morgen gebracht hat, steht noch immer auf meinem Nachttisch. Der Tee ist inzwischen sicher kalt, aber das stört mich nicht, so kann ich ihn wenigstens schnell trinken. Ich schäle mich aus der Bettdecke und versuche mich an den Rand des Bettes zu ziehen doch jede Bewegung schmerzt. Ein unerträglicher Druck lastet auf meinem Brustkorb, meine Muskeln scheinen zu zerreißen und meine Haut fühlt sich an, als wenn sie in flüssiges Eisen getaucht wurde. Ich stöhne gequält und lasse den Kopf zurück ins Kissen fallen, sehnsüchtig blicke ich zu der Tasse auf dem Tablett. Ich schaffe es nicht mal, die Hand danach auszustrecken. Verdammt! Mein Mund ist ausgetrocknet und meine Kehle kratzig und rau. Der Versuch nach meinem Bruder zu rufen endet in einem Hustenanfall. Mein Kopf scheint dabei zu explodieren, es hämmert und dröhnt in ihm, als wenn ganze Lastzüge kreuz und quer darin herum fahren würden. In meinen Magen sticht eine gähnende Leere, er rebelliert mit lautem Knurren und das, was diesen Schmerz auslöschen könnte, steht nur knapp zwei Armlängen von mir entfernt und ich komme nicht ran. Oh, man! Warum habe ich nicht gegessen und getrunken, als Raphael am Morgen bei mir war? Ich hasse mein Leben! Resigniert versenke ich mein Gesicht im Kissen.

Kann es noch schlimmer werden? Die Antwort klingelt gleich darauf an der Haustür. Schritte im Wohnzimmer nähert sich der Tür, sie wird geöffnet.

"Wo ist dein Bruder? Ich habe ein Hühnchen mit ihm zu rupfen!", will die Besucherin wissen. Die glockenhelle Stimme meiner Frau, jagt mir einen Schauer den Rücken hinab. Ich bin nicht da. Die Bettdecke ziehe ich mir weit über den Kopf. Was will sie denn von mir?

"Er ist in seinem Zimmer, aber ..." Das Gestöckel ihrer Schuhen kommt schnell näher. Sie ist wütend, das höre ich schon an ihrem Schritt.

"Hallo Raphael!", sagt eine kindliche Stimme im Hintergrund.

"Hallo ihr Beiden. Wie geht es euch denn?" Beide? Hat Judy etwa unsere Kinder mitgebracht. Oh man! Den Gedanken an meine Kinder habe ich absichtlich bei Seite geschoben. Mir reicht es zu wissen, dass sie bei Aaron in Sicherheit sind, aber ich ahne schon, dass genau sie, der Grund für Judys Besuch sind.

Die Tür zu meinem Zimmer wird aufgerissen. Ich ziehe die Decke noch enger um mich und hoffe vergeblich nicht gesehen zu werden. Ihre Schritte kommen um das Bett herum, sie bleibt direkt vor mir stehen.

"Wach auf du Faulpelz! Wir haben zu reden!", schreit sie aufgebracht. Ich rühre mich nicht, gebe keinen Laut von mir.

"Sie sind also in Italien sicher, ja?" Unter ihren anklagenden Worten, schmerzt mein Körper noch mehr. Ich rolle mich unter der Decke immer weiter zusammen und unterdrücke ein Stöhnen. Ich kann doch auch nichts dafür, dass unsere Kinder entführt wurden.

"Jetzt tu nicht so. Ich weiß genau das du wach bist!", schreit sie immer wütender und zieht mir die Decke weg. Die Arme hat sie in die Seiten gestemmt, und ihr rechter Fuß trippelt ungeduldig auf dem Boden. Ich zwinge mir ein verlegenes Lächeln ins Gesicht, während ich die Arme krampfhaft um meinen zerreißenden Brustkorb schlinge. Ihre wütende Mine lockert sich langsam auf, ihre helle Haut wird noch blasser, die Arme lässt sie an sich herab fallen. Sorge schleicht sich in die rehbraunen Mandelaugen. Ich verstehe nicht warum und schaue an mir hinab. Mein Pyjama ist an einigen Stellen rot verfärbt und meine gekrümmte Haltung macht das erbärmliche Bild sicher perfekt. Ich wende meinen Blick von ihr ab. Was muss sie mich in dieser Situation auch so intensiv mustern? Ich will nicht, dass sie mich so sieht.

Judys Lippen formen lautlose Worte.

"Kannst du bitte Susen rufen!", bitte ich mit brüchiger Stimme und hoffe sie verschwindet nun.

"Was ist denn passiert?" Diese Frage werde ich ihr ganz bestimmt nicht beantworten, ich will nicht mehr daran denken, geschweige denn je wieder darüber sprechen.

"Bitte hol einfach deine Schwerster!", bitte ich sie stattdessen noch einmal. Judy streicht mir sacht durch die verschwitzten Haare.

"Mach ich", sagt sie in einem sanften Tonfall und stöckelt zurück zur Tür. Ich sehe ihr erleichtert nach, bis ich einen musternden Blick auf mir spüren kann. Zwei eisblaue Augen starren mich an, als ich zu der Stelle zurück sehe, an der zuvor Judy gestanden hat. Die blonden Haare stehen zerstreut von dem runden Gesicht ab. Die linke Schläfe das Jungen ist gelblich, grün verfärbt, er hat eine Schnittwunde über der rechten Wange und eine Pflaster über der linken Augenbraue. Ich ahne woher die Verletzungen stammen und muss schwer schlucken. Der Blick meines Sohnes ist ernst und vorwurfsvoll.

"Stirbst du jetzt wieder?", will er von mir wissen. Seine Stimme ist kalt und emotionslos. Ein fetter Kloß rutscht mir in die Kehle, denn ich mit noch so viel Schlucken nicht hinunter bekomme. Ist die Frage sein ernst? Ich weiß keine passende Antwort darauf und schweige.

"Du hast versprochen uns würde nichts mehr passieren. Du hast gelogen!", schlussfolgert er und ballt die kleinen Hände zu Fäusten.

"Du bist nicht mal gekommen, um uns zu retten, sondern Toni", schimpft er weiter und wird immer wütender, "Hast du überhaupt gewusst, dass Kira fast gestorben wäre und sie Amy ganz sehr gehauen haben, nur weil sie geweint hat? Wir sind dir doch egal!"

"Das ist nicht wahr!", versuche ich dagegen zu halten, doch meine Stimme ist kaum zu hören. In den nassen Augen meines Sohnes, sehe ich mich selbst. Mir wird schlagartig klar, das er recht hat. Ich habe nicht mal nach ihm und Amy gefragt, wollte gar nicht wissen, wie es ihnen ergangen ist und wie es ihnen jetzt geht.

"Ich wünschte du wärst nicht mein Vater!", setzt Rene nach. Ein eisiger Dolch bohrt sich in mein Herz, die Luft bleibt mir weg. Tränen steigen in mir auf, doch sie schaffen es nicht bis an die Oberfläche. Alles in mir erstarrt zu Eis. Selbst der anklagende Blick Renes erreicht mich jetzt nicht mehr, alles um mich herum hört auf zu existieren.

Wahrscheinlich hat er sogar recht, sie wären besser dran, wenn ich nicht ihr Vater wäre. Nur meinetwegen sind sie in ständiger Gefahr und mussten all diese schrecklichen Dinge erleben.

Das Rene geht, bekomme ich kaum mit, seine Worte hämmern noch immer durch meinen schmerzenden Kopf. Mein eigener Sohn hasst mich und ich kann es ihm nicht mal verübeln.

An der Tür bleibt er noch einmal stehen. Ich spüre seinen finsteren Blick im Rücken, als er sagt: "Von mir aus kannst du ruhig noch mal sterben. Wir brauchen dich nicht!" Ungebremst schlägt Rene die Tür nach sich zu, ich zucke bei dem lauten Knall und der Härte seiner Worte zusammen. Dann wird es ruhig, zu ruhig. Da ist nichts, was die widerhallenden Worte des Kindes in meinem Kopf übertönt. Er muss mich wirklich hassen. Wenn ich könnte, ich würde ihm den Gefallen sogar tun. Vielleicht wäre es wirklich für alle das Beste, wenn ich einfach nicht mehr da wäre.
 

Das Susen wenig später das Zimmer betritt und mich anspricht, bekomme ich nur, wie in dichtem Nebel, mit. Ich starre vor mich hin, kann ihr nicht einmal eine Antwort geben. Selbst als ihr Mittel meinen Körper betäubt, toben die Worte meines Sohnes noch immer so schmerzhaft in meinem Inneren, dass ich keine Erleichterung spüre. Die Behandlung meiner unzähligen Wunden und das gute Zureden von ihr und Judy, bekomme ich nur am Rande mit. Bin ich denn wirklich so schlimm? Hätte ich an Tonis Stelle alles riskiert, um die Kinder zu retten? Ich weiß es nicht, ich war nicht in der Position diese Entscheidung zu fällen und hätte ich gewusst, dass sie in Italien nicht sicher sind, hätte ich sie nie dort gelassen. Dabei ist es scheinbar ganz egal, wo ich sie hinbringe, selbst am Ende der Welt sind sie noch immer meine Kinder und damit das leichteste Ziel mich zu treffen. Mit all dem Chaos in mir, bin ich total überfordert und von außen strömt immer wieder die selbe Aufforderung auf mich ein.

"Du musst aber etwas essen!", ruft Susen mich schon die ganze Zeit an, doch ich will nicht. Der Geruch, der aus der dampfenden Schüssel in ihrer Hand aufsteigt, lässt mich würgen. Es ist irgendein Eintopf, der sicher gut schmeckt, aber ich will nichts essen. Ich bekomme den fetten Kloß in meinem Hals einfach nicht hinunter, der mich immer wieder würgen lässt, wenn sie mir mit dem Löffel zu nah kommt.

"Ich will nichts", sage ich schließlich kraftlos und in der Hoffnung, sie lässt mich endlich in Ruhe.

"Du hast aber schon seit vier Tagen nichts mehr gegessen. Deine Verletzungen können doch gar nicht heilen, wenn du nichts zu dir nimmst", spricht Susen mit Engelsgeduld auf mich ein.

"Na und", entgegne ich ihr stur, doch sie lässt sich nicht beirren. Immer wieder aufs Neue taucht der gefüllte Löffel und die dampfende Schüssel vor mir auf, egal wohin ich den Kopf auch drehe. Ich habe das alles so satt, dieses ganze Leben, ihre Fürsorge und die Unfähigkeit mich und meine Familie zu schützen. Ich hasse es am Leben zu sein!

"Lasst mich in Ruhe!", schreie ich die beiden Frauen an und schlage Susen die Schüssel und den Löffel aus der Hand. Beides fliegt in einem Bogen aus dem Bett und schlägt auf den Boden. Der ganze Inhalt verteilt sich auf Judys Kleid, und läuft ihr die Beine hinab. Kreischend springt sie zur Seite und sieht wütend auf mich zurück.

"Spinnst du jetzt total?", schreit sie und streift sich die heiße Suppe von den Beinen und schüttelt sie von ihren Händen.

"Raus! Lasst mich allein!", schreie ich zurück, bis mich eine Ohrfeige trifft. Susen hat weit ausgeholt und zugeschlagen. Meine Wange beginnt zu feuern, während ich sie erschrocken ansehen. Ohne ein Wort zu sagen, erhebt sie sich, nimmt die Schüssel und den Löffel vom Boden und greift die Hand ihrer Schwester. Während mich meine Frau beim Gehen verständnislos mustert, sieht Susen nicht mehr zurück. Sie löscht das Licht und verlässt mit meiner Frau das Zimmer, die Tür knallt nach ihnen ins Schloss.

Die plötzliche Stille und Dunkelheit verschluckt mich. Eigentlich will ich doch gar nicht allein sein. Warum nur bin ich ein solches Ekel, wenn man mir doch nur helfen will? Mit mir kann man es einfach nicht aushalten. Kein Wunder, dass mein Sohn mich hasst und Toni abhaut. Wieder spuken mir Renes Worte durch den Kopf. Tränen fluten meinen Blick und ich vergrabe das nasse Gesicht in meinen Händen. Ich will nicht mehr, ich will einfach nicht mehr!
 

Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur da sitze und heule, die Zeit verliert ihre Bedeutung. Irgendwann starre ich nur noch an die gegenüberliegende Wand ohne zu denken, ohne zu fühlen.
 

Das Trippeln von kleinen Füßen auf dem Flur, es kommen langsam näher. Die Klinke meiner Tür schnappt drei mal zurück, bis sie sich endlich öffnet. Schwaches Licht fällt durch die Tür herein. Ich sehe nicht hin, will nicht wissen, wer zu mir kommt.

Ruhe, wer auch immer gekommen ist, ist in der Tür stehen geblieben. Der Geruch nach Suppe verteilt sich im Raum, ich schlucke unwillkürlich, schon beim Gedanken an Essen wird mir schlecht. Die kleinen Füße setzten sich wieder in Bewegung, sie kommen zum Bett. Etwas wird auf dem Nachtisch abgestellt. Ganz ruhig und ohne Eile entfernen sich die Schritte wieder. Die Tür schiebt sich zu und alles wird von Dunkelheit verschluckt. Ich atme auf und bin der Meinung wieder allein zu sein, doch im selben Moment klickt der Lichtschalter und der Raum wird in grelles Licht getaucht. Ich kneife die Augen zusammen und blinzle in Richtung Tür. Es ist zu hell um etwas erkennen zu können. Nur die leichtfüßigen Schritte verraten mir, dass mein Besuch zu mir kommt. Missmutig betrachte ich den Schatten, der sich auf das Bett hinaufzieht und über die leere Hälfte robbt. Kinderhände greifen nach der zuvor abgestellten Schüssel und einem Löffel daneben. Der Blick des Kindes ist konzentriert auf den Inhalt gerichtet, während es sich auf den Knie robbend über die Decke bewegt. Die rehbraunen Mandelaugen sagen 'nur nichts verschütten', bis sie endlich meine Hälfte des Bettes erreicht. Das Mädchen setzt sich auf meine Beine und schaut mich lächelnd an. Ich schaue ungläubig zurück. Amy lächelt sonst nicht, niemals, sie tut auch nie etwas, ohne von ihrem Bruder dazu animiert zu werden. In Italien erschien sie mir manchmal, wie ein leere Hülle, die nur hin und wieder von ihrem Bruder bewegt werden konnte. Nun sitzt sie aber vor mir, lebendiger als je zuvor und mit diesem wärmenden Lächeln auf den Lippen. Ihre Haut ist blass aber ich kann keine Verletzungen in ihrem Gesicht erkennen. Das erleichtert mich, bis sie den Löffel in die Schüssel taucht und der Ärmel ihres Pullovers zurückrutscht. In Form von vier länglichen Streifen umschließt ein blauschwarzer Bluterguss ihren zierlichen Arm. Sicher sind das nicht die einzigen Verletzungen, die das Kind davon getragen hat. Ich seufze und kann spüren, wie sich neue Tränen in mir anstauen und schließlich heiß meine Wangen hinablaufen.

Amy legt den Kopf schief, ihre Augen schauen besorgt. Sie stellt die Schüssel neben uns ab und drückt sich von der Matratze hoch. Ihr kleinen Finger greifen nach mir und wischen die Tränen von meinen Wangen, doch es laufen sofort neue nach. Wie kann man einem kleinen Engel wie ihr, nur weh tun?

Meine Tochter schaut mich grimmig an und wischt noch einmal über meine Wange. Ich zwinge mir ein flüchtiges Lächeln ins Gesicht und dränge die Tränen zurück. Zufriedenes schaut sie mich an und lässt sich wieder auf ihren Hintern fallen, dann holt sie die Schüssel zu sich. Mit dem Löffel rührt sie den Inhalt durch und häuft anschließend einen Teil der Suppe darauf. Genussvoll schiebt sie ihn sich in den Mund und schmatzt absichtlich laut. Irritiert beobachte ich sie. Ich habe damit gerechnet, dass sie geschickt wurde, damit ich esse, nicht aber, dass sie alles allein essen wird. Als sie sich einen zweiten Löffel in den Mund schiebt und noch breiter grinst, beginnt sich mein Magen krampfhaft zusammenzuziehen, er knurrt und rumort schrecklich. Der Duft der Suppe und das genüssliche Gesicht meiner Tochter, machen mich hungrig, verdammt hungrig. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich kann mir einen sehnsüchtigen Blick auf den dritten Löffel nicht verkneifen, der in Amys Mund verschwindet. Das Kind grinst vergnügt und nuschelt mit dem Löffel im Mund: "Mhm ist das lecker!" Erschrocken sehe ich sie an. Hat Amy gerade gesprochen? Das Kind redet nicht! Ich habe drei Monate mit ihr in Italien verbracht und kein einziges Wort von ihr gehört. Laut Toni hat sie seit der Vergewaltigung einfach aufgehört zu sprechen. Ich habe wirklich alles versucht, ihr auch nur ein Wort zu entlocken, vergeblich und jetzt?

Als sie meinen ungläubigen Blick bemerkt, schaut sie noch fröhlicher. Sie schiebt sich einen weiteren vollen Löffel in den Mund und wiederholt: "Mhm, lecker!" Ich weiß nicht ob ich heulen oder mich freuen soll. Ihre zerbrechliche Stimme zu hören, ist wie ein Wunder. Ich bin noch völlig gefesselt davon, als Amy den nächsten Löffel in meine Richtung hält und dabei den Mund weit öffnet, um mir zu zeigen, was ich zu tun habe. Ein wehmütiges Lächeln huscht mir über die Lippen und ein entstelltes Lachen entflieht meiner Kehle. Dieses kleine Mädchen bringt fertig, was alle Erwachsenen vergeblich versucht haben. Ich habe nicht nur Hunger, sondern wirklichen Appetit und esse gern, was sie mir reicht. Den Rest der Schüssel muss ich ganz allein aufessen und immer, wenn ich auch nur einen Moment zögere, schaut mich Amy grimmig an. Doch nach jedem Löffel, der in meinem Mund verschwindet, belohnt sie mich mit ihrem warmen Lächeln. Diesem Kind kann ich einfach nichts abschlagen. Ganz langsam fange ich an Toni zu verstehen. Unsere Kinder können nichts für unsere Taten und wir müssen einfach alles dafür tun, dass sie nicht darunter leiden müssen. Sie sind wichtiger, als wir beide.

~Nächtliche Kissenschlacht~

Drei Tage verbringe ich nun schon in diesem schrecklichen Bett, immer darauf angewiesen, dass mir jemand hilft oder etwas bringt. Meistens ist es Judy, die mich fragt, ob ich etwas brauche, die mir beim Umziehen und Waschen hilft oder meine Verbände neu anlegt. Sie ist es auch, die mich Nachts weckt, wenn ich schreie und um mich schlage. Immer bemüht sie sich um einen freundlichen Ton, ganz gleich, wie abweisend ich auch bin. Eigentlich müsste ich dankbar dafür sein, doch mich erdrückt so viel Zuwendung und Fürsorge. Mit jedem neuen Tag, den ich nicht allein aufstehen kann, komme ich mir mehr und mehr, wie ein hilfloses Kind vor.
 

Ich schlafe Tagsüber, Nachts bekomme ich kein Auge zu. Dunkle Räume ertrage ich nicht, dann spielen sich immer wieder die selben Szenen in meinem Kopf ab: Schläge, Tritte, grölende Menschen hinter Gitterstäben, Wasser überall und das zufriedene Grinsen Michaels.

Schlafe ich doch mal ein, schrecke ich schweißgebadet aus grässlichen Träumen auf, in denen ich alles wieder und wieder erlebe.

Heute Nacht ist es nicht anders: Atemlos sehe ich mich in der Dunkelheit um. Nur der ruhige Atem meiner Frau und das Rauschen der Wellen ist zu hören. Ich bin bei Raphael, nicht im Käfig. Hier sind keine grölenden Menschen, keine Schreie nach meinem langsamen Tod. Ich lege meine Stirn in die Hände und atme durch, immer wieder, bis ich das Hämmern meines Herzens nicht mehr spüren kann. Langsam erhebe ich meinen Blick und sehen durch das Fenster auf das weite Meer hinaus. Die Wellen sind heute besonders hoch, sie brechen auf die kleine Insel, auf der die Villa gebaut ist und überschwemmen den Rasen. Dunkle Wolken hängen bedrohlich am Himmel, weder der Mond noch ein einziger Stern ist zu sehen. Regen prasselt gegen die Scheibe und fließt in kleinen Rinnsalen an ihr hinab. Wie passend, in mir tobt auch ein Sturm. Je länger ich in das schäumende Wasser schaue, umso ruhiger werde ich. Ich liebe es das Meer zu beobachten. Ich wäre jetzt gern da draußen und nicht in diesem Zimmer, diese vier Wände erscheinen mir mit jedem Tag kleiner.
 

Die Klinke der Tür wird gedrückt, ein schwacher Lichtschein fällt ins Zimmer. Erschrocken sehe ich zum geöffneten Spalt. Ein kleiner Schatten huscht herein und verschmilzt mit der Dunkelheit. Leichtfüßige Schritte umrunden das Bett, schließlich taucht die Gestalt meiner Tochter direkt neben mir auf. Was macht sie denn hier, mitten in der Nacht? Kann sie auch nicht schlafen? Ihre kleine Hand greift nach meiner und zieht an mir, den Zeigefinger ihrer anderen Hand legt sie sich an den Mund. Ich soll still sein und mitkommen, soviel habe ich verstanden, aber ich begreife nicht warum. Sonst ist es stets ihre Mutter, zu der die Kinder gehen, wenn ihnen etwas auf dem Herzen liegt. Ihre aufgeregten Augen hasten umher, ich kann sie selbst in dieser Dunkelheit erkennen, so weit reißt sie sie auf. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich und ich schiebe die Bettdecke von mir. Mit viel Mühe drücke ich meine schweren Beine an den Rand der Matratze und gleite mit den Füßen auf den Boden. Amy zieht noch fester an mir, sie greift meine zweite Hand und versucht mir zu helfen. Mein Oberkörper schmerzt entsetzlich, stöhnend falle ich wieder zurück. Ohne die Hilfe eines Erwachsenen, bin ich bisher nicht auf die Beine gekommen, doch Amy gibt keine Ruhe. Ihr Blick bleibt auffordernd, ihre Hände umklammern meine. Ich versuche es noch einmal, doch das Ergebnis bleibt das Gleiche.

Judy bewegt sich im Schlaf, sie rollt sich von einer Seite zur Anderen. Amy sieht erschrocken an mir vorbei und legt ihren Zeigefinger wieder an den Mund.

"Ich schaffe es nicht aufzustehen, Amy. Wir müssen deine Mutter wecken", schlage ich flüsternd vor, doch meine Tochter schüttelt heftig mit dem Kopf und zieht wieder an mir. Seufzend ziehe ich meine Hände aus ihren zurück und stemme sie in die Matratze. Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich mich nach oben drücke. Ein zerreißender Druck baut sich auf meinem Brustkorb auf, scharf ziehe ich die Luft ein. Auf schwankenden Beinen komme ich zum Stehen. Nach einigen tiefen Atemzügen, wird der Druck erträglicher und das Zittern meiner Beine lässt nach. Erstaunt stelle ich fest, dass ich tatsächlich allein aufgestanden bin. Wenn mein Körper dabei nicht so schmerzen würde, könnte ich mich fast darüber freuen.

Nun, wo ich auf beiden Beinen stehe, zieht meine Tochter noch energischer an mir. Amy gönnt mir keine Pause, sie läuft voraus und zieht mich mit. Ich stolpere ihr nach und lege meinen linken Arm um den schmerzenden Brustkorb. Irgendwie schaffe ich es einen Fuß vor den anderen zu setzen und meiner Tochter aus dem Zimmer, durch den Flur und in das angrenzende Gästezimmer zu folgen. Der Raum ist in ein helles Licht getaucht, in der Mitte steht ein großes Ehebett und um dieses herum läuft Rene. Er zieht das Laken von den Ecken der Matratze und schaut mich erschrocken und peinlich berührt an, dann sinkt sein Blick und bleibt wütend an Amy hängen.

"Du alte Petze!", knurrt er, während seine Schwester hinter mir in Deckung geht. Ich sehe von ihr zu meinem Sohn und verstehe nicht, worum es geht, bis mir ein großer feuchter Fleck, auf Renes Hose auffällt. Hat er etwa ins Bett gemacht? Er ist sieben Jahre alt! Ich schaue meinem Sohn ins Gesicht, er wagt nicht mich anzusehen. Ob er wohl einen Alptraum hatte? Dass ihm das passiert ist, liegt sicher nicht an einer schwachen Blasse.

"Es kommt nicht wieder vor. Ich mache es auch sauber", stammelt er panisch. Erwartet er etwa, dass ich jetzt mit ihm schimpfe? Würde Judy mit ihm schimpfen? Hat Amy deswegen mich geholt und nicht sie? Als sie in Italien ins Bett gemacht hat, habe ich auch nicht mit ihr geschimpft, vielleicht hat sie sich das gemerkt. Ohne ein Wort zu sagen gehe ich um das Bett herum und zu meinem Sohn. Ängstlich sieht er zu mir auf und zuckt zusammen, als ich ihm die Hand auf die Schulter lege. Das ist nicht das erste Mal, dass er bei einer Berührung von mir zusammenzuckt. Ob Judy hin und wieder die Hand erhebt? Egal, ich tue es nicht. Mit fest aufeinander gebissenen Zähnen gehe ich vor dem Jungen in die Knie. Renes Augen weiten sich, er sieht mir ungläubig dabei zu und zuckt noch einmal zusammen, als ich ihn in den Arm nehme und an mich drücke. Er wirkt wie versteinert und rührt sich nicht.

"Ist nicht so schlimm", flüstere ich ihm zu. Ein Schluchzen erschüttert den kleinen Körper, als ich ihm sacht über den Rücken streiche.

"Doch, ich bin doch schon groß", stammelt er. Ich lege dem Jungen beide Hände um die Arme und löse mich von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können.

"Ja das bist du. Aber du hast so viele schlimme Dinge gesehen, da kann so was passieren."

"Ist dir das auch schon passiert?" Ich denke kurz darüber nach. Es gab tatsächlich eine Zeit in meinem Leben, wo es mir ähnlich ging, wie ihm.

"Ja, da war ich sogar ein Jahre älter als du. Das war kurz nachdem mein Vater gestorben ist." Rene schnieft und reibt sich die Tränen aus den Augen. Ich wuschle ihm durch die blonden Haare und sehe ihn aufmunternd an.

"Hol dir was Frisches aus dem Schrank und geh dich waschen. Ich kümmere mich um das Bett", schlage ich dem Kind vor.

"Wirklich?"

"Ja!" Rene wischt sich mit dem Handrücken über die laufende Nase, dann geht er zum Kleiderschrank. Während er sich frische Kleidung holt, atme ich tief durch. Es war eine blöde Idee mich hinzuknien. Hier komme ich doch nie wieder hoch und auch das Bett werde ich ohne fremde Hilfe nicht neu beziehen, geschweige denn, die Matratze drehen können. Doch als Rene vom Schrank zurückkommt, verbeiße ich den Schmerz und stehe auf. Ich zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht, als er mir zunickt und dann das Zimmer verlässt. Für ihn will ich jetzt stark sein. Als Renes Schritte sich entfernen, sehe ich seufzend auf das große Ehebett und den dunklen Fleck auf der einen Hälfte. Das schaffe ich doch nie allein.

Die Hand meiner Tochter berührt die meine, aufmunternd lächelt sie mich an, dann läuft sie zu ihrer Decke und zieht sie vom Bett. Will sie mir etwa helfen? Ich liebe dieses Kind und lächle sanft, dann wende ich mich einem der Kissen zu und werfe es in ihre Richtung. Sie wird davon im Gesicht getroffen und sieht ärgerlich zu mir zurück. Frech grinse ich sie an. Amy erwidert das Lächeln und greift nach dem zweiten Kissen, mit beiden Armen wirft sie es nach mir. Ich kann mich gerade noch so zur Seite drehen, damit es mich nicht direkt auf den Brustkorb trifft. Das Kissen erwischt mich am Oberarm und fällt an mir hinab. Meine Tochter lacht herzhaft, während ich sie mit einem gespielt bösen Blick ansehe. Wie gern würde ich mich jetzt nach dem Kissen bücken und es ihr zurück schleudern, aber noch einmal würde ich nicht auf die Beine kommen. Amy hingegen hat damit kein Problem. Sie hebt das Kissen auf, das ich nach ihr geworfen habe und wirf auch das nach mir. Dieses Mal bin ich nicht schnell genug, um mich wegzudrehen, es trifft mich direkt auf dem Brustkorb. Ich ziehe die Luft hastig ein und versuche mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Verdammt, was fange ich auch so einen Mist an? Aber ihr fröhliches Lachen, das nun den Raum erfüllt, ist es wert.

"Was ist denn hier los? Es ist mitten in der Nacht!", schreckt uns Susens ernste Stimme auf. Amys Lachen verhallt augenblicklich, erschrocken springt sie von der Tür weg und schaut schuldbewusst gen Boden. Ich lächle versöhnlich und bin froh, dass es nicht Judy ist, die wir geweckt haben.

"Rene ist ein Missgeschick passiert", kläre ich sie auf. Susens Blick gleitet über das Laken.

"Und deswegen veranstaltet ihr mitten in der Nacht eine Kissenschlacht?"

"Ich wollte nur die Situation etwas auflockern." Susen seufzt und tritt ans Bett. Sie löst die Laken auf ihrer Seite. Dankbar sehe ich ihr dabei zu und lege meinen Arm wieder schützend um meinen zerreißenden Oberkörper.

"Ich mach das schon, hol mir lieber einen kleinen Eimer mit Wasser und ne Scheuerbürste." Ich nicke verstehend und verlasse das Zimmer langsamen Schrittes, um das Verlangte zu holen. Amy folgt mir und nimmt beim Gehen meine Hand. Ihr warmes Lächeln ruht einmal mehr auf mir. Woher nimmt dieses Kind nach all diesen schrecklichen Erlebnissen nur so viel Lebensfreude? Ich drücke ihre kleine Hand und kann nicht aufhören sie zu beachten. Die langen schwarzen Haare reichen ihr bis über den Po, sie hat die kleinen Mandelaugen ihrer Mutter und ahmt sogar ihren Hüftschwung nach.

Gemeinsam holen wir aus der Abstellkammer Eimer und Scheuerbürste und füllen im Badezimmer Wasser hinein. Stolz trägt Amy den gefüllten Eimer zurück ins Gästezimmer. Ich bin froh, dass sie so eifrig ist, denn obwohl der Eimer nicht groß ist und ich nicht viel Wasser hinein gefüllt haben, erschien er mir ungeheuer schwer, als ich ihn aus dem Waschbecken gehoben habe. Meine Tochter hat damit kein Problem, fröhlich trippelt sie ins Gästezimmer und reicht den Eimer an Susen weiter. Während sich ihre Tante an das Reinigen der Matratze macht, trete ich ins Zimmer und sehe ihr dabei zu. Ich will mich gerade für ihre Hilfe bedanken, als Susen zu sprechen beginnt: "Dein Sohn ist genau so schlimm wie du, wenn ihr hier seid, tobt das Chaos."

"Tut mir leid. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es selbst gemacht."

"Schon gut! Es wundert mich, dass du überhaupt auf den Beinen bist."

"Amy hat mir keine Wahl gelassen", erkläre ich und werfe einen sanften Blick auf meine Tochter, die Susen gespannt beim Reinigen der Matratze zusieht.

"Es scheint ihr besser zu gehen, wenn du da bist." Ich lächle.

"Wirklich?" Bin ich also doch für etwas gut?

"Ja, ich hab sie lange nicht so strahlen gesehen." Das beruht auf Gegenseitigkeit. Immer wenn das Kind um mich ist, muss auch ich lächeln. Obwohl sie seit dem Augenblick, als sie mit der Suppe bei mir war, nicht mehr gesprochen hat, reicht allein ihre warme, herzliche Art aus, in mir fröhliche Gedanken zu wecken. Bei Rene hingegen, bekomme ich noch graue Haare und Sorgenfalten. Irgendetwas ist in seiner Erziehung mächtig schief gelaufen.

"Ist Judy sehr streng mit den Kindern?", will ich von Susen wissen. Sie sieht mich skeptisch an und wirft die Scheuerbürste in den Eimer.

"Wieso fragst du?"

"Naja, Amy wollte nicht, dass Judy wach wird und das hier sieht und wenn ich Rene berühre, zuckt er zusammen." Susen seufzt und macht sich daran die Matratze zu drehen.

"Es ist nicht einfach mitten in einer Wirtschaftskrise und ohne den Ehemann zwei Kinder groß zuziehen. Ich glaube sie war oft einfach überfordert. Sie hat auch sehr lange gebraucht, um über deinen Tod hinweg zu kommen und so hat Rene schon früh viele Aufgaben übernehmen müssen, für die er eigentlich noch viel zu klein war. Und wie du weißt, ist Geduld nicht unbedingt eine Stärke meiner Schwester." Ich nicke, ohne etwas dazu zu sagen. Es steht mir gar nicht zu, über meine Frau zu urteilen. Sie hat sicher getan, was in ihrer Macht stand und hat die Kinder ja bis jetzt durchgebracht. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass ich aus ihrem Leben verschwunden bin.

"Wäre schön wenn du wenigstens jetzt ein Vater sein könntest und sie etwas entlastest."

"Werd's versuchen", entgegne ich und kann mir ein leises Seufzen nicht verkneifen. Bei dem ganzen Chaos im Clan und mit Michael im Nacken, weiß ich noch gar nicht, wo ich da die Kinder unterbringen soll. Ich kann sie ja schlecht zwischen Glücksspiel, Alkohol und Prostitution herumlaufen lassen. Aber ich wohne nun mal in der alten Fabrik und habe keine andere Bleibe. Ob Judy wohl irgendwo ein Apartment hat, wenn sie nicht gerade hier ist, um mich zu pflegen, oder hat sie mit Sam zusammen gewohnt?

Susen bezieht das Bett neu und legt die Kissen und Decken auf das frische Laken. Ich will sie gerade nach dem Wohnort meiner Frau fragen, als Rene zurückkommt. Erschrocken bleibt er in der Tür stehen und sieht von Susen vorwurfsvoll zu mir.

"Ich dachte du wolltest das machen?", brummt er. Ich sehe ihn entschuldigend an. Scheinbar habe ich ihn schon wieder enttäuscht, das tut mir leid.

"Susen war so lieb mir zu helfen, ich kann doch noch nicht so, wie ich ...", versuche ich ihm zu erklären, doch er schaut nur noch ärgerlicher.

"Hast du's ihr etwa verraten?" Das ließ sich schwer vermeiden, sie kam noch bevor ich das Laken abziehen konnte. Rene verschränkt die Arme vor der Brust und schaut grimmig vor sich hin. Noch bevor ich ihm antworten kann, schimpft er weiter: "Dann hättest du ja gleich zu Mama gehen können."

"Rene, ich kann mich noch nicht so bewegen, wie ich es will."

"Dann wärst du eben im Bett liegen geblieben! Das kannst du sowieso am besten. Ich hätte das auch allein geschafft." Dieser Junge treibt mich noch in den Wahnsinn. Er bettelt geradezu nach einer Tracht Prügel, hat er denn überhaupt keinen Respekt vor mir? Ich sehe den Jungen finster an, bis er unter meinem Blick hinweg sieht.

"Es ist schon spät, ihr gehört längst ins Bett!", ruft Susen dazwischen. Sie klopft auf die rechte Hälfte des Bettes und sieht zunächst Amy auffordernd an. Ohne zu murren steigt meine Tochter ins Bett und lässt sich zudecken. Dann hebt Susen die zweite Decke an und betrachtet Rene auffordernd. Dieser braucht einen Moment, dann seufzt er und läuft mit gesenktem Blick vorsichtig an mir vorbei. Als er hinter mir verschwindet und das Bett umrundet, atme ich tief durch und schlucke meine wütenden Worte hinunter. Ich hätte nicht mal die Kraft ihm den Arsch zu versohlen. Susen deckt auch ihn zu und wünscht beiden Kindern eine gut Nacht. Als sie zur Tür geht, folge ich ihr. Sie verlässt vor mir den Raum, während ich beim Lichtschalter halte mache.

"Schlaft schön!", wünsche ich ihnen. Rene dreht mir den Rücken zu, während sich Amy in ihre Decke kuschelt. Mit einem Seufzen lösche ich das Licht und schließe die Tür nach mir. Susen wartet im Flur auf mich und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

"Nimm's nicht so schwer. Rene braucht einfach seine Zeit, er ist zu oft enttäuscht worden." Ich nicke und laufe in Gedanken versunken an ihr vorbei, gerade aus durch den Flur bis ins Wohnzimmer. Susens fragender Blick folgt mir, ich kann ihn im Rücken spüren.

"Ich muss mal an die frische Luft. Diese vier Wände ersticken mich", antworte ich ihr, bevor sie mich fragen kann.

"Dann zieh dir wenigstens 'ne Jacke und Schuhe an!", ruft sie mir nach, als ich nach rechts zur Verandatür und nicht nach links abbiege, wo sich die Garderobe und unsere Jacken befinden. Seufzend drehe wende ich mich im Laufen. Ich nehme mir meine Jacke von der Garderobe und ziehe sie mir über, dann schlüpfe ich in meine Straßenschuhe. Susen hat inzwischen das Wohnzimmer erreicht und sieht mir zufrieden dabei zu

"Brav!", sagt sie neckisch und besteigt die Treppe in den ersten Stock. Ich rolle nur mit den Augen und beachte sie nicht weiter, als ich das Wohnzimmer durchquere und zur Verandatür gehe. Endlich raus hier, raus aus diesen geschlossenen Räumen.
 

Obwohl es in Strömen regnet, genieße ich die frische Luft und den stürmischen Wind, der mir entgegen schlägt. Die tobenden Wellen brechen noch immer über den Rasen und reichen fast bis ans Haus heran. Ich gehe bis zum äußersten Rand der Insel und beobachte die Wellen dabei, wie sie meine Schuhe umspülen und zurück ins Meer rollen. Hier habe ich schon so oft gestanden, meist mit irgendeiner schmerzenden Verletzung und hinaus aufs Meer gesehen. Hier wo die Welt zu enden scheint, lösen sich alle Gedanken auf, hier fühle ich mich frei von allen Sorgen. Ich atme die salzige Meeresluft ein und schließe für einen Moment die Augen.

"Enrico? Ziehh einer an! Du bisscht ja wieder auf den Beinen." Erschrocken fahre ich herum. Auf einer weißen Bank, direkt vor der Villa, sitzt Jan. Er hat eine braune Whiskyflasche in der Hand und zieht an einer Zigarette. Seine Kleidung klebt ihm dicht am Körper, von seinen Haaren läuft ihm der Regen ins Gesicht. Warum habe ich ihn nicht bemerkt? Der Anblick des Meeres muss mich zu sehr gefesselt haben. Ich lege den Kopf schief und betrachte Jan von Kopf bis Fuß. Das Licht, das aus dem Wohnzimmer in seinen Rücken fällt, wirft dunkle Schatten in sein Gesicht. Tiefe Ringe umrahmen die roten Augen, seine Wangen sind eingefallen und die Schultern gesenkt. Der Gestank seiner Alkoholfahne wird vom Wind bis zu mir getragen. Die letzten Tage habe ich ihn nicht einen Moment nüchtern erlebt. Das mit Lui und Robin ist schrecklich, aber Alkohol macht es nicht ungeschehen. Ich erhebe den Kopf und gehe auf ihn zu, als ich ihn erreiche, reiße ich ihm die Flasche aus der Hand. Erschrocken sieht er mich an, dann verfinstern sich sein Blick.

"Was soll das werden?", mault er.

"Siehst du das von mir? Und ich hab zehn mal mehr Gründe mir die Kante zu geben"

"Halt mir keine Vorträge und gib mir die Flasche zurück!", fordert er angriffslustig. Doch anstatt ihm die Flasche zurückzugeben, werfe ich sie auf die großen Steine im Meer. Sie zerspringt auf den spitzen Kanten, die Wellen tragen Scherben und Alkohol davon. Jan springt auf die Beine und packt mich am Kragen. Wut und Hass spiegeln sich in seinen aufgerissenen Augen, doch ich schaue unbeeindruckt zurück.

"Was denn? Kannst du schon nicht mehr ohne das Zeug? Glaubst du davon lösen sich all deine Probleme in Luft auf? Robin und Lui sind tot und kein Rauschzustand wird daran etwas ändern!", schreie ich ihn an und merke dabei, wie wütend mich diese Tatsache macht. Jan hingegen steigen die Tränen in die Augen, er packt mich an den Armen und schaut mich eindringlich an.

"Wie kannst du nur so kalt darüber sprechen? Sie haben sich den Arsch für dich aufgerissen." Meine Worte klangen wirklich kalt und tatsächlich spüre ich gar nichts, wenn ich an sie denke, nichts als Hass auf ihre Mörder und auf sie, weil sie sich einfach haben töten lassen. Meine Hände balle ich zu Fäusten, ich drücke Jan von mir und schiebe mich an ihm vorbei.

"Tränen und Verzweiflung bringen sie nicht zurück", entgegne ich nur. Robin und Lui sind nicht die ersten Freunde, die ich beerdigen musste.

"Und das ausgerechnet aus deinem Mund, wo du ein ganzes Jahr lang wegen Toni rumgeflennt hast!" Wie kann er es wagen? Wütend drehe ich mich zu Jan und erhebe drohend den Zeigefinger, während ich einen energischen Schritt auf ihn zu gehe.

"Halt die Klappe! Ich habe nicht nur Toni für tot gehalten und das ist alles eure Schuld gewesen, weil ihr mich Jahre lang belogen habt."

"Jetzt spiel dich nicht so auf! Ohne uns, wärst du gar nicht mehr am Leben. Und die Lüge hat ihren Teil dazu beigetragen", schreit Jan gegen das tosende Meer an.

"Von wegen! Ihr hattet doch nur Angst, ich will nach New York zurück und ihr würdet eurer ruhiges Leben aufgeben müssen."

"Was ist so schlimm an einem ruhigen Leben? Kannst du's nicht ertragen, wenn man dir nicht nach dem Leben trachtet? Sieh dich doch an. Wären wir noch in Italien, wärst du jetzt keine wandelnde Leiche."

„Mag sein, aber ich habe das Leben in Italien gehasst. Wären wir noch dort, wäre ich schon längst vor Langeweile gestorben."

"Ach, dann findest du es also besser, so zugerichtet zu werden?"

"Glaubst du ich habe mir das ausgesucht?"

"Ja, richtig! Das hat ja dein toller Kumpel für dich eingefädelt!" Lauernd umkreisen wir uns.

"Du warst doch genau so daran beteiligt!"

"Ja, und wieder verdankst du dein Leben mir! In all den Jahren habe ich nicht ein Wort des Dankes von dir gehört."

"Vielleicht wollte ich ja gar nicht von euch gerettet werden!"

"Ja stimmt, das überlässt du lieber Toni. Kaum taucht der Kerl auf, ist alles wieder gut, selbst wenn er dich zuvor den Drachen zum Fraß vorwirft. Ist bestimmt toll von deinem Prinzen gerettet, herumgetragen und durchgevögelt zu werden." Was ist denn in Jan gefahren?

"Bist du etwa eifersüchtig?", will ich irritiert wissen. Er hört sich an wie Judy, wenn sie mich mit einer anderen im Bett erwischt.

"Auf den? Wenn ich wollte, könnte ich dich jeder Zeit haben." Ich sehe Jan belustigt an. Ist das sein Ernst oder spricht da nur die Trauer und der Alkohol aus ihm? Er ist überhaupt nicht mein Typ, viel zu klein und schmächtig. Ich will im Bett jemanden, der auch dazu in der Lage ist, mich zu besiegen. Außerdem bin ich der Meinung gewesen er und Lui hätten was miteinander, nicht aber das Jan sich für mich interessiert. Nein, er hat einfach zu viel getrunken.

"Schlaf deinen Rausch aus!", schlage ich vor und wende mich ab. Jan folgt mir, er packt mich am Arm und dreht mich mich. Mit seinem ganzen Körper drängt er mich an die Verandatür. Seine Lippen presst er auf meine. Mit großen Augen sehe ich ihn entsetzt an. Sein Atem stinkt nach Alkohol und Zigarette, seine Lippen sind kalt und feucht. Ich drücke ihn von mir und schaue ihn angewidert an.

"Du kannst nicht mit ihm mithalten, nicht mal beim Küssen. Wenn es um Frauen geht, mag ich nicht wählerischer sein, aber unter den Männern, kann es nur einer mit mir aufnehmen."

"Du hältst dich wohl für unwiderstehlich, was?" Ich grinse breit.

"Natürlich, aber du interessierst mich kein Stück!" Ich will mich umdrehen und gehen, doch Jan packt mich an den Oberarmen und drängt mich noch härter an die Tür. Mein Brustkorb schmerzt unter seiner Last, ich stöhne gequält. So langsam übertreibt er es. Zornig sehe ich ihn an.

"Lass mich los!", verlange ich ernst. Jans Blick wir überheblich, in einem breitet Grinsen entblößt er seine schneeweißen Zähne.

"Was denn, bekommst du's jetzt mit der Angst zu tun?" Mir schlägt das Herz tatsächlich bis zum Hals. Wenn er wirklich erst macht, habe ich in meinem Zustand, keine Chance mich zu wehren.

"Glaubst du ernsthaft, ich hätte Interesse an einem überheblichen, arroganten Arsch, wie dir?" Seine Augen sprechen eine andere Sprache. Ich glaube Lust in ihnen zu lesen. Panik steigt in mir auf.

"Dann lass mich los!", fordere ich energischer, doch es gelingt mir nicht das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Ich will nicht festgehalten werden, das ruft unweigerlich Erinnerungen in mir wach, die ich mit aller Gewalt zu verdrängen versuche: Michaels widerlicher Körper über mir, nein, so etwas will ich nie wieder erleben müssen. Mein Herz hämmert hart gegen meine gebrochen Rippen. Scheu sehe ich Jans in die Augen und flehe ihn stumm an, mich gehen zu lassen.

"Lui war der Einzige den ich je wollte und wenn ich mich besaufe, weil er nicht mehr da, dann ist das meine Sache. Haben wir uns verstanden?" Ich nicke und schaue noch immer furchtsam zurück. Schließlich gibt Jan meine Arme frei und lässt mich stehen, er öffnet die Verandatür und geht zurück ins Haus. Ich sehe ihm nicht nach. Als er die Tür nach sich zuwirft, lehne ich mich an das kalte Glas und lege den Kopf zurück. Ich atme einige Male tief durch. Das wäre fast schief gegangen. Manchmal sollte ich meine große Klappe zügeln, aber woher hätte ich ahnen sollen, dass Jan so energisch werden kann. Sonst hat er sich selbst unter Alkoholeinfluss im Griff.
 

Ich bleibe noch lange im Regen stehen und versuche sein Verhalten einzuordnen. Für einen Moment habe ich wirklich geglaubt in seinen Augen Lust und Verlangen nach mir zu lesen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er mir auf die Pelle rückt, wenn er etwas getrunken hat. Aber so aufdringlich ist er noch nie geworden. Alkohol macht mutig und ehrlich, so viel hat mich die Erfahrung gelehrt. Ob er wirklich etwas von mir will? Ich schüttle mir diesen Gedanken aus meinem Kopf. Nein danke, nicht mal um mich zu trösten, weil Toni abgehauen ist. Seufzend lasse ich mich auf der nassen Bank nieder und starre hinaus aufs Meer. Ich bin schon seltsam: Mit einem Dutzend anderer Frauen zu schlafen, obwohl ich verheiratet bin, stört mich kein Stück, aber einen anderen Mann als Toni zu haben, kann ich mir nicht mal vorstellen. Unweigerlich schleicht sich Michael in meine Gedanken, Übelkeit dreht mir den Magen um. Verdammt! Warum muss ich nur immerzu daran denken? Ich atme ein und aus, um mich nicht übergeben zu müssen und schaue hinaus aufs Meer. Der Wind hat nachgelassen und hinter den dunklen Wolken schimmert das erste Licht des Tages. Das Meer hat sich beruhigt, die Wellen schaffen es nicht mehr hinauf auf die Insel, sie schlage gegen die großen Steine davor. Der Regen hat aufgehört, nur noch vereinzelte Tropfen werfen immer größer werdende Ringe auf die Wasseroberfläche.
 

Diese drei Tage bei den Drachen werden mich auf ewig verfolgen und ich kann nicht mal mehr zu Robin fahren und ihr die Ohren voll heulen und mir mit ihr den Kopf frei vögeln. In zwei Wochen ist die Beerdigung, ihre Leiche wurde in einem Fass Säure gefunden, man hat sie nur anhand ihres goldenen Armbandes identifizieren können, das neben ihren Knochen noch nicht zersetzt war. So kann ich sie nicht einmal mehr sehen, um mich zu verabschieden. Dieses Ende hat sie nicht verdient. Sie war die erste Frau, in die ich mich verliebt habe, die Einzige, mit der ich über alles reden konnte. Seufzend lege ich das Gesicht in die Hände. Wie oft hat sie sich meine Probleme mit Toni anhören müssen und nun ist sie einfach nicht mehr da. Warum sterben eigentlich immer die anderen und nicht ich?

~Nach Hause~

Die Woche fliegt an mir vorbei, beinah die ganze Zeit verbringe ich hinter der Villa, auf der weißen Bank und beobachte das Meer. Geschlossen Räume ertrage ich mit jedem Tag weniger und bin froh, wenn ich ihnen irgendwie entfliehen kann. Nach dem Abendessen, ist mein erste Weg wieder durch die Verandatür hinaus ins Freie, doch dieses Mal bleibe ich nicht lange allein. Ich habe mich kaum auf der Bank nieder gelassen, da taucht Judy neben mir auf und setzt sich zu mir. Sie hat eine weiche Wolldecke in der Hand und legt sie sich und mir über die Beine.

"Du solltest nicht immer hier draußen sitzen. Deine Atemwege sind schon angegriffen, du musst nicht noch 'ne Lungenentzündung riskieren." Ich seufze nur und gebe keine Antwort. Ihre Sorge erdrückt und nervt mich gleichermaßen. Eine Lungenentzündung ertrage ich im Moment besser, als die kleinen Räume. Wenn ich doch wenigstens wieder daheim wäre, mir fehlen die weitläufigen Fabrikhallen und die endlosen Flure.

"Sag mal, wo wohnst du mit den Kindern überhaupt?", versuche ich das Thema zu wechseln.

"Willst du mich los werden?"

"Nein, so war es nicht gemeint. Ich kann sie nur schlecht mit zur Fabrik nehmen und wüsste gern, wo du mit ihnen hin gehst, wenn Raphael uns raus wirft. Ewig können wir hier nicht bleiben." Noch hat mein Bruder nichts gesagt und es ist für alle einfacher, wenn ich bleibe, bis Susens Behandlungen nicht mehr täglich nötig sind, doch früher oder später, wird er sein Haus wieder für sich haben wollen und dann?

"Wir haben bei Sam gewohnt, aber er ist nicht mehr aufgetaucht und ohne sein Einkommen, kann ich die Wohnung nicht bezahlen. Ich denke ich werde bei meinem Vater einziehen. Er hat es mir angeboten und in seinem Haus stehen so viele Zimmer leer. Außerdem mag er es, seine Enkel um sich zu haben und nach Robins Tod, kann er etwas Ablenkung brauchen." Sicher ist Sam irgendwo im Hudson versenkt wurden, genau so wie diese Gorillas. Bei dem Gedanken muss ich unweigerlich schmunzeln.

„Was sagt du dazu?“

"Find ich gut!", entgegne ich lediglich, ohne ihr wirklich zugehört zu haben.

"Und was ist mit dir? Wo willst du wohnen?"

"Ich hab mein Zeug in der Fabrik und fühle mich dort auch ganz wohl." Ihr seufzen verrät mir, dass sie mich lieber bei sich und den Kindern hätte, doch unter Aarons Aufsicht, fühle ich mich einfach nicht wohl. Auf Besuch ist es bei ihm ja ganz nett, aber auf Dauer ertrag ich seinen Befehlston nicht.

"Willst du denn gar nicht mit mir und den Kindern zusammen wohnen?" Wenn ich ehrlich bin, nein. Ich bin ganz froh, wenn uns ein wenig Abstand trennt. Jetzt wo die Kinder alt genug sind, alles zu verstehen, ist es besser, wenn sie keinen direkten Einblick in meine Geschäfte haben.

"Nein! Sie müssen nicht wissen, was ich so treibe."

"Da hast du recht, aber deswegen kannst du doch trotzdem den Abend oder den Tag bei uns verbringen, wenn du gerade nichts zu tun hast." Da geht es ja schon los. Die Tage vor Tonis Verrat habe ich kaum geschlafen, weil es so vieles zu erledigen gab und ich war froh darüber, direkt vor Ort zu wohnen und nur wenige Schritte zu brauchen, um erschöpft ins Bett fallen zu können. Noch etliche Kilometer bis zu Aarons Villa zu fahren und dann noch meine Familie zu bespaßen, das hätte ich gar nicht geschafft. Ich ahne, dass es auch jetzt sehr schwer wäre, die Zeit dafür zu finden. Wenn ich sie bei mir in der Fabrik hätte, ließe sich sicher, das ein oder andere einrichten. Zwischen durch habe ich immer etwas Luft, aber erst hin und zurück zu fahren, dafür lohnt es sich nicht.

"Würdest du wieder in die Fabrik ziehen wollen?", will ich wissen.

"Hast du sie denn schon aufgebaut?"

"Ich bin dabei." Judy überlegt, ihre Stirn legt sich in Falten, ihre Mandelaugen werden noch kleiner. Ernst sieht sie mich an, als sie wissen will: "Was für Geschäfte laufen dort denn?" Als sie mich unverändert fragend ansieht, gebe ich ihr eine kurze Zusammenfassung: "Glücksspiel, Hehlerei, Prostitution, das übliche." Judy schaut mich finster an, besonders bei dem Wort Prostitution betrachtet sie mich kritisch.

"Ernsthaft? War das Geschäft mit den leichten Frauen deine Idee?"

"Nein, die deines Vaters. Er glaubt ich wäre der richtige Mann dafür." Ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich an das Clantreffen denke, bei dem Aaron mich vorgeschlagen hat und alle einstimmig dafür waren.

"Und dorthin soll ich mit den Kindern ziehen? Bist du verrückt geworden? So wie ich dich kenne, reitest du die Weiber auch noch persönlich ein. Nein danke!" Bei Judys Worten wird mein Grinsen noch breiter. Das ist gar keine so schlechte Idee, ich müsste sie nicht mal dafür bezahlen und könnte mir die hübschesten heraussuchen. Doch Judys finstere Mine lässt mich sofort ein schlechtes Gewissen bekommen. Ist sicher keine gute Idee, mit Frau und Kindern im Haus. Ich versuche wieder ernst Gedanken zu fassen und mein Grinsen abzustellen, als ich ihr entgegne: "Ich will dich und die Kinder da auch nicht haben, aber ich weiß auch nicht, wie ich all die Arbeit und meine Familie unter einen Hut bekommen soll, wenn ich ständig von Brooklyn nach Manhattan pendeln muss."

Judy steht wütend auf und wirft die Decke von unseren Beinen. Irritiert sehe ich sie an.

"Ist das deine einzige Sorge, dass du einen weiten Fahrtweg hättest? Bedeuten wir dir denn gar nichts?", faucht sie. Ich wende meinen Blick von ihr ab und sehe in den Sonnenuntergang. Ihre Unterstellung ist mir nicht mal eine Antwort wert. Sie und die Kinder sind mir nicht egal, ich grüble doch schon die ganze Zeit über eine Lösung, mit der ich beides Verbinden kann - Arbeit und Familie.

"Wir könnten den zweiten Stock ausbauen. Das große Geschäft läuft eh Nachts und da schlafen die Kinder bereits", schlage ich vor und gehe geistig die vielen Räume des zweiten Stockwerks durch. Daraus ließe sich eine wunderbare Wohnung zaubern, mit gigantischen Kinderzimmern. Ich könnte Schaukeln und sogar ein Klettergerüst bauen, selbst für eine Kuschelecke voller Plüschtiere und Kissen, wäre Platz. Die Wände könnten wir in knallig bunten Farben streichen. Während ich mir alles auszumalen beginne, breitet sich ein immer größer werdendes Lächeln auf meinem Gesicht aus.

"Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich über einem Puff wohnen will?", knurrt Judy und stemmt die Hände in die Seite, doch ich höre ihr gar nicht mehr zu. Ich plane die Räume und sehe Rene und Amys leuchtende Augen direkt vor mir.

"Ich rede mit dir!", faucht Judy lauter.

"Dann wohne ich mit den Kindern allein da, wenn du nicht willst", entgegne ich noch ganz in Gedanken. Meinen Plan will ich nicht verwerfen, dafür gefällt mir die Idee viel zu sehr.

"Wenn du glaubst mir die Kinder wegnehmen zu können, dann hast du dich geschnitten."

"Warum fragen wir nicht Amy und Rene, wo sie lieber wohnen wollen. In der staubigen Villa Aarons, oder auf einem großen Abenteuerspielplatz."

"Sie wohnen da, wo es sicher ist!", schreit Judy so laut, dass ich sie wieder ansehe. Ihr Gesicht ist verbissen und kampflustig. Ich ahne, dass ich mit all meinen Argumenten nicht ihres entkräften kann. Egal was ich auch baue, bei meinen krummen Geschäften, sind sie dort nie sicher.

"Wie du meinst. War 'ne blöde Idee von mir. Ich versuch hin und wieder bei Aaron vorbei zu schauen." Mehr kann ich ihr nicht versprechen.

"Du bist echt unmöglich! Wie kann man nur auf so eine Idee kommen?", schimpft sie weiter.

"Ich hab doch gesagt es war blöd von mir. Was willst du denn noch hören?" Sie kann sich ihre Vorwürfe sparen. Judy ist noch nie arbeiten gewesen und hat Familie und Job unter einen Hut bringen müssen. Außerdem war es ja nur eine Idee, kein Grund gleich ausfallend zu werden.

"Warum habe ich dich überhaupt geheiratet?", faucht sie, wie immer, wenn ihr nichts mehr einfällt. Meine Antwort darauf ist ebenfalls die selbe wie immer.

"Weil du schwanger warst und dein Vater keine unehelichen Enkelkinder wollte."

"Du verdammtes Arschloch!" Wütend stampft sie zurück ins Haus und wirft die Verandatür nach sich zu. Endlich Ruhe! Ich schaue über die Schulter durch die Glastür und ihr beim Toben zu. Sie beschwert sich bei Raphael und Susen über mich, doch die Wände, Fenster und Türen dämpfen ihre Stimme so weit, dass ich nichts verstehen kann. Hin und wieder deutet sie in meine Richtung. Um sie noch weiter auf die Palme zu bringen, winke ich ihr zwischendurch und ernte ihren finsteren Blick. Warum liebe ich es nur so, sie in den Wahnsinn zu treiben? Vielleicht, weil sie mir wütend gefällt und ich den Versöhnungssex mit ihr liebe? Wobei ich zu letzterem weder die Lust, noch die Kraft habe. Trotzdem mag ich es ihr dabei zuzusehen, wie sie sich über mich aufregt. Wieder streift mich einer ihrer 'fall auf der Stelle tot um' - Blicke. Ich grinse sie fröhlich an und werfe ihr einen Handkuss zu, währen sie mir demonstrativ den Rücken zudreht. Wie schade dass ich nicht einfach zu ihr gehen und sie in unser Zimmer tragen kann. Wenn sie mich anschreit und verflucht, macht es noch viel mehr Spaß ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie davon zu überzeugen, dass sie mir, egal was ich sage oder tue, nicht widerstehen kann.
 

Susen und Judy diskutieren noch eine ganze Weile miteinander, während sie den Tisch abräumen und das Geschirr in die Küche bringen. Dafür kommt Raphael zu mir. Als er die Verandatür öffnet und mich ernst ansieht, vergeht mir das Grinsen.

"Meinst du nicht das du's übertreibst? Nur weil du unter den Drachen zu leiden hattest, gibt dir das noch lange nicht das Recht, alle wie den letzten Dreck zu behandeln." Was hat das Eine denn mit dem Anderen zu tun? Ich benehme mich Judy gegenüber nicht anders als sonst, wir haben uns schon immer heftig gestritten und dann wieder vertragen. Mir würde direkt etwas fehlen, wenn ich sie nicht zur Weißglut treiben könnte.

"Misch dich doch nicht immer in meine Sachen ein", sage ich nur und wende mich genervt ab.

"Du bist hier in meinem Haus zu Gast und hier gelten meine Regeln."

"Keine Sorge, ich bleib nicht mehr lange", entgegne ich stur.

"Hörst du dir mal selbst zu? Du bist einfach ekelhaft im Moment." Ich zucke mit den Schultern. Mir ist ganz egal, was er und die Anderen von mir denken. Ich will auch gar nicht weiter über mein Verhalten diskutieren und wechsle einfach das Thema.

"Hast du mal wieder was von Toni gehört?" Diese Frage habe ich die letzten Tage schon oft gestellt, doch ich bekomme jedes Mal die selbe Antwort: "Ist das alles, was dich interessiert?"

"Du bist doch schuld daran, dass er abgehauen ist", fahre ich ihn an, doch Raphael stört sich nicht daran. Er schlägt mir auf die Schulter und erhebt sich.

"Komm über ihn hinweg!", sagt er nur und geht. Ich hasse es, wenn er mich so stehen lässt und sehe ihm grimmig nach.

Seit er sich aus dem Staub gemacht hat, habe ich nichts mehr von Toni gehört, ich habe nicht mal eine Adresse, geschweige denn eine Telefonnummer. Ich begreife nicht, wie er es so lange aushalten kann, nichts von mir zu hören. Ob er je wieder kommt? Der Gedanke daran, nicht zu wissen, wo er ist und wie es ihm geht, macht mich verrückt. Ich muss mich unbedingt davon ablenken, bevor ich was dummes mache. Sobald die Sonne aufgeht und sie alle fest schlafen, mache ich mich aus dem Staub und fahre nach Hause. Mein Motorrad steht bei Raphael in der Garage. Das letzte Mal, als ich ihn besuchte, habe ich es da gelassen. Es hat in strömen geregnet und so fuhr ich lieber in Tonis Automobil mit. Ein Glücklicher Zufall. Ich fühle nach dem Schlüsselbund in meiner Hosentasche, mein Entschluss steht fest: Morgen früh bin ich hier weg!
 

Ich bin noch lange nicht fit und Susen, Raphael, Jan und Judy werden alles daran setzen mich hier so lange wie möglich festzuhalten, doch mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich brauche etwas zu tun, um mich von all den Erlebnissen abzulenken. Ab Morgen werde ich mich einfach in die Arbeit stürzen. Zufrieden mit meinem Plan hebe ich die Decke vom Boden auf und wickle mich darin ein, dann mache ich es mir auf der Bank gemütlich. Es regnet nicht, also werde ich die Nacht draußen verbringen. Vielleicht finde ich hier ja wenigstens ein paar Stunden Schlaf, bevor ich aufbreche.
 

Pünktlich mit dem Sonnenaufgang werde ich wach und blinzle in das erste Licht des Tages. Unter meinem Kopf spüre ich ein Kissen, das zuvor noch nicht dagewesen ist. Sie können es einfach nicht lassen, ganz gleich, wie scheußlich ich mich auch benehme.

Nach der Nacht auf der harten Bank sind all meine Muskeln verspannt, als ich aufstehe, muss ich mich erst mal zaghaft strecken. Ein Stechen im Brustkorb lässt mich zusammen zucken. Zu viel Bewegung, verdammt! Ich lasse die Arme sinken und sehe gähnend hinaus aufs Meer. Es wird Zeit zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Hoffentlich ist nicht alles im Chaos versunken. Ich taste meinen Brustkorb ab, der Schmerz ist erträglicher geworden, die Brüche heilen langsam. Wenigstens über meine Wundheilung habe ich mir nie Sorgen machen brauchen.

Die Decke falte ich zusammen und trage sie mit dem Kissen ins Haus, auf dem Sofa lasse ich beides fallen, dann laufe ich weiter bis zur Küche. Ob noch etwas vom Abendbrot übrig geblieben ist? Ich sehe in den Schränken nach, kann allerdings nichts weiter finden, als eine angebrochene Packung Kekse. Meine Familie hat Raphaels Vorräte aufgebraucht, ein Wunder das die Kekse überlebt haben. Ich zucke mit den Schultern und nehme die Packung aus dem Schrank. Als Wegzehrung wird sie reichen. Noch im Laufen schiebe ich mir den ersten Keks in den Mund. Bis ich die Tür zur Garage erreiche, habe ich schon den dritten vertilgt. Mit einem vierten im Mund greife ich nach der Klinke, als ich Schritte hören kann.

"Haust du etwa schon wieder ab?", schimpft Rene. Erschrocken wende ich mich nach der kindlichen Stimme um und kann den Jungen, keine zwei Schritte von mir entfernt, sehen. Er schaut mich grimmig an und hat die Hände in die Hüften gestemmt. Verdammt, und ich hatte gehofft ohne schlechtes Gewissen verschwinden zu können. Was nun? Spontan reiche ich die Packung in seiner Richtung und frage nuschelnd, mit dem Keks im Mund: "Keks?" Renes Gesichtszüge entspannen sich nicht, er kneift die Augenbrauen zusammen. Was für ein seltsames Kind, dass man nicht mit Süßigkeiten bestechen kann.

"Wo willst du hin?", fragt er ohne auch nur einen Moment weg zusehen. Seufzend nehme ich den Keks aus dem Mund, um antworten zu können: "Ich fahre zur Fabrik." Wir schweigen beide und ich kann die Enttäuschung in den Augen meines Sohnes lesen.

"Willst du mitkommen?", füge ich schnell hinzu. Renes Augen weiten sich, er sieht mich erst überrascht dann fragend an, doch am Ende blickt er wieder finster drein.

"Und Mama und Amy?" Schlimm genug, das mir Rene auf die Schliche gekommen ist. Amy und vor allem Judy kann ich jetzt nicht brauchen. Meine Frau würde mir nur einreden, dass ich mit den Rippenbrüchen nicht Motorrad fahren soll und das ich mich ausruhen muss. Wenn sie von meinem Vorhaben erfährt, komme ich hier nie mehr weg.

"Ich habe aber nur dich gefragt. Willst du nicht mal was mit mir allein machen?"

"Du willst mich doch nur mitnehmen, damit ich Mama nichts sage!" Das Kind durchschaut mich schnell, faszinierend.

"Bis du bei ihr bist, bin ich zwei mal verschwunden. Such es dir aus, komm mit oder langweile dich hier. Mir egal. Ich werde auf jeden Fall fahren." Rene sieht mich unschlüssig an und blickt dann über die Schulter in den langen Flur, wo sich die Gästezimmer befinden. Er hat flinke Beine und ich werde nicht mal das Garagentor geöffnet haben, bis er mit Judy zurück ist. Ich nutze seine Unentschlossenheit und öffne die Tür. Ohne noch einmal zurück zu sehen betrete ich die Garage und stelle die Kekse auf dem Regal rechts ab, dann gehe zum Tor. Ich lege den Arm über meinen Brustkorb, um ihn zu stützen, dann schiebe ich das Rolltor nach oben. Es gelingt mir, ohne große Schmerzen, hoffentlich ist es bei der Fahrt nach Brooklyn auch so.

Als ich zu meinem Motorrad gehe, sitzt Rene schon auf dem Ledersitz. Überrascht sehe ich meinen Jungen an, während er streng zurück schaut. Er will also doch mit? Ich habe fest damit gerechnet, dass er zu seiner Mutter rennt.

"Jemand muss ja auf dich aufpassen", sagt er ernst. Ich kann einfach nicht anders, ich muss über seine Worte schmunzeln. Wirke ich den so schutzbedürftig auf ihn?

"Das trifft sich gut, jetzt wo sich mein Leibwächter aus dem Staub gemacht hat", entgegne ich belustigt, doch Rene scheint die Vorstellung zu gefallen, mich beschützen zu dürfen, denn ein flüchtiges Lächeln huscht über seine Lippen. Ich steige hinter dem Kind auf das Motorrad, noch immer meinen Brustkorb abstützend. Ob es auch ohne geht? Ich trete den Ständer zurück und lehne mich nach vorn, um den Lenker zu greifen. Es zieht und sticht, aber bis zur Fabrik halte ich das aus. Schritte sind zu hören, reflexartig sehe ich durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Im Morgenmantel taumelt Judy durch den Raum. Unsere Blicke treffen sich, sie schaut verwundert von mir zu Rene, schließlich werden ihre Schritte schneller. Ich werfe ihr ein versöhnliches Lächeln zu, während ich den Schlüssel ins Schloss schiebe und Gas gebe. Nichts wie weg, bevor sie munter genug ist, um zu begreifen, was ich hier tue. Das Motorrad rollt los und nimmt Fahrt auf. Noch bevor Judy die Garage erreicht hat, sind wir von der Insel runter und verschwinden über den Strand zur nahen Straße.

"Ich pass schon auf ihn auf und haue ihn, wenn er was dummes macht!", ruft Rene seiner Mutter zu, die ins Freie gelaufen kommt. Ich beobachte sie im rechten Rückspiegel, wie sie über den Steg läuft und schließlich stehen bleibt. Die Arme eng um den Morgenmantel geschlungen, der vom raune Wind durchweht wird. Das wird sicher einen rissen Krach geben, wenn wir uns das nächste mal sehen, aber meine Freiheit ist mir das wert.
 

Ohne größere Zwischenfälle erreichen wird die Fabrik. Das Tor ist weit geöffnet, keine Menschenseele ist auf dem Gelände zu sehen, es ist verdächtig ruhig. Liegt das nur an der Urzeit oder haben sich alle Wölfe in meiner Abwesenheit aus dem Staub gemacht?

Ich parke das Motorrad im Innenhof und auch dort ist es verdächtig still. Nur der frisch gemähte Rasen und die vom Unkraut befreiten Bodenplatten, lassen vermuten, dass in den letzten Wochen etwas getan wurde.

"Was willst du denn hier?", fragt Rene, als ich vom Motorrad steige und erst einmal durchatmen muss. Meinen Arm schlinge ich wieder um meinen Oberkörper. Mir ist, als wenn sich ein tonnenschwerer Felsbrocken drauf gelegt hätte. Ich sollte in nächste Zeit besser ein Auto nehmen, aber bei Raphael gab es nur das Motorrad, den Schlüssel für sein Automobil hat er vorsorglich vor mir versteckt.

"Nach dem Rechten sehen", entgegne ich meinem Sohn und schaue durch die Fenster ins Innere der Fabrik. Auch dort ist alles verwaist.

Rene steigt nach mir vom Motorrad und sieht sich ebenfalls suchend um.

"Aber hier ist doch seit Jahren nichts mehr los", sagt er und nimmt meine Hand. Erstaunt betrachte ich seine kleine Finger und anschließend sein Gesicht. Ist das Furcht in seinen Augen? Die Stille scheint ihm nicht zu behagen und auch ich habe ein ungutes Gefühl. Ich drücke seine kleine Hand und bereue fast ihn mitgenommen zu haben, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Bäume löst.

"Enrico?" Die kindliche Stimme erkenne ich sofort wieder. Leandro! Er kommt langsam näher. Als er sich ganz sicher ist, dass ich es bin, wird er mit jedem Schritt schneller. Ich ahne das er mich umrennen will und halte die Hände weit nach vorn, um ihn abzubremsen. An den Schultern bekomme ich ihn zu packen und schaffe es gerade noch so, ihn von meinen Oberkörper fernzuhalten. Leandro schlingt trotzdem seine dünnen Arme um meine Hüfte und drückt mich eng an sich. Hat er mich denn so vermisst? Seine freudige Begrüßung lässt mich lächeln.

"Ich dachte schon, du kommst nie wieder. Die anderen haben erzählt, dir wäre was schlimmes zugestoßen", schluchzt er. Also hat es sich herumgesprochen? Ich habe bisher nur mit Aaron telefoniert, da es in der Fabrik noch keinen Telefonanschluss gibt, aber er hat es sicher weitergeleitet. Ob es deswegen so still hier ist?

"Unkraut vergeht nicht", entgegne ich Leandro und streiche ihm beruhigend über den Rücken.
 

Rene weicht einige Schritte von uns zurück und betrachtet uns skeptisch. Seine eisblauen Augen mustern Leandro wild und anklagend.

"Wer ist das?", will er in herablassendem Ton wissen. Ich schiebe Leandro von mir und stelle die Kinder einander vor: "Leandro, dass ist mein Sohn Rene. Rene, das ist Leandro."

"Hallo, freut mich!" Mit ausgestreckter Hand geht Leandro auf meinen Sohn zu doch Rene sieht ihn auch weiterhin skeptisch an. Als dunkelhäutige Junge vor ihm stehen bleibt, weicht er einen Schritt zurück und macht keine Anstalten die Begrüßung zu erwidern.

"Nimm deine dreckigen Pfoten weg, du Niger!", knurrt er. Spinnt er? Finster sehe ich meinen Sohn an. Leandro zieht seine Hand zurück, doch bevor er etwas sagen kann, mische ich mich ein: "Was soll der Mist Rene? Du wirst dich auf der Stelle entschuldigen!"

"Nein! Ich denke gar nicht daran. Ich hasse alle schwarzen Menschen, die sind schlecht und widerlicher!" Jetzt reicht es mir aber. Ohne groß darüber nachzudenken hole ich aus und verpasse meinem Sohn eine Ohrfeige. Die Augen des Kindes weiten sich, während seine Hand an die getroffene Wange wandert.

"So etwas will ich nie wieder von dir hören", schreie ich ihn an. In den eisblauen Augen sammeln sich Tränen.

"Ich hasse dich!", schreit er zurück und läuft los. Seufzend sehe ich ihm nach. Warum hat dieses Kind nur einen so verdorbenen Charakter? Ob das meine Schuld ist?

"Ist er immer so scheiße?", will Leandro von mir wissen.

"Ja", entgegne ich und muss wieder seufzen. Ich weiß mir keinen Rat mehr mit dem Jungen. "Warte hier auf mich, ich geh ihm nach!" Weise ich Leandro an und setzte mich langsam in Bewegung.

Rene ist bis zur anderen Seite des Innenhofes gerannt und setzt sich dort auf die Treppe. Er weint noch bitterlicher und reibt sich die Augen. Auf seiner Wange leuchtet rot mein Handabdruck. Als ich ihn erreiche, sieht er nicht auf. Ich setzte mich zu ihm und will in ruhigem Ton von ihm wissen: "Was hast du denn gegen schwarze Menschen?"

"Geh weg!", schnieft er. Ich lege meine Arm über seine Schulter und ziehe ihn zu mir. Er drückt sich erst dagegen, doch als ich nicht nachgebe, vergräbt er seinen Kopf in meinem Schoss und weint bitterlich. Sacht streiche ich durch seine wuscheligen Haare.

"Ich habe dich liebe, aber ich verstehe dich einfach nicht", seufze ich. Rene sieht auf und schaut mich fragend an.

"Du hasst mich und du hasst die ganze Welt, aber warum? Du kennst Leandro gar nicht und trotzdem hältst du ihn für einen schlechten Menschen." Der Junge wischt sich mit dem Handrücken über die laufende Nase.

"Ich mag die schwarzen Menschen nicht. So einer hat Amy weh getan und der Mann, der Lui erschossen hat und uns mitgenommen hat, war auch schwarz." So langsam beginne ich zu verstehen.

"Hör mal Rene, es gibt auch genug schlechte Menschen, die eine weiße Hautfarbe haben. Leandro ist ein netter Kerl, lerne ihn doch erst mal kennen, bevor du dir ein Urteil bildest. Wenn du ihm ne Chance gibst, werdet ihr sicher Freunde." Renes eisblaue Augen mustern mich eindringlich, ich kann sehen, wie es in seinem Kopf arbeitet. Ob ich wenigstens einmal etwas in ihm bewegen kann? Während mein Sohn vor sich hin sieht, kommt Leandro zu uns. Das Warten ist ihm offensichtlich zu langweilig geworden. Mit den Händen in den Hosentaschen bleibt er vor uns stehen. Scheu sieht Rene zu ihm auf.

"Entschuldige dich und sag ihm anständig guten Tag. Er beißt schon nicht", flüstere ich meinem Sohn zu. Der Junge löst sich von mir und reibt sich die letzten Tränen aus den Augen, dann steht er auf.

"Tut mir leid!", stammelt er zaghaft und reicht Leandro die Hand.

"Nenn mich ja nie wieder Nigger, sonst hau ich das nächste Mal zu", entgegnet der streng, doch mit einem Lächeln im Gesicht.
 

"Das ist doch das Motorrad vom Chef!"

"Stimmt, aber er kann doch unmöglich schon wieder auf den Beinen sein." Das hört sich nach meinen Leuten an. Ein Automobil parkt neben meinem Motorrad, während zwei Lastwagen gerade auf den Innenhof fahren. Aus dem Wagen sind zwei Männer gestiegen. In einem der beiden glaube ich Romeo zu erkennen. Sie schauen sich das Motorrad an und auch die Männer, die aus den Lastwagen steigen, versammeln sich darum. Ich freue mich riesig, sie alle wohl auf zu sehen. Ich stehe auf und gehe ihnen entgegen.
 

"Ihr wisst doch, dass ich es nicht aushalte, untätig im Bett zu liegen!", rufe ich ihnen zu. Alle Blicke drehen sich mir zu, erst schauen sie erstaunt, dann schleicht sich in jedes Gesicht ein freudiges Lächeln. Sie kommen mir auf halbem Wege entgegen und verteilen sich um mich.

"Wie geht's dir?"

"Man, du hast echt mehr Leben, als eine Katze!"

"Willkommen zu Hause!"

"Schön das du wieder da bist!" Sie rufen alle wild durcheinander, jeder will mir die Hand reichen und mich einmal freundschaftlich drücken. Ich muss sie immer wieder bremsen, damit ihre Begrüßung nicht zu fest wird. Es tut unendlich gut ihre fröhlichen Stimmen zu hören und so herzlich begrüßt zu werden. Hier fühle ich mich hundert mal wohler, als in der Trauerstimmung bei Raphael und Susen.
 

In die allgemeine Wiedersehensfreude mischt sich irgendwann die Hand meines Sohnes, mit der er nach meiner sucht. Sie zittert und greift meine fest und hilfesuchend. Von den vielen fremden Männern verunsichert, hält er sich stets im Schatten meiner Beine auf. Ich schmunzeln über ihn. Sonst hat er immer so eine große Klappe, aber jetzt ist er einfach nur das kleine Kind, dass er auch sein soll. Ich drücke seine Hand und sehe ihn aufmunternd an. So grob und gefährlich meine Leute auch aussehen mögen, zu meinen Kindern sind sie stets hilfsbereit und freundlich gewesen. Ob sie den Jungen wiedererkennen? Auch Leandro ist zu und gekommen. Mit den Händen in den Taschen seiner Hose beobachtet er uns.

"Meinst du nicht, dass der etwas zu jung ist, um ein Wolf zu werden?"

"Ja, Leandro ist ja schon ein halbes Hemd, aber der?"

"Erzählt nicht so einen Mist. Seht doch mal richtig hin! Der ist seinem Vater doch, wie aus dem Gesicht geschnitten."

"Ist das Rene?", will Romeo wissen. Ich nicke und ziehe den Jungen am Arm vor mich. Meine Hände lege ich auf seine Schultern. Scheu sieht das Kind in die vielen Gesichter, an die es sich unmöglich erinnern kann.

"Die sind alle ganz nett, wenn man sie nicht ärgert. Sag Hallo!", schlage ich meinem Jungen vor, doch Rene schüttelt mit dem Kopf und dreht sich um. Schutzsuchend vergräbt er seinen Kopf in meiner Hose. Ich muss über ihn lachen und reibe ihm beruhigend über den Rücken. Das dieses freche und ungehorsame Kind, auch eine schüchterne Seite hat, gefällt mir.

"Den kannst du wirklich nicht leugnen!"

"Stimmt, der sieht aus, wie Enrico in klein."

"Man ist der groß geworden." Romeo geht vor Rene in die Hocke.

"Hey Kleiner, erinnerst du dich nicht mehr an mich? Wir haben zusammen Ball gespielt und du hast Bilder auf meine Rechnungen gezeichnet." Rene flüchtet sich wieder hinter mich und schaut misstrauisch in die Runde. Besser ich erlöse ihn von der allgemeinen Aufmerksamkeit und schneide eine neues Thema an: "Wie sieht's mit dem Wiederaufbau aus? Wie weit seid ihr gekommen?"

"Du wirst es nicht glauben, aber das Lokal steht. Ich hab ein paar meiner Beziehungen spielen lassen und fast die komplette Einrichtung für nen Apfel und ein Ei bekommen. Ein Lokal in Manhattan hat dicht gemacht und alles verschleudert, die letzten Möbel haben wir gerade geholt." Meine Augen werden immer größer. In nur drei Wochen haben sie hier schon so viel erreicht? Und ich Dummkopf habe geglaubt, sie haben sich aus dem Staub gemacht.

"Eigentlich wollten wir es komplett eingerichtet haben, bis du wieder kommst."

"Konnte ja keiner Ahnen, dass du schon so schnell zurück bist." So viel Einsatz rührt mich. Ich habe mit Abstand den besten Clan der ganzen Stadt.

"Ihr seid unglaublich! Ich will alles sehen! Lasst uns rein gehen!" Romeo geht voraus und schließt die große Eisentür für uns auf. Mit Rene an der Hand, folgen wir den Männern in die Fabrik. Romeo zieht seine Jacke aus und hängt sie über einen der etlichen Barhocker, die vor der mahagonifarbenen Theke stehen. Sie ist auf Hochglanz poliert, in den etlichen Regalen dahinter, stehen unzählige Gläser und Spirituosen. Diego hat seine edelsten Tropfen herbringen lassen, ich bekomme Lust mich quer durch das Sortiment zu trinken, so einladen wirken die unterschiedlichen Flaschen. Einige Tische sind schon fest mit dem Boden verschraubt und stehen verteilt in der Halle. Eine rote Ledercouch rahmt einen dieser Tische ein, die Anderen sind sicher noch auf den Lastwagen. Der Boden ist mit einem weichen Teppich ausgeschlagen, über den Tische hängen rote Lampen von der Decke, die den Raum bei Nacht sicher in eine angenehm warmes Licht tauchen werden. Es fehlt noch Deko und die restlichen Möbel, aber es hängen keine Verkabelungen mehr von der Decke, alles ist sauber verputzt, die Wände sind Tapeziert, nichts erinnert mehr an das Chaos, dass hier noch vor ein paar Wochen tobte.

Meine Leute verteilen sich auf den Barhockern, währen Romeo hinter dem Tresen verschwindet und Getränke ausschenkt. Die Zapfanlage funktioniert also auch schon?

"Jetzt musst du uns aber erzählen, was genau passiert ist. Aaron wollte mit den Einzelheiten nicht rausrücken", fordert Romeo und stellt ein Wiskyglas mit Scotch und Eiswürfeln vor mir ab. Er weiß noch immer, was ich am liebsten trinke. Es ist zwar noch früh am Morgen, aber bei dem Thema betrinke ich mich gern.

Doch zuvor muss ich meinen Sohn loswerden. Diese Geschichte ist nicht für seine Ohren bestimmt.

"Leandro, kannst du Rene die Fabrik zeigen?“

Der dunkelhäutige Junge nickt zustimmend, er winkt meine Sohn zu sich, doch der gibt meine Hand nicht frei.

"Ich muss doch auf dich aufpassen", stammelt er unsicher. Ich gehe vor dem Kind in die Knie und schaue ihn eindringlich an.

"Mir passiert schon nichts. Ich werde auch die ganze Zeit hier sein. Ihr amüsiert euch eine Weile und heute Abend fahre ich dich zu deiner Mutter." Rene ist nicht begeistert, aber er gibt meine Hand frei. Noch einmal betrachtet er mich zweifelnd, dann läuft er zu Leandro, der schon in der Tür steht und auf ihn wartet. Ich sehe den Beiden nach, bis sie im Innenhof verschwunden sind. Später werde ich mir noch Zeit für den Jungen nehmen.
 

Als die Kinder verschwunden sind, setze ich mich an den Tresen und erzählen von der Entführung der Kinder, von Tonis Verrat und von den drei Tagen unter den Drachen. Sie alle lauschen so angespannt, dass man eine Stecknadel fallen hören kann. Hin und wieder wird ein Glas klangvoll auf dem Tresen abgestellt oder ein Fluch ausgesprochen.

"Seltsam war nur, dass wir ungehindert entkommen sind. Ich bin mir sicher Michael hat uns absichtlich laufen lassen", beende ich die Erzählung. Die Männer sehen betreten auf den Tresen, jeder hängt einen Moment lang seinen Gedanken nach.

"Und, was hast du jetzt vor?"

"Ungeschoren lässt du sie doch nicht davon kommen, oder?"

"Dieses ganze Pack gehört aufgehangen!"

"Als Michael mich folterte habe ich ihm geschworen, ihn zu töten und den Schwur halte ich auch. Jeden anderen Drachen, der sich in unser Revier wagt, könnt ihr von mir aus umlegen, aber das Schwein gehört mir!" Klangvoll stelle ich mein Glas auf dem Tresen ab und deute Romeo an, dass ich noch einen Drink will. Er füllt mein Glas bis zur Hälfte.

"Glaubst du wirklich, dass Sam das alles allein eingefädelt hat? So ein kleiner Fisch kommt doch nie an den Chef der Drachen ran. Schon gar nicht, wenn er aus unseren Reihen ist. Die knall'n ihn doch schon am Empfang ab." Romeo hat recht, obwohl ich bisher nur Sam im Verdacht hatte, weil sein Verrat der offensichtlichste war, macht das alles keinen Sinn. Er ist nicht der Typ, der so eine Intrige ganz alleine Spinnen und durchführen kann. Jemand zieht im Hintergrund die Fäden.

"Ich glaube auch, das er nur Mittel zum Zweck war." Nachdenklich betrachte ich die braune Flüssigkeit im Glas und schwenke sie hin und her. Doch wer würde sonst noch von meinem Tod profitieren?

"Hat sich Giovanni in meiner Abwesenheit hier blicken lassen?", frage ich in die Runde. Er ist der Einzige, der genug Einfluss und ein Motiv hat.

"Ja, er hat versucht den Chef heraushängen zu lassen und wollte uns ständig in die Karten schauen. Hast du ihn etwa im Verdacht?", erklärt Romeo und schenkt sich selbst ein Glas ein.

"Ja, ich bin ihm schon vom ersten Tag an ein Dorn im Auge. Er will Arons Nachfolger werden."

"Soll er doch!", ruft einer der Männer dazwischen. Ich schaue den jungen Mann ernst an: "Aaron will mich dafür. Ich hatte die Adoptionspapiere schon in der Hand." Erschrocken und gleichermaßen erstaunt, werde ich von allen gemustert.

"Du sollst der nächste Pate werde?"

"Das erklärt einiges."

"Hast du unterschrieben?" Romeo sieht mich besorgt an.

"Nein, noch nicht!"

"Wenn du's tust, was wird dann aus den Wölfen?"

"Ich werde auch als Pate noch die Fäden hier ziehen, aber so langsam bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich mir wirklich noch mehr Feinde machen will."

"Giovanni will aber auch keiner an der Spitze der Locos haben!", meint Romeo und trinkt sein Glas leer.

"Stimmt, mit Enrico käme vielleicht endlich mal frischer Wind in den alten Laden. Bei der Wirtschaftslage, können wir unkonventionelle Ideen brauchen."

"Außerdem darf Giovanni damit nicht durchkommen." Erstaunt sehe ich meine Leute an. Mit so viel Zuspruch habe ich nicht gerechnet. Nach allem, was passiert ist, tut mir ihr Vertrauen in mich einfach nur gut.

"Na schön, was Giovanni kann, können wir besser. Er hat sich mit dem falschen Clan angelegt. Der Kerl kommt mir hier nicht mehr rein! Ich schließe mich mit Erik kurz, an Schlampen kommen wir auch ohne Giovannis dreckigen Menschenhandel. Damit konnte ich mich sowieso nie anfreunden und die geklauten Autos können wir auch allein verticken. Mal sehen, wie der alte Mann mit Konkurrenz zurecht kommt."
 

Den ganze Tag schmieden wir Pläne und ich teile meinen Clan neu auf. Anstatt ständig Aufträge von Giovanni entgegen zu nehmen, werden wir selbst einen Handel mit Automobilen aufbauen, die Mechaniker, Fahrer und Diebe dafür habe ich, wozu also noch einen Zwischenhändler wie Giovanni mit durchfüttern. Ich tu ihm auch keine Gefälligkeiten mehr, ich lasse ihn ausbluten. Alles, was wir für ihn tun, wird er mir teuer bezahlen dürfen. Auch das Lokal baue ich ohne ihn auf. Erik hat genug Kontakte, ich muss ihn nur von meiner Sache überzeugen. Der Einzige der mir jetzt noch im Weg steht, ist Aaron. Wenn ich doch nur was gegen Giovanni in der Hand hätte, um den Paten zu überzeugen, aber ich kann nicht beweisen, das er der Drahtzieher hinter allem ist.

"Solange ich nichts gegen Giovanni in der Hand habe, verhalten wir uns ruhig. Sammelt Informationen aus allen Ecken, bis wir seine Machenschaften beweisen können. Alles, was wir heute besprochen haben, läuft im Verborgenen, bis wir den Scheißkerl ans Messer liefern können." Diego für meinen Plan zu gewinnen, dürfte keine große Sache sein und jetzt, wo Vincent tot ist, steht Giovanni ganz allein da. Er wird noch bereuen sich je mit mir angelegt zu haben.
 

Bis spät Abends sitzen wir zusammen. Als es dunkel wird, kommen immer mehr Mitglieder ins Lager zurück und jeder Neuankömmling muss erst einmal in die Pläne eingeweiht werden. Trotz allem ist die Stimmung ausgelassen und auch das Lokal ist inzwischen mit den restlichen Möbeln bestückt worden. Obwohl die Themen ernst bleiben, fühle ich mich sicher im Schutz des Clans.

Rene und Leandro verstehen sich mit jeder Stunde besser. Als es noch hell war, spielten sie im Innenhof mit Stöcken und Steinen und kamen nur hin und wieder herein, wenn sie hungrig wurden oder Durst bekamen. Doch mit Einbruch der Dunkelheit sitzen sie bei uns und lernen die Kartenspiele, die es später auch in unseren Hinterzimmern geben wird. Im Laufe des Abends taut Rene auf und lässt sich beim Spielen Geschichten erzählen, von der Zeit, als er mit seine Schwester, seiner Mutter und mir hier wohnte. Die meisten Wölfe, die sich noch an meine Kinder erinnern können, staunen darüber, wie groß er geworden ist. Keiner von ihnen verliert in Anwesenheit meines Sohnes ein raues Wort, alle sind freundlich und zuvorkommend. Niemand würde jetzt noch die Mörder und Schläger, Diebe und Gesetzlosen in ihnen erkennen. Jeden von ihnen könnte ich ohne schlechtes Gewissen, das Leben meines Sohnes anvertrauen und wüsste sicher, dass sie ihn bis aufs Blut verteidigen werden. Für diese wenigen Stunden, ist alles wieder so, wie vor dem Überfall. Wie schade das Judy nicht hier einziehen will. Ganz gleich, was auch hinter den Kulissen abläuft, diese Männer und Frauen, sind wie eine große Familie. Ich kann mir kaum noch einen Grund vorstellen, warum es Rene und Amy hier nicht gut gehen sollte.
 

Die Zeit vergeht so schnell, dass es längst zu spät ist, Rene zu seiner Mutter zu bringen. Mit dem Kopf auf meinem Schoss und meiner Jacke über sich, ist er bereits eingeschlafen. Diese eine Nacht kann er ruhig hier verbringen, immerhin gibt es in meinem Zimmer ein Bett und dort ist es auch ruhig genug, das er ungestört durchschlafen kann.

Im Laufe des Abends, fallen auch mir irgendwann die Augen zu. Die letzten schlaflosen Nächte fordern ihren Preis, der Kopf fällt mir in den Nacken und ich eindöse ein.
 

Eine warme Hand legt sich auf meiner Schulter. Erschrocken sehe ich auf. Romeo lächelt mich an, als er mir rät: "Geh doch ins Bett. Ich halt die Saubande auch allein auf Trapp. Soll ich dir mit Rene helfen?" Ich lächle ihn dankbar an und nicke. Es wäre gemein den Jungen jetzt zu wecken, aber ins Bett kann ich ihn nicht tragen. Romeo tut das für mich. Er nimmt den Jungen vorsichtig von meinem Schoss und hebt ihn in seine Arme. Rene bewegt sich, öffnet aber nicht mal die Augen. Die Aufregung war auch für ihn zu viel, er wird sicher bis zum Morgen durchschlafen. Gähnend erhebe ich mich und verabschiede mich von meinem Clan. Die meisten sind so in Gespräche vertieft, dass sie gar nicht merken, dass ich gehe. Ich werfe noch einen letzten glücklichen Blick in die Runde, dann folge ich Romeo.

Er trägt Rene in mein Zimmer und legt ihn in mein Bett. Auch jetzt wird das Kind nicht wach. Um diesen festen Schlaf, kann ich ihn nur beneiden. Ich nicke Romeo dankend zu, als er zurück zur Tür geht. Im Vorbeigehen legt er mir seine Hand auf die Schulter.

"Übertreibe es nicht. Du musst hier niemanden etwas beweisen. Wir wissen alle, was für ein zäher Knochen du bist, aber keiner hat etwas davon, wenn du in zwei Tagen wieder flach liegst. Gehe es langsam an!" Ich nicke müde. Er hat ja recht, ich bin noch lange nicht fit und hätte mich schon längst hinlegen sollen, aber ich habe mich unter meinen Leuten so wohl und sicher gefühlt. Als Romeo das Zimmer verlässt, verschwindet auch diese Gefühl. Übrig blieben nur vier viel zu enge Wände. Seufzend ziehe ich mir die Schuhe von den Füßen und lege mich zu Rene. Ich fühle mich wie erschlagen und trotzdem tobt eine undefinierbare Unruhe in mir, als es still wird. Ich rolle mich in der Decke ein und Hoffe, dass die Erschöpfung groß genug ist, damit ich wenigstens ein paar Stunden schlafen kann.

~Die Beerdigung~


 

Blut, der ganze Boden ist in Rot getaucht.

Schmerzensschreie, so grauenhaft laut.

Ein Frauenkörper, geschunden und krampfhaft zusammengerollt.

Robin!

Ihr zu Füßen liegt ein Kind, ein Junge.

Er rührt sich nicht mehr.

Rene!

Weinen, hell und schrill.

Ein Schuss!

Ein kleines Mädchen fällt mir kraftlos in die Arme.

Amy!
 

"Amy!" Schreiend schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Im Bett sitzend, sehe ich mich um: Vier dunkle Wände. Es ist so still, dass ich meinen eigenen Atem hören kann. Ich schaue auf den Platz neben mir. Rene dreht sich von einer Seite zur Anderen, er murmelt im Schlaf. Ich fahre mir durch die verschwitzen Haare. Es war nur ein Traum, Rene geht es gut und Amy ist bei ihrer Mutter, nur Robin ...

Ich schiebe den Gedanken an die tote Freundin zur Seite und streiche Rene durch die struppigen Haare. Es geht ihm gut, er lebt und schläft ganz friedlich. Ein Glück habe ich ihn nicht geweckt, ich bin froh, wenn er mal eine Nacht durch schläft, ohne selbst von Alpträumen geweckt zu werden. Dafür bin ich jetzt hell wach und je länger ich mich in meinen Zimmer umsehe, um so kleiner erscheint es mir. Seufzend schiebe ich die Bettdecke von meinen Beinen und stehe auf. Um mich von diesen schrecklichen Bildern abzulenken, brauche ich jetzt frische Luft. Ich steige aus dem Bett und öffne das Fenster. Vom Mond am Himmel ist lediglich eine kleine Sichel zu sehen und nur die hellsten Sterne schaffen es, gegen das Licht der Stadt anzustrahlen. Eine milde Brise strömt ins Zimmer, endlich wird es wärmer, die kalten Tage des Frühlings sind dem Sommer gewichen.

Ich steige über das Fensterbrett hinaus auf das Vordach. Hier draußen fühle ich mich gleich viel leichter und atme einige Male tief durch, bis auch die letzten Erinnerungsfetzen des Traumes aus meinen Gedanken verschwunden sind.

Selbst hier halte ich es Nachts nicht in geschlossenen Räumen aus. Müsste das nicht langsam mal besser werden?

Mit den Händen in den Hosentaschen, lasse ich meinen Blick über den Innenhof schweifen. Es ist so still, sicher ist die Feier bereits beendet und meine Leute haben sich auf den Heimweg gemacht. In der Ferne ragen die Hochhäuser der Stadt steil in den Himmel, sie leuchten heller, als die Sichel des Mondes. Robin werde ich da hinten nie wieder besuchen können. Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie einfach nicht mehr da ist, dass ich sie nie wieder um Rat bitten kann, sie nie wieder berühren werden. Heute Nachmittag ist ihre Beerdigung, dann wird von ihr nichts mehr bleiben, als ein Grabstein mit ihrem Namen.
 

"Kannst du auch nicht schlafen?", spricht mich jemand von hinten an. Ich fahre zusammen, mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Als mich auch noch eine Hand am Arm berührt, läuft es mir eiskalt den Rücken hinab. Leandro lächelt mich schief an, während ich ihn erschrocken mustere. Ich greife mir ans Herz und atme einige Male durch.

"Man, musst du mich so erschrecken?"

"Hast du mich denn gar nicht kommen gehört?" Ich schüttle mit dem Kopf. Das Kind kann sich so lautlos, wie eine Katze bewegen, aber wahrscheinlich lag es dieses Mal an mir.

"Ich war in Gedanken. Warum bist du so spät noch wach?" Leandro verstaut die Hände in seinen Hosentaschen und sieht hinauf zum Sichelmond, als er mir antwortet: "Ich hab schlecht geträumt."

"Geht mir genau so." Wir schweigen eine Weile und betrachten beide die Skyline der Stadt. Leandro hat in seinem jungen Leben schon so viel ertragen und verlieren müssen, trotzdem macht er auf mich immer einen fröhlichen Eindruck. Selbst jetzt nach einem Alptraum, hat er noch die Kraft für ein Lächeln. Wie macht er das bloß?

"Obwohl dich Alpträume plagen und du so viel erleben musstest, sehe ich dich immer lächeln. Du beklagst dich nie, bist immer guter Dinge. Wie machst du das?", frage ich ihn irgendwann. Leandro sieht nachdenklich vor sich hin, er brauch einen Moment, bis er mir antwortet: "Mhm, weiß nicht. Mir geht es doch jetzt gut. Ich hab ein Dach über dem Kopf, was zu Essen, Freunde. Ich habe keinen Grund unglücklich zu sein, gerade weil es mir schon viel schlechter ging." Starke Worte für ein Kind von zwölf Jahren. Ich nicke verstehend und sehe wieder in die Ferne. Wenn ich doch nur genau so bescheiden sein könnte, wie dieses Kind, aber ein Dach über dem Kopf, Essen, Freunde und Familie reicht mir nicht.

Leandro gähnt herzhaft und reibt sich die müden Augen. Ich beobachte ihn lächelnd und werde von seinem Gähnen angesteckt.

"Vielleicht sollten wir beide wieder ins Bett gehen", murmelt der Junge. Für ihn mag das eine Option sein, aber ich finde heute sicher keine Ruhe mehr. Langsam trottet er über das Dach zum Fenster seines Zimmers.

"Schlaf schön!", rufe ich ihm nach. Der Junge dreht sich noch einmal zu mir. Streng sieht er mich an, als er sagt: "Du solltest auch schlafen. Deine Augenringe reichen schon bis zum Boden." Ich schmunzle amüsiert. Das Kind hört sich schon an, wie Raphael und Susen.

"Werd's versuchen", versichere ich ihm. Er nickt und klettert über das Fensterbrett zurück in sein Zimmer, ich höre ihn noch durch den Raum schlurfen, dann wird es wieder bedrückend still.

Warum kann ich nicht so fröhlich und bescheiden sein, wie er? Meine Verletzungen heilen, meine Freunde und Familie stehen hinter mir, auch um Obdach und Essen brauche ich mir keine Sorgen machen und trotzdem fehlt etwas. Etwas das mich selbst in den chaotischsten Zeiten glücklich gemacht hat. Unweigerlich fällt mein Blick auf das Fenster, direkt neben meinem. Es ist nur angelehnt, so wie immer. Ich habe mich so oft Nachts über das Vordach in Tonis Zimmer geschlichen und mich zu ihm gelegt, ihn verführt oder einfach nur genervt. Trotzdem hat er es nie geschlossen. Das war doch sicher Absicht von ihm. Ganz gleich, wie oft er sich über die nächtlichen Überfälle auch beschwert hat, er hat sich nie eingeschlossen. Es hat ihm sicher gereicht, mir die Schuld an allem in die Schuhe schieben zu können und es trotzdem zu genießen. Erst als Anette vor kurzem mit ihm Schluss gemacht hat, warf er mich konsequent raus und trotzdem ist das Fenster immer offen geblieben. Aus ihm werde ich auch nach all den Jahre nicht schlau.

Ob er seinen Kram schon zusammen gepackt und abgeholt hat? Ich gehe zum Fenster und schiebe es auf.

Alles ist noch da. Das Bett ist gemacht, die Kissen sind gerichtet, die Bücher im Regal sind nach Größe sortiert. Nichts hat sich verändert, offenbar ist er nicht einmal hier gewesen. Ich steige in den Raum und gehe zum Kleiderschrank. Hemden, Hosen, alles liegt Kante auf Kante, nicht ein Kleidungsstück scheint zu fehlen. Wie seltsam. Er hat nichts mitgenommen. Wie kann er denn einfach alles stehen und liegen lassen?

Seufzend schließe ich den Schrank und sehe auf das verlassene Bett. Kein Wort, keine Nachricht, nicht ein Anruf oder ein Zettel, hat er für mich hinterlegt. Ich ertrage dieses Schweigen nicht, da ist es mir lieber, er schreit mich an und streitet mit mir. Ob er wenigstens bei Robins Beerdigung auftaucht? Ich gehe die wenigen Schritte bis zum Bett, ziehe die glattgestrichene Decke vom Laken und lege mich auf seine Seite. Mit seinem Kissen im Arm wickle ich mich in der Decke ein. Ich atme nach seinem Duft, doch nach knapp drei Wochen, ist davon nicht mehr viel übrig. Bald wird er ganz aus dem Stoff verschwunden sein. Dieser verdammte Idiot! Fehle ich ihm den gar nicht?
 

"Wo ist dein Vater?" Judy? Wieso sucht sie denn nach mir? Ich bin doch hier, Noch ganz verschlafen schaue ich mich um. Das ist nicht mein Zimmer, sondern das von Toni. Reflexartig schaue ich neben mich, doch dort liegt niemand, die zweite Decke ist noch immer säuberlich zusammen gelegt. Augenblicklich fällt mir Rene wieder ein, den ich in meinem Zimmer zurück gelassen habe. Ob er sich so ganz allein gefürchtet hat? Ich bin schon wieder nicht für ihn da, obwohl ich es sollte. Verdammt! Dabei wollte ich doch nur in Erinnerungen schwelgen und nicht einschlafen. Mein Blick geht zum Fenster, es ist heller Tag, das erste Mal seit Wochen habe ich durchgeschlafen und trotzdem fühle ich mich wie erschlagen. Ich ziehe die Decke weit über den Kopf, um das Licht des Tages abzudunkeln. Nur noch ein bisschen die Augen schließen, nur noch ein bisschen vor mich hin dösen.

"Ich weiß nicht!", höre ich Rene nebenan gähnen.

"Na, ich kann's mir schon denken", meint Judy. Das Klappern ihrer Schuhe verlässt das angrenzende Zimmer und kommt immer näher. Ahnt sie wirklich, dass ich hier bin? Es scheint so, denn sie bliebt stehen und drückt die Klinke, sie kommt herein und wirft die Tür nach sich ins Schloss. Ich schlucke schwer, das gibt Ärger, da bin ich mir sicher.

Sie umrundet das Bett und setzt sich an das Fußende, ihr Atem ist ruhig und gleichmäßig, sie sagt keinen Ton. Wie seltsam, ich habe fest damit gerechnet, dass sie schimpfen und toben wird. Ich hebe die Decke vom Kopf und sehe nach ihr. Sie schaut aus dem Fenster und hat ihre Hände im Schoss gefaltet. Ist das die Ruhe vor dem Sturm? Das sie mich nicht anschreit, mich noch nicht mal ansieht, macht mich unsicher.

„Judy?", frage ich vorsichtig. Sie seufzt und blickt auf ihre Hände, ihre Daumen ringen miteinander.

"Und ich dachte du würdest dich mal um unseren Jungen kümmern, mal Verantwortung übernehmen", sie lacht bitter, "Ich bin wirklich naiv!" Was meint sie denn damit? Fragend betrachte ich sie, doch Judy sieht nicht auf.

"Als ich gestern hier war und dich mit Rene habe Karten spielen sehen, da habe ich wirklich geglaubt, ihr zwei versteht euch langsam. Deswegen bin ich wieder gegangen. Ich dachte, wenn ihr nur ein bisschen Zeit zusammen verbringt, merkst du, was für ein toller Junge er ist und kümmerst dich besser." War sie wirklich am Abend hier?

"Ich dachte ich überrasche euch am Morgen mit Frühstück und wir machen es uns schön." Das klingt doch gut. Frühstück könnte ich jetzt gebrauchen, mein Magen knurrt schon die ganze Zeit.

"Das können wir doch machen. Ich könnte sowieso gerade ein ganzen Schwein verdrücken." Versöhnlich lächle ich sie an, doch Judy sieht noch immer nicht zu mir.

"Was machst du hier in Tonis Zimmer? Wieso schläfst du hier und nicht bei Rene?" Ihre Stimme zittert, sie unterdrückt ihre Wut und knetet ihre Finger immer fester durch. Ich atme schwer und bin mir nicht sicher, was ich ihr antworten soll.

"Ich konnte nicht schlafen", beginne ich kleinlaut zu berichten.

"Und hier kannst du es?", fragt sie lauter. Ich sehe an ihr vorbei auf den Boden. Ja, irgendwie schon.

"Er fehlt mir eben ...", flüstere ich. Ein müdes Lächeln huscht über ihre Lippen, sie sieht aus dem Fenster, als sie wieder zu sprechen beginnt: "Er war schon immer wichtiger als ich, wichtiger als deine Familie. Nicht einmal deine eigenen Kinder bedeuten dir so viel." Ich schlucke, doch der dicke Klos in meinem Hals, lässt sich nicht hinunter würgen. Irgendwie hat sie recht und obwohl ich das Gefühl habe, ihr widersprechen zu müssen, gelingt es mir nicht. Als ich schweige, nickt Judy stumm.

"Ich nehme Rene und Amy wieder mit. Wenn du sie sehen willst, kannst du zu Aaron kommen. Aber solltest du sie noch mal ohne meine Einverständnis irgendwo hin mitnehmen, lernst du mich richtig kennen." Für das, was sie sagt, ist Judy erstaunlich ruhig. So kenne ich sie gar nicht, aber gerade das sagt mir, dass sie es ernst meint. Sie erhebt sich und läuft zur Tür. Bevor sieh geht, sieht sie noch einmal zu mir.

"Was Toni angeht, so hoffe ich für dich, dass er nie wieder kommt und dort wo er jetzt ist, von euren Feinden erschossen wird. Dann brauch ich es nicht tun!" Ihr Blick ist eisig. Sie verlässt den Raum und schlägt die Tür nach sich zu. Ihre Worte hallen in meinem Kopf wieder. Würde sie wirklich so weit gehen? Es wäre nicht ihr erster Mord, den sie ohne mit der Wimper zu zucken verübt. In ihrer Kaltblütigkeit, steht sie mir und Toni in nichts nach. Seufzend sehe ich auf die geschlossene Tür.

Das sind ja wirklich rosige Aussichten. Nun ist es nicht mehr nur Raphael, der Toni loswerden will, auch Judy fährt harte Geschütze auf. Dabei können wir doch auch nichts für unsere Gefühle, es ist ja nicht so, als wenn wir nicht dagegen angekämpft hätten.
 

Der restliche Tag verfliegt ohne, dass es mir wirklich bewusst wird. Irgendwann finde ich mich auf der Beerdigung wieder, zwischen all den Männern und Frauen in schwarz, zwischen all den Tränen und traurigen Blicken. Die ganze Familie ist gekommen, Raphael, Susen, Aaron, Judy und die Kinder, selbst der halbe Clan ist anwesend. Inklusive Giovanni. Der Blick des Clanführers wandert immer wieder zu mir, stets schaut er ernst und vorwurfsvoll. Ich habe das ständige Gefühl, er sitzt mir im Nacken. Irgendetwas führt er im Schilde, doch ich will mich nicht damit auseinander setzen. Etwas anders quält mich viel mehr. Unter all den bekannten Gesichtern, kann ich das wichtigste nicht finde: Toni ist nicht gekommen! Wenn nicht mal Robins Beerdigung ihn dazu veranlasst zurückzukommen, dann sehe ich ihn mit Sicherheit nie wieder. Der Gedanke stimmt mich trauriger, als die Beerdigung selbst. Judy hat wohl recht, Toni geht mir wirklich über alles und so sollte es eigentlich nicht sein. Ich seufze und versuche meine Aufmerksamkeit der Beerdigung zuzuwenden.
 

Ein tiefes Loch tut sich vor mir auf, daneben, hoch aufgetürmt, dunkle Erde. Robins weißer Sarg hängt über diesem Grab, muss nur noch hinab gelassen werden, um für immer in der Dunkelheit zu verschwinden. Der Priester dahinter redet schon eine ganze Weile von Frieden und Ruhe von Trost und einem Himmelreich. Ich glaube nicht an den Himmel und das sich Robin jetzt an einem besseren Ort befindet und wüsste der Kerl, was sie zu Lebzeiten alles getan hat, würde er sie nicht mal in geweihter Erde bestatten wollen. Der Gedanke erheitert mich auf seltsame Weise. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn ich an die versauten Nächte mit ihr denke, oder an meine Ausbildung, wo sie mir erklärte und vormachte, wie man am effektivsten Menschen tötete. Dieser Kerl faselt von ihr, als wenn sie eine Heilige gewesen wäre und alle hören ihm in stiller Bewunderung zu, hin und wieder kann ich einzelne Trauergäste nicken sehen. Sie kannten sie gar nicht, niemand stand ihr nah genug, um zu verstehen, wie sie wirklich war. Dieses ganze Gefasel ist eine Fraß, die ich kaum ertragen kann. Wieso hat Aaron sich nur so eine Trauerrede aufschwatzen lassen? Vorwurfsvoll sehe ich zu dem alten Mann.

Er hat Tränen in den Augen und die Hände ineinander gefaltet, sein Blick ist auf den Boden gerichtet. So niedergeschlagen habe ich ihn noch nie gesehen. Mein stummer Vorwurf, tut mir jetzt leid. Er will sicher nur Gutes über die getötete Tochter hören, so wie alle hier. Aber nichts von dem, was gesagt wird, passt zu ihr: Sie war nicht gütig, sondern besitzergreifend. Ihre Aufgabe im Clan war die Ausbildung von Auftragskillern, nicht der Haushalt ihres Vaters. Sie war auch keine warmherzige Schwester, sondern hatte von jeher eine Affäre mit mir. Wäre Robin jetzt hier, würde sie sich sicher köstlich darüber amüsieren, elegant die Haare zurück werfen, uns alle auslachen und mit einem verführerischen Hüftschwung verschwinden. Auch ich will einfach nur gehen. Ich hasse Beerdigungen, die bedrückende Stille, diese traurige Atmosphäre, die einem die Kehle zuschnürt. Eigentlich bin ich schon viel zu lange geblieben, viel länger als sonst.
 

Im Augenwinkel sehe ich jemanden zu mir kommen. Diego bleibt nah bei mir stehen und flüstert: "Wo ist dein Leibwächter?"

"Toni?", frage ich irritiert. Warum will er das wissen?

"Hast du noch einen anderen?" Natürlich nicht. Ich will auch keinen anderen.

"Nein und ich weiß nicht wo Toni steckt", entgegne ich kurz angebunden.

"Du solltest nicht länger ohne Begleitschutz unterwegs sein. Ich hab die Tage ein Gespräch von Giovanni mitbekommen. Er hat irgendetwas gegen dich am Laufen." Wie beiläufig werfe ich einen kurzen Blick über die Schulter zu dem großen Mann, der sich mit einigen seiner Leute leise unterhält. Ständig sieht er dabei zu mir.

"Ist mir auch schon aufgefallen. Er schaut die ganze Zeit schon so, als wenn er es verdammt schade findet, dass ich meinen Besuch bei den Drachen überlebt habe."

"Hat er was damit zu tun?"

"Das muss ich noch heraus finden." Ich werfe Giovanni einen finsteren Blick zu. So einfach bin ich nicht tot zu kriegen. Von jemanden wie ihm, lasse ich mich nicht unter kriegen. Der Scheißkerl bekommt sein Fett noch weg und wenn ich ihn eigenhändig umlege.

"Wo wir gerade dabei sind, hast du heute Abend Zeit? Ich wollte zu Erik und ein paar neue Geschäftsidee mit euch beiden besprechen." Diego lächelt verschwörerisch.

"Das klingt nach einer großangelegten Verschwörung."

"Ach was, nur ein paar Scotch und hübschen Frauen aufgeteilt unter ein paar guten Freunden." Auch ich bekomme das finstere Lächeln nicht von meinen Lippen.

"Für 'nen lustigen Abend, bin ich immer zu haben."

"Also bist du dabei?"

"Nach dem Trauerspiel hier, auf jeden Fall."

"Alles klar, dann sehen wir uns heute Abend." Ich schlage Diego freundschaftlich auf die Schulter, und setze mich langsam in Bewegung.

"Gehst du wieder?" Ich nicke nur und setze mich in Bewegung, als mir der alte Pate nach kommt. Ich bleibe stehen und lasse ihn aufholen. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn sind heute besonders tief, sein Blick finster, als er mir seine Hand auf die Schulter legt und mich ein Stück bei Seite nimmt.

„Wie fit bist du im Moment“, will er im Vertrauen von mir wissen. Reflexartig taste ich meinen Oberkörper ab. Es schmerzt noch immer, besonders wenn ich tief Luft hole. Ein zwei Wochen werde ich schon noch brauchen und auch dann müsste ich erst mal trainieren, um in Form zu kommen.

„Könnte besser sein“, entgegne ich nur.

„Was hast du vor wegen Michael zu unternehmen?“ Macht er sich etwa Sorgen, ich lasse das Schwein davon kommen?

„Was glaubst du wohl?“ Sobald ich wieder auf dem Damm bin, leg ich ihn um.

„Ich habe bereits meine besten Männer auf ihn angesetzt, aber keiner kommt nah genug an ihn heran. Du bist der Einzige, den er sich sogar freiwillig ins Haus holt.“

„Darf ich vielleicht erst mal wieder auf die Beine kommen?“ Was stresst er mich jetzt so? Vor ein paar Tagen konnte ich noch nicht mal allein aufstehen.

„Bereinige die Sache, sonst lege ich das erste mal seit Jahren wieder selbst Hand an und das wird böse enden, für uns alle.“ Was er damit wohl meint? Ich habe Aaron bisher nur einmal eingreifen sehen und das war ein ganz schönes Blutbad. Wer damals wohl für all das gerade stehen musste und für ihn in den Knast gegangen ist? Sollte er verhaftet und inhaftiert werden, sind die Locos ein leichtes Ziel, nur der Respekt vor ihm, schützt uns im Moment alle, vor einem weiteren Angriff. Ich seufze resigniert. In meinem Zustand ist ein Attentat auf den Paten der Japaner Selbstmord, doch Aarons fester Blick lässt mir keine wirkliche Wahl. Er wirft mir einen letzten durchdringenden Blick zu, dann kehrt er zur Trauerfeier zurück. Ich sehe ihm seufzend nach. Bisher habe ich noch keinen Gedanken an Rache verschwendet, ich hab genug damit zu tun, erst mal meinen Clan zu stärken und meine Familie zu schützen. Aber vielleicht ist das auch nur eine Ausrede. Würde Michael jetzt vor mir stehen, ich weiß nicht wie ich reagieren würde. Gedankenverloren verlasse ich den Friedhof über den Kiesweg.
 

"Herr, unser Gott. Du gibst uns Menschen das Leben und dann nimmst du es wieder. Du holtest diese reine Seele viel zu früh zu dir, doch wer sind wir, deine Wege in Frage zu stellen ...", die Worte des Priesters verklingen hinter mir. Was für ein Geschwafel, von wegen reine Seele und ich stelle sehr wohl die Wege eines Gottes in Frage, der einen Tod, wie den von Robin, geschehen lässt. Kein Wunder das Aaron so sehr auf Vergeltung drängt. Ihre Mörder müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Aber ganz allein werde ich es nicht mal in die nähe Michaels schaffen. Für einen guten Plan brauche ich Zeit und eine bessere körperliche Verfassung. Ich verdränge den Gedanken vorerst, es gibt noch andere Dinge, die ich klären muss. Michael wird warten, so weit sind wir in seinem abscheulichen Spiel verblieben. Giovanni macht mir im Moment viel mehr Sorgen.
 

Keiner wundert sich darüber, dass ich gehe, keiner kommt mir nach. Bisher habe ich noch keiner Beerdigung bis zum Schluss beigewohnt. Meistens komme ich nur, um mein Beileid zu bekunden, doch sobald die Grabrede beginnt, bin ich verschwunden. Zum Trauen bin ich lieber allein, niemand muss sehen, wie nah mir der Verlust wirklich geht.

Mit den Händen in den Taschen laufe ich an den vielen Gräbern vorbei, ohne sie anzusehen, bis der Friedhof endlich hinter mir liegt. Den Weg zu meinem Automobil finden meine Füße ganz von allein. Es ist eine der Karren, die ich noch vor Tonis Verrat, für Giovanni besorgt habe. Der pechschwarze Chrysler Imperial fängt an mir zu gefallen, er fährt sich gut und macht was her. Vielleicht sollte ich ihn behalten, schon allein um Giovanni eins reinzuwürgen.

Als ich die Tür aufschließe, zieht ein heller Blitz über den bewölkten Himmel, gleich darauf folgt lauter Donner. Ich schaue nach oben, die ersten Regentropf fallen auf mein Gesicht. Wie passend, ein Gewitter an Robins Beerdigung.

Ich öffne die Tür, setzte mich auf die Rückbank und atme schwer durch. Ruhe, endlich! Den Kopf lege ich in den Nacken und schließe die Augen. Verdammte Pflichtveranstaltungen, wenn ich nicht gehofft hätte, Toni hier zu sehen, wäre ich nicht mal gekommen. Die unumstößliche Gewissheit, dass Robin nie wieder kommt, ist einfach nicht zu ertragen. Sie ist gerade mal neunundzwanzig Jahre alt geworden, sie hatte noch ein ganzes Leben vor sich und ein weiteres in sich. Ein heftiger Stich durchzuckt mein Herz, beim Gedanken an das Kind, das nie geboren wird. Ich öffne die Augen und sehe aus dem Fenster. Darüber will ich nicht nachdenken, ich habe schon genug geheult, doch ich kann das Radio in meinem Kopf nicht abstellen:

Robin hat nie geheiratet, ist nie Mutter geworden und irgendwie war sie immer einsam. Selbst mit mir, hatte sie ein einziges Problem am Hals. Sie hätte so viel besseres verdient gehabt: Einen Mann der sie glücklich mach, der mit ihr eine Familie gründet und sie aus dem Sumpf des Verbrechens herauszieht. Zu keiner Zeit hätte ich das gekonnt und das hat sie am Ende das Leben gekostet. Ein dicker Klos bildet sich in meinem Hals und schnürt mir die Kehle zu. Krampfhaft sehe ich nach draußen und versuche etwas zu finden, dass mich ablenkt.
 

An meiner Stelle weint der Himmel um sie. In Strömen prasselt der Regen gegen die Scheibe und fließt in kleinen Bächen hinab. Immer wieder erhellen Blitze den Himmel und leuchten die nasse Straße aus. Der Wind fegt den Regen über den Bordstein und wirbelt eine Plastiktüte von einer Straßenseite zur Anderen. Die Menschen hasten an mir vorbei, sie alle haben ihre Jacken eng um sich geschlungen, andere kämpfen vergeblich mit ihrem Regenschirm gegen den Wind an. Die Welt dreht sich einfach weiter und stört sich nicht daran, dass ein wichtiger Menschen von ihrer Oberfläche gefegt wurde.
 

Ein dunkler Wagen hält hinter mir. Im Rückspiegel sehe ich zwei Männer aussteigen. Ihre Schritte sind gelassen und ihre Haltung gestraft. Sie kommen näher. Über Mund und Nase tragen sie Tücher. Sie fixieren meinen Wagen mit finsterem Blick. Ihre Hände verschwinden unter ihren Sakkos. Das ist nicht gut! All meine Sinne schlagen Alarm. Ein greller Blitz erhellt die Straße. Etwas funkelt silbern in ihren Händen, sie richten es auf mich. Waffen!

Ich zögere keinen Moment länger und werfe mich in den Fußraum des Autos.

Schüsse fallen, unzählige Schüsse, unaufhörlich, immer wieder. Sie schlagen in das Blech des Wagens. Es ist so laut, dass ich mir die Ohren zu halte muss und mich so klein wie möglich zusammen rolle. Immer neue Kugel durchschlagen den Kofferraum und die Sitze im Inneren. Alles um mich herum zerreißt in Fetzen. Die Reifen platzen in einem lauten Knall. Mit einem Ruck sackt das Automobil tiefer. Ein Regen aus Glasscherben prasselt auf mich nieder. Ich kann nicht mehr atmen, mich nicht mehr rühren.
 

Aufhören! Bitte! Aufhören!

~So gut wie tot~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Tickets ins Vergessen~

"Ahhrrg!", stöhnt jemand auf, doch ich bin es nicht. Irritiert öffne ich die Augen. Der Kerl vor mir hält sich die blutende Hand, seine Waffe liegt am Boden. Gehetzt sieht er sich nach allen Seiten um.

"Zwei Anschläge an einem Tag, das ist selbst für dich neuer Rekord! Dich kann man echt nicht allein lassen!" Die Worte brechen an den Hauswänden und scheinen von überall her zu kommen.

Ein breites Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Diese Idiot, ausgerechnet jetzt kreuzt er wieder auf und woher weiß er überhaupt von dem Anschlag auf dem Friedhof? Ist er deswegen zurück gekommen? Neuer Lebensmut steigt in mir auf. Ich ziehe meine Waffe und richte sie auf den Kopf des Mannes, der sich noch immer seine getroffene Hand hält.

"Ihr solltet wissen, dass ich nie ohne Rückendeckung unterwegs bin", lasse ich sie siegessicher wissen und füge ernst hinzu, "Wenn ihr augenblicklich aus meinem Blickfeld verschwindet, könnt ihr euer kümmerliches Leben behalten!"

Die Vier sehen sich fragend an, sie zögern einen Moment. Ein weiterer Schuss knallt durch die enge Gasse und schlägt nur wenige Zentimeter vor dem Fuß des verletzten Kerls ein. Auch ich krümme den Zeigefinger um den Abzug. Erst jetzt setzen er und seine Kollegen sich in Bewegung, langsam dann immer schneller, rennen sie die lange Gasse entlang. Ich drücke ab, die Kugel schlägt in der Hauswand ein und auch aus der Ferne donnert ihnen ein Schuss nach. Ihre eiligen Schritte beschleunigen sich weiter, bis sie verschwunden sind.
 

Toni kommt zu mir, er steckt die Waffe hinter seinem Rücken in den Hosenbund und hält gemütlichen auf mich zu. Die Hände verstaut er in den Taschen seiner Jacke, einen Schritte von mir entfernt, bleibt er stehen. Er wirkt ausgeruht, die tiefen Augenringe und blauen Flecke in seinem Gesicht, sind verschwunden. Anette scheint sich gut um ihn gekümmert zu haben. Ich freue mich ihn wohlauf zu sehen und könnte ihm zeitgleich an den Hals springen. Warum taucht er erst jetzt wieder auf?
 

"Hast du wirklich gewusst, dass ich da bin?", will er von mir wissen und behält die Straße im Auge, auf der die Kerle verschwunden sind.

"Nein!" Gewusst habe ich es nicht, aber gespürt? War ich deswegen so ruhig?

"Dann hättest du dich einfach umlegen lassen?"

"Ja!", seufze ich.

"Idiot!" Toni holt aus und schlägt mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Ich reibe mir über die getroffene Stelle und murre in mich hinein. Wäre er nicht abgehauen, wäre ich nicht mal in diese Situation gekommen, dann würde ich jetzt bei Erik pokern oder die Nummer mit der Asiatin genießen.

"Hältst du's wirklich für klug, diese Typen laufen zu lassen?" Toni sieht den Kerlen noch immer nach.

"Sie auf offener Straße umzulegen, hätte uns nur unnötig Ärger eingebracht. Außerdem bin ich mir sicher, dass ihr Chef sie für uns aus dem Weg räumen wird." Zwei Fehlschläge, an nur einem Tag, das wird Giovanni ihnen niemals durchgehen lassen.

Wir schweigen eine ganze Weile, bis ich die Stille nicht mehr aushalte und einfach fragen muss: "Was machst du überhaupt hier?"

"Ich rette dir mal wieder deinen Arsch!" Ich rolle mit den Augen. Das ist sicher nicht der eigentliche Grund.

"Jetzt mal ernsthaft!" Toni schweigt, er sieht auf seine Füße und tritt von einem Bein auf das Andere.

"Es war langweilig ohne dich", murmelt er. Das ist alles? Ich schüttle mit dem Kopf. Das er nicht einmal jetzt offen und ehrlich sein kann.

"Du hast mir auch gefehlt", entgegne ich. Toni schaut verlegen unter meinem Blick hinweg, seine Wangen werden rot, betreten dreht er sich von mir weg.

"Komm mit, ich ... ich habe was für dich", stammelt er nervös und setzt sich in Bewegung. Er läuft den Weg zurück, den er gekommen ist. Irritiert sehe ich ihm nach. Seit wann tut er denn so geheimnisvoll? Wenn er mir jetzt auch mit einem geklauten Blumenstrauß kommt, haue ich ihm den Scheiß um die Ohren. Ich sehe ihm wütend nach, doch je länger ich ihn betrachte, seine strafen Schultern, den festen Hinter. Ich kann nichts gegen das Lächeln tun, das sich auf meinen Lippen ausbreitet. Was er mitgebracht hat, ist mir völlig egal. Das es ihm gut geht und er wieder da ist, ist mir genug.
 

Toni führt mich zu seinem Wagen, der vor Eriks Lokal parkt. Warum ist der mir vorhin nicht aufgefallen? Er öffnet die Fahrertür und steigt ein, auffordernd sieht er mich an. Ich zögere. Das letzte Mal, als ich zu ihm ins Auto stieg, brachte er mich ohne Umwege in die Hölle.

"Jetzt steig schon ein!", fordert er ungeduldig, doch ich bringe es nicht über mich. Wie ein Film läuft die Begegnung mit Michael in der Seitenstraße in mir ab. Toni beugt sich über den Beifahrersitz und öffnet die Tür für mich.

"Jetzt mach nicht so ein Theater und steig ein!", verlangt er wieder. Ich atme tief durch und dränge die Erinnerungen zurück. Das Herz trommelt hart in meiner Brust, als ich mich zu ihm setze und die Tür zuziehe. Er startet den Wagen und lenkt ihn aus der engen Einfahrt, seine Lippen ziert ein fröhliches Lächeln. Über was freut er sich denn so? Fragend betrachte ich ihn, bis er endlich etwas sagt: "Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als ich dich mit Fieber vor meiner Wohnung aufgegabelt habe?" Sicher kann ich mich an den beschissenen Tag erinnern. Er wollte mich loswerden, um die Beziehung mit Anette nicht zu gefährden. Mir ging es so dreckig und er hätte mich einfach vor die Tür gesetzt. Irritiert sehe ich ihn an. Worauf will er hinaus?

"Du hast an dem Tag einen Vorschlag gemacht, den wir jetzt in die Tat umsetzen werden." Breit grinst er mich an. Ich versteh nur Bahnhof. Was für einen Vorschlag? Das Einzige, woran ich mich noch erinnern kann ist, dass ich nicht gegangen bin, als er mich raus werfen wollte. Was ich gesagt habe, ist mir längst entfallen. Als ich ihn noch immer fragend ansehe, deutet Toni auf das Handschuhfach: "Schau da rein!"

Skeptisch betrachte ich erst ihn. Auf unangenehme Überraschungen, kann ich wahrlich verzichten. Um endlich Licht ins Dunkel zu bringen, öffne ich das Fach und finde darin zwei Karten. Was um alles in der Welt ist das? Ich nehme sie heraus und lese die Schrift auf der Vorderseite vor: "Von New York auf die Bahamas", Nur langsam begreife ich, dass es sich bei den Karten um Schiffstickets handelt.

Verstört schaue ich ihn an, sein Lächeln wird immer breiter. Sind die etwa für uns? Das Datum der Abreise ist der 5. Juli, das ist schon morgen. Mir bleibt der Mund offen stehen, während mir mein Vorschlag wieder einfällt. Will er wirklich mit mir durchbrennen?

Das geht nicht! So sehr mir die Idee damals auch gefallen hat, ich kann jetzt nicht einfach abhauen. Hier tobt das Chaos, gleich drei Bandenchefs wollen mich töten. Die spüren mich auch auf den Bahamas auf. Ich kann jetzt nicht feige verschwinden und Schwäche zeigen.

"Du müsstest dein Gesicht sehen!", lacht Toni amüsiert. Sehr witzig! Er weiß doch gar nicht, was die letzten Tage alles vorgefallen ist. Und überhaupt, wie stellt er sich dass den vor? Er entführt mich einfach, ohne jegliche Vorbereitung? Wir haben weder Klamotten dabei, noch wissen unser Familien, wo wir sein werden.

"Das Schiff läuft schon morgen früh aus!", krächze ich atemlos.

"Ich weiß", lacht er wieder und grinst verschmitzt vor sich hin.

Meine Gedanken überschlagen sich: Wie soll ich das alles organisieren? Wer vertritt mich in unserer Abwesenheit und wer wird das ganze Aaron erklären? Der Pate ist im Moment sowieso nicht gut auf mich zu sprechen. Wenn ich jetzt einfach abhaue, was dann? Doch Moment! Toni ist nicht der Typ dafür, planlos und Hals über Kopf etwas in die Tat umsetzt. Er legt sogar seine Hemden nach Farben sortiert übereinander.

Nein, das ist nicht planlos und wir brennen sicher auch nicht einfach so durch. Er hat irgendwas organisiert. Langsam finde ich meine Fassung wieder und sehe ihn eindringlich an. Ich brauche nichts sagen, mein forschender Blick reicht aus, ihm eine Antwort zu entlocken: "Keine Sorge, Aaron weiß Bescheid. Er hat auch die Tickets bezahlt und das Hotel, in dem wir heute übernachten werden. Ich soll dir den Kopf waschen und dich zur Vernunft bringen, aber mir schwebt da was ganz anderes vor ..." Also ist alles nur Aarons Idee gewesen? Mit den Augen rollend, wende ich mich von ihm ab und sehe den vorbeifliegenden Wohnhäusern nach. Wie kann ich auch allen ernstes annehmen, er wollte mir was gutes tun und sich für sein Verschwinden entschuldigen. Ich höre ihm nicht mehr zu, will gar nicht wissen, was Aaron geplant hat.

"Was hast du? Ich dachte du freust dich." Ich seufze und zwinge mich zu einer Antwort: "Bist du nur auf Aarons Befehl hin zurück gekommen?" Toni schluckt, die Fröhlichkeit verschwindet von seinen Lippen, seinen Blick wendet er ab und konzentriert auf die Straße. Sein Schweigen ist mir Antwort genug. Die Karten werfe ich zurück ins Handschuhfach. Er kann alleine fahren.
 

"Ich habe mit Anette Schluss gemacht", meint er kleinlaut. Erschrocken fahre ich zusammen und sehe ihn ungläubig an. Noch immer hat er den Blick stur auf die Straße gerichtet, eine Mischung aus Erleichterung und Traurigkeit glaube ich in seinen Augen lesen zu können. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Seine Familie bedeutet ihm alles und trotzdem hat er sich gegen sie entschieden? Warum? Als ich nichts sage und ihn unvermittelt ansehe, fährt er fort: "Ich kann das einfach nicht mehr. Mit einer Frau zusammen leben, mit ihr ein Bett zu teilen und auf heile Familie zu machen, während ich mit den Gedanken ständig wo anders bin." Seine letzten Worte zittern. Er meint wohl mit den Gedanken bei mir? So ernst das Thema auch ist, ich bekomme das Lächeln nicht los, das sich mir ins Gesicht zwing. Sieht er endlich ein, dass er mit Frauen nichts anfangen kann, dass es mit mir einfach viel besser ist?

"Sie ist eine tolle Frau, die Beste, die man sich wünschen kann, aber ..." Er schweigt und schluckt seine letzten Worte, wie einen schweren Kloß im Hals hinunter. Ich kann über ihn nur mit dem Kopf schütteln. Wir sind unter uns und trotzdem kann er nicht aussprechen, dass er auf Männer und nicht auf Frauen steht. Seine Finger krallen sich um das Lenkrad fest, die Stirn legt er in tiefe Sorgenfalten. Es wird still, unerträglich still. Wenn mir doch nur etwas einfallen würde, was ich sagen kann, doch ich habe den Eindruck, er ist noch lange nicht fertig.

"Die Idee mit dem Urlaub kam von mir", sagt er schließlich bestimmt, "Ich will mit dir allein sein. Weg von den Frauen und den Menschen, die uns umlegen wollen. Wenigstens für ein paar Tage, will ich mir keine Sorgen um unsere Sicherheit machen müssen und dich einfach für mich haben. Bevor einer von uns beiden den Löffel abgibt, will ich wenigstens noch einmal etwas schönes erlebt haben." Tonis Augen werden gläsern. Geht ihm das denn wirklich so nah?

Etwas schönes erleben, nur mit ihm? Auch mein Blick trübt sich jetzt. Auf so etwas zu hoffen, habe ich schon längst aufgegeben.

"Du hast recht! Wir haben uns ein bisschen Urlaub verdient", stimme ich ihm zu und hole die Karten wieder aus dem Fach. Sonne, Strand und Toni in Badehose. Ich grinse breit. Dafür hat es sich doch gelohnt, diesen ganzen Dreck zu überleben.

~Zweisamkeit~

Was für eine Bruchbude. Ein Bett mit fleckigen Bezügen, ein kleiner Tisch und ein einzelner Stuhl mit verschieden hohen Beinen. Die Tapete wirft große Blasen, an einigen Stellen ist sie bereits abgerissen und gibt den blanken Putz frei. Auf den Dielen liegt eine dicke Staubschicht ebenso auf dem Regal an der rechten Wand und auf den beiden Nachttischen.

"Es ist ja nur für eine Nacht", höre ich Toni hinter mir sagen. Das ist schon eine Nacht zu viel. Während ich mich weigere einzutreten, drängt er sich an mir vorbei und geht zum Bett. Laut gähnend streckt er die Arme weit über den Kopf aus und lässt sich auf die dreckigen Bezüge fallen. Was er wohl die letzten Tage getrieben hat, um so müde zu sein?

"Jetzt steh da nicht wie angewurzelt, komm rein und schließe die Tür ab!", brummt er. Abschließen? Was hat er denn vor? In diesem Drecksloch vergeht mir selbst die Lust auf Sex mit ihm. Seufzend komme ich seinem Wunsch nach.

Irgendwie habe ich mir das hier ganz anders vorgestellt. Es gibt nicht mal eine Minibar, mit deren Hilfe ich mir das Zimmer schön saufen könnte. Seit wann beschafft uns Aaron eine so miserable Unterkunft? Bin ich in seinem Ansehen bereits so tief gesunken?

"Jetzt mach kein Gesicht, wie sieben Tage Regenwetter. Wir haben Urlaub!" Irgendwie fühlt sich das hier nicht so an. Meine Schuhe hinterlassen deutliche Abdrücke in der dicken Staubschicht und was sind das für braune Flecke dort neben dem Bett? Getrocknetes Blut? Sehr beruhigen. Wer weiß, wer hier schon alles abgeschlachtet wurde. Während ich auf das Bett zu halte, gleitet mein kritischer Blick an der offene Tür vorbei ins Badezimmer. Sind das Bartstoppeln dort im Waschbecken? Mir gruselt es bei der Vorstellung, wie wohl die Duschkabine aussehen mag.

Tonis warme Hand schließt sich um meinen Arm, mit einem Ruck zieht er mich zu sich aufs Bett. Erschrocken lande ich auf seinem Oberkörper und sehe ihn ungläubig an. Seine smaragdgrünen Augen lächeln versöhnlich.

"Ist es nicht egal wo wir sind, so lange wir uns haben? Brauchst du wirklich mehr?" Ich will mit einem entschiedenen -Ja- antworten, doch diese Augen, dieses Lächeln, dieser schöne Mund. Sein warmer Atem legt sich auf mein Gesicht, das dreckige Zimmer ist längst aus meinen Gedanken verschwunden. Er ist hier und ich bin es, wir sind allein, der Rest ist nicht wichtig. Beide Hände vergrabe ich tief in seinen seidigen Haaren und lege meine Lippen fordernd auf seine. Er schmeckt nach mehr, nach unserem wilden Leben, nach Freiheit. Seine Arme legt er über meinen Rücken und und drückt mich fest an sich. Ein jeher Schmerzt zuckt durch meinen Oberkörper und brennt sich durch meine Rippen. Scharf ziehe ich die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein und drücke mich reflexartig von ihm weg. Er mustert mich erschrocken und gibt mich augenblicklich frei. Auf den Knien über ihm hockend, richte ich mich auf und schlinge meine Arme um den Oberkörper. Einige Male atme ich aus und ein, bis es erträglicher wird und das Stechen zu einem steten Pochen abschwächt.

Toni mustert mich besorgt, doch ich seufze nur resigniert. Nicht mal der Spaß ist mir vergönnt.

"Tut mir leid!", stammelt er, während ich meine Arme vom Oberkörper löse. Da haben wir schon mal Urlaub und Zeit nur für uns und wegen dieser verdammten Verletzung ist an Sex nicht zu denken. Genervt rutsche ich von seinem Schoss und lege mich rücklings aufs Bett. Ich kann das Pochen in meiner Rippe noch immer spüren und lege schützend meinen Arm darüber, den anderen lasse ich auf meine Stirn fallen. Meinen Blick hefte ich an der Decke fest. Scheiß Tag!

Toni beugt sich über mich, seine grünen Augen funkeln mich begierig an. Hat er nicht begriffen, ich kann nicht. Als ich ihn warnend ansehe, ziert seine Lippen ein breites Grinsen.

"Ich kann dir doch trotzdem was Gutes tun."

"Und du?", kommt mir spontan über die Lippen. Seit wann will er auf sein eigenes Vergnügen verzichten?

Er lächelt nur, seine Finger wandern in meine Mitte, behände öffnen er den Gürtel und Reißverschluss. Erstaunt beobachte ich, wie seine Hand in meine Unterhose gleitet und er sich nah an mich schmiegt. Seine Lippen berühren meine, er küsst zärtlich, fast behutsam. Auch seine Hand in meinem Schritt ist sanft, nicht schnell und fordernd, wie sonst. Das ist neue und treibt eine Unruhe in mein Herz, die es immer schneller schlagen lässt. Toni und zärtlicher, uneigennütziger Blümchensex? Hat er so ein schlechtes Gewissen?

Ich denke zu viel nach. Verdammtes Kopfradio! Aber ich kann es nicht abstellen:

Ob er es irgendwann bereuen wird, für das hier, für mich, seine Familie verlassen zu haben? Ob er dann wieder verschwindet? Spätestens nach dem Urlaub, wird ihn das schlechte Gewissen einholen und Judy und Raphael werden das ihrige dazu beitragen, dass er erneut aus meinem Leben verschwindet.

Ich greife Tonis Hand und ziehe sie aus meiner Mitte.

"Hör auf!", bitte ich ihn.

"Warum?"

"Ich hab einfach keinen Kopf dafür." Toni mustert mich skeptisch, eine Mischung aus Enttäuschung und Sorge spiegelt sich in seinen Augen.

"Du hast schon die Nutte bei Erik abblitzen lassen und jetzt auch noch mich? Bist du krank?"

Das hat er mitbekommen?

"Seit wann schleichst du mir denn schon nach?"

"Ist das wichtig?", entgegnet er trocken.

"Ja!" Ich habe die ganze Zeit geglaubt, ihn nie wieder zu sehen, dabei schleicht er mir schon ewig hinterher, ohne sich zu erkennen zu geben. Zu welchem Sinn und Zweck?

"Was glaubst du denn, dass ich dir nachspioniere? Ich war oben beim Pokern und dachte du kommst zu uns, ich kann doch nichts dafür, wenn du mal wieder mit einer Nutte abziehst."

"Ach, jetzt ist es auch noch meine Schuld, dass du einfach abgehauen bist und Wochenlang nichts von dir hören lässt?"

"Verdammt Enrico! Wo ist denn dein Problem? Ich habe Anette und Kira verlassen, ich will mit dir wegfahren. Was willst du denn noch?" Zornig erhebt er sich und rutscht zum Bettrand.

"Wer sagt mir denn, dass du dir's im nächsten Moment nicht anderes überlegst?", entgegne ich angriffslustig und erhebe mich ebenfalls. Toni verschränkt die Arme vor der Brust und tritt ans Fenster. Er atmet hörbar durch und sieht hinaus auf die Straße. Muss er über diese Möglichkeit etwa nachdenken? Wütend starre ich ihn an und warte noch immer auf eine Antwort, doch er schweigt. Ich hasse es wenn er das tut.

"Jetzt sag gefälligst was dazu!", fordere ich. Wieder nichts, nur ein leiser Seufzer. Toni löst seine verschränkten Arme und sieht mich entschuldigend an.

"Es tut mir leid okay? Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir nicht stimmt. Das mit uns wollte ich so nie. Ich bin Vater und irgendwann wollte ich auch mal heiraten und ein guter Ehemann sein, aber ..." Wieder spricht er es nicht aus. Er sieht mich einfach nur an, als wenn er in mir etwas sehen kann, das nicht da ist. Es muss etwas schönes sein, denn er lächelt vorsichtig.

"Ich musste einfach ständig an dich denken. Ich fühle mich nur wohl, wenn ich bei dir sein kann."

Seine Worte lassen mich schwer Schlucken. Ist das sein Ernst? Ein Sturm an Gefühlen, die ich unter Kontrolle gebracht zu haben glaubte, bricht auf einmal über mich herein. Mir geht es doch nicht anders, wenn er nicht da ist, verlieren alle meine Bemühungen ihren Sinn. Aber dieses ständige hin und her mit ihm ...

"Ich hätte dich nach diesem ganzen Scheiß gebraucht, verdammt!", fluche ich und wende meinen Blick von ihm ab. Hat er überhaupt eine Ahnung davon, wie es sich angefühlt hat, nach seinem Verrat, noch einmal von ihm verlassen zu werden.

"Enrico ...", beginnt er beschwichtigend, doch ich bin noch nicht fertig.

"Dieses verdammte Leben ist ohne dich nicht zu ertragen. Ich habe einfach nur Angst, dass du im nächsten Moment verschwunden bist oder mich wegstößt, weil dir Anette und Kira wieder einfallen. Ich brauche dich, du verdammter Idiot! Merkst du das nicht?", schreie ich ihn an, doch er lächelt nur versöhnlich und kommt die wenigen Schritte, die uns trennen, zu mir. Er nimmt mein Gesicht in beide Hände, sein Blick richtet er voller Zuneigung auf mich.

"Ich liebe dich!", haucht er mir auf die Lippen und küsst sie. Dieser verfluchte Drecksack! Wie soll ich ihm denn jetzt noch böse sein? Ich kann einfach nicht anders, als seine Nähe zu genießen, seinen wilden Duft, die weichen Lippen.
 

Mein Magen knurrt laut. Das Geräusch schreckt uns gleichermaßen auf und lässt uns den Kuss unterbrechen. Tonis sieht mich erst fragend, dann vorwurfsvoll an.

"Wie lange hast du schon nichts gegessen?", will er ernst wissen. Ich weiche seinem mahnenden Blick aus und antworte verlegen: "Seit Gestern früh?" Die Kekse bei Raphael waren meine letzte Mahlzeit gewesen. Toni schüttelt resigniert mit dem Kopf.

"Dann lass uns was essen gehen", schlägt er vor. Ich nicke zustimmend und folge ihm, als er sich in Bewegung setzt. Die Tür unserer heruntergekommen Unterkunft werfe ich nach uns in Schloss. Bleibt zu hoffen, dass wir auf den Bahamas eine besseres Zimmer haben werden.
 

Für den schnellen Hunger reichen mir Hotdogs. Der Verkäufer ist der Selbe, bei dem wir waren, bevor wir Vincent umlegten. Er strahlt uns fröhlich an und verstaut das Kleingeld in seiner großen Geldbörse. Scheinbar sind wir seine besten Kunden, den er freut sich immer, wenn er uns sieht. Was sicher auch an dem einen Doller Trinkgeld liegt, den er immer von mir bekommt, aber seine Hotdogs sind nun mal die besten in ganz New York.

Abseits des Standes und aus Hörweite des Mannes, lasse ich mich auf einer Parkbank nieder und vertilge gierig meinen zweiten Hotdog. Mir wird erst jetzt bewusst, wie hungrig ich die ganze Zeit gewesen bin. Das hier wird sicher nicht mein letzter Hotdog bleiben.

Toni setzt sich auf die Lehne der Bank, mit den Füßen auf der Sitzfläche. Er hat sich nur einen Hotdog geholt und beißt gerade zum ersten Mal in das Würstchen. Wenn er sich nicht beeilt, werde ich ihm den noch vor der Nase weg klauen. Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln.

Doch Toni bemerkt meinen gierigen Blick nicht, er sieht in die fernen Baumkronen und scheint über irgendetwas nachzudenken. Er vergisst sogar das Essen dabei und merkt noch nicht einmal, dass ich ihm das Hotdog aus der Hand nehme. Als ich ihn genussvoll verschlinge, warte ich die ganze Zeit auf ein mahnendes Wort von ihm, doch er brauch eine gefühlte Ewigkeit, den Diebstahl zu bemerken. Erst als ich mir den letzten Bissen des Brötchens in den Mund schiebe, sieht er auf seine leere Hand und von ihr zu mir. Sein Gesicht verzieht sich zu einem grimmigen Ausdruck. Während ich ihn frech ansehe, holt er aus und gibt mir einen Klaps auf den Hinterkopf. Ich brumme in mich hinein und reibe über die getroffene Stelle, dann müssen wir beide lachen.
 

So lange war ich nicht mehr fröhlich und ausgelassen, dass es sich irgendwie ungewohnt anfühlt. Meine Wangen schmerzen von dem Dauergrinsen, das ich seit Tonis Rückkehr im Gesicht trage und mein voller Magen rumort beim Lachen.

Doch als wir uns wieder beruhigt haben, betrachte ich ihn kritisch.

"Worüber hast du nachgedacht?", will ich wissen. Er leckt sich den Ketchup von den Fingern und versinkt wieder in Gedanken. Es braucht ewig, bis er mir antwortet: "Aaron ist richtig sauer auf dich. Er hat irgendwas wegen Giovanni erzählt, aber ich bin nicht schlau daraus geworden. Was hast du ausgefressen?" Mit seinem letzten Satz, sieht er mich mahnend an. Ich rolle mit den Augen und weiche seinem Blick aus. Nun bin ich es, der zu den fernen Baumkronen stiert. Wo soll ich bloß anfangen. Seit er verschwunden ist, haben sich die Ereignisse einmal mehr überschlagen.

"Ich bin mir sicher, das Giovanni der wahre Drahtzieher hinter dem Anschlag vor fünf Jahren ist und auch die beiden Attentate der letzten Tage gehen auf sein Konto. Ich kann es nur nicht beweisen."

"Hast du Aaron das so gesagt?" Ich werfe einen flüchtigen Blick zur Seite.

"Ja!"

"Idiot! Jetzt ist Giovanni gewarnt." Ich atme hörbar durch. Toni hat ja Recht, aber ich war so sauer, als Aaron den Dreckskerl in Schutz genommen hat.

"Ich weiß, das war dumm von mir", murre ich kleinlaut. Toni seufzt und lehnt sich ein Stück zurück. Sein Blick geht in den dunklen Himmel. Kein einziger Stern ist heute Nacht zu sehen.

"Manchmal intervenierst du noch immer, wie ein Grünschnabel. Du lässt dich viel zu sehr von deinen Gefühlen leiten. Lass dir nicht immer so viel in die Karten schauen!"

"Tze...", brumme ich abschätzig und kann meinen Blick dabei nicht von ihm lassen. Von meinen Gefühlen leiten, ja, besonders wenn es um ihn geht.

"Was schaust du denn so?", will er verwirrt wissen, als er sich meines eindringlichen Blickes bewusst wird.

"Sei doch froh, dass ich meinem Herzen viel öfters nachgebe, als meinem Verstand!" Ich lege etwas herausforderndes in meinen Blick, doch Toni rollt nur mit den Augen und wendet sich ab.

"Idiot!", murrt er, doch ich kann die Ansätze eines Lächeln in seinen Mundwinkeln aufblitzen sehen.

"Bist du jetzt satt? Können wir zurück? Ich wollte noch ein paar Stunden pennen, bevor das Schiff morgen ausläuft", lenkt er schließlich vom Thema ab. Das Stechen in meinem Magen ist tatsächlich verschwunden und nachdem ich auch noch Tonis Hotdog verdrückt habe, bin ich voll bis obenhin. Dann eben zurück in diese Drecksunterkunft, ein bisschen Schlaf nachholen, kann nicht schaden.
 

Als wir eine halbe Stunde später im Bett liegen und ich mich bereits unter meiner Decke eingerollt habe und kurz davor bin einzudösen, scheint Toni noch immer hell wach zu sein. Sein Blick ruht unentwegt auf mir, immer wieder höre ich ihn leise seufzen. Ich bin mir nicht sicher, ob er das aus Erleichterung tut, oder weil ihm etwas zu schaffen macht, also öffne ich meine müden Augen, um nach ihm zu sehen. Er liegt auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sein Blick wandert von mir an die Zimmerdecke, doch es ist zu dunkel, um seine Gesichtszüge erkennen zu können.

"Was hast du?"

"Ich dachte du schläfst schon", entgegnet er leise.

"Was ist los?"

"Es ist seltsam ..."

"Was denn?"

"Wenn ich mit Anette in einem Bett liege, bin ich froh, wenn sie eingeschlafen ist und mich in Ruhe lässt. Manchmal geh ich schon früher ins Bett, damit ich eingeschlafen bin, bevor sie dazu kommt, oder später, damit sie schon schläft. Am Morgen muss mich dazu zwingen, nicht sofort aufzustehen, wenn wir wachen werden und sie kuscheln will. Bei dir ist das anders. Ich seh dir gern beim Schlafen zu, dann ist alles so still und friedlich in mir. Ich hab mir nie die Zeit dazu genommen, das zu genießen, weil ich ständig Angst hatte, jemand kommt ins Zimmer und merkt etwas davon." Wusste ich es doch, dass er das Fenster mit voller Absicht stets offen gelassen hat. Er wollte das ich zu ihm komme. Idiot! Mit der Hand fahre ich unter seine Decke und lege meinen Arm auf seinen Brustkorb, mit dem Kopf auf seiner Schulter schließe ich wieder die Augen. Er umarmt mich, seine Lippen berühren meine Stirn. Ganz egal das uns dutzende Mörder im Nacken sitzen, das Aaron sauer auf mich ist und das Zimmer eine einzige Katastrophe: Ich fühle mich so geborgen und sicher, dass ich nicht mehr gegen die Müdigkeit ankomme.

"Ich liebe dich", haucht er mir in die Haare, bevor ich in einen tiefen Schlaf falle.

~Zu spät~

"Verdammt!", dröhnt es in meinen Ohren. Ich spüre wie sich mein Geist aufzuklären beginnt, doch ich wehre mich dagegen. Bloß nicht aufwachen, ich will noch weiter von Tonis Rückkehr träumen. Wenn ich die Augen öffne, ist alles vorbei. Doch wer auch immer so laut ist, rüttelt nun erbarmungslos an mir und holt mich immer mehr und mehr in die wirkliche Welt zurück.

"Verdammt Enrico wach auf! Wir haben verpennt!" Verpennt? Ich hab doch gar keine Termine heute. Zaghaft blinzle ich in das grelle Tageslicht. Es ist mitten am Tag, meine Geschäfte finden in der Nacht statt, es gibt keinen Grund jetzt aufzustehen.

"Geh weg!", murre ich noch im Halbschlaf und stoße die Hände von mir. Eine heftige Erschütterung geht durch die Matratze, irgend etwas ist neben mich gefallen. Ein resigniertes Seufzen ist zu hören.

"Ach, scheiß drauf! Es ist sowieso schon längst zu spät." Zu spät, aber wofür? Mit einem Mal holt mich die Erinnerung wieder ein, wir wollten das Schiff auf die Bahamas nehmen. Ich reiße die Augen auf und sehe Toni neben mir sitzen. Er betrachtet ungläubig seine Armbanduhr.

"Wie spät ist es denn?", presse ich heraus.

"Zwei Uhr Nachmittags", seufzt er und schließt die Augen, den Kopf legt er in den Nacken. Gegen zehn Uhr waren wir wieder im Hotel, höchstens eine Stunde später sind wir eingeschlafen. Das bedeutet wir haben ganze fünfzehn Stunden gepennt? Das kann ich nicht glauben und sehe selbst auf die Uhr. Tatsächlich vierzehn Uhr. Wir haben nicht nur unser Schiff verpasst sondern auch den halben Tag verschlafen? Das sieht uns ähnlich, da wollen wir einmal Urlaub machen und dann das. Ich beginne zu schmunzeln und kann schließlich nicht anders, als einfach darüber zu lachen.

"Was ist daran denn bitte so lustig?", brummt Toni.

"Wir und Urlaub auf den Bahamas? Das musste doch schief gehen", lache ich weiter.

"Ha, ha, sehr witzig!" Traurig schaut er vor sich hin, er hat sich wirklich auf diesen Urlaub gefreut, doch ich kann nicht aufhören zu lachen, bis ich davon Bauchschmerzen bekomme und mir die Tränen in die Augen steigen. Er hingegen schaut immer grimmiger drein. Ich versuche meine Fassung wieder zu finden und wische mir die Tränen vom Gesicht, doch meine Fröhlichkeit lasse ich mir nicht nehmen.

"Jetzt mach kein Gesicht, wie sieben Tage Regenwetter. Hast du nicht gestern noch gesagt, es ist egal wo wir sind, Hauptsache wir haben uns?" Toni murrt, sagt aber nichts mehr. Sein finstere Mine bleibt. Dieser alte Griesgram. Ich drehe sein Gesicht am Kinn zu mir und drücke ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Fast unmerklich hellen sich seine Gesichtszüge ein wenig auf.

"Scheiß auf die Bahamas, lass uns einfach in dein Auto steigen und fahren bis der Tank leer ist", schlage ich vor.

"Aber ich hab kein Geld mehr." Das ist ein berechtigter Einwand. Auch meine Reserven sind aufgebraucht und gänzlich im Mithnigthsclub versickert.

"Uns wird schon was einfallen. Notfalls klauen wir uns alles nötige."

"Na schön und wohin soll die Reise gehen?"

"Warum hauen wir uns nicht auf Long Beach ein paar Stunden in die Sonne?", schlage ich vor und streife mir die Klamotten vom Vortag über.

"Für den Anfang nicht schlecht, aber ich wollte mal raus aus New York." Toni nimmt sich seine Sachen, die er akkurat auf dem Tisch zusammen gelegt hat und zieht sich ebenfalls an. Mal raus aus New York, das ist kein schlechter Vorschlag. Es gibt da sogar jemanden, bei dem wir vielleicht unter kommen können.

"Was hältst du von Miami Beach? Ich hab da noch nen alten Freund, der mir einen Gefallen schuldig ist. Der hat irgendwo am Strand ein Ferienhaus." Tonis beginnt zu grübeln und je länger er nachdenkt, um so größer werden die Sorgenfalten auf seiner Stirn.

"Meinst du den Spinner, der vor acht Jahren an unserem Rennen teilgenommen hat?"

"Ja, der exzellente Fahrer, der dich in der letzten Kurve noch geschlagen hat“, erinnere ich ihn. Toni verschränkt die Arme und schaut wütend.

"Der Scheißkerl hat mich gerammt!" Ich zucke nur mit den Schultern.

"Es gab keine Regeln!" Wieder schaut er finster. Das Rennen verloren zu haben, scheint noch immer an ihm zu nagen.

"Unter einer Bedingung", meint er schließlich. Ich sehe ihn fragend an, während ich mir das Hemd zuknöpfe.

"Keine illegalen Rennen, ich will Urlaub und keinen Stress mit den Bullen!" Schade, dabei habe ich den Spaß fest mit eingeplant. Bittend sehe ich Toni an. Wenigstens eines?

"Enrico!"

"Na schön! Keine Rennen", gebe ich seufzend nach.
 

Am Empfang der Halle bitte ich den zerknitterten Mann hinter der Theke um ein Telefonat. Er reicht mir den Apparat über den Tresen und widmet sich seinen Geschäftsbüchern. Jacks Nummer habe ich in einem dicken Telefonbüchern nachgeschlagen, bleibt zu hoffen, dass sie aktuell ist. Nachdem mich die freundliche Dame am anderen Ende der Strippe weitergeleitet hat, tut sich lange Zeit nichts. Lediglich ein gleichbleibendes Tuten ist zu hören. Unser Ausflug nach Miami Beach scheint wohl ebenfalls ins Wasser zu fallen. Oder habe ich vielleicht den falschen Smith erwischt. Ich will den Hörer gerade zurück auf die Gabel legen und eine andere Nummer wählen, als sich eine verschlafene Stimme meldet: "Bei Smith!" Ich beginne zu lächeln. Jacks rauchige Stimme habe ich sofort wieder erkannt, es ist also doch die richtige Nummer.

"Jack du altes Haus, sag bloß du pennst noch? Hast du mal auf die Uhr gesehen?"

"Wer ist denn da?"

"Enrico River!" Für einen Moment wird es still in der Leitung. Ich kann förmlich hören, wie es in Jack zu arbeiten beginnt, während er versucht den Namen einzuordnen.

"Enrico? Verdammt, du lebst also wirklich noch? Und ich dachte es wären nur Gerüchte!" Überrascht betrachte ich das aufgeschlagene Telefonbuch. Die Kunde meiner Rückkehr hat sich bis nach Miami verbreitet?

"Schön von dir zu hören, aber warum rufst du an?", will Jack direkt wissen.

"Ich wollte wissen wie's dir so geht!", lüge ich nicht besonders geschickt.

"Ja, genau! Komm schon, was brauchst du?" Na schön, dann sparen wir uns eben die Höflichkeiten und kommen gleich zum Wesentlichen.

"Hast du noch das Ferienhaus am Strand?"

"Ja?"

"Ist es im Moment frei?"

"Sag bloß du willst bei uns Urlaub machen?"

"Gut geraten!"

"Das Haus habe ich vermietet, aber du wirst eh mindestens drei Tage bis hier her brauchen. Bis dahin kann ich das regeln. Kommst du allein?"

"Nein, ich wollte dich mit Toni zusammen überfallen."

"Ernsthaft? Du bringst die Spaßbremse mit? Und was ist mit deiner Frau?"

"Das Gezeter von ihr, tu ich mir doch nicht auch noch im Urlaub an!" Jack lacht auf, ich kann mir sein breites Grinsen bildlich vorstellen.

"Familie war noch nie dein Ding, was? Hattest du dich nicht in der Zwischenzeit auch vermehrt gehabt?"

"Ja, leider! Was glaubst du denn, warum ich Urlaub brauche?"

"Dir ist echt nicht zu helfen. Du kannst froh sein, dass es überhaupt eine Frau mit dir aushält."

"Was ist jetzt, können wir vorbei kommen, oder nicht?", will ich endlich wissen. Das Gerede über Frau und Kinder verdirbt mir die Urlaubsstimmung. Ich will nicht darüber nachdenken, dass ich sie einmal mehr zurück lasse. Sie können sicher auch Urlaub gebrauchen, aber ich will mit Toni allein sein.

"Ja, von mir aus, komm vorbei, meinetwegen auch mit der Spaßbremse. Wir müssen den Kerl ja nicht überall hin mitnehmen!" Bei Jacks letzten Worte muss ich schmunzeln. Ich habe gerade genau das Selbe gedacht. Was ist schon ein Urlaub bei Jack, wenn ich nicht wenigstens bei einem seiner Rennen mitfahre. Toni muss ja nicht alles wissen.
 

"Und?", will mein Leibwächter von mir wissen, als ich aufgelegt habe. Eine Wolke kaltem Zigarettenqualms schlägt mir entgegen, als er zu mir kommt.

"Wir können vorbei kommen!", sage ich nur. Toni mustert mich skeptisch, er scheint zu ahnen, das wir über mehr gesprochen haben, doch ich habe nicht die Absicht, ihm davon zu erzählen.

"Ich will meine Ruhe haben!", brummt er warnend.

"Ja, ja!", entgegne ich knapp und lege dem Mann hinter dem Tresen einige Münzen auf die Theke, die für das Telefonat reichen sollten.
 

Wenig später sitzen wir im Auto Richtung Miami und ich betrachte gedankenversunken die vorbeiziehenden Häuser. In der Ferne glänzt der Ozean und einige Dampfer ziehen vorbei. Auf einem davon hätten wir sein können. Irgendwie ist es schon schade um die teuren Tickets und das bezahlte Hotel.

Dunkler Rauch, pechschwarz wölbt sich über den Hafen. Was ist das? Die vorbeiziehenden Häuser versperren mir immer wieder die Sicht und trotzdem hebt sich die dunkle Rauchsäule deutlich zwischen ihnen ab. Ob dort etwas brennt?

"Da fackelt irgendwas ab!", sage ich und kann meinen Blick nicht von dem schwarzen Rauch lassen.

Toni schaut von der Straße zum Hafen, er nickt verstehend.

"Vielleicht ein Dampfschiff dem der Kessel geplatzt ist", vermutet er und zuckt mit den Schultern. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich, wenn ich daran denke, dass es vielleicht unser Schiff ist, dass dort in Flammen steht. Ach, Blödsinn! Das ist schon vor Stunden ausgelaufen, versuche ich mich zu beruhigen und wende meinen Blick ab. Das alles geht uns nichts an. Bald sind wir in Miami, weit weg von allem, was uns gefährlich werden kann.

~Zweikampf im Maisfeld~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Runde Zwei~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Mit den Reizen einer Frau~

Als die Sonne am Abend unter geht, liegen wir auf dem gemütlichen Bett. Mit dem Kopf auf Tonis Oberkörper betrachte ich die untergehende Sonne, durch die offene Verandatür. Wir haben nicht viel mehr getan, als hin und wieder im Meer zu schwimmen und uns in der Sonne aufzuwärmen und trotzdem habe ich nicht das Gefühl, die Zeit vergeudet zu haben. Nur eine Sache schwirrt mir immer wieder durch den Kopf. Wie wäre wohl ein Leben nur mit ihm? Ob Toni schon mal darüber nachgedacht hat? Kann er sich überhaupt vorstellen, mit mir zusammen zu sein, so richtig fest?

"Schade, dass wir nicht für immer hier bleiben können", sagt er irgendwann. Ich lächle bitter. Ja, wirklich schade, hier gibt es nur uns, wir haben das ganze Haus für uns allein. Selbst das Bett müssen wir uns teile, denn es gibt nur dieses eine. Irgendwie ist es schon so, als wenn wir ...

"Sag mal, kannst du dir vorstellen, das du und ich, also nur wir allein ..." Ich finde einfach nicht die richtigen Worte. Toni zieht eine Augenbraue hoch und schaut mich skeptisch an.

"Worauf willst du hinaus?" Ich seufze und weiß noch immer nicht, wie ich mich ausdrücken soll.

"Ach schon gut, vergiss es." Toni belächelt mich amüsiert.

"Das ist voll niedlich."

"Was denn?" Ich verstehe nicht, was er meint und drehe mich zu ihm.

"Du wirst nur bei mir so verlegen." Ich kann spüren, wie mir die Hitze in den Kopf steigt. Was muss er mich auch noch damit aufziehen?

"Idiot!", schimpfe ich.

"Jetzt sei doch nicht gleich so beleidigt und lass mir meinen Spaß. Es ist so selten, dass ich den großen, weißen Wolf mal sprachlos erlebe." Ich funkle ihn grimmig an. Er macht es nicht besser, mit seinen dummen Sprüche. Als ich ihn auch weiterhin böse ansehe, wird sein Grinsen kleiner und schließlich meint er ernst: "Was wolltest du mich fragen?"

Ich ringe mit mir. Soll ich das wirklich ansprechen? Es ist doch sowieso nicht möglich und nur ein Gedankenspiel und trotzdem, ich wüsste so gern, was er darüber denkt. Den dicken Kloß in meinem Hals, schlucke ich hinunter und versuche mich in einer neuen Formulierung: "Ich frag mich nur ... wenn die Umstände anders wären, könntest ... könntest du dir vorstellen mit mir zusammen zu ... wohnen?" Er schaut skeptisch.

"Wir wohnen doch schon in der alten Fabrik zusammen."

"Das meine ich nicht!", mein Gesicht ist noch heißer geworden, "Jetzt mach's mir doch nicht so schwer, du weißt doch was ich sagen will."

"Du meinst, ob ich deinetwegen, von aller Welt gehasst und verabscheut, in den Knast wandern will, nur weil wir so was, wie ne Beziehung haben?" Warum muss er es nur so deutlich auf den Punkt bringen? Ich weiß auch, dass wir laut Gesetzt schon für den Sex hinter Schloss und Riegel gehören. Wütend drehe ich mich von ihm weg und will gehen, doch er lässt meinen Arm nicht los.

"Enrico", lacht er amüsiert. Ihm macht es wirklich Spaß, mich aus der Fassung zu bringen, doch als ich mich zu ihm drehe und er weiter spricht, ist er wieder ernst, "Wenn uns nicht vorher Aaron abknallen würde, würde ich gern meine Zelle mit dir teilen." Wirklich? Skeptisch betrachte ich ihn, doch er lächelt. Ich kann nichts gegen das Grinsen tun, dass sich auf meinen Lippen ausbreitet. Als er mich zu sich zieht, gebe ich ihm kampflos nach. Seine Lippe legt er auf meine, sein Kuss ist sanft und lässt mich vergessen, warum ich je an ihm gezweifelt habe.
 

Irgendwann müssen wir eingeschlafen sein, denn ich finde mich in einem Alptraum wieder:

Toni steht vor mir, die Fäuste geballt, sein Blick eiskalt. Er schlägt zu, immer und immer wieder, ohne Gnade.

Ich schreie, weine, flehe ihn an aufzuhören, doch er tut es nicht. Ich bekomme keine Luft mehr, muss immer wieder erbrechen.

Alles ist voller Blut, voll mit meinem Blut.
 

"Enrico, jetzt wach schon auf!"

"Ahhh!" Ich höre mich selbst schreien und reiße die Augen auf. Als ich mich umsehe, sitze ich bereits im Bett. Mein Atem rast, ich zittere am ganzen Körper und umschlinge mich selbst. Mein Haut brennt, als wenn sie in tausend Stücke zerreißt. Jemand hat meine Oberarme fest gepackt, ich spüre einen forschenden Blick auf mir. Diese Augen, seine eiskalten Augen durchbohren mich. Ich will weg, will flüchten und mich retten, doch ich kann mich nicht bewegen. Wie erstarrt, sehe ich in das Gesicht, dass mir so nah ist.

Er schaut nicht mehr kalt, sondern genervt und müde, in seiner Stimme kämpft Ratlosigkeit gegen Sorge: "Mensch, Enrico du musst doch auch mal schlafen!"

Schlafen? Habe ich nur geträumt? Helles Tageslicht scheint mir ins Gesicht, es ist warm und angenehm. Ich bin im Schlafzimmer des Strandhauses, nicht in diesem grässlichen Käfig und er? Während der Schmerz langsam aus meinem Körper weicht, sehe ich Toni dabei zu, wie er sich zurück ins Kissen fallen lässt. Er legt den Arm über die Augen und atmet erschwert durch. Ich halte ihn wach, die ganze Zeit schon. Seufzend greife ich mir an die Stirn und atme durch. Verfluchte Alpträume. Warum hört das nicht auf? Ich kann das Zittern meines Körpers einfach nicht abstellen und glaube die harten Fausthiebe noch immer spüren zu können.

Toni atmet noch einmal schwer durch. Es ist bereits das vierte Mal, das er mich aufwecken musste.

"Tut mir leid", stammle ich und versuche wieder klar im Kopf zu werden. Alles nur geträumt, es ist vorbei.

Er sieht unter seinem Arm hervor und mich stumm an, während ich schweigend zurück schaue. Ich begreife immer noch nicht, wie er so brutal sein konnte? Egal, mit was man mich erpresst hätte, ich hätte es nie über mich gebracht, ihn tot zu prügeln. Niemals!

Toni streckt die Hand nach mir aus.

"Komm zu mir", fordert er mit kraftloser Stimme. Als ich nicht sofort reagiere, wiederholt er seine Aufforderung deutlicher: "Komm zu mir!" Ich seufze.

Von dem Monster, das mich fast getötet hätte, ist nichts mehr übrig. Seine Augen blicken leidend und sorgenvoll.

"Bitte!" Seine Hand lädt mich noch immer ein. Ich fahre mir durch die verschwitzen Haare und kämpfe gegen das warnende Gefühl in mir an, als ich mich zu ihm lege. Toni zieht mich auf seinen Oberkörper und legt seine Arme um meinen Rücken.

"Mach die Augen zu und versuch zu schlafen", rät er mir. Er ist warm und sein Geruch so vertraut. Warum nur beruhigt mich seine Nähe, obwohl er doch an allem schuld ist? Nur zögernd wage ich es die Augen zu schließen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in immer gleichmäßigeren Abständen. Ob er schon eingeschlafen ist?

"Toni?"

"Mhm?", murmelt er.

"Träumst du eigentlich auch davon?", will ich wissen. Bisher habe ich ihn noch nicht aus einem Alptraum wecken müssen. Er seufzt hörbar. Sicher ist er zu müde, um sich zu unterhalten, doch er zwingt sich trotzdem zu einer Antwort: "Jede Nacht." Ernsthaft? Warum schreckt er dann nie aus dem Schlaf hoch? Als ich ihn fragend ansehe, zieht er mich enger an sich und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren.

"Jetzt schau nicht so. Ich träume immer schlecht, das hebt mich nicht mehr an. Außerdem war ich die letzten Tage deinetwegen so fertig, dass ich mich an keinen Traum mehr erinnern kann." Will er mich damit etwa beruhigen? Ich schaue auch weiterhin skeptisch, doch er grinst nur.

"Vielleicht brauchst du ja nur 'Guten-Nacht-Sex', um richtig durchzuschlafen." Ernsthaft? Seit wann ist er der Lustmolch? Außerdem sind wir beide viel zu übermüdet dafür.

"Jetzt schau nicht so grimmig! Das war doch nur Spaß. Ich werde dich schon nicht im Schlaf vergewaltigen. Vielleicht! Eventuell!" Äfft er mich etwa nach? Das ist mein Spruch.

"Idiot!", brumme ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn er nur immer so locker drauf wäre, wie hier. Ich könnte mich daran gewöhnen.

"Wir sollten schlafen", schlägt er wieder vor und schließt die Augen. Es dauert nicht lange bis seine Atmung flacher und gleichmäßiger wird. Ich bin mir sicher das er eingeschlafen ist, als ich mich an seinen Oberkörper schmiege und die Augen schließe. Seine Arme legen sich eng um mich und hüllen mich in ein Gefühl der Geborgenheit ein, das ich längst verloren glaubte. Ich lächle zufrieden und wage es wieder einzuschlafen.
 

Wir schlafen bis Mittag und auch dann beginnt der Tag gemütlich. Frühstück, baden im Meer und noch eine Runde Dösen in der Sonne. Wir vergessen ganz, dass uns am Nachmittag Besuch erwartet.

Als ich nur mit Badehose bekleidet und mit einem Handtuch um den Hals, zurück ins Strandhaus komme, steht Jack im Wohnzimmer. Erschrocken betrachte ich ihn und die junge Asiatin an seiner Seite. Wen hat er da mitgebracht? Sie ist kaum älter als 19, ihr Sommerkleid umspielt die schlanke Taille seidig, die schwarzen Haare reichen ihr weit über die Schultern hinab bis zum Po. Sie mustert mich genau so eindringlich, wie ich sie. Ihr Gesicht ist außergewöhnlich hübsch und ihre Haut so weiß wie Schnee.

Ich schaffe es erst meinen Blick von ihr zu lösen, als Toni ins Haus kommt und erschrocken inne hält. Das fröhliche Lächeln, das er eben noch im Gesicht hatte, verschwindet und auch die Worte, die ihm auf den Lippen liegen, schluckt er hinunter. Sicher ist es etwas anzügliches gewesen und auch seine Haltung ist angespannt, als wenn er sich gerade noch zurückhalten konnte, mich von hinten zu überfallen.

Nach dem ich mich vom ersten Schock erholt habe, überkommt mich Wiedersehensfreude. Ich reiche Jack zur Begrüßung die Hand, er schlägt ein und lässt sich freundschaftlich umarmen. Als ich mich von ihm löse, liegt ein undurchsichtiges Lächeln auf seinen Lippen.

"Wie ich sehe, habt ihr euch schon eingelebt", stellt er fest und deutet auf die Asiatin an seiner Seite, "Darf ich vorstellen, meine Frau May." Sie nickt mir zu und beginnt mich von neuem zu mustern. Jack und verheiratet? Der Kerl hat in New York nichts anbrennen lassen, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er sesshaft geworden sein soll, andererseits bin selbst ich verheiratet. Ich reiche ihr die Hand: "Freut mich, mein Name ist Enrico und das ist Toni." Ich deute hinter mich. Die junge Frau faltet die Hände und verbeugt sich. Meine gereichte Hand ignoriert sie und sagt auch nichts zur Begrüßung. Ob sie überhaupt unsere Sprache spricht? Irgendwas an ihr ist seltsam, doch ich kann noch nicht erfassen, was genau. Als sie sich wieder aufrichtet, durchbohrt mich ihr Blick erneut.

"Setzen wir uns doch!", schlägt Jack vor und geht zum Sofa. Die junge Asiatin folgt ihm und schwingt ganze bewusst ihre Hüften, als sie an mir vorbei geht. Ob das Absicht ist? Sie schaut mit einem zuckersüßen Lächeln zurück und ich ertappe mich dabei, wie ich meinen Blick nicht von ihrem straffen Hintern lassen kann. Je länger ich sie betrachte, um so mehr kann ich verstehen, dass Jacks Wahl auf diese Frau gefallen ist. Selbst Judy kann ihr nicht das Wasser reichen.

Ich folge den Beiden zum Sofa und nehme im Sesseln platz. Währen Jack und May das Sofa für sich beanspruchen, bleibt nur Toni stehen. Er lehnt sich mit den Armen auf die Rücklehne meines Sessels und betrachtet May forschend. Irgendetwas beschäftigt ihn, doch jetzt ist nicht der richtige Moment ihn danach zu fragen.

"Also, was verschlägt euch nach Miami? Ihr seit doch bestimmt nicht nur auf Urlaub hier?" Jack lehnt sich lässig zurück, doch seine Hände ringen miteinander. Ist er etwa nervös? Dafür gibt es doch gar keinen Grund. May hingegen ist ruhig und ausgeglichen. Sie hat die Hände in den Schoss gefaltet und wirkt wie eine Requisite aus einem Film und trotzdem sind ihre Augen wachsam. Als ich meinen Blick noch einmal über ihre und Jacks Hände schweifen lasse, kann ich keinen Ring erkennen.

"Enrico?" Jack sieht mich ungeduldig an. Ich rufe mich aus meinen Gedanken zurück und versuche mich an seine Frage zu erinnern. Warum wir hier sind, will er wissen.

"Wir mussten einfach mal raus aus New York. Wegen der Wirtschaftskrise tobt dort das reinste Chaos. Wie laufen eigentlich deine Geschäfte?", versuche ich das Thema von uns abzulenken. Irgendwie ist mir nicht wohl bei diesem Zusammentreffen, besser ich gebe nur so viel Preis, wie unbedingt notwendig.

"Nun, ich bin auch nicht unbeschadet durch diese harten Zeiten gekommen. Meine Leute haben sich in alle Himmelsrichtungen zerschlagen und ich lebe nur noch von den Einnahmen, aus der Vermietung des Strandhauses und wie ihr euch denken könnt, hat kaum noch jemand was übrig, um Urlaub zu machen. Die Zeiten sind ..."

"Aber Geld für ne Hochzeit scheint über geblieben zu sein", fällt uns Toni ins Wort. Auch ihm scheinen die fehlenden Eheringe aufgefallen zu sein, denn seine Stimme ist herausfordernd erhoben. Jacks wendet den Blick ab, das aufgesetzte Lächeln verschwindet von seinem Gesicht. Händeringend scheint er nach den passenden Worten zu suchen. Schließlich ist es May, die für ihn Antwortet. Ruhig und sachlich, ohne auch nur eine Mine zu verziehen, erklärt sie in einem eigentümlichen Akzent: "Bei uns ist es Tradition, das Vater der Tochter bezahlt Hochzeit. Mein Vater wohlhabender Mann in Heimat Japan. Er großzügiger Vater."

"Aber an den Ringen scheint er gespart zu haben", entgegnet Toni schroff. Damit ist die Katze aus dem Sack. Jack lehnt sich nach vorn und betrachtet den Boden, als er zerknirscht entgegnet: "Die Zeiten sind hart und da verkauft man auch das Symbol der Liebe." Jetzt tut mir mein anklagender Blick von eben fast leid. Im Moment kämpft einfach jeder ums Überleben und Jack bildet da keine Ausnahme.

"Ich kann dir unsere Anwesenheit hier nicht bezahlen, aber revanchiere mich, sobald meine Geschäfte angelaufen sind. Versprochen!" Jack sieht wieder auf. Er lächelt nervös.

"Danke!", entgegnet er mit bebenden Stimme. Toni schnaubt abfällig und dreht uns den Rücken zu.

"Und ihr kommen aus dem großen New York, hai? Wie ist es dort?", ist es wieder May, deren helle Stimme das Schweigen durchbricht. Ihre dunkelbraunen fast schwarzen Augen, versuchen mich erneut zu ergründen und auch ich versuche aus ihr schlau zu werden. Ihre rot bemalten Lippen sind zu einem anzüglichen Lächeln verzogen, als sie elegant die Beine übereinander schlägt und sich dabei die hochhackigen Schuhe von den Füßen streift. Versucht sie sich etwa an mich ran zu machen? Die ganze Zeit habe ich schon diese Gefühl. Von ihr schaue ich zu Jack, doch er stört sich nicht am Verhalten seiner Frau. Selbst als sie mit dem Fuß unter den Tisch fährt und mit ihren Zehen mein Bein hinauf wandert, verzieht er keine Mine, stattdessen erhebt er sich.

"Ich hab noch ein paar Getränke im Wagen liegen, die hol ich besser mal rein, bevor sie in der Sonne warm werden." Während er geht, wartet May noch immer auf eine Antwort von mir, doch ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an ihre Frage erinnern. Ihr lüsterner Blick und der zierlicher Fuß, der mein Bein immer weiter hinauf wandert, bringen mich völlig aus der Fassung. Als ich ihr nicht antworte und krampfhaft gegen das warme Gefühl in meinen Lenden anzukämpfen versuche, wird ihr Lächeln spöttisch.

"May ... May ... May Ling ...", flüstert Toni hinter mir, als wenn er sich krampfhaft an einen Namen zu erinnern versucht.

"Du bist wirklich leicht um den kleinen Finger zu wickeln. Ernsthaft unter dem weißen und schwarzen Wolf habe ich mir was ganz anderes vorgestellt." Der Akzent verschwindet gänzlich aus Mays Wortgebrauch.

"May Ling Grand", höre ich Toni sagen. Grand? Das ist der Familienname Michaels? Sind die beiden etwa verwandt? Toni dreht sich wieder zu uns, die Aufmerksamkeit der Asiatin ruht nun auf ihm. Sie richtet sich auf und meint: "Es ist lange her Bandel. Es wundert mich überhaupt nicht, dass du mich nicht sofort wiedererkannt hast. Wie alt waren wir damals? Du elf ich sechs Jahre?"

"Was willst du von uns?", faucht er. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und auch in mir wägst die Anspannung. Ob Michael sie geschickt hat? Als May in den Ausschnitt ihres Kleides greift, erhebe ich mich. Sie zieht eine Pistole und richtet sie auf mich. Verdammt! Wir sind beide unbewaffnet, unsere Pistolen liegen im Schlafzimmer.

"Ihr habt mein Spiel leider viel zu schnell durchschaut. Das passiert mir selten. Das ich heute Morgen auch diese blöde Sache mit dem Ring vergessen habe. Schade!" Das hier ist also alles geplant gewesen? Dann hängt Jack da auch mit drin? Das Aufheulen eines Motors ist zu hören, Reifen quietschen. Der Scheißkerl hat uns in eine Falle gelockt und macht sich jetzt aus dem Staub?

"Was willst du May?", knurrt Toni noch aggressiver.

"Jetzt entspann dich doch mal. Ich bin hier um mich mal in Ruhe mit deinem Chef zu unterhalten und du störst mich." Ich halte den Atem an und rechne jeden Moment damit, das sie Toni erschießt, doch May deutet nur mit der Waffe an, das er sich von mir entfernen soll. Zähneknirschend tritt er einige Schritte vom Sessel zurück. Die Asiatin dirigiert ihn in eine Ecke des Zimmers, die weit genug entfernt ist, um ihn gefahrlos erschießen zu können, sollt er sich uns nähern. Mein Blick wechselt von ihm zu ihr. Verdammter Dreck! Mir schlägt das Herz bis zum Hals, als May mit gezückter Waffe zu mir kommt und mich zu umrunden beginnt. Sie hält immer genau so viel Abstand, das ich einen Schritt auf sie zugehen muss, um ihr die Waffe abzunehmen. Zeit genug mich abzuknallen. Aus dieser Situation kommen wir nicht mehr raus. Mein Geist arbeitet auf Hochtouren, doch so lange sie im Besitzt dieser Pistole ist, will mir einfach nichts einfallen, um sie unschädlich zu machen. Ich werde ihr Spiel mitspielen müssen, so lange es auch dauern mag. May beendet ihren letzten Kreis und bleibt vor mir stehen. Die Waffe zielt auf mein Herz, ihre Lippen sind zu einem höhnischen Lächeln verzogen.

"Dafür, dass du meinem Vater ausgeliefert warst, scheinst du dich gut erholt zu haben. Das wird ihn freuen." Vater? Michael ist ihr Vater? Der Kerl hat ne Tochter? Fragend sehe ich zu Toni, der nur entschuldigend zurück sieht. Warum erfahre ich das erst jetzt? Mays durchbohrender Blick haftet auf mir, sie studiert meine Reaktion. Ich zwinge die Panik und Abscheu in mir zurück und bemühe mich sie ruhig und gefasst anzusehen, als ich mich wieder ihr zuwende. Mit festen Blick versuche ich all ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, um Toni einen Moment zum Handeln herauszuschinden. Laut und bestimmt, lasse ich sie wissen: "Du wirst uns nicht töten! Michael will uns lebend!" Das wollte er immer, den Spaß uns zu töten, wird er nicht mal seiner Tochter lassen. Oder? Mays Finger legt sich eng um den Abzug, sie verzieht den Lauf und drückt ab. Die Kugel gilt nicht mir, sondern Toni. Sie streift seinen rechten Arm. Er hat keinen ganzen Schritt aus seiner Ecke machen können. Verdammt, dieses Weib ist gut, viel besser als die Killer, mit denen wir es sonst zu tun haben. Toni greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den verwundeten Arm, innerlich fluchend tritt er den halben Schritt zurück.

Mays Aufmerksamkeit gilt wieder mir. Ihr Lächeln ist siegessicher und fröhlich, wie bei einem Kind zu Weihnachten.

"Es stimmt, töten darf ich euch tatsächlich nicht. Aber es spricht nichts dagegen euch die Kniescheiben zu zerschießen oder die Hände zu verstümmeln, wenn mir danach ist." Ich schlucke schwer bei ihren Worten. Sie steht ihrem Vater offensichtlich in nichts nach.

"Setzt dich!", fordert sie und ich tue, was sie sagt. Meine Finger kralle ich in die Armlehnen und schaue sie unentwegt direkt an, selbst zu blinzeln erlaube ich mir nicht. 'So und nun?' Frage ich sie stumm.

"Ich frage mich wirklich, warum alle immer so große Probleme mit euch beiden haben? Der da hinten wäre jetzt tot und dich hätte ich noch viel leichter im Schlafzimmer umlegen können." Tonis mahnender Blick gibt ihr Recht und auch ich muss einsehen, dass ich ihrem Charme fast erlegen wäre, aber das alles spielt jetzt keine Rolle.

"Komm auf den Punkt!", knurre ich. Ihr Gerede reizt mich mehr, als die Waffe in ihrer Hand.

"Ich habe eine Nachricht von meinem Vater für euch!" So weit war ich auch schon und weiter? Genervt schaue ich sie an und warte angespannt auf den eigentlich Grund ihres Überfalls.

"Er will, dass ihr umgehend zurück nach New York kommt und du deinen Schwur einlöst. Was auch immer das gewesen sein soll", meint sie und macht eine abfälligen Handbewegung. Ist das schon alles? Hat Michael etwa Angst, wir hauen ab? Bei dem Gedanken muss ich lachen.

"Den löse ich ein, nur keine Sorge!", entgegne ich ihr finster. Ob sie mich darum wohl gebeten hätte, wenn sie wüste, was ich geschworen habe?

"War das etwa schon alles?", ruft Toni dazwischen.

"Sei still, oder mein nächster Schuss wird ein Treffer!", brummt sie in seine Richtung, dann richten sich ihre dunklen Augen wieder auf mich.

"Es gibt da jemanden bei den Locos, der uns schon lange ein Dorn im Auge ist. An den wir aber bisher nicht nah genug ran gekommen sind und bevor der Kerl an die Spitze des Clans kommt, will mein Vater lieber einen Grünschnabel wie dich dort. Also wird das kleine Wölfchen jetzt hurtig in den heimischen Bau zurückkehren und dort aufräumen, bevor wir es tun." Irritiert sehe ich sie an. Wenn meint sie? Läuft in New York etwas, von dem wir nicht wissen? Und warum interessiert sich Michael überhaupt für die Strukturen innerhalb unseres Clans? Ich verstehe gar nichts mehr. Mays Gesicht ziert ein zufriedenes Lächeln. Mich zu verwirren scheint ihr zu gefallen. Sie tut den letzten Schritt der uns trennt und legt mir den Lauf der Waffe auf die Brust.

"Du machst das schon", spottet sie und schlägt mir zwei mal leicht auf die Wange. Wütend sehe ich in ihre dunkelbraunen Augen und nur der Lauf zwischen meinen Rippen hindert mich daran, ihr nicht an die Gurgel zu springen. Verfluchtes Weib! Verdammte Drachen! Selbst unseren Urlaub wissen sie uns zu vermiesen. Schon allein dafür fahre ich zurück und räume dort auf.

"So ihr beiden Turteltauben, war nett mit euch zu plaudern, aber die Pflicht ruft." May wendet sich um und geht rückwärts in Richtung Tür. Diese steht noch immer offen, Jack hat sie beim Gehen nicht geschlossen.

"Ihr beide zählt jetzt brav bis hundert. Verlässt einer vorher das Haus, vergesse ich, was ich meinem Vater versprochen habe." May verlässt rückwärts laufend das Haus und zieht die Tür nach sich zu. Glaubt sie ernsthaft, dass wir so lange warten werden?

"Hundert!", höre ich Toni meinen Gedanken aussprechen. Ohne zu zögern, stehe ich auf und laufe ins Schlafzimmer. Toni ist mir nur eine Schrittlänge voraus. Wir greifen beide die Waffen auf dem Bett und folgen May vor die Tür, doch von der Asiatin ist nichts mehr zu sehen. Keine Spuren führen vom Strand weg, keine Gestalt die ihrer ähnelt, läuft am Strand entlang. Alle Spuren führen zum Meer und dort sind nur zwei Schwimmer unterwegs. Wohin ist dieses Biest verschwunden? Ratlos sehe ich Toni an, der eben so verwirrt zurück schaut. Sein Gesicht ist bleich und schmerzverzerrt.

Das er verletzt wurde, wird mir erst jetzt wieder bewusst. Seine Finger umschließen krampfhaft die Schusswunde, Blut läuft seinen Arm hinab und tropft auf die Holzstufen.

"Zeig her!", fordere ich und schiebe seine Finger von der Wunde. Er beißt die Zähne fest aufeinander und wendet den Blick ab. Eine tiefe Wunde zieht sich quer durch seinen Oberarm. Ein Streifschuss, mehr nicht. Das herablaufende Blut lässt es schlimmer aussehen, als es tatsächlich ist. Trotzdem sollten wir nach Desinfektionsmittel und Verbandszeug suchen.

"Lass uns das behandeln und dann von hier verschwinden", schlage ich vor und gehe zurück ins Haus.

"Willst du etwa tun was sie sagt?" Toni folgt mir und sieht mich fassungslos an. Ich antworte ihm nicht. Was ich tun werde, weiß ich noch nicht. Das alles muss ich erst mal verarbeiten. Wir sind kaum eine Woche raus aus New York und schon holt uns dieser ganze Mist wieder ein. Verfluchte Drachen, verdammte Mafia! Ich wollte doch nur Urlaub machen.
 

Ich öffne den Spiegelschrank im Badezimmer, doch ich kann weder Desinfektionsmittel noch Mullbinden finden. Bisher ist mir im Haus auch kein Erste-Hilfe-Koffer oder etwas vergleichbares aufgefallen. Was nun? Als ich mich nach Toni umsehe, verschwindet er gerade im Schlafzimmer. Ich höre ihn die Schnallen seines Koffers öffnen. Als ich zu ihm gehe, packt er einen Erste-Hilfe-Koffer aus. Ob er damit gerechnet hat, dass wir nicht unverletzt durch diesen Urlaub kommen? Traurig!

"Lass mich das machen", schlage ich ihm vor.

Er überlässt mir das Verbandszeug mit einem dankbaren Lächeln. Selbst ein Flächen Desinfektionslösung hat er mitgenommen. Verrückter Kerl!

Ich ziehe eine der sterilen Kompresse aus ihrer Verpackung und tränke sie in der Lösung. Vorsichtig reinige ich damit seine Wunde. Toni sieht nicht zu, er zuckt auch nicht oder verzieht das Gesicht, dafür mustern mich seine grünen Augen unentwegt. Woran er wohl denkt? Wortlos lässt er sich den Verband anlegen. Für alles brauche ich nicht einmal eine Minute. Ich bin viel zu geübt in diesen Dingen. Wie oft habe ich das schon gemacht? Wie oft werde ich es noch tun müssen? Verdammt, es hat nicht viel gefehlt und wir wären drauf gegangen. Sollte Michael jemals sein Interesse an mir verlieren, sind wir tot, so viel steht fest.

Toni greift nach meinem Kinn und hebt es an. Er kommt mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spüren kann. Erschrocken schaue ich in seine grünen Augen und spüre die Hitze in meine Wangen steigen.

"Was machen wir jetzt?", will er ernst von mir wissen. Ich betrachte irritiert die Mordlust in seinen Augen. Für einen Moment habe ich geglaubt, er will mich küssen. Seufzend versuche ich meine Gedanken umzulenken. Ich wende mich von ihm ab und laufe zum Balkon, im Türrahmen bleibe ich stehen und sehe hinaus auf das Meer. Eine kühler Wind schlägt mir ins Gesicht, ich atme tief durch.

Laut May versucht jemand bei den Locos die Macht zu ergreifen. Das kann eigentlich nur Giovanni sein. Heißt das Aaron ist etwas zugestoßen? Seufzend verschränke ich die Arme. Wir haben keine Wahl, der Urlaub ist vorbei, wir müssen zurück.

"Wir fahren, aber erst wenn wir Jack beseitigt haben!" Ich werde nicht noch einmal den Fehler begehen, einen Verräter am Leben zu lassen. Meine Großzügigkeit hat ihre Grenze erreicht.

"Das ist doch mal ein Wort!" Toni kommt zu mir, er lässt die Knöchel seiner Fäuste knacksen.
 

Unsere wenigen Habseligkeiten haben wir schnell zusammen gepackt und im Kofferraum verstaut. Die Adresse diese Mistkerls habe ich noch im Kopf und auch den Weg dahin finde ich ohne große Probleme.

"Schnell und schmerzlos?", will Toni von mir wissen, als ich den Wagen parke.

"Nein! Ich will die Angst in seinen Augen sehen und wissen wieso." Toni seufzt und steigt aus. Ist ihm das Wieso denn völlig egal? Als er voraus geht, folge ich ihm und sehe mich in der Straße um. Zwei Autos weiter parkt der Wagen von Jack. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass wir der gestellten Falle lebend entkommen.

Die Haustür des mehrstöckigen Gebäudes steht weit offen, die Scheibe in ihrer Mitte ist eingeschlagen. Im Hausflur ist lautes Hundegebell und die harte Stimme eines Mannes zu hören, der versucht, das Tier zur Ruhe zu bringen. Hier wohnen zu müssen ist sicher kein Segen. Je weiter wir die dreckigen Stufen, auf der Suche nach dem richtigen Apartment hinauf steigen, um so weniger Sorgen mache ich mir, das einer der Nachbarn unsere Anwesenheit interessieren wird. Im zweiten Stock liegt ein Mann am Boden. Er lehnt an der Tür von Apartment 23. In seinem Arm steckt eine Spritze, in der rechten Hand hält er eine Weinflasche. Seine Gesichtszüge sind erstarrt, ich kann keine Bewegung seines Brustkorbes erkennen. Wenn noch Leben in diesem fahlen Körper steckt, dann sicher nicht mehr lange.

"Enrico!" Ich wende meinen Blick ab und sehe zu Toni. Er ist vor Apartment 25 stehen geblieben. Als ich zu ihm gehe, legt er die Hand über den Spion in der Tür und klingelt. In der Wohnung sind Schritte zu hören, die sich langsam nähern. Als Jack öffnet, ziehe ich meine Pistole.

Auf seinen Lippen liegt sich eine stumme Frage, die er zu verschlucken scheint, als er uns erkennt. Seine Augen weiten sich, aus seiner Kehle flieht ein undefinierbarer Laut. Den Lauf der Waffe drücke ich ihm in den Magen und lege ihm die Hand über den Mund. Energisch dränge ich ihn ihn ins Apartment. Jack hebt abwehrend die Hände, kleine Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn, sein Gesicht hat sämtliche Farbe verloren. Toni schlägt die Tür nach uns zu und richtet ebenfalls seine Waffe auf ihn. Im Augenwinkel verschaffe ich mir einen groben Überblick. Wir sind die einzigen Personen im Raum. Ein Tisch, ein abgenutztes Sofa und ein Sessel. Es gibt zwei Türen, eine führt ins Badezimmer die andere ist verschlossen. Es ist still, scheinbar ist er wirklich allein.

"Setzen!", fordere ich und zwinge ihn in den Sessel. Er gehorcht und stammelt: "Bitte, lass es mich erklären!" Ich sehe ihn auffordernd an. Seine Erklärung will ich noch hören, doch es wird ihn nicht retten. Das Kissen auf dem Sofa wird den Schall dämpfen, wenn ich ihm eine Kugel ins Herz jage. Toni durchquert den Raum, er bleibt vor einer Anrichte stehen, auf der eine Tasche liegt. Jacks Blick folgt ihm, er vergisst, was er sagen will, als Toni eine Bündel Geldscheine heraus zieht. Fünfzig-Dollar-Scheine und gleich dutzende davon.

"Hier haben wir unseren Grund", schlussfolgert er und wirft das Bündel in Jacks Schoss, dann nimmt er die Tasche und schüttelt noch weitere vier Geldbündel heraus. So viel Kohle, nur um uns ans Messer zu liefern? Ich packe Jack hart an der Schulter und schreie ihn wüten an: "Wie viel?" Er sieht mich verständnislos an, seine Augen mustern mich wild.

"Wie viel war dir unser Tod wert?", schreie ich noch lauter und presse ihn hart in denn Sessel. Er schluckt schwer, seine Lippen beben und bringen kein Wort heraus. Den Lauf der Waffe lege ich ihm an die Stirn und krümme den Zeigefinger um den Abzug. Jack beginnt zu zittern, immer mehr Schweißperlen rollen ihn von der Stirn.

"Du ... du verstehst das nicht. Ich stecke bis über beide Ohren in Schulden und diese Kerle verstehen keinen Spaß, die wollten mich ..."

"Glaubst du ernsthaft das interessiert mich? Für wenn hältst du uns eigentlich?"

"Wir sind noch viel schlimmer, als die Typen denen du Geld schuldest!", fällt Toni mir ins Wort. Er geht zum Sofa und nimmt sich eines der Kissen, kommentarlos wirft er es mir zu. Mit finsterem Blick drücke ich es Jack auf den Brustkorb und lege die Pistole darüber.

"Wir sind Wölfe, du verdammtes Arschloch. Wir sind es, die du fürchten solltest!"

"Nein! Nein! Nein!", stammelt er. Unbeeindruckt ziehe ich den Abzug und spüre den Rückschlag der Pistole. Jacks Mund formt eine stummen Schrei, seine Augen verdrehen sich ins Weiße. Als er seinen letzten Atemzug tut, wende ich mich von seiner schmerzverzerrten Fratze ab. Das Kissen rutscht ihm in den Schoss, während ein blutiger Rinnsal seine Brust hinab gleitet. Verdammte Verräter! Gibt es denn keine aufrichtigen Männer mehr? Ich habe ihn für vertrauenswürdig gehalten, doch scheinbar hat jeder seinen Preis. Mein Blick wandert zu dem Geldbündel in Jacks Schoss. Ich nehme es an mich uns zähle grob durch. Tausend Dollar, mit den anderen also Fünftausend. Nicht genug, um sich dafür umlegen zu lassen, aber ausreichend um uns durch die nächsten Monate zu bringen.

"Wir nehmen das Geld und verschwinden", schlage ich vor.

Toni hebt die Bündel auf, die er auf den Boden geworfen hat und verschafft sich ebenfalls einen groben Überblick. Ein freudiges Lächeln ziert seine Lippen, je mehr Scheine er zählt. Über die Heimfahrt brauchen wir uns nun keine Sorgen mehr machen.

"Einmal volltanken und ab nach Haus.", schlage ich vor und löse das Gummi, das die Scheine zusammen hält. Gemeinsam verstaue ich sie in meiner Geldbörse, dann verlasse ich das Apartment.

"Also ich wäre ja mehr für ein anständiges Frühstück." Toni folgt mir und zieht ebenfalls den Gummi von den Geldscheinen. Wie auf ein geheimes Zeichen hin, knurrt sein Magen. Ich schüttle amüsiert den Kopf.

"Du Heuschrecke!"

"Ach komm schon! Für das Blutgeld sollten wir uns was gönnen."

"Na schön, von mir aus." Auf die paar Stunden, mehr oder weniger, kommt es jetzt auch nicht mehr an. Immerhin haben wir uns die letzten Tage nur von altbackenen Donuts und Beagles ernährt. Mit der Kohle können wir im nobelsten Restaurant der Stadt speisen und auf der Heimfahrt in den teuersten Hotels schlafen. Wenn wir unseren Urlaub schon beenden müssen, dann zumindest stilvoll.

~Das Dach~

Für den Rückweg brauchen wir drei Tage, doch als wir New York erreichen, überkommt mich ein wehmütiges Gefühl. Nicht mal ganz zwei Tage haben wir am Strand liegen können, die restliche Zeit sind wir gefahren. Selbst im Urlaub haben wir einfach keine Ruhe. Mein Blick wandert zur Seite auf den Beifahrersitz. Toni hat die Augen geschlossen, er schläft schon seit gut einer Stunde. Den ganzen Tag ist er gefahren, erst als es dunkel wurde, haben wir getauscht. Ich will mit ihm noch gar nicht zurück in unser Leben, in das Chaos, das uns dort erwartet. Noch will ich nicht wissen, was es ist, das Michael uns auf diese seltsame Weise sagen will. Der Urlaub und die schöne Zeit, soll noch nicht vorbei sein. Die Häuser fliegen an mir vorbei, in der Ferne kann ich zwischen zwei Wohnblocks ein mehrstöckiges Haus herausragen sehen. Es ist verfallen, die Fensterscheiben eingeschlagen, an der Fassade fehlt großflächig der Putz. Das steht noch? Ein freudiges Lächeln überkommt mich. Ich schaue von dem Haus zu Toni. Er schläft noch immer, was er wohl sagen wird, wenn ich dort hinten und nicht vor dem Club parken werde. Wenigstens noch diese eine Nacht, wenigstens noch heute, bevor unsere Welt morgen wieder in Scherben liegt.

Ich nehme die nächste Abfahrt und verlasse den Highway.
 

Den Weg finde ich, ohne mich wirklich auf die Straßen konzentrieren zu müssen. Wir sind ihn so oft gegangen, als Kinder beinah jeden Tag. Hier, nicht weit von unserer Fabrik, lag dieser Ort der nur uns gehörte, an dem uns Raphael nicht finden konnte und an dem sich auch sonst niemand daran störte, dass sich zwei Jungen zugetan waren.

Ich stoppe den Wagen direkt vor dem verfallenen Haus und schaue an der Fassade hinauf. Es fehlen noch viel mehr Ziegelsteine, als ich es in Erinnerung habe. Die meisten Fenster sind mit Brettern vernagelt, und keine Fensterscheibe ist mehr intakt. Der Zahn der Zeit ist auch weiterhin unbarmherzig darüber hergefallen. Dabei ist es schon in unserer Kindheit eine Ruine gewesen und trotzdem wird mir immer wärmer ums Herz, je länger ich diesen Ort betrachte. Hier war mein Himmelreich und seines auch. Wieder schaue ich zu ihm. Ich bin so auf seine Reaktion gespannt, wenn er sieht wo wir sind. Aber soll ich ihn wirklich dafür wecken? Er ist gerade erst eingepennt, es ist schon unmenschlich ihn jetzt aus dem Schlaf zu holen, wo er doch so lange gefahren ist. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich rutsche auf meinen Sitz näher zu ihm und lege meinen Kopf an sein Ohr.

„Toni“, flüstere ich ihm zu, und streiche ihm sanft über die Wange. Er rührt sich nicht, ist sein Schlaf wirklich so fest?

„Toni“, versuche ich es noch einmal etwas lauter.

„Sind wir schon da?“, murmelt er verschlafen, ohne die Augen zu öffnen.

„Ja, sind wir.“ Meine Stimme zittert, in vorfreudiger Erwartung. Toni gähnt ausgiebig und streckt die Arme weit nach hinten über den Sitz. Verpennt schaut er durch die Frontscheibe hinaus und hat vom Gähnen Tränen in den Augen. Einen Moment lang schaut er einfach nur, dann klart sich sein Blick zunehmend auf und wird fragend. Er sagt nichts, sondern sieht an der Fassade hinauf. Schmunzelnd beobachte ich ihn dabei.

„Das gibt’s doch nicht! Es steht noch!“, ruft er schließlich. Ich lächle ihn fröhlich an.

„Was meinst du? Lassen wir alle Geschäfte mal sein und verbringen unsere letzte Urlaubsnacht auf unserem Dach?“ Auf Tonis sonst so ernsten Gesichtszüge, schleicht sich ein freudiges Lächeln, die Müdigkeit ist aus seinen Augen verschwunden und einem erwartungsvollen Strahlen gewichen. Er nickt zustimmen und steigt aus. Ich folge ihm und schlage die Wagentür nach mir zu. Gemeinsam kämpfen wir uns durch das hochgewachsene Gras und die unzähligen Sträucher, die das ganze Grundstück überwuchern. Obwohl es stockfinster ist, finden wir den Weg zur Feuerleiter problemlos, doch ob das alte, rostige Teil unser Gewicht aushält? Den Leitern fehlen etliche Sprossen und viele der Verschraubungen sind lose oder stark verrostet.

„Wollen wir es trotzdem wagen?“ Will ich von Toni wissen, der die Leiter eben so skeptisch betrachtet, wie ich.

„Wir müssen ja nur bis zum zweiten Stock kommen“, meint er und deutet nach oben. Mein Blick folgt seinem Fingerzeig. Das Fenster im zweiten Stock steht noch immer offen, alle anderen auf dieser Seite sind mit Brettern vernagelt. Wenn wir es bis dort hinauf schaffen, können wir ins Haus einsteigen und von dort weiter über das Treppenhaus hinauf. Ein Versuch ist es wert. Ich nicke zustimmend und klettere Toni nach, als dieser voraus geht. Die Leiter knarrt und ächzt unter uns, sie ist wacklig und jeder weitere Schritt in der Dunkelheit hinauf, wie eine Mutprobe. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, ein feuriges Kribbeln überzieh meinen Körper mit einer Gänsehaut. Diesen Weg habe ich deutlich stabiler in Erinnerung, immer wieder müssen wir große Lücken zwischen den einzelnen Streben überwinden. Ich bin heil froh, als wir endlich den zweiten Stock erreichen und durch das Fenster auf festen Boden gelangen. Auch hier ist alles Stockfinster, das wenige Licht, das von den Straßenlaternen herein fällt, wirft nur dunkle Schatten an die Wände und trotzdem. Ich kenne jeden Winkel hier. Rechts von uns steht ein großer Kamin. Im Winter haben wir hier und nicht auf dem Dach gelegen. Mit einem Feuer und etlichen Kerzen wurde es angenehm warm. Ob die Decken und Kissen, die wir uns damals zusammengeklaut und hier rauf gebracht haben, noch immer vor dem Kamin liegen? Toni pirscht sich in die Dunkelheit, ich kann seine Gestalt nur als schemenhafte Umrisse verfolgen. Er bahnt sich einen Weg bis zum Kamin und sucht dort den Sockel ab. Schließlich wird er fündig und zieht aus der Hosentasche sein Feuerzeug. Er zündet eine große, breite Kerze an, die den Raum in schummriges Licht taucht. Unter einer dicken Staubschicht begraben, liegen unsere Decken und Kissen noch immer vor dem Kamin. Selbst ein Stapel Comichefte und einige zerbrochene Schallplatten, haben die Zeit überdauert. Stundenlang haben wir hier herum gelegen Musik gehört und gelesen, uns neue Dummheiten ausgedacht und aufgewärmt, bevor wir wieder auf Beutezug gegangen sind und die Stadt unsicher gemacht haben. An den Wänden sind überall Zeichnungen von mir. Wölfe laufen daran entlang, sie waren damals mein Lieblingsmotiv. Auf dem Fensterbrett stehen noch immer Pinsel und eingetrocknete Farben. Es ist so lange her und trotzdem glaube ich mich selbst zu sehen, wie ich dort neben dem Fenster knie und das weit aufgerissene Maul zeichne, das einen asiatischen Drachen verschlingt, während Toni auf dem Schaltplattenspieler ein Fenster weiter, eine neue Platte auflegt. Ob der noch funktioniert?

Während ich mich über die knarrenden Dielen voran taste, zündet Toni noch mehr der Kerzen an, die auf dem Kaminsims verteilt stehen. Es wird immer heller. Als ich das Gerät erreiche, muss ich es erst einmal von der dicken Staubschicht und den etlichen Spinnweben befreien. Der Lautsprecher ist stark verrostet, wie alle anderen metallischen Bauteile auch. Als ich versuche die Kurbel zu drehen, rührt sie sich nicht. Es steht eben einfach zu lange hier. Die Platte darauf hat in der Mitte einen großen Sprung. Als ich sie anhebe, bricht sie durch. Schmunzelnd drehe ich mich damit zu Toni.

„Jazz fällt heute Abend wohl aus!“ Er lächelt mich wehmütig an und kommt die wenigen Schritte, die uns noch trennen, zu mir. Er nimmt mir eine der Hälften ab und schaut sich die vergilbte Beschriftung an.

„Das hab ich schon ewig nicht mehr gehört. Wir sollen uns die Platte noch mal kaufen.“

„Meinst du, die bekommen wir noch irgendwo?“

„Vielleicht auf nem Flohmarkt!“

„Aber bei ner neuen Platte knackt es nicht mehr in der Mitte des Liedes drei mal. Das wird mir voll fehlen“, gebe ich zu bedenken.

„Ja, du hast dich jedes Mal aufs Neue darüber aufgeregt“, lacht Toni. Ich lächle wehmütig. Wie gern wäre ich jetzt noch mal fünfzehn und so frei und ungebunden, wie damals. Toni bleibt mein trauriger Blick nicht verborgen. Er legt mir seine Hand um die Wange und sieht mich aufmunternd an.

„Lass uns aufs Dach gehen. Vielleicht liegt dort noch unser Radio. Dann suchen wir einen Sender, der auch die alten Lieder spielt“, schlägt er vor. Ich nicke und folge ihm, als er zurück zum Kamin geht. Er nimmt sich zwei der dicken Kerzen und reicht mir eine davon. Mit dem flackernden Licht ausgestattet, suchen wir uns einen Weg durch die Flure und Zimmer, bis ins Treppenhaus. Wir folgen den abgetretenen Stufen aufs Dach. Als Toni die Tür für uns öffnet, komm ich mir vor, wie auf einer Zeitreise. Die Lichter der Stadt strahlen in allen Farben. Obwohl es Nacht ist, kann ich mich an jeden Stein, jedes Ziel und an all die anderen Dinge erinnern, die wir hier oben aufgebaut haben. Links steht unsere 'Höhle', ein Bretterverschlag, denn wir reichlich schief und Krumm zusammen genagelt haben. Die Seidenwände sind mir Decken behangen, doch von den vier Stück, flattert nur noch eine im Abendwind. Sicher haben Stürme und Gewitter die andren Drei weggerissen. Rechts steht ein langer Tisch, auf ihm stapeln sich fünf rostige Dosen, auf dem Boden rollen auch einige herum. Fast alle haben Löcher. Sie sind unsere Ziele gewesen. Am Anfang haben wir uns noch Zwillen gebaut, weil Raphael uns den Umgang mit Schusswaffen verboten hat, später, als uns die Drachen immer mehr zu setzen, habe wir uns gegen sein Verbot durchgesetzt und Pistolen benutzt. Hier oben habe ich schießen gelernt, aber mit Toni habe ich nie mithalten können. So oft hat er versucht es mir beizubringen und dabei hinter mir gestanden, meinen Arm und die Hand gehalten und ausgerichtet. Meistens habe ich gerade dann daneben geschossen, weil ich viel zu abgelenkt von seiner Nähe war. Von dem Tisch und den Dosen wandert mein Blick zu ihm. Mit all diesen Erinnerungen in mir, muss ich ihn einfach liebevoll anlächeln. Er schmunzelt verlegen und sieht zur Seite weg.
 

Schließlich geht er weiter bis zur 'Höhle'. Er stellt seine Kerze daneben auf dem Boden ab und schlägt die Decke über den Bretterverschlag, dann kriecht er hinein. Seine Gestalt verschwindet ganz darin, als ich zu ihm gehe, gibt es neben ihm keinen Platz mehr. Er ist viel größer geworden. Mittlerweile können wir dort nicht mehr zusammen einschlafen.

Was er wohl sucht? Mit einer Blechkiste und einem Brett auf das Dräten, einem Lautsprecher und einer Spule genagelt sind, kommt er wieder heraus gekrochen und setzt sich vor den Bretterverschlag in den Schneidersitz. Unser selbstgebautes Radio stellt er zur Seite, die Kiste legt er sich in den Schoß. Sie ist also tatsächlich noch hier? Ich setze mich zu ihm und schaue ihm erwartungsvoll beim Öffnen zu. Mein erster Blick fällt auf einen dreckigen Baseball. Den habe ich bei einem Besuch mit meinem Vater im Stadion gefangen. Eigentlich wollte ich ihn von Babe Ruth unterschreiben lassen, doch wir sind an dem Tag nicht bis zu ihm durch gekommen. Weil ich deswegen wie ein Schlosshund geheult habe, hat ihn mein Vater unterschrieben. Das war kurz bevor er an den Docks ums leben kam. Die Buchstaben sind ganz verblasst und kaum noch zu entziffern, ich habe ihn zu oft in die Hand genommen und an meinen Vater gedacht. Die rechte Hälfte des Balls ist verbrannt. Er ist der einzige Gegenstand, den mein Bruder aus den Trümmern unseres abgebrannten Hauses retten konnte. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich ihn dort drin aufbewahrt habe. Ein wehmütiges Lächeln zwingt sich mir ins Gesicht, als ich ihn an mich nehme. Neben dem Ball liegen noch etliche Münzen, Murmeln, alte Kaugummis und eine goldene Glocke in der Dose. Hat die Glocke nicht mal Tonis Kater gehört? Er nimmt sie heraus und lässt sie klingen. Ich wusste gar nicht, dass er sie dort hinein getan hat, nachdem der Kater überfahren wurde. Als wir den Perser auf der Straße vor unserer Fabrik gefunden haben, habe ich Toni das erste mal richtig heulen gesehen. Auch jetzt betrachtet er sie mit gläsernem Blick. Das gemeingefährliche Tier ließ sich nur von ihm streicheln und hat sich sogar mit meinen Schäferhunde angelegt. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich über den Kater nachts gestolpert bin und meine Beine bis zu den Oberschenkeln zerkratzt waren. Ich war nicht wirklich traurig über seinen Verlust, nur um Toni tat es mir leid. Der Kater hat ihn seit seinem neunten Lebensjahr begleitet.

„Vielleicht sollten wir dir eine neue Katze besorgen!“, schlage ich ihm vor, als er noch immer wehmütig die Glocke betrachtet. Er schüttelt mit dem Kopf.

„Nein, wenn mir was passiert, muss sich das arme Tier allein durchschlagen.“ Traurig das er so denkt. Ich lege ihm meine Hand um die Wange und küsse seine Lippen. Lächelnd schaue ich in seine smaragdgrünen Augen und versichere ihm: „Ich passe schon auf dich auf.“ Er schmunzelt amüsiert.

„Von wegen, wer muss den ständig wessen Arsch retten?“ Na wenigstens lächelt er wieder. Den dummen Spruch überhöre ich kommentarlos und greife noch einmal in die Kiste. Ich räume die Münzen und Murmel von einer zur anderen Seite. Irgendwas glänzt dort unten golden. Was das wohl ist? Zum Vorschein kommt eine Taschenuhr, meine Taschenuhr. Wie kommt die denn dort rein? Ich habe sie mir von dem Geld unseres ersten Auftragsmordes gekauft und eigentlich immer bei mir getragen, auch bei dem Überfall vor fünf Jahren. Den Deckel klappe ich auf, die Zeiger sind stehen geblieben und das Glas ist gesplittert. Sicher ist es bei den harten Tritten gebrochen, die ich einstecken musste. Aber wie kommt sie hier her? Toni nimmt mir die Uhr ab und fährt über die kunstvoll gearbeitet Vorderseite.

„Nach deinem Tod, war ich nur ein Einziges mal hier oben.“ Dann hat er sie also dort hinein getan?

„Ich habe es keine zehn Minuten hier ohne dich ausgehalten“, sagt er leiser und mit zitternder Stimme. Er klappt die Taschenuhr zu und wendet den Blick ab.

„Hey ich lebe und ich sterbe nicht vor dir, versprochen!“ Aufmunternd sehe ich ihn an, doch er bekommt nur ein verkrampftes Lächeln zu Stande.

„Lass uns das Radio an machen“, schlage ich vor und ziehe das Brett mit den Drähten zu mir.

Als ich zwei von ihnen miteinander verbinde, ist leises Rauschen zu hören. Ich richte die Antenne aus, es knackt und knirscht grausam, dann kommt eine fremde Stimmen durch, schließlich ein Lied, gesungen von einer Frau. Vorsichtig stelle ich es vor uns ab. Noch klingt es klar, doch als ich die Hände weg nehme, stört es wieder. Das ist einfach nur grauenvoll. Wie haben wir das früher nur ausgehalten?

„Das nächste Mal sollten wir ein richtiges Radio mitbringen!“

„Das nächste Mal?“, will er wissen und sieht mich erwartungsvoll an.

„Ja, wir sollten wieder öfter hier her kommen.“ In unserem ersten Jahr auf der Straße, sind wir jeden Tag hier gewesen.Wir konnten tun wonach uns der Sinn stand: In Unterhose über das Dach rennen, Dosen schießen, Schreinen, toben und übereinander herfallen. Allein bei einem Blick in den Bretterverschlag, steigen heiße Gefühle in mir auf. Wie oft haben wir dort drin gevögelt und unsere Körper erforscht. Schade das wir jetzt nicht mehr zusammen da rein passen. Ich grinse ihn verschmitzt an, es ist so eine geile Zeit gewesen. Wann und warum hat das aufgehört?

Toni lässt sich rücklings auf das Dach fallen. Er legt die Hände hinter den Kopf und schaut in den Himmel. Sein Blick ist auf die wenigen Sterne gerichtet, die es schaffen, gegen das Licht der Stadt anzukommen. Er lächelt immer wieder. Ich lege mich zu ihm und meinen Kopf auf seinen Oberkörper. Mein Gott, wie lange habe ich das nicht mehr gemacht, einfach nur mit ihm dazuliegen?

„Kannst du dich noch an den Meteoritenschauer erinnern?“, will er auf einmal wissen. Ich muss einen Moment überlegen. Wir lagen genau wie heute hier und haben den Himmel beobachtet. Damals konnte man noch ein zwei Sterne mehr sehen.

„Ja!“, sage ich nur und genieße das warme Gefühl der Erinnerung. Wir haben den ganzen Tag hier oben verbracht, haben die Würste verschlungen, die wir beim Metzger gestohlen haben und für die er uns übelst vermöbelt hat. Keine Ahnung, wie wir die trotzdem dort raus geschmuggelt haben.

Mir tat zwar alles weh, doch ich war mächtig stolz auf unseren Raubzug und die Würste haben hundert mal besser geschmeckt, als die, die ich heute kaufe. Alles was wir damals geklaut haben, hat irgendwie besser geschmeckt. Vielleicht, weil wir immer hungrig waren und essen schwer zu besorgen gewesen ist? Als wir am Abend wie zwei vollgefressene Wölfe auf dem Dach herumlagen und uns nicht mehr drehen konnten, fielen dutzenden Sternschnuppen vom Himmel.

„Du hast mir nie erzählt, was du dir an dem Abend gewünscht hast“, fährt Toni fort. Ich betrachte die hellen Punkte am Himmel und versuche mich zu erinnern, doch mir fällt kein Wunsch ein, weil ich ich in diesem Moment gar keinen hatte.

„Ich habe mir nichts gewünscht!“

„Ehrlich?“ Toni wendet seinen Blick mir zu und betrachtet mich ungläubig. Ich lächle ihn liebevoll an, als ich ihm sage: „Ich hatte keinen Wunsch an dem Abend. Ich war satt und lag bei dir. Ich war glücklich und damit zufrieden.“ Toni schaut mich verliebt an, er beugt sich zu mir und küsst mich.

Seine Lippen schmecken wie damals, wie der Hauch von Freiheit. Wenn wir doch nur für immer hier oben bleiben könnten und noch einmal so jung und unbekümmert wären. Als sich Toni von mir löst, sehe ich ihn eindringlich an.

„Was hast du dir denn damals gewünscht?“ Er schmunzelt verlegen und legt sich wieder hin.

„Reich zu sein“, sagt er. Na toll, das ist jetzt nicht das, was ich nach meiner Beichte hören will, aber andererseits, wir waren bettelarm und jeder Tag ein Kampf ums Überleben, der Wunsch also verständlich. Trotzdem komme ich nicht gegen den enttäuschen Blick an, der sich mir ins Gesicht zwingt.

„Und hat sich dein Wunsch jetzt erfüllt?“, will ich wissen. Reicht ihm das Geld, das wir jetzt zum Leben haben?

„Ja, aber ich habe mit dem Geld nicht das gemacht, was ich vor hatte“, meint er nachdenklich. Was das wohl gewesen ist?

„Was hattest du denn vor?“ Er lächelt in die Sterne.

„Ich wollte dieses Haus hier kaufen, dann hätte uns nie wieder jemand von hier vertreiben können und es würde keiner wagen, es abzureißen.“ Wirklich? Das ist sein Wunsch gewesen? Jetzt bin ich es, der ihn verliebt ansehen und ihm einen Kuss geben muss.

~Aarons Entschluss~

Ich parke den Wagen im Innenhof des Fabrikgeländes und schaue auf den Beifahrersitz. Toni schläft, ihm ist der Kopf in den Nacken gefallen. Kein Wunder, wir haben ja die ganze Nacht durchgemacht. Gähnend reibe ich mir durch die Augen. Ich bin froh, wenn ich in meinem Bett liege und er schläft dort sicher auch besser.

"Wir sind da!", sag ich laut. Keine Reaktion. Um ihn wach zu bekommen, schlage ich ihm auf den Oberarm. Erschrocken reißt er die Augen auf und sieht sich verwirrt um.

"Wir sind da", wiederhole ich.

"Schon?" Toni sieht nach draußen, er braucht einen Moment, bis er seine Orientierung wieder gefunden hat, dann gähnt er und streckt sich ausgiebig.

"Was dagegen, wenn ich mich aufs Ohr haue?" Ich lächle nur und schüttle mit dem Kopf. Er kann sich ruhig ausschlafen, ich habe auch nichts besseres mehr vor.
 

Als wir aus dem Auto steigen, muss ich mich stecken. Toni holt den Koffer und gemeinsam gehen wir an den etlichen Autos vorbei, die hier parken. Seltsam, es ist mitten am Tag, der Club hat noch geschlossen. Was wollen all diese Menschen hier? Einige der Automobile und Motorräder kenne ich: Sie gehören meinen Männern, eines davon gehört Diego, das Motorrad ganz hinten links, ist das von Jan. Warum sind sie alle hier, ist etwas passiert? Aus all den Fahrzeugen sticht mir ein schwarze Bugatti ins Auge. Giovanni, was will der Mistkerl hier? Habe ich ihm nicht Hausverbot erteilt? Ich beschleunige meine Schritte und auch Toni eilt mir nach.

"Das hätte Enrico so nie gewollt!" Romeo? Was habe ich nicht gewollt? Fragend sehen Toni und ich uns an.

"Enrico ist nicht mehr hier, von heute an, übernehme ich den Club." Giovanni, dieser miese Bastard! Ich bin kaum eine Woche weg und er glaubt ernsthaft sich meinen Club unter den Nagel reißen zu können?

"Mein Mann ist noch nicht mal eine Woche tot und Vater hat noch keinen Nachfolger für ihn bestimmt! Dir gehört hier gar nichts!" Judy? Tod, ich? Okay, jetzt reicht es! Was ist hier los? Ich stoße die Tür zum Club auf und finde die Halle dahinter voller Menschen vor. Mein ganzer Clan ist anwesend und selbst Judy und die Kinder sind hier. Alle Blicke richten sich auf mich, die Gesichter werden leichenblass, keiner sagt etwas, alle Münder stehen weit offen.

"Papa", flüstert nur mein Sohn. Judy hat ihre Hände auf den Schultern des Jungen, dessen eisblaue Augen immer größer werden. Schließlich schüttelt er seiner Mutter ab und kommt zu mir gelaufen. Er schlingt seine Arme um mich, doch ich habe nur Augen für Giovanni. Mit festem Blick fixiere ich ihn: "Verschwinde! Raus aus meinem Club!"

"Wie viele Leben hast du eigentlich?", knurrt er und dreht sich zu mir.

"Mehr also du, verlass dich darauf!" Wir liefern uns einen stummen Machtkampf, weder er noch ich wenden den Blick ab. Giovannis Gesicht wird immer verbissener, seine Hände ballen sich zu Fäusten, schließlich ist er es, der weg sieht. Er stellt ein Glas Scotch auf dem Tresen ab und wendet sich zum Gehen. Er gibt auf? Das ist mir neu, ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ohne Umwege hält er auf mich zu und bleibt noch einmal neben mir stehen.

"Du hast mehr Glück als Verstand", flüstert er.

"Wenn deine Feinde wissen wo du bist, sei wo anders", entgegne ich. Er lächelt amüsiert und verlässt den Club. Ich beobachte ihn im Augenwinkel, wie er zu seinem Auto geht und einsteigt. Wenn ich nur wüsste, was er jetzt vor hat.

Mein Clan erwacht aus seiner Schockstarre, sie alle versammeln sich um mich und Toni. Sie rufen wild durcheinander, ich verstehe nur vereinzelte Wortfetzen.

"Wo seit ihr gewesen?"

"Wie kann das sein?"

"Alle Passagiere sind im Feuer umgekommen!" Feuer? Die Rauchsäule am Hafen, war also doch unser Schiff, das in Flammen stand? War das ein weiterer Anschlag, oder ein Unfall? Das alles ist doch sicher kein Zufall gewesen.

"Wir waren nie auf dem Schiff", erklärt Toni. Ich habe keinen Nerv, alles aufzuklären und überlasse ihm das.

Giovanni fährt vom Hof und das warnende Gefühl in meinem Magen wird immer eindringlicher. Wenn May recht hat und er die Führung bei den Locos übernehmen will, dann wird er jetzt zu Aaron fahren. Ich muss ihm zuvor kommen und die Situation aufklären, bevor er es tut. Während alle Stimmen auf mich einreden, löse ich die Arme Renes, die mich noch immer fest umschlungen halten. Der Junge sieht traurig zu mir auf, bisher habe ich weder ein begrüßendes, noch ein beruhigendes Wort für ihn übrig und ich werde auch jetzt keine Zeit dafür haben.

"Wir müssen zu Aaron und zwar sofort!", lasse ich Toni wissen, der mich irritiert an sieht und auch der Rest des Clans wirft mir verständnislose Blicke zu. Als Toni nicht sofort versteht, packe ich ihn am Arm und ziehe ihn einfach mit. Eilig laufe ich zum Wagen und steige ein. Noch bevor er die Tür nach sich geschlossen hat, lenke ich das Fahrzeug aus der Parklücke hinaus und auf die Straße. Ich kenne eine Abkürzung zu Aarons Villa.

"Glaubst du das Feuer am Hafen hat Giovanni zu verantworten?", fragt Toni. Die Müdigkeit ist aus seinem Gesicht verschwunden und einem ernsten Ausdruck gewichen.

"Was denkst du?", erwidere ich.

"Das wir heute noch einen der großen Vier umlegen werden, wenn es so ist!" Ich lächle zustimmend und trete das Gaspedal durch.
 

Als wir Aarons Villa erreichen, steht das Tor offen, ich kann direkt bis zur Villa durchfahren, doch Giovannis Limousine parkt nicht hier. Sind wir ihm wirklich zuvor gekommen? Er wird sicher nicht hergelaufen sein.

"Schließe das Tor, ich lasse die Hunde raus!", weiße ich Toni an und steige aus. Scotch und Brandy werden den Mistkerl schon davon abhalten, das Anwesen zu betreten. Mit dem Schlüssel, der immer auf dem Dach des Zwingers liegt, lasse ich die Hunde ins Freie. Sie springen laut bellend um mich herum, doch ihre Freude lässt mich heute kalt. Ohne sie zu beachten, laufe ich zur Villa. Toni hat das Tor bereits geschlossen, er kommt mir entgegen, gemeinsam erklimmen wir die Steintreppe vor dem Anwesen. Ich schließe uns die Tür auf und wir treten ein. Im Flur kommt uns Jester entgegen. Erschrocken hält er inne und betrachtet uns mit weit aufgerissenen Augen.

"Wo ist Aaron?", will ich streng wissen. Er schluckt einen imaginären Klos im Hals hinunter und stammelt: "Im Wohnzimmer."

"Lasse niemanden ins Haus!", weiße ich ihn an und nehme mir auch für ihn keine Zeit. Ich ziehe nicht mal meine Schuhe aus, sondern folge dem Flur, bis in die Empfangshalle und dann nach links. Ohne anzuklopfen, öffne ich die Tür zum Wohnzimmer und trete ein. Aaron sitzt in seinem weinroten Ledersessel, in der einen Hand hält er ein Glas Scotch in der anderen eine Zigarre. Seine Augen sind gerötet und seine Stirn liegt in tiefen Sorgenfalten. Sein Blick ist ins Feuer gerichtet, sein Mund zu einem grimmigen Vorwurf verzogen: "Jester, was fällt dir ein? Ich sagte dir doch, ich will meine Ruhe!"

"Ruhe hast du im Grab noch genug, alter Mann! Ich will wissen, was hier gespielt wird? Wieso steht dieser Scheißkerl von Giovanni im meinem Lokal und macht einen auf Eigentümer? Der Mitnigthsclub gehört mir! Ich bin der Chef der Wölfe und ich lasse mich nicht von einem wie ihn umlegen!", fauche ich aggressiv. Ich denke nicht einmal über die Worte nach, die ich spreche, sie sprudeln ganz von allein. An Tonis genervtem Augenrollen, kann ich erahnen, dass es die falschen waren, doch Aaron rührt sich nicht. Er starrt gebannt in die Flammen und wirkt wie gelähmt. Habe ich ihn so geschockt?

"Aaron?", frage ich etwas freundlicher. Nur langsam richtet sich der Blick des alten Mannes auf mich. Er ist ernst und fassungslos zu gleich. Wiskyglas und Zigarre legt er auf den Lehnen des Sessels ab und erhebt sich. Sein Blick bleibt unverändert hart, als er auf mich zu kommt. Ich schlucke schwer und habe das Gefühl von seinen dunklen Augen durchbohrt zu werden. Verdammt, warum habe ich auch immer so eine große Klappe? Als Aaron vor mir stehen bleibt, habe ich das Gefühl in seinem Schatten immer kleiner zu werden. Als er die Arme erhebt, schließe ich in Erwartung einer Ohrfeige die Augen. Ich habe sie ganz sicher verdient, niemand darf so mit ihm sprechen.

"Verdammt, du lebst!", raunt er mit brüchiger Stimme.

Seine Arme legen sich um mich, er drückt mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft bekomme. Habe ich was verpasst, war er nicht vor kurzem noch sauer auf mich? So hat er mich noch nie begrüßt. Ich weiß überhaupt nichts damit anzufangen und warte einfach ab, bis er mich wieder frei gibt. Seine Hände legen sich um meine Oberarme, er betrachtet mich von oben bis unten, als wenn er prüfen will, ob noch alles an seinem Platz ist, dann fällt sein Blick auf Toni.

"Wie hast du ihn aus dieser Feuerhölle lebend raus bekommen?" Hallo, ich bin auch noch da. Warum fragt er mich das nicht, und warum muss es Toni gewesen sein, der uns gerettet hat? Nur weil er mein Leibwächter ist?

"Wir waren nie auf dem Schiff", erklärt Toni.

"Wo wart ihr dann, um Gotteswillen?"

"Wir waren in Miami", erkläre ich. Aarons Blick wird fragend.

"Miami? Aber wieso?"

"Wir haben das Auslaufen des Schiffes verpennt", gibt Toni ehrlich zu. Jetzt bin ich es, der mit den Augen rollt. Ist es wirklich nötig Aaron das wissen zu lassen? Die Gesichtszüge des alten Mannes hellen sich auf, er schmunzelt erst, dann beginnt er zu lachen. Ja, ja, sehr witzig. Wenn man Nächtelang nicht geschlafen hat, kann das schon mal passieren.
 

"Setzt euch! ", fordere Aaron freundlich und deutet auf das Sofa. Wir tun ihm den Gefallen. Er dreht seinen Sessel so, dass er uns ansehen kann, Zigarre und Scotch finden ihren Weg zurück in seine Hand, dann setzt auch er sich. Einen Moment lang betrachtet er uns in stummer Bewunderung, pafft zwei mal an seiner Zigarre und meint schließlich: "Und ich dachte schon, ich hätte meine fähigsten Männer dieses Mal wirklich verloren."

"Aaron, ich weiß du willst das nicht hören, aber Giovanni ...", beginne ich, doch der Pate hebt abwehrend die Hand.

Ich will den Satz trotzdem beenden, als sich im selben Moment die Tür öffnete. Jester ist es, der zu uns kommt und beinah geräuschlos eintritt.

"Verzeiht meine Ungehörigkeit, aber Giovanni ist eben vorgefahren." Ich schlucke schwer und sehe von Jestet zu Aaron. Was wird er jetzt tun? Ich konnte ihm noch nicht mal von Giovannis Auftritt in meinem Club berichten. Wenn der Mistkerl jetzt die Gelegenheit bekommt, alle Tatsachen zu verdrehen, wem wird Aaron dann glauben?

"Schicke ihn weg!", befiehlt der Pate und sieht mich versöhnlich an. Ich bin so überrascht, dass mir der Mund offen stehen bleibt.

"Sehr wohl!" Jester verbeugt sich, dann wendet er sich zum Gehen, doch noch bevor er das Zimmer verlassen hat, ruft Aaron ihm nach: "Und dann bringe mir die Unterlagen aus dem Büro. Die aus dem Papierkorb!" Jester nickt verstehend und geht. Aus dem Papierkorb? Was hat der alte Mann denn vor? Verwirrt sehe ich ihn an.

"Es wird Zeit!", sagt er betont spannend und trink den letzten Rest Scotch aus seinem Glas. Zeit, aber wofür? Ich verstehe nur Bahnhof. Meine Verwirrung lässt das Lächeln in Aarons Gesicht noch breiter werden.

"Du müsstest dein Gesicht sehen", lacht er spöttisch.

"Aaron, mir ist nicht nach Spielchen. In den letzten Wochen wurde ich verraten, gefoltert und ständig versucht man mich umzulegen. Wenn das nicht aufhört, garantiere ich für nichts mehr! Ich räume in den Reihen der Locos auf, ich schwöre es dir!" Das Gesicht des alten Mannes wird wieder ernst.

"Was wollte Giovanni im deinem Club?", fragt er, ohne auf meine Worte einzugehen.

"Er wollte ihn übernehmen."

"Das ist nicht das, wozu ich ihn hingeschickt habe", sagt er nachdenklich.

"Was willst du jetzt wegen ihm unternehmen?" Diese Frage brennt mir schon die ganze Zeit auf den Lippen. Irgendwann muss doch auch er begreifen, dass der Kerl ein falsches Spiel spielt.

"Ich habe seinen Ehrgeiz unterschätzt." Aaron ist noch ganz in Gedanken versunken und sieht an mir vorbei. Mit finsterer Mine pafft er an seine Zigarre und drückt den Rest im Aschenbecher aus. Schließlich fixieren mich seine dunklen Augen wieder direkt, als er anordnet: "Um Giovanni kümmere ich mich persönlich, du hältst dich da raus, haben wir uns verstanden?" Er meint das ernst, doch ich sehe unter seinem Blick hinweg. Bisher hat er nichts gegen ihn unternommen. Ohne Toni, säße ich jetzt nicht hier. Ich kann und will mich nicht auf ihn verlassen.

"Enrico!", knurrt er ernst.

"Wen willst du denn auf ihn ansetzen, wenn nicht uns? Wir sind deine besten Cleaner!"

"Ob und durch wenn er stirbt, entscheide immer noch ich!" Ob? Will er damit sagen, dass der Bastard am Leben bleiben darf?

"Wenn mir der Kerl noch einmal in die Quere kommt, ist mir das ziemlich egal!", knurre ich. Im selben Moment trifft mich ein Schlag am Oberarm. Toni sieht mich mahnend an, um mich daran zu erinnern, mit wem ich hier spreche, doch ich schaue nur warnend zurück. Die Zeit für Manieren ist vorbei, darauf komme ich erst zurück, wenn mir nur noch die Drachen und die Polizei im Nacken sitzen.

"Wir regeln dass auf meine Weiße!", faucht Aaron streng und sieht von oben auf mich herab.

"Und die wäre?" Wenn ich die Füße schon still halten soll, dann will ich wenigstens wissen, was er plant.

"Ich schicke Giovanni nach Itallien, er wird dort die Cosa Nostra übernehmen. Damit dürfte sein Ehrgeiz gestillt sein." Ernsthaft? Ist das nicht eher eine Auszeichnung, als eine Strafe? Andererseits, was juckt mich Italien und die Familie dort. Die Vorstellung Giovanni für immer los zu sein, gefällt mir.

"Damit scheinst du wohl einverstanden?", stellt Aaron fest.

"Je weiter er von mir weg ist, um so besser für ihn!", entgegne ich nur. Tot wäre er mir noch immer am liebsten.

"Er ist eine fähige Führungspersönlichkeit, auf den der Clan nicht verzichten kann!" Und das soll mich jetzt interessieren, weil? Ich schaue unter Aarons festen Blick hinweg und denke mir meinen Teil. Wenn es nach mir ginge, könnten wir sehr wohl auf ihn verzichten, aber sollen sich ruhig die Männer der Cosa Nostra mit ihm herumschlagen. Hauptsache der Kerl verschwindet aus meinem Revier.
 

Die Tür des Wohnzimmers öffnet sich und Jester schleicht herein. Er nickt Aaron zu, als stummes Zeichen dafür, dass er erledigt hat, was ihm aufgetragen wurde, dann kommt er zu uns. Er reicht dem Paten einen Stapel Papiere und lächelt mich dabei an. Ich schaue irritiert zurück. Sein Blick macht mich unruhig. Als Aaron ihm die Papiere abgenommen hat, legt Jester ihm seine knorrige Hand auf die Schulter.

"Mach dieses Mal ernst. Wir beide werden langsam zu alt, für diesen Job!" Mein Blick wechselt verständnislos zwischen den Beiden hin und her. Ernst machen, aber womit denn? Wofür werden sie zu alt und seit wann spricht Jester so offen mit seinem Herrn?

Der Butler klopft dem Paten auf die Schulter, dann läuft er langsam der Tür entgegen. Aaron lächelt verschmilzt und sieht die Papiere durch. Als Jester den Raum verlassen hat, scheint er fündig geworden zu sein, denn er wirft einen Teil davon auf den Tisch, direkt vor mich. Es sind die Adoptionspapiere, die er mir schon einmal vorgelegt hat. Geht es etwa darum? In diesem ganzen Chaos, will er das ich ...? Ich sehe ungläubig von den Papieren auf und Aaron fragend an.

"Es wird Zeit!", sagt er wieder und zieht einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Anzuges. Unwillig betrachte ich den Stift, als er ihn in meine Richtung hält.

"Ich war lange genug Pate, jetzt will ich meinen Lebensabend genießen. Außerdem braucht der Clan mal frisches Blut und neue Ideen." Ich schaue noch immer skeptisch. Schön für Aaron, dass er sich zur Ruhe setzen will, aber das überzeugt mich nicht.

"Du wirst diesen Raum nicht verlassen, bevor du nicht unterschrieben hast!" Ein fetter Klos rutscht mir in die Kehle, denn ich auch mit noch so viel Schlucken, nicht hinunter bekomme. Es ist ihm dieses Mal wirklich ernst. Nur zögernd greife ich nach dem gereichten Kugelschreiber.

"Aaron, ich weiß nicht, ob ich wirklich der Richtige dafür bin." Ich habe noch nicht einmal meinen Club zum Laufen gebracht, die Wölfe sind pleite und den Locos geht es nicht viel besser. Der Clan braucht in solchen Zeiten jemanden mit Erfahrung und Weitblick, jemanden der Stärke und Souveränität ausstrahlt, eben jemanden wie ihn.

Aaron lächelt vertrauensvoll und nickt mir zu.

"Du machst das schon!" Er baut auf mich, das macht mich stolz und fertig zugleich. Mir ist, als wenn sich eine tonnenschwere Last auf meine Schultern legt, doch je länger ich Aarons hoffnungsvolles Lächeln betrachte, um so mehr bekomme ich das Gefühl, sie tragen zu können. Während ich den Stift auf das Papier setze, werfe ich einen verstohlenen Blick zu Toni. Dieser lächelt ebenso so vertrauensvoll und nickt mir zu. Ich komme wohl nicht drum herum. Seufzend unterzeichne ich das Dokument und werde das Gefühl nicht los, damit zeitgleich mein Todesurteil zu unterschreiben.

~Enricos Ausbildung~

„So, wo das geklärt ist, lasst uns einen trinken!", schlägt Aaron vor und erhebt sich. Er geht zum hölzernen Globus und öffnet die obere Hälfte. In der Minibar darin füllt er drei Gläser mit Scotch und kommt zum Tisch zurück. Ein Drink ist jetzt wirklich eine gute Idee. Bevor ich mir klar darüber werde, was ich gerade getan habe, sollte ich meine Sinne betäuben. Ich leere das gereichte Glas in einem Zug und schüttle mich, als der Alkohol meine Kehle hinunter brennt. Aaron schmunzelt amüsiert.

"Noch einen?", will er wissen.

"Ja, gern!", entgegne ich mit heißer Stimme. Aaron füllt das Glas erneut, dann setzt er sich wieder zu uns. Während ich die braune Flüssigkeit darin betrachte, versinke ich in Gedanken: Wenn Giovanni wirklich nach Italien abreist, bleiben von den großen Vier nur noch Diego und ich übrig. Wir werden neue Clanführer ernennen müssen. Auch die Wölfe werden einen Stellvertreter brauchen. Mit den Locos werde ich alle Hände voll zu tun haben, ich kann mich nicht um alles allein kümmern. Als ich einen flüchtigen Blick zur Seite werfe, ist auch Toni in Gedanken versunken. Ob er sich ebenfalls Sorgen, um unsere Zukunft macht? Vielleicht sollte ich ihm eine führende Rolle zuteilen. Er ist der Einzige, dem ich die Wölfe anvertrauen kann. Ich will meinen Gedanken gerade aussprechen, als Toni mir zuvor kommt. Er sieht von seinem Glas auf und Aaron ernst an.

"Eine Sache macht mir allerdings Sorgen." Der alte Pate schaut fragend.

"Michael wollte das genau das hier passiert!" Jetzt sehe auch ich ihn fragend an. Worauf will er hinaus?

"In Miami hat uns seine Tochter eine Nachricht überbracht. Wir sollen zurück nach New York und Enrico soll Chef der Locos werden. Aber was haben die Drachen davon?" Es wird bedrückend still. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Toni hat recht, wenn Michael will, dass ich die Locos übernehme, verfolgt er doch irgend einen Plan. Vielleicht glaubt er ja, die Locos unter meiner Führung leichter zerschlagen zu können?

"Michael spielt sein Spiel und wir unseres. Das war schon immer so, nur konnte ich vor fünf Jahren meine Spielfiguren nicht rechtzeitig an ihren Platz setzen. Das werden wir jetzt nachholen." Aaron zündet sich eine neue Zigarre an, ich beobachte ihn dabei kritische. Bin ich nur eine Schachfigur im Spiel der beiden mächtigsten Männer in New York? Die Vorstellung gefällt mir nicht. Müsste ich es als Pate nicht sein, der die Fäden in der Hand hält?

"Das hier bleibt vorerst unter uns. Du hast noch viel zu lernen und so lange bleibe ich das Oberhaupt der Locos. Von heute an, will ich dich jeden Tag hier sehen. Ich werde dich in all meine Geschäfte einweihen und dir beibringen, was du wissen musst. Erst dann mache ich es offiziell." Jeden Tag? Ich will gar nicht jeden Tag in dieser staubigen Villa zubringen und schon gar nicht unter ständiger Kontrolle Aarons stehen. Ich habe noch genug eigene Geschäfte, um die ich mich kümmern muss.

"Gibt es damit ein Problem?", will der Pate streng wissen.

"Ich habe keine Zeit, jeden Tag hier aufzuschlagen." Sein Blick verfinstert sich.

"Dann wirst du dir die Zeit nehmen! Noch sage ich dir, was zu tun ist!" Ich rolle mit den Augen und sehe zur Seite weg.

"Enrico!", schimpft er.

"Ja, ja schon gut, ich werde da sein!" Mir bliebt wohl nichts anderes übrig. Wird wirklich Zeit, dass der alte Mann sich zur Ruhe setzt und mich machen lässt.

"Gut", brummt Aaron nachdrücklich und pafft den Rauch seiner Zigarre in meine Richtung, dann sieht er mich eindringlich an.

"Sind deine Rippen inzwischen verheilt?" Ich schaue reflexartig auf meinen Oberkörper und taste ihn ab. Es schmerzt schon seit einigen Tagen nicht mehr, doch wirklich bewusst wird mir das erst jetzt.

"Ja, ich denke schon!", entgegne ich also.

"Sehr gut! Dann wird dein Training ebenfalls nächste Woche beginnen. Ich werde sehen, ob ich Kenshin bis dahin überzeugen kann, dich hier im Anwesen zu unterrichten."

"Kenshin? Kenshin Ueda", wirft Toni überrascht dazwischen. Kennt er den Mann etwa? Aaron nickt und nippt an seinem Whiskyglas. Tonis Aufmerksamkeit richtet sich auf mich, doch sein entsetzter Ausdruck in den Augen bleibt.

"Das ist Michaels Meister gewesen." Ernsthaft? Ich soll von dem Mann trainiert werden, der einst Michael Ausgebildet hat? Fragend schaue ich Aaron an.

"Deswegen habe ich ihn ausgesucht!", meint der Pate gelassen.

"Dann ist der Kerl doch ein Drache!"

"Nein, er gehört keinem Clan an, eigentlich lehnt er die Mafia und all ihre Gruppierungen ab. Wie hast dus hinbekommen, dass er einen von uns trainiert?", erklärt mir Toni und richtet seine Frage an Aaron. Dieser Lächelt verschmitzt und trinkt sein Glas leer.

"Wir sind zusammen zur Schule gegangen und er war mir noch einen Gefallen schuldig!" Zusammen zur Schule gegangen? Dann muss dieser Kenshin ja mindestens so alt sein, wie Aaron und von dem soll ich etwas lernen? Ist sich Aaron sicher, dass ich den alten Mann im Training nicht umbringe?

"Schau nicht so skeptisch! Wenn dus schaffst bei eurem ersten Kampf eine Minute lang stehen zu bleiben, kannst du von mir aus sofort die Locos leiten und ich setze mich zur Ruhe." Das ist doch mal ein Wort. Keine langweiligen Studien bei Aaron und ich hab sofort das Sagen, da bin ich dabei.

"Einverstand!", rufe ich zuversichtlich. Toni bricht in schallendes Gelächter aus, verstört sehe ich ihn an.

"Der wird dich so was von fertig machen!"

"Sei gefälligst auf meiner Seite!", verlange ich und schlage ihn mit der Faust auf den Oberarm. Toni zuckt kaum merklich zusammen und muss noch immer lachen.

"Ich freue mich jetzt schon auf dein erstes Training mit ihm." Ich werde es ja wohl mit einem alten Opa aufnehmen können, doch auch Aarons belustigter Gesichtsausdruck lässt mich zweifeln. Ist der Kerl denn wirklich so gut? Er hat Michael ausgebildet, er muss sein Handwerk also verstehen. Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr gefällt mir die Vorstellung, von diesem Mann unterrichtet zu werden. Vielleicht kann er mir ja dabei helfen, meinen Schwur einzulösen?
 

Aarons Ausbildung beginnt eine Woche später mit jeder Menge Bürokratie. Seit gut zwei Stunden sitze ich nun schon über all den Verträgen und werde doch nicht schlau daraus. Papierkram, ich hasse Papierkram! In meinem Clan hat das immer Romeo für mich erledigt. Besitzurkunden, Baugenehmigungen, Kaufverträge, Geschäftskonten, so unendlich viele davon. Ich kann es hundert mal durchrechnen, ich bekomme keinen Überblick darüber, wie viel Geld Aaron eigentlich besitzt, zu wem sein Vermögen fließt und von wem das ganze Geld kommt. Viele der Namen lese ich zum ersten Mal. Sind das alles neue Geschäftskunden oder war ich bisher einfach nicht tief genug in all seine Machenschaften verwickelt gewesen? Ich weiß es nicht und ich will es auch gar nicht wissen. Wenn ich das alles bewältigen soll, brauch ich dringend eine Sekretärin, oder zwei, oder drei. Wie schafft es Aaron bloß, bei dem ganzen Zeug nicht den Überblick zu verlieren? Seufzend lasse ich den Kopf auf die Rechnungen fallen und schließe die Augen. Das werde ich nie schaffe. Warum habe ich Idiot diese verdammte Urkunde unterschrieben. Ich bin nicht mal fähig, die Summe des Vermögens auszurechnen, dass ich einmal erben werde.

Eine knorrige Hand legt sich auf meine Schulter, ich schaue erschrocken auf. Jester betrachtet mich mit einem Lächeln. Was er wohl von mir will? Hoffentlich nicht noch mehr Papierkram. Die Hände des Butlers sind leer, ich atme durch.

"Hat der Master dich damit allein gelassen?", will er mitleidig von mir wissen. Ich nicke resigniert und raufe mir die Haare. Aaron hat mir einen Berg Papiere und Aktenordner auf den Schreibtisch geworfen und ist dann verschwunden.

"Wie sieht er bei all dem Mist nur durch?", frage ich verzweifelt.

"Du hast doch auch schon mehrere Geschäfte geleitet, hast du dabei keine Verträge schreiben und lesen müssen?" Nein, ich habe meine Männer für diesen Kram. Selbst habe ich nur das getan, was ich wirklich gut kann: Männer für meine Sache gewinnen, trinken, spielen und ab und an mal jemanden umlegen. Das hier ist zu hoch für mich.

"Nein, ich habe sie nur unterschrieben", seufze ich.

"Dann wird es aber wirklich Zeit, dass du dich damit befasst! Wer weiß, wie viele Dollar dir deswegen schon durch die Lappen gegangen sind!" Klugscheißer! Meine Leute hauen mich nicht übers Ohr, oder? Verflucht, er hat ja recht. Am besten ich ordne den ganzen Scheiß erst mal. Imobilien auf einen Haufen, Rechnungen und Verträge auf einen anderen. Ich wusste gar nicht, dass Aaron so viel Häuser besitzt. Neben seiner Villa, der Villa von Robin, die nach ihrem Tod wieder auf ihn läuft, gibt es noch dutzende weitere Häuser. Es ist sogar ein Hotel dabei. Natürlich, das verkommene in dem Toni und ich übernachtet haben. Kein Wunder das mit dem Kram kein Geld rein kommt. Die Häuser stehen leer oder sind baufällig. Die meisten New Yorker sind so arm, das sie sich keine Wohnungen mehr leisten können und werden mit Sack und Pack von ihren Vermietern auf die Straße gesetzt. Aaron scheint da keine Ausnahme gemacht zu haben. Aber leerstehend verursachen sie mehr Kosten als Nutzen. Vielleicht sollte ich die Mieten erschwinglicher machen, wäre immer noch besser, als gar keine Einnahmen.

Ich drehe ein Papier in Jesters Richtung und will von ihm wissen: "Wie viel nimmt Aaron für eine Wohnung in dem Haus?" Jester nimmt das Dokument an sich, liest kurz drüber und meint schließlich: "Das sind keine Wohnungen, sondern Büroräume!" Ernsthaft? Das braucht doch im Moment kein Mensch.

"Warum machen wir keine Wohnungen daraus? Obdachlose gibt es zur Zeit genug."

"Und die willst du dort haben?", meint der Butler skeptisch.

"Wenn sie Miete zahlen, ist mir doch egal, wer dort wohnt."

"Wenn die zahlen könnten, wären sie nicht Obdachlos."

"Vielleicht sind sie ja nur obdachlos, weil die Mieten zu teuer sind", halte ich dagegen.

"Und welchen Preis würdest du für angemessen halten?" Keine Ahnung. Für die meisten wären schon fünf Doller im Monat zu viel.

"Und wie willst du einen Umbau finanzieren?" Gute Frage. Vielleicht wenn wir die zukünftigen Mieter animieren mitzuhelfen?

"Wir stellen die Materialien, den Umbau machen die zukünftigen Bewohner selbst. Dafür dürfen sie günstig dort wohnen." Jester denkt darüber nach und betrachtet das vergilbte Papier in seiner Hand eingehend.

"Denk noch mal darüber nach!", meint er schließlich und legt das Dokument zurück auf den Schreibtisch. Ich seufze wieder, war wohl keine gute Idee. Verflucht. Was soll ich mit Häusern, die kein Mensch braucht oder bezahlen kann?

Als Jester die Tür zum Büro öffnet dringt gedämpfte Klaviermusik zu uns herein. Der alte Butler bleibt stehen und sieht erstaunt den Gang entlang, in die Richtung, aus der die Melodie kommt.

"Aaron spielt wieder", wundert er sich. Ich erinnere mich daran, dass der Flügel verstaubt und völlig verstimmt war, doch die Töne, die Aaron jetzt spielt, klingen harmonisch.

"Wie lange hat er denn nicht mehr gespielt?", will ich wissen und erhebe mich.

"Seit dem Überfall auf euch", erklärt er. Ganze fünf Jahre also? Das ist ungewöhnlich. Aaron liebt Musik und das Spielen am Klavier. Ob er meinetwegen damit aufgehört hat? Die Melodie kenne ich, Aaron hat sie selbst vor Jahren komponiert. Ich habe dieses Lied, als eines der Ersten, von ihm gelernt. Er war ein strenger Lehrer, nie konnte man ihn zufrieden stellen und doch kann ich mich an viele Abende in der Bibliothek erinnern, wo er sich auf dem Sofa zurück lehnte und dem Klang meines Spiels lauschte. So stolz und zufrieden schaut er nicht mal seine Töchter an, wie er es oft bei mir tut. Verrückter alter Mann, adoptiert einen streunenden Windhund, wie mich. Bei diesem Gedanken wird mir erst bewusst, dass es neben all den neuen Pflichten, noch etwas anderes bedeutet, adoptiert zu sein. Ich gehöre jetzt ganz offiziell zu einer Familie, die über mich und meinen Bruder hinaus geht. Aaron ist zwar ein Sklaventreiber und versucht mir ständig Vorschriften zu machen, aber ich kann mir keinen besseren Vater vorstellen. Ob es ihm, mit mir als Sohn, wohl ähnlich geht? Ich fahre ihm so oft über den Mund und vergesse immer wieder, welche Position er im Clan einnimmt und trotzdem schätzt er mich. Die Gründe dafür begreife ich nicht.

"Wo willst du denn hin?", höre ich Jester fragen, als ich das Büro verlassen und der Musik zur Bibliothek folge.

"Ich mache eine Pause", entscheide ich und lächle versöhnlich. Der Butler erwidert das Lächeln und schüttelt mit dem Kopf. Es ist nichts neues, dass ich jede Gelegenheit nutze, um mich vor unangenehmen Pflichten zu drücken, aber ich kann jetzt wirklich einen Moment Abstand gebrauchen, vielleicht kann ich dann auch wieder klarer Denken.
 

Als ich die Tür zur Bibliothek öffne und eintrete, sieht Aaron nicht auf. Er hat die Augen geschlossen, seine Lippen ziert ein zufriedenes Lächeln, während seine Finger über die Tasten tanzen. Die Musik füllt den ganzen Raum und ist so laut, dass man meine Schritte nicht hören kann. Ich schaffe es zu ihm zu gehen, ohne das er mich bemerkt und selbst, als ich mich auf dem Hocker zu ihm setze, ist er noch ganz in sein Spiel vertieft. Ich sehe ihm dabei zu, wie seine faltigen Hände die Tasten in flüssigen Bewegungen spielen. Wie oft habe ich als Kind seine Fingerfertigkeit bestaunt, aber inzwischen kann ich es mindestens genau so gut. Ich lege meine Hände ebenfalls auf die Tastatur, zwei Oktaven tiefer als er und beginne mitzuspielen.

Aaron sieht erschrocken zu mir, sein Spiel verstummt, ich spiele für ihn weiter und sehe ihn auffordernd an, bis er wieder mit einstimmt.

"Bist du schon fertig?", will er wissen.

"Ich mach eine Pause."

"Was mache ich nur mit dir?", seufzt er. Sein Spiel wird schneller und ich muss mich anstrengen mitzuhalten.

"Du bist aus der Übung!", bemerkt er sofort.

"Ich weiß, aber du warst auch schon mal besser." Es ist bereits das dritte Mal, das seine Finger nicht die richtigen Tasten finden.

"Du und deine viel zu große Klappe. Hast du eigentlich nie Angst, ich leg dich mal deswegen um?"

"Mhm, nein! Wenn du das machen wolltest, hättest du es schon vor Jahren getan. Ich denke eher du genießt es, wie ein normaler Mensch behandelt zu werden. Es ist sicher nicht angenehm, wenn alle Angst vor einem haben." Aaron schmunzelt amüsiert, also habe ich recht?

"Ich mag deine offene und ehrlich Art. Du hast mich noch nie belogen oder betrogen."

"Hast du mich deswegen Giovanni und Diego vorgezogen?" Die Finger des Paten halten inne und auch ich höre auf. Sein fester Blick richtet sich auf mich.

"Nein! Ich habe dich gewählt, weil du einen festen und unerschütterlichen Charakter hast. Die Menschen folgen dir nicht aus Angst, sondern weil du sie zu führen verstehst. Du beobachtest gut, erkennst Stärken und Schwächen schnell und verteilst Aufgaben dementsprechend." Ich sehe den alten Mann mit großen Augen an. Ist das sein Ernst? Mir sind all diese Eigenschaften nicht bewusst und um so mehr wundere ich mich, dass sie ihm aufgefallen sind. Ich beginne gerade mich geschmeichelt zu fühlen, als Aaron mich mahnend ansieht.

"Aber du bist auch ein unberechenbarer Heißsporn, der noch viel zu sehr mit dem Kopf in den Wolken hängt. Du denkst zu wenig nach und lässt dich zu oft von deinen Gefühlen lenken." Irgendwo habe ich das doch schon mal gehört. Hat mir Toni nicht genau das Selbe gesagt? Ich sehe unter Aarons festen Blick hinweg und stattdessen auf die schwarz weißen Tasten. Der alte Mann kann auch keine Komplimente verteilen, ohne im selben Moment verbale Ohrfeigen auszuteilen.

"Es braucht noch viel, um aus dir einen anständigen Paten zu machen, aber wenn es mal so weit ist, wirst du sicher mal größer als ich." Fassungslos starre ich ihn an. Größer als er? Das glaube ich nicht, ich werde ihm niemals das Wasser reichen, in hundert Jahren nicht. Aaron wendet sich von mir ab und legt die Finger wieder auf die Tasten. Eine klare Melodie schwebt durch den Raum, das Wiegenlied meiner Tochter. Bei diesen Tönen kann ich nicht anders, als zu lächeln.

"Was macht dich da eigentlich so sicher? Vielleicht bin ich als Pate ja auch ein Versager und Faulpelz", will ich von ihm wissen, als ich das Lied etwas tiefer in einem Kanon mitspiele. Aaron schmunzelt.

"Nein, bist du nicht! Du bist genau wie ich, als ich in deinem Alter war. Ehrgeizig, wissbegierig und viel zu locker mit den Frauen und dem Alkohol." Ehrlich? Ich bin wie er? Stolz betrachte ich den alten Paten. Es fühlt sich gut an, einem Mann ähnlich zu sein, der so viel im Leben erreicht hat, wie er.
 

In Erwartung das Kenshin uns am Nachmittag seine Aufwartung machen wird, verbringen Aaron und ich den Nachmittag im Garten. Um mir die Wartezeit zu vertreiben, habe ich Scotch und Brandy aus ihrem Zwingern gelassen und jage sie schon eine ganze Weile mittels eines Stockes kreuz und quer durch den Garten. Aaron hingegen hat sich auf der Veranda nieder gelassen und liest im Gartenstuhl sitzend, ein Buch. Jester trägt gerade ein Tablett mit Gläsern und einer Karaffe voll Limonade zu uns. Er stellt es auf dem Tisch neben Aaron ab und gießt zwei Gläser ein. Guter alter Mann, das Toben mit den Hunden hat durstig gemacht. Ich laufe zu den Beiden, Scotch und Brandy kleben mir dabei an den Fersen, und nehme mir eines der Gläser. In einem Zug trinke ich es leer und werde dabei aufmerksam von Aaron und Jester gemustert.

"Wenn du dich jetzt mit den Hunden schon so verausgabst, wirst du das Training mit Kenshin niemals durchhalten", mahnt Aaron streng und blättert eine Seite in seinem Buch um. Ist das Training mit diesem Mann denn wirklich so hart? Ich fühle mich kräftig genug es mit Scotch, Brandy und diesem Kenshin aufzunehmen.

"Ich mach mich doch nur warm", entgegne ich und nehme Scotch den Stock ab, den er mit einem Knurren zu verteidigen versucht.

"Wie du meinst. Ich hab dich gewarnt", sagt Aaron und widmet sich wieder seinem Buch. Ich werde schon klar kommen. Den eroberten Stock werfe ich quer durch den Garten, doch dieses Mal läuft ihm weder Scotch noch Brandy nach. Beide spitzen die Ohren und beginnen zu knurren. Ein deutliches Zeichen, dass sich jemand dem Anwesen nähert.

"Sperr die Hunde ein", ruft Aaron hinter seinem Buch. Schade, dabei waren die Beiden gerade so ausgelassen. Es hat sicher schon ewig keiner mehr mit ihnen gespielt. Ich rufe Scotch und Brandy zu mir, die noch immer vor sich hinbrummen und führe sie zum Zwinger. Nur widerwillig lassen sie sich einsperren und sehen hinter den Gittern so kläglich aus. Leise winselnd, die Ohren angelegt, bitten sie mich darum, wieder ins Freie zu dürfen. Ich kraule ihnen noch einmal den Kopf, dann sehe ich Jester im Augenwinkel über den Kiesweg verschwinden. Er wird unserem Gast das Tor öffnen und ihn zu uns geleiten. Daran könnte ich mich gewöhnen. Das angenehmste daran, Pate zu sein, wird er als Butler sein. Vorausgesetzt, er setzt sich nicht mit Aaron zur Ruhe, aber wahrscheinlich wird er auch dann noch hier Wohnen und bedienen. Er kann doch gar nicht, anders.
 

Gespannt betrachte ich den Weg, auf dem der Butler verschwunden ist. Wie mag dieser Kenshin wohl aussehen und was wird unsere erste Trainingseinheit sein? Ob er wirklich so streng und gnadenlos ist, wie alle sagen?

In Begleitung des gebrechlichen Butlers schleicht ein beinah eben so alter Mann den Kiesweg hinauf. Er stützt sich mit der rechten Hand auf einen Stock, die linke hält er auf den Rücken verschränkt. Die Beiden scheinen sehr vertraut miteinander, denn Jester lacht immer wieder herzhaft. So schlimm kann dieser Kenshin gar nicht sein, wenn er das zu Stande bringt.

Scotch und Brandy bellen finster, als sie näher kommen. Aaron sieht von seinem Buch auf und mich auffordernd an, ich soll die Hunde zur Ruhe bringen, also strecke ich die Hand aus und deute nach unten. Obwohl ich weder Scotch noch Brandy ansehen, wird es still im Zwinger. Unser Gast wirft mir nur einen flüchtigen Blick zu, dann gilt seine Aufmerksamkeit Aaron. Der alte Pate erhebt sich, als er den Freund komme sieht und legt sein Buch zur Seite. Beide begrüßen sich mit einer herzlichen Umarmung, wobei der zierliche Asiat in Aarons breitschultrigen Armen verloren geht. Sie tauschen ein paar Höflichkeiten aus, dann kommen sie auf mich zu sprechen.

"Und, wo ist dein Nachfolger?", will Kenshin in akzentfreiem Englisch wissen. Er hat mich nicht für voll genommen, wie ärgerlich.

Aaron deutet in meine Richtung und führt seinen Gast zu mir.

"Dein Ernst? Ich hab ihn für nen Handlanger gehalten. Ich dachte du hast einen besseren Blick für Menschen."

"Er sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber in ihm steckt eine Menge Potential." Wollen mich die Beiden verarschen? Ich stehe direkt vor ihnen und höre zu. Wenn sie über mich lästern, dann gefälligst, wenn ich weg bin.

"Freut mich auch dich kennen zu lernen", sage ich und verzichte absichtlich auf das höfliche Sie, trotzdem reiche ich dem alten Herrn die Hand. Kenshin runzelt die Stirn, er ignoriert meine Geste zur Begrüßung und wendet sich stattdessen an Aaron: "Manieren hat er auch keine. Was willst du mit ihm?" Arroganter Arsch!

"Ich sehe schon, ihr beide werdet euch verstehen", lacht Aaron. So viel zu seiner Menschenkenntnis, wir können uns nicht ausstehen, oder hat er das ironisch gemeint?

"Ich überlasse ihn dir, vielleicht schaffst du es ja, ihm Manieren bei zu bringen. Ich habe es inzwischen aufgegeben." Aaron entfernt sich von uns und lässt mich mit diesem Kenshin allein. Er kehrt zu seinem Gartenstuhl und dem Buch zurück und macht es sich bequem. Den grimmigen Blick, den ich ihm nachwerfe, ignoriert er und tut stattdessen so, als wenn er lesen würde. Doch immer, wenn er sich unbeobachtet fühlt, sieht er zu uns. Gemeiner alter Mann, er hätte mich ja mal vor diesem Kenshin in Schutz nehmen können. Wirke ich denn wirklich so lächerlich?

Der Altmeister mustert mich von oben bis unten und verzieht dabei immer wieder abfällig das Gesicht.

"Was kann er bis jetzt?", ruft er schließlich in Aarons Richtung.

"Karate ausgelegt auf Selbstverteidigung und Straßenkampf", antwortet Aaron.

"Warum fragst du mich das nicht? Ich kann für mich selbst antworten!", knurre ich. Wieder mustert mich Kenshin mit einem abfälligen Blick und schmatzt dabei vor sich hin.

"Na schön Junge. Warum bist du so dürr?" Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Irritiert sehe ich an mir hinab. Ist das denn durch meine lockere Kleidung so offensichtlich zu erkennen?

"Er hat eine harte Zeit hinter sich", antwortet Aaron für mich. Ich sehe mahnend in seine Richtung. Wenn er das noch einmal tut, verliere ich meine Beherrschung. Der Pate schaut belustigt zurück in sein Buch. Das ist doch Absicht von ihm, mich hier so vorzuführen.

"Was hat das Warum mit unserem Training zu tun?", will ich wissen, als von Aaron nichts mehr kommt.

"Wie viel isst du am Tag?" Noch so eine bescheuerte Frage, deren Sinn ich nicht verstehe und die mich einmal mehr überrascht. Ich habe die ganze Zeit gedacht, er würde mir neue Kampftechniken beibringen und mich durch den Garten jagen. Als ich einen Moment mit der Antwort zögere, mischt sich Jester ein: "Meistens nur einmal am Tag und dann so viel, dass ich glaube er würde platzen." Jetzt Antwortet schon der stille Butler für mich, ich fasse es nicht. Irgendwas muss ich verpasst haben. Kenshin runzelt die Stirn, er wendet sich Aaron zu und meint resigniert: "So kann ich nicht mit ihm arbeiten!" Ernsthaft, er gibt mich aufgrund meines Essverhaltens schon auf? Was ist das nur für ein seltsamer Mann? Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe den Kerl herausfordern an, als ich sage: "Du siehst auch nicht gerade topfit aus und glaubst mich trainieren zu können?" Meinen Blick hefte ich auf den Stock, auf den sich Kenshin stützt und schließlich wieder auf das Gesicht des Mannes. Der Altmeister hebt verächtlich eine Augenbrauen und auch Aarons warnenden Blick, kann ich auf mir spüren, doch mich kümmert das nicht. Sie haben mich lange genug für blöd verkauft.

Kenshins gekrümmte Haltung straft sich zusehends, stolz erhebt er den Kopf und wirkt auf einmal nicht mehr so zerbrechlich. Sein fester Blick versucht mich zu ergründen und zum Wegsehen zu zwingen, doch ich schaue eben so eisern zurück. Schließlich kommt er einen Schritt auf mich zu und meint: "Wenn ich dich trainiere, wirst du all deine Kraft brauchen. Die deines Körpers", er nimmt sein Gewicht vom Stock und hebt ihn an. Noch bevor ich die Verschränkung meiner Arme gelöst habe, schlägt er ihn mir einmal rechts und einmal links auf den Oberarm. Erschrocken sehe ich den Stock schließlich mitten im Gesicht. Seine Spitze berührt mich an der Stirn, als er weiter spricht: "Und deines Geistes und beides ist bei dir in schlechter Verfassung. Von deinen Reflexen mal ganz zu schweigen." Verflucht, wie hat er es nur geschafft, sich so schnell zu bewegen? Hinter den Stockschlägen steckte enorme Kraft, meine Oberarme feuern entsetzlich. Ich hätte ihnen weder ausweichen, noch sie abblocken können. Als ich einen verstohlenen Blick auf sie werfe, beginnen sich rote Striemen auszubreiten. Kensin betrachtet mich herausfordernd, er zieht seinen Stock zurück und greift ohne Vorwarnung erneut an. Ich schaffe es gerade noch meinen Arm zwischen Gesicht und Stock zu bringen. Obwohl Kensins Bewegungen flüssig und kraftlos aussehen, brennt seine Stockhiebe entsetzlich, doch mir bleibt nicht die Zeit mich darüber zu beschweren. Seine Schläge und Tritte sind so präzise, dass ich gezwungen bin, vor ihm zurück zu weichen. Obwohl er schon so alt ist, schafft er es mühelos sein Bein bis über den Kopf auszustrecken und damit kraftvoll zu zutreten. Ich habe die Wucht seines Fußes kaum abgefangen, als ich seinen Stock schon zwischen meinen Beinen spüren kann. Noch bevor ich begreife, was vor sich geht, falle ich ins Gras und sehe den Stock erneut auf mich zu kommen. Er drückt ihn mir auf den Oberkörper und fixiert mich so am Boden.

"Dreißig Sekunden! Ich würde mal sagen, ich habe unsere Wette gewonnen", ruft Aaron mit Blick auf die Uhr in unsere Richtung. Ich brumme nur und muss mich vorerst geschlagen geben. Der alte Mann weiß was er tut, aber ich kann ihn trotzdem nicht ausstehen.

"Deine Beinarbeit ist miserabel", stellt er fest. Ich rolle nur mit den Augen, wenn es nach ihm geht, scheint nichts annehmbar an mir zu sein. Sein Stock schiebt sich zwischen die Knöpfe meines Hemdes.

"Zieh das aus!", fordert er mit forschendem Blick.

"Wozu?", will ich skeptisch wissen.

"Tu was ich dir sage!", befiehlt er und nimmt seinen Stock von meinem Brustkorb. Wie ich seinen Befehlston hasse. Ich begreife zwar nicht, was er sich davon verspricht, aber ich tue ihm den Gefallen, stehe auf und knöpfe mir das Hemd auf. Als ich es von den Armen streife, haben sich auf meinen ganzen Oberkörper rote Striemen gebildet. Dieser verdammte alte Mann, ich sehe aus wie misshandelt und das schon nach dreißig Sekunden. Am Ende ist er es, der mich beim Training umbringt.

Der Altmeister beginnt mich zu umrunden und wieder spüre ich seinen forschenden Blick auf mir. Seine knorrige Hand berührt die große Narbe an meinem Rücken und die an meiner Schulter. Ich zucke zusammen und sehe ihn fragend an. Was bezweckt er damit? Schließlich bleibt er vor mir stehen und schaut, als wenn er ein Rätsel gelöst hat.

"Hast du solche Verletzungen auch an den Beinen?", will er in einem ungewohnt freundlich Tonfall wissen. Ich sehe unter seinem Blick hinweg. Dieses Thema ruft unwillkürlich die Erinnerung, an die Flammen in mir wach, die sich durch mein Fleisch gefressen haben.

"Also schlimmer?", schlussfolgert er. Ich muss jetzt aber nicht auch noch meinen Hose ausziehen oder? Kenshin bückt sich und schiebt mein linkes Hosenbein bis zum Knie hinauf, dort wo die vernarbte Haut endet, hält er inne.

"Das andere auch?", will er wissen und richtet sich wieder auf. Ich nicke nur stumm.

"Nun, das erklärt einiges", schnaubt er leise und mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet. Die Stirn legt er in Falten und zwirbelt seinen langen Kinnbart durch. Er überlegt eine Weile, dann will er mit Blick auf meine Beine wissen: „Wie Pflegst du sie?" Pflegen, meint er die Narben? Schlimm genug, dass meine Beine so aussehen, aber muss ich mich auch noch darum kümmern? Mir reicht es, wenn ich das Elend nicht sehen muss. Hose drüber, ab und an mal eine Schmerztablette und gut.

"Gar nicht?", entgegne ich wahrheitsgemäß und ziehe meine Hemd wieder an. Kenshin schnaubt resignierend und sieht mich schließlich ernst und eindringlich an.

"Bei dir muss ich scheinbar wirklich bei Null anfangen", seufzt er.

"Zwei Hausaufgaben für dich Junge: Drei Mahlzeiten am Tag, regelmäßig! Und die Narben zwei mal Täglich eincremen, auch die am Rücken! Du hast doch sicher ne Frau, die dir dabei hilft. Wenn schon Narben, dann so weich und geschmeidig wie möglich. Ich werde Jester erklären, welche am besten hilft, er kann sie dir sicher besorgen. Außerdem sind deine Muskeln verspannt. Ich bring ab Morgen meine Tochter mit, die kennt sich gut mit so was aus, die wird dich massieren und jetzt lauf ein paar Runden ums Haus, ich hab genug von dir!" Ich schaue ihn ungläubig an. Mit solchen Aufgaben habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Regelmäßiges Essen bekomme ich bei meinem turbulentem Alltag nie hin und Zeit für die Pflege meiner Narben habe ich mir nie genommen, außerdem bezweifle ich das Judy mir dabei helfen wird. Sie hasst mich für den Urlaub mit Toni. Und was meint er mit genug von mir? Er ist es doch, der die ganze Zeit unfreundlich ist. Als ich nicht sofort los laufe, sieht er mich finster an.

"Worauf wartest du?" Ich atme schwer durch und setze mich in Bewegung.

Während ich die erste Runde ums Haus beginne, geht Kenshin auf die Veranda und setzt sich zu Aaron und Jester. Der Butler hat Kaffee und Kuchen gebracht und für zwei Personen gedeckt. Ich bin schon mal nicht dafür eingeplant, dabei hätte ich auch Lust auf Kuchen. Gemeine alte Säcke!
 

"Und, was hältst du von ihm?", fragt Aaron, als ich auf meine zweiten Runde, an ihnen vorbei komme. War ja klar, dass sie sich über mich auslassen, während ich mich hier abmühe. Ich laufe absichtlich langsamer, um mitzubekommen, was sie sagen.

"Große Klappe und nicht viel dahinter. Das ist eine wirklich undankbare Aufgabe Aaron", entgegnet Kenshin und führt die Tasse Kaffee zum Mund. Nach einem Schluck daraus, sieht er zu mir und ruft grimmig: "Geht das nicht schneller!" Gemeiner alter Mann, er hat gemerkt dass ich langsamer geworden bin. Ich laufe wieder schneller und bin bald außer Hörweite ihres Gespräches. Erst auf meiner nächsten Runde, ist es mir wieder möglich, ihrem Gespräch zu folgen.

"Warum hast du ausgerechnet so nen Jungspund gewählt?"

"Der erste Eindruck täuscht. Sein Alter ist kein Problem, eher ein Vorteil", Aaron sieht mich stolz an, "Er ist noch unverdorben und formbar."

"Unverdorben? Der Kerl ist ein Mörder, genau wie ihr alle und alles, was ich ihm beibringe, wird er für eben diesen Zweck verwenden und du weißt, wie ich dazu stehe", entgegnet Kenshin abfällig. Aaron belächelt diese Aussage müde: "Sein Kumpel ist ein viel besserer Cleaner, als er. Für Enrico wünsche ich mir nur, dass er sich verteidigen kann. Ohne seinen Bodyguard, wäre er verloren. Ich will das du das änderst, mehr nicht. Ich kann mir nicht leisten den Jungen zu verlieren." Ist das der einzige Grund, er braucht mich? Wieder biege ich um die Villa und ihre Stimmen verlieren sich hinter mir. Wie viele Runden ich wohl noch laufen muss? Das Anwesen ist riesig und so langsam geht mir die Puste aus. Obwohl ich meine letzte Rund, auf dem Teil, wo sie mich nicht sehen können, langsamer laufe, komme ich allmählich an meine Grenzen. Ein starkes Stechen im Magen erinnert mich zusätzlich daran, dass ich heute noch nichts gegessen haben. Ich gestehe es mir nur ungern ein, aber Kenshin wird wohl recht behalten: wenn ich sein Training durchhalten will, muss ich regelmäßiger essen. Als ich die alten Herren wieder erreiche, betrachtet der Altmeister mich mahnend.

"Du bist hinter dem Haus langsamer geworden!", wirft er mir vor. Elender Sklaventreiber! Mit ihm und Aaron haben sich zwei gefunden. Wenn die mich jeden Tag so schinden, dann überlege ich mir das mit den Locos noch mal.

Ich bemühe mich wieder schneller zu laufen und bin froh ihre Blicke hinter mir lassen zu können. Keuchend umrunde ich das Haus, dieses mal gleichbleibend schnell, doch der Blick Kenshins ist noch immer unverändert mahnend.

"Wie viele denn noch?", wage ich dennoch zu fragen.

"So lange, bis ich dir erlaube, stehen zu bleiben!", erklärt er. Super Aussichten, der lässt mich doch laufen, bis ich umfalle.

"Willst du ihm keine Pause gönnen?", fragt Jester mit besorgter Mine. Er weiß, dass ich noch nichts gegessen habe. Eine Pause wäre wirklich toll. Meine Kehle ist rau und ausgetrocknet. Verstohlen sehe ich zur Karaffe mit der Limonade. Nur ein Glas? Kenshins fester Blick verneint meine flehende Bitte.

"Ich will sehen, wie er sich quälen kann und wo seine Grenzen sind." Und ich würde nur zu gern sehen, wie schnell Kenshin rennen kann, wenn ich Scotch und Brandy aus ihrem Zwinger lasse. Bei jeder Runde vorbei an den Hunde, wird dieser Gedanke immer verlockender.

Der Schweiß rinnt mir bereits in großen Strömen von den Schläfen und brennt in meinen Augen. Meine Klamotten kleben mir klamm am Körper und meine Lunge kratzt entsetzlich. Ganze neuen Runden lässt er mich erbarmungslos laufen und schaut noch nicht einmal hin, wenn ich an ihm und Aaron vorbei komme. Gemütlich essen die Herrschaften und plaudern ausgelassen. Doch jedes mal, wenn ich langsamer werde, wirft mir der Altmeister einen finsteren Blick zu.

Meine Lunge brennt höllisch und meine Beine werden mit jedem Schritt schwerer, das Loch in meinen Magen ist nicht mehr auszuhalten und ständig wird mit schwarz vor Augen. Als ich die zehnte Runde beginne, gibt mein Körper einfach auf. Ich schaffe es nicht mal mehr, um das Haus herum, um aus ihrem Blickfeld zu verschwinden, als meine Beine einfach wegknicken und ich ins weiche Gras falle. Nach Luft ringen bleibe ich liegen. Kaum einen Meter vor mir laufen Scotch und Brandy unruhig auf und ab. Sie wuffen und versuchen mit ihrer Schnauzen durch das Gitter zu kommen. Na wenigstens haben die Wachhunde Mitleid mit mir.

"Neun Runden? Mehr schaffst du nicht?", höre ich hinter mir schon Kenshin rufen. Gern möchte ich ihm sagen, wie sehr er mich doch am Arsch lecken kann, doch ich habe keine Luft dafür. Immer wieder muss ich beim Einatmen husten und glaube daran zu ersticken. Jeder Muskel an meinem Körper zittert. Verdammt, der Greis hat recht, ich halte wirklich nichts aus. Ich habe das Gefühl nie wieder aufstehen zu können und hier am Boden meinen letzten Schnaufer zu tun. Neun Runden sind wirklich nicht viel, zumindest nicht genug, um so fertig zu sein. Während ich noch immer nach Atem ringe, höre ich Schritte auf mich zukommen. Kenshins Stock gräbt sich direkt neben meinem Kopf in die weiche Erde, finstere Schlitzaugen mustern mich gehässig.

"So, neun sind also dein Maximum ja? Dann läufst du ab Morgen fünfzehn und jetzt geh nach Hause Junge! Für heute hast du anscheinend genug." Entsetzt sehe ich Kenshin an, doch er wendet sich mit einem amüsierten Lächeln von mir ab. Ganze sechs Runden mehr? Der Kerl spinnt doch. Als ich nach Aaron sehe und mir von ihm Hilfe erwarte, meint er nur: "Morgen zehn Uhr wieder bei mir! Ich habe noch ein paar Geschäftsunterlagen, mit denen ich dich vertraut machen will." Ich bin begeistert. Langweiliger Bürokram und dann Training bis zum Umfallen. Der Pate der Locos zu werden, habe ich mir ganz anders vorgestellt, aber zumindest bin ich für heute entlassen. So ganz langsam beruhigt sich mein Puls wieder, also wage ich den ersten Versuch mich auf meine zitternden Beine zu stemme. Ich brauche ganze drei Anläufe, bis es mir endlich gelingt. Ich kann die amüsierten Blicke von Aaron und Kenshin auf mir spüren. Diese fiesen, alten Säcke!

Als ich wieder normal Luft bekomme, kraule ich Scotch und Brandy beruhigen über die Köpfe und laufe dann ohne Umwege auf die Veranda. Als ich den Tisch erreiche, fülle ich mir mein leeres Glas mit Limonada und trinke es leer, nur um mir noch eines einzuschenken und es eben so gierig auszutrinken. Schon besser! Noch während mich die alten Herrn skeptisch mustern, nehme ich mir ein Stück Kuchen vom großen Teller und als ich es eilig hinunter geschlungen habe, noch ein zweites. Wegzerrung muss sein.

"Bis morgen dann!", sage ich, ohne sie noch einmal einzeln anzusehen und verdrücke im Gehen das zweite Stück Kuchen.

"Und das lässt du ihm einfach so durchgehen?"

"Ich sag doch, Hopfen und Malz ist bei dem verloren." Ich grinse fröhlich vor mich hin und verlasse das Grundstück. Vor dem Anwesen steige ich auf mein geparktes Motorrad. Den letzten Rest Kuchen schiebe ich mir im Ganzen in den Mund, dann starte ich den Motor und lenke die Maschine nach Brooklyn.
 

Als ich die Fabrik endlich erreiche, wird es bereits dunkel. Den ganzen Tag habe ich bei Aaron vergeudet und das soll nun jeden Tag so sein? Meine Begeisterung darüber hält sich in Grenzen. Ob es Toni an seinem ersten Tag, als neuer Chef der Wölfe, ähnlich ergangen ist. Noch bevor ich am Morgen zu Aaron gefahren bin, habe ich ihn offiziell zu meinem Nachfolger erklärt. Aaron hatte mich zwar gebeten, dass alles erst mal unter uns bleibt, aber jemand muss sich um den Clan kümmern, wenn ich meine Tage bei ihm verbringen soll.

Schwerfällig steige ich vom Motorrad und setze die Brille ab. Ich kann jetzt schon kaum noch bewegen, der Muskelkater am Morgen wird mich sicher umbringen. Seufzend laufe ich zum ehemaligen Mitarbeitereingang der Fabrik. Er mündet im Flur, der zu meinem Zimmer führt. Wenn ich diesen Weg nehme, muss ich nicht erst durch den Club. Auf den Trubel, der dort um die Zeit herrscht, kann ich heute verzichten. Als ich eintrete, ist alles ruhig. Auf den Weg zu unserem Badezimmer begegne ich niemandem. Scheinbar sind alle Wölfe im Club vertan oder unterwegs. Um so besser, so kann ich mich in Ruhe waschen und entspannen.
 

Nach einer heißen Dusche, fühle ich mich gleich viel besser. Mit einem Handtuch um die Hüfte und eines um den Kopf, reibe ich mir die Haare trocken und gehe in unseren Aufenthaltsraum. Toni sitzt ganz allein auf dem Sofa und hält einige Unterlagen in der Hand. Er sieht nicht einmal auf, als ich zu ihm gehe. Ist er den so in diesen Papierkram vertieft? Muss er sich etwa auch in den ganzen Bürokram einlesen? Das ist doch Romeos Aufgabe. Doch so, wie ich Toni kenne, macht er das auch noch freiwillig und aus eigenem Antrieb. Verrückter Kerl! Feierabend ist für ihn scheinbar ein Fremdwort. Als ich ihn erreiche, schaut er noch immer nicht auf. Um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, nehme ich ihm die Unterlagen aus der Hand und werfe mich zu ihm auf das Sofa. Den Kopf bette ich in seinem Schoss und sage belustigt: "Wie war dein Tag, Schatz?" Toni sieht mich grimmig an.

"Hör auf mit dem Mist und gib die Unterlagen her!" Als er nach den Papieren greift, halte ich sie weit von ihm weg.

"Mach Feierabend und sag mir lieber, wies gelaufen ist!", schlage ich vor.

"Wie soll es schon gelaufen sein? Ich habe den Club mit dir zusammen aufgebaut, das hier ist nichts neues für mich", meint er. Seine Laune scheint auf einem Tiefpunkt, dabei war er am Morgen noch gut drauf. Ich konnte ihn sogar zu einem Schäferstündchen überreden und jetzt interessiert es ihn nicht mal, dass ich halb nackt bei ihm liege?

"Ist irgendwas passiert?"

"Du hast Besuch!", brummt er. Besuch? Um die Urzeit?

"Wer denn?"

"Deine Frau!", sagt er abfällig. Augenblicklich schwindet auch meine gute Laune.

"Sie wartet in deinem Zimmer", fügt er an und erobert sich die Unterlagen zurück. Ich überlasse sie ihm kampflos und bitte stattdessen: "Kann ich bei dir pennen?" Ich will meine Frau und ihre Vorwürfe nicht hören, schon gar nicht, nach einem Tag wie diesem.

"Du solltest mit ihr reden!", meint Toni streng und ignoriert meine Frage. Seit wann ist er auf ihrer Seite? Als ich noch immer unwillig vor mich hinstarre, schaut er eindringlicher.

"Es ist wirklich wichtig, geh zu ihr!" Ich seufze resigniert und stehe auf. Ich will gar nicht wissen, was es so wichtiges gibt. Sicher keine guten Nachrichten, wenn sich Judy um diese Uhrzeit extra auf den Weg hier her macht. Als ich mich widerwillig in Bewegung setze, ruft Toni mir nach: "Enrico!" Fragend schaue ich zurück.

"Hör auf mit dem Arsch zu wackeln! Wenn sie im Haus ist, leg ich dich ganz bestimmt nicht flach!"

"Was denn, wird dir bei dem Anblick etwa schon ganz heiß?", entgegne ich nur belustigt.

"Du bist nicht so unwiderstehlich, wie du denkst", murrt er, als ich den Aufenthaltsraum verlasse.

"Das habe ich heute Morgen gesehen!", entgegne ich arrogant.

"Klappe!"

Er kann mir nichts vormachen, dass ich halb nackt vor ihm herum springe, lässt ihn nicht kalt. Schade nur, dass der Abend nun trotzdem gelaufen ist. Ich bleibe vor meiner Zimmertür stehen und atme noch einmal tief durch, dann öffne ich sie und trete ein.

~Judys Drohung~

Als sich der Raum vor mir öffnet, sitzt Judy auf meinem Bett, in ihrem Schoss liegt unsere Tochter, der sie in sanften Bewegungen über den Kopf streichelt. Sie schläft bereits und zuckt hin unter der Berührung. Auf meiner Seite des großen Ehebettes liegt Rene, von ihm schaut nur der Haarschopf unter der Decke heraus. Auch er scheint tief und fest zu schlafen.

Als ich eintrete, bleibt Judys liebevoller Blick, auf unsere Tochter gerichtet. Mich hat sie schon lange nicht mehr so angesehen. Ich lächle bitter und schließe die Tür nach mir, noch einmal atme ich tief durch, dann gehe ich zu ihr.

"Du wolltest mit mir reden?", versuche ich ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, doch sie sieht mich noch immer nicht an.

"Du bist ganz schön spät dran. Wenn ich gewusst hätte, dass du heute bei Vater bist, hätte ich mir nicht erst die Mühe gemacht, her zu kommen und den ganzen Nachmittag hier zu warten." Stimmt ja, sie wohnt jetzt mit den Kindern bei Aaron. Seltsam, dass ich sie den ganzen Vormittag nicht zu Gesicht bekommen habe. Das Anwesen ist zwar riesig und es gibt genügend Zimmer, um sich aus dem Weg zu gehen, trotzdem hätten wir uns früher oder später treffen müssen.

"Ich bin jetzt jeden Tag dort", entgegne ich.

"Dann werde ich mir wohl doch eine eigene Wohnung suchen müssen."

"Warum bist du her gekommen?", will ich wissen und ignoriere die Wut in ihrer Stimme. Ob sie nun bei Aaron wohnt, oder wo anders, kümmert mich nicht. So lange sie nicht hier einzieht, ist alles gut. Judy wendet sich ab und schaut Amy beim Schlafen zu. Dieses Weib treibt mich noch in den Wahnsinn. Kann sie nicht endlich sagen, was los ist? Ich habe keinen Nerv für Rätselraten, ich will nach diesem ätzenden Tag einfach nur noch ins Bett und pennen. Doch meine Seite des Bettes ist belegt und ich bezweifle, dass sie heute noch mit den Kindern zurück zu Aaron fahren wird.

"Frau, was willst du von mir?", knurre ich deutlich aggressiver.

"Ich bin drüber, mein Schatz! Schon ganz drei Monate." Sie lächelt grimmig und verleiht besonders dem Wort 'Schatz' einen finsteren Unterton. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen. Drüber? Mir schießt augenblicklich die Nummer, mit ihr auf Aarons Sofa, in den Kopf. Mir schläft das Gesicht ein, ich bin mir sicher kreidebleich anzulaufen. Als meine Frau wieder zu mir aufsieht, wird ihr Lächeln breiter.

"Ich war heute bei Susen. Sie hat mich zu unserem dritten Kind beglückwünscht und ich habe mit ihr vereinbart, dass sie dich bei der nächsten Behandlung kastrieren darf." Ich muss schwer schlucken und kann mir lebhaft vorstellen, dass die beiden Frauen das wirklich ernst meinen, doch viel schlimmer ist der Gedanke an noch so ein Balg. Ich schaue von Amy zu Rene. Ein Sohn der mich hasst und eine Tochter die nicht spricht, reichen mir völlig. Ich will kein Kind mehr.

"Wer sagt denn, dass es wirklich von mir ist", entgegne ich etwas hilflos. Dabei zweifel ich eigentlich gar nicht an der Vaterschaft. Bei den Zwillingen hat es auch in unserer ersten gemeinsamen Nacht geklappt. Judys Mine verfinstert sich zunehmend.

"Wage es ja nicht!", droht sie, "Ich weiß genau das du der Vater bist!"

"Und was ist mit Sam?"

"Der war seit einem Monat auf Geschäftsreise, bevor er verschwunden ist. Du bist der Einzige, mit dem ich geschlafen habe. Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus, mein Lieber."

Verflucht, warum mussten wir unser Wiedersehen auch so begehen? Ich sage nichts mehr und kann meinen Blick nicht von ihrem Bauch lassen. Er ist noch genau so flach, wie immer, nur eine winzige Wölbung lässt das Unheil erahnen.

"Und, was gedenkst du jetzt zu tun River? Wirst du dieses Kind genau so im Stich lassen, wie die anderen Beiden?"

"Du willst es also bekommen?", rufe ich entsetzter, als gut für mich ist. Judy schiebt unser Tochter von ihrem Schoss und steht auf. Während sich die Kinder müde umsehen, brüllt sie: "Soll ich es etwa wegmachen lassen? Du verdammter Egoist! Du wirst dich um dieses Kind kümmern, sonst ..."

"Reg dich wieder ab!", schreie ich lauter und gehe an ihr vorbei.

"Ich denke nicht daran! Ich kann ja mal meinem Vater erzählen, das ich sein Enkelkind abtreiben soll, mal sehen ob du dann noch immer sein Nachfolger wirst." Geht das wieder los. Kann sie nicht mal ihren Vater da raus halten? Schlimm genug, dass ich sie deswegen geheiratet habe.

"Jetzt halt doch mal die Luft an. Darf ich den Schock vielleicht erst mal verdauen, bevor du mir in den Rücken fällst? Du wolltest doch selber kein Kind mehr!" Kraftlos lasse ich mich auf das Bett fallen. Rene zieht sich die Decke über den Kopf und brummt verschlafen: "Könnt ihr euch nicht leiser streiten?" Er dreht sich von mir weg. Eine Begrüßung haben wir beide nicht für einander übrig. Amy hingegen kommt zu mir gerobbt und sieht mich mit freudigen Augen an. So sagt sie immer guten Tag und entlockt mir selbst jetzt ein Lächeln. Ich setzte sie auf meinen Schoss, während Judy weiter schimpft: "Jetzt ist es aber schon mal unterwegs. Ich werde unser Kind bestimmt nicht töten!"

"Dann bekomme es halt, mir egal!", brumme ich und lasse mich rücklings mit Amy aufs Bett fallen. Das Mädchen quietscht vergnügt und schenkt unserem Streit keine Beachtung, sie freut sich einfach nur mich zu sehen.

Hoffentlich wird es wenigstens ein Mädchen. Noch so einen Rotzlöffel, wie Rene, ertrag ich nicht.

"Dir ist ja immer alles egal, was uns betrifft. Warum mit deiner Familie in den Urlaub fahren, die denn dringen nötig hätte? Nein der feine Herr vergnügt sich lieber mit seinem Kumpel. Der ist sowieso wichtiger! Ich hasse dich!", schreit meine Frau. Geht das wieder los? Den Urlaub mit Toni wird sie mir noch in hundert Jahren vorhalten. Ihr finsterer Blick durchbohrt mich unaufhörlich. Scheinbar erhofft sie sich eine Reaktion, doch ich bin zu müde zum Streiten. Statt zu antworten suche ich mir eine der beiden Decken und wickle mich und das Kind darin ein.

„Oh nein, vergiss es!“, schreit sie wieder und zieht mir die Decke weg. Was ist denn noch? Müde und genervt schaue ich zu ihr auf. Kann sie sich nicht einfach hinlegen und Ruhe geben?

„Du wirst nicht in einem Bett mit uns schlafen! Scher dich aufs Sofa oder schlafe irgendwo auf dem Boden vor der Tür.“ Mit ausgestrecktem Arm deutet sie aus dem Zimmer. Das soll wohl ein Scherz sein? Das hier ist mein Zimmer und mein Bett.

„Vergiss es! Ich geh nirgendwo mehr hin!“ Ich schlafe auch ohne Decke, wenn es sein muss. Demonstrativ schließe ich die Augen. Ein resigniertes seufzen kommt meiner Frau über die Lippen, als ich sie wieder ansehe, hat sie die Arme verschränkt.

„Enrico bitte! Ich bin nur her gekommen, um dir das mit der Schwangerschaft zu sagen und jetzt ist es zu spät, mit den Kindern nach Hause zu fahren. Wenn du wenigstens eine Funken Anstand in deinem Leib hast, dann lass mir das Bett und erspare mir den Rest der Nach deinen Anblick!“ Der Zorn ist aus ihrer Stimme gewichen und schwelt nur unterschwellig in ihrer Stimme. Ungewohnt ruhig und eindringlich sieht sie mich an. Vergeblich versuche ich ihrem Blick stand zu halten. Sie will mich wirklich nicht hier haben, wird mir schmerzlich bewusst. Seufzend gebe ich meine Tochter frei, die traurig zwischen mir und ihrer Mutter hin und her sieht, dann stehe ich auf. Soll sie halt das Bett haben. Mit ihr und den Kindern darin, ist es sowieso zu eng.

„Na schön, dann penne ich eben bei Toni!“, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen und sehe meine Frau herausfordernd an. Vielleicht ändert sie ja jetzt ihre Meinung? Auf ihrem Gesicht bildet sich ein diabolisches Lächeln.

„Ja, versuch das ruhig!“, sagt sie nur und schiebt mich aus dem Zimmer. Kaum stehe ich im Flur, knallt sie mir die Tür vor der Nase zu. Irritiert bleibe ich stehen. Was hat sie damit gemeint? Glaubt sie nicht, dass er mich bei sich schlafen lässt? Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie irgend etwas getan hat, um mich und ihn zu trennen. Seit ich nach Hause gekommen bin, ist er seltsam abweisend gewesen. Ich dachte bisher, es liegt nur daran, das sie hier ist. Ich schüttle mir den Gedanken aus dem Kopf. Toni ist nicht der Typ, sich von ihr einschüchtern zu lassen. Sie will mich doch nur verunsichern, damit ich auf dem Sofa schlafe.

Ich schaue den langen Flur entlang, in den Aufenthaltsraum. Das Licht dort ist gelöscht worden, ob Toni wohl ins Bett gegangen ist? Der Spalt unter seiner Tür ist ebenfalls dunkel, wahrscheinlich schläft er schon.

Als ich zu seinem Zimmer gehe und es öffne, kann ich seine Umrisse nur Schemenhaft unter der Decke erkennen. Er rührt sich nicht, also schläft er tatsächlich schon? Um ihn nicht zu wecken, schließe ich die Tür leise nach mir und schleiche bis zum Bett. Als ich die Decke anhebe, brummt er: "Enrico, verschwinde!"

"Ach komm schon. Ich will doch nur schlafen", bitte ich wehleidig und warte sein Einverständnis gar nicht erst ab. Ich lege mich zu ihm.

"Enrico, sie frisst uns, wenn sie uns Morgen so findet."

"Mir egal", murmle ich und dreh mich auf die Seite. Schlafen, mehr will ich doch gar nicht mehr. Tonis Hände berühren mich im Rücken, gnadenlos schiebt er mich aus seinem Bett. Ich falle auf den Boden und sehe verständnislos zu ihm auf.

"Mir ist es nicht egal. Geh zu deiner Familie und lass mich in Ruhe!", schimpft er ernst. Seit wann ist er so konsequent?

"Ich kann doch auch nichts dafür, dass sie hier sind."

"Ach nein, wer musste Judy denn schwängern?"

"Das war keine Absicht!"

"Ich habe meine Familie für dich aufgeben und du gründest gleich eine Neue?"

"Das war so nicht geplant!", protestiere ich vergebens.

"Los hau ab! Ich will meine Ruhe vor dir!" Tonis Stimme klingt weinerlich und abweisend. Heult er etwa? Will er mich deswegen los werden? Ungläubig sehe ich ihn an und kann seinen grimmigen Blick selbst durch die Dunkelheit hindurch erkennen. Als ich nichts mehr sage, wirft er mir eines der beiden Kissen zu.

"Schlaf doch auf dem Sofa!", schlägt er vor und dreht sich von mir weg. Das ist doch ein schlechter Scherz. Das mich meine Frau loswerden will, kann ich ja gerade noch verstehen, aber er auch?

"Was willst du noch? Geh!" Wenn er so beharrlich bleibt, meint er es wirklich ernst. Dann eben das Sofa. Seufzend nehme Kissen und Decke an mich und gehe zur Tür.

"Manchmal denke ich, es wäre besser, wir wären uns nie begegnet", murmelt er. Ein jeher Schmerz brennt sich in meinen Brustkorb.

"Dein Ernst? ", will ich finster wissen.

"Verschwinde endlich!"

"Gern!", schreie ich und werfe die Tür lautstark nach mir zu.

War das nur Wut oder meint er es ernst? Ich kann mir mein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen und würde es gegen nichts eintauschen wollen. Ob er das anders sieht? Hat meine Frau etwas damit zu tun? Womit hat sie ihm denn nur gedroht? Seufzen schlurfe ich zum Sofa im Aufenthaltsraum und lasse mich darauf fallen. Fest in die Decke eingerollt, versuch ich vergeblich etwas Schlaf zu finden, doch seine und ihre Wort gehen mir nicht aus dem Kopf. Ob jetzt alles wieder von vorn beginnt? Wird er mich nun wieder meiden? War denn der kurze Urlaub schon alles, was ich mit ihm haben werde?

Schritte kommen näher, jemand bleibt neben dem Sofa stehen. Erschrocken werfe ich die Decke vom Kopf und schaue hinter mich. Eine zierliche Gestalt, die Arme verschränkt, schaut auf mich herab. Lange Haare breiten sich über ihre Schultern, weit den Rücken hinab aus. Judy! Was will sie denn noch?

"Dumm gelaufen was? Keine Sorge, der rührt dich nicht mehr an, dafür habe ich gesorgt!" Sie hat was? Also doch! Aber wie und wieso?

"Was meinst du?", versuche ich unschuldig zu klingen.

"Ach River, tue doch nicht so! Wie lange geht das eigentlich schon mit euch beiden, mhm?" Ich schaue ihren dunklen Umriss ungläubig an. Das Judy Bescheid weiß, ist mir immer klar gewesen, aber sie hat es nie offen angesprochen und stumm geduldet. Warum kann das nicht einfach so bleiben? Ich schlucke schwer und weigere mich eine Antwort zu geben.

"War das seit wir zusammen sind, oder schon davor?"

"Das geht dich nichts an!"

"Und ob es mich was angeht, du arrogantes Arschloch. Ich bin deine Frau!", schimpft sie so laut, dass es mich in den Ohren schmerzt.

"Dann lass dich doch scheiden, wenn es dir nicht passt!"

"Das hättest du wohl gern! Nein, ich frage mich eher, was mein Vater wohl davon hält, wenn ich ihm erzähle, dass es seine besten Männer miteinander treiben. Was glaubst du, wie viel er dir verzeihen kann?" Sie blufft doch nur. Wenn das raus kommt, sind wir tot, dann kann sie das ungeborene Kind allein groß ziehen. Ob Toni wohl deswegen so abweisend ist? Hat sie ihm das Selbe angedroht?

"Glaubst du ernsthaft durch Erpressung, wird irgendetwas zwischen uns besser?" Ich lasse mich nicht noch mal zu etwas zwingen.

"Ich bin langsam so weit, es drauf ankommen zu lassen. Was habe ich denn schon zu verlieren. Der Mann, der mich einst liebte, ist schon lange nicht mehr er selbst."

"Danke gleichfalls!", knurre ich finster. Die Frau, in die ich mich einst verliebt habe, hatte es nicht nötig, mich zu erpressen. Vor dieser verdammten Hochzeit, war alles gut zwischen uns.

"Erzähl Aaron was du willst, er wird dir nicht glauben. Er kennt meine Vorliebe für Frauen." Ich drehe mich von ihr weg, als deutliches Zeichen, dass die Diskussion damit beendet ist.

"Gut, dann hast du ja nichts zu befürchten", entgegnet sie und geht. Der Klang ihre Schritte verliert sich irgendwo im Flur. Es wird wieder still und alles was bleibt, ist ein dumpfes Gefühl von Leere. Ich bin mir nicht sicher, ob Aaron ihr nicht doch mehr Glauben schenken wird, als mir. Was, wenn sie ihn überzeugen kann? Nicht mehr der Pate der Locos zu werden, dürfte dann mein kleinstes Problem sein. Verdammtes Weib! Wenn sie nicht die Mutter meiner Kinder und die Tochter des Paten wäre, würde ich sie einfach erschießen.
 

Spitze Knochen bohren sich in meinen Rücken, jemand trampelt auf mir herum, das freudige Quietschen meiner Tochter dröhnt mir in den Ohren.

"Steh auf du Faulpelz, Opa wartet bestimmt schon auf uns!", fordert Rene. Ich ziehe mir die Decke tiefer ins Gesicht, doch die Kinder sind gnadenlos und geben einfach keine Ruhe, dabei bin ich doch eben erst eingeschlafen. Ich fühle mich kraftlos und wie erschlagen.

"Jetzt steh schon auf!" Toni? Als ich die Decke vom Kopf nehme, entreißt er sie mir ganz. Es wird auf einen Schlag so kalt, das ich zu zittern beginne.

"Ich will dich heute nicht im Haus haben." Er will mich noch immer los werden? Traurig schaue ich zu ihm auf. Seine Augenringe sind dunkel und tief, er hat offensichtlich eben so wenig geschlafen, wie ich. Toni faltet die Decke zusammen und streckt dann die Hand fordernd aus.

"Darf ich mein Kissen wieder haben?" Sein Tonfall ist ungewohnt schroff und kalt. Was hat Judy nur mit ihm gemacht, dass er so abweisend ist? Seufzend setze ich mich auf und reiche ihm das Kissen.

"Toni ... ich ...", versuche ich zu sagen, doch im selben Moment trifft mich etwas im Gesicht. Erschrocken fahre ich herum.

"Zieh dich an, damit wir endlich los können!" Judy kommt mit verschränkten Armen zu mir. Was mich getroffen hat, waren frische Klamotten.

"Fahr doch schon, ich komme nach", sage ich und sehe sie finster an.

"Wie du willst, dann habe ich ja noch genug Zeit, mit meinem Vater unter vier Augen zu sprechen", entgegnet sie und stolziert davon. Dieses Weib treibt mich noch in den Wahnsinn. Soll sie doch mit ihm reden, wenn sie es nicht jetzt tut, dann eben später. Was macht das schon für einen Unterschied? Die Kinder folgen ihrer Mutter, als sie den Raum verlässt. Rene wirft nicht einen Blick zurück, dafür betrachtet mich Amy um so trauriger.

"Glaub ja nicht, das ich mit dir über irgendwas reden will", murrt Toni und wendet seinen Blick ab.

"Hat sie dir auch gedroht?"

"Was kümmert es dich? Du bist bald Pate, alle wissen von deinem Ruf als Weiberheld. Dir kann doch nichts viel passieren. Wenn irgendwas raus kommt, bin ich doch nur der abartige Perverse, der beseitigt werden muss, um deinen Ruf zu retten." Sein trauriger Blick wird immer verzweifelter.

„Das würde ich nie zulassen!“, halte ich dagegen.

„Als wenn du das verhindern könntest. Wir hätten schon vor Jahren damit aufhören sollen, dann wäre es jetzt nicht so schwer!“ Das meint er doch nicht ernst, oder? Will er sich wirklich von ihrem Gerede einschüchtern lassen? Je länger er mich ansieht, um so gläserner wird sein Blick. Als die erste Träne von seiner Wange rollt, wendet er sich ab.

„Ich rede mit ihr und kläre das! Versprochen!“ Mit dem Daumen wische ich ihm über die feuchte Stelle und küsse seine bebenden Lippen. Von keinem Menschen auf der Welt, lasse ich mir das mit ihm kaputt machen, auch nicht von meiner Frau.

~Familie~

Als ich ankomme, hat Judy das Anwesen längst erreicht. Rene und Amy pflanzen Blumen im Garten, während meine Frau mit ihrem Vater auf der Veranda sitzen. Sie sehen entspannt aus, trotzdem habe ich kein gutes Gefühl. Mein Motorrad parke ich vor dem Haus und versuche vergeblich die Nervosität zu unterdrücken. Das Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Hände sind feucht.

"Du bist später!", stellt Aaron ohne besondere Betonung fest.

"Ich hatte noch etwas zu klären", sage ich und werfe Judy einen grimmigen Blick zu. Sie wendet sich wortlos ab und beobachtet unseren Kindern. Wenn ich doch nur wüsste, was sie ihm erzählt hat. Aaron erhebt sich und sieht mich auffordernd an. Als er geht, weiß ich, dass ich ihm folgen muss. Noch einmal sehe ich meine Frau finster an. Sie hat ihm also wirklich von mir und Toni erzählt?
 

Aaron führt mich ins Wohnzimmer. Als wir es betreten, deutet er auf einen der beiden Sessel und schließt die Tür. Ich komme seiner Aufforderung nach und setze mich. Mir ist, als wenn ich vor Gericht stehe, mit der sicheren Aussicht auf Hinrichtungen.

Der Pate setzt sich in den Sessel vor dem Kamin und faltet die Hände.

"Es ist eigentlich nicht meine Art, mich einzumischen, aber wenn meine Tochter so unglücklich scheint, kann ich nicht wegsehen." Ich schlucke schwer und warte jeden Moment auf meine Anklage, doch Aaron bleibt ruhig.

"Also, was ist los mit euch beiden?" Ich schau ihn ungläubig an.

"Sie hat es dir nicht gesagt?", frage ich fassungslos.

"Nein, sie meint es ist alles in Ordnung, aber ich bin nicht blind Enrico. Ihr geht einander aus dem Weg und seht euch an, wie Feinde." Ich bin überrascht. Sie hat also nur geblufft? Das erleichtert mich so sehr, dass ich erst einmal durchatmen muss. Doch Aarons fragender Blick wird dadurch nur forschender. Was sag ich ihm am besten?

"Judy ist schwanger", scheint mir der plausibelste Grund für einen Streit zu sein, "Und ich habe wohl nicht so reagiert, wie sie sich das gewünscht hat." Aaron runzelt die Stirn und mustert mich kritisch.

"Du glaubst, es ist nicht von dir, oder?"

"Nein, fürs Kinder machen scheine ich ein Talent zu haben. Ich will einfach nicht noch ein Kind. Ich habe schon bei den anderen Beiden versagt." Aaron schaut nachdenklich und lehnt sich im Sessel zurück, er wirkt gefasst. Ob er über die Schwangerschaft bereits informiert ist?

"Judy wird es behalten und ich würde dir raten, sie nicht in eine andere Richtung zu drängen." Seine Worte klingen nach einem Befehl, also erwidere ich schnell: "Ich war einfach nur geschockt, dass ist alles. Das Letzte, was ich will, ist noch ein Kind zu verlieren."

"Noch eines?" Verdammt, das weiß er ja noch gar nicht. Ich seufze und gestehe: "Robin war von mir schwanger. Ich sag doch, ich habe ein Talent dafür, Kinder zu zeugen." Ich versuche mich in einem versöhnlichen Lächeln, doch Aarons Mine verdunkelt sich zunehmends.

"Warum sagst du mir das erst jetzt?", schnaubt er.

"Weil du nicht danach gefragt hast." Der Pate schüttelt abfällig den Kopf, er knirscht mit den Zähnen und bemüht sich, die Fassung nicht zu verlieren.

"Zu meiner Verteidigung: Ich wusste nicht, dass Judy und die Kinder noch am Leben sind, als ich mit ihr schlief", versuche ich die Situation zu retten.

"Erzähl mir keine Märchen, Enrico! Ich weiß, wie lange das mit dir und Robin schon ging." Ich schaue zur Seite weg. Auch wenn es gestimmt hat und ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, dass Judy und die Kinder leben, hat Aaron wohl recht, dass mich das Wissen darum, nicht abgehalten hätte.

"Geht es jetzt auch wieder um eine deiner Affären?" Ich schlucke schwer und wage nicht ihn anzusehen. Was soll ich ihm antworten? Es geht immerhin um seine Tochter, die ich seit Jahren betrüge. Ich sage nichts und traue mich kaum zu atmen. Irgendwann seufzt Aaron resigniert, seine Stimme bleibt ruhig und freundlich, als er sagt: "Ich hatte auch mehr Frauen, als gut für mich war, glaub mir, darin liegt kein Segen. Sieh dir allein meine Töchter an, Jede von einer anderen Mutter und keine Frau, hat es länger als ein Jahr mit mir ausgehalten. Affären halten nicht mal halb so lange. Am Ende bist du so alt und allein, wie ich." Er lächelt. Ist er denn gar nicht wütend auf mich? Wir schweigen eine Weile und irgendwann gleitet Aarons Blick an mir vorbei, hinaus aus dem Fenster. Ein warmes Lächeln erhellt sein Gesicht.

"Steh auf und sieh aus dem Fenster!", fordert er. Ich verstehe nicht, also bleibe ich sitzen.

"Jetzt mach schon und sag mir, was du siehst." Bäume, Gras und Blumen, was soll dort schon zu sehen sein? Ich tue ihm widerwillig den Gefallen, stehe auf und lasse meinen Blick durch den Garten schweifen. Rene und Amy pflanzen noch immer Blumen. Sie sind schon ganz dreckig und haben die Erde an der Kleidung und im Haar kleben. Beide strahlen fröhlich und lachen ausgelassen. Jester steht daneben und zeigt ihnen, wo sie das nächste Loch graben müssen.

Der Pate ist unterdessen aufgestanden, ich spüre seine Anwesenheit direkt hinter mir und zucke zusammen, als er mir seine Hand auf die Schulter legt.

"Familie ist wichtig und das Beste, was einem passieren kann. Du bist ohne Eltern aufgewachsen, gerade du solltest das wissen." Das ist ein leidiges Thema. Meinen Vater kam bei einem Arbeitsunfall an den Docks um, als ich acht war. Meine Mutter verfiel danach in Depression und Drogensucht, die sie mit Prostitution bezahlte. Irgendwann kam sie nicht mehr nach Hause. So lange ich denken kann, sind mein Bruder und ich auf uns allein gestellt.

"Wann hast du dir das letzte Mal die Zeit genommen, deinen Kindern beim Spielen zuzusehen?" Gute Frage. Seit ich zurück bin noch nicht. Es ist das erste Mal, dass ich sie wirklich beobachte. Amy fällt einer der Blumentöpfe aus der Hand, erschrocken betrachtet sie die Scherben, die sich auf dem Beet verteilen. Sie verzieht das Gesicht, sicher beginnt sie gleich zu weinen. Ihr Bruder geht zu ihr und bringt sie mit einer Grimasse wieder zum Lachen.

"Du siehst nicht hin und deswegen verpasst du alles. Du hast zwei tolle Kinder und eine wunderschöne Frau und alle Drei brauchen dich, mehr als du erahnen kannst. Rene wünscht sich nichts mehr, als von dir beachtet zu werden und Amy strahlt immer, wenn sie ein Bild für dich malt oder wenn Judy ihr erklärt, dass sie zu dir fahren. Das alles ist ein Geschenk, dass nur all zu schnell verloren geht. Genieße es, so lange es währt!" Aarons Stimme wird leidend, er kämpft mit den Tränen. Ob er wohl an seine getötete Frau denkt. Judys Mutter, war die einzige, mit der Aaron ein ganzes Jahr verheiratet war, vielleicht wäre er auch heute noch mit ihr zusammen. Aber das alles hat nichts mit mir zu tun. Bisher ist Familie eher eine Belastung für mich gewesen, etwas mit dem man mich unter Druck setzen und mich angreifen kann. Doch die Kinder so unbeschwert zu sehen, erfüllt mich tatsächlich mit einem unbekannten Gefühl von Glück. Wahrscheinlich hat Aaron recht und ich sehe nicht oft genug hin, nehme mir keine Zeit, dass Familienleben zu genießen.
 

Meine Frau steht auf und geht zu den Kindern, sie putzt ihnen den Dreck aus der Kleidung. Ihre langen, schwarzen Haare werden vom Wind verweht und fallen ihr seidig ins Gesicht. Das dünne Kleid, liegt eng um ihren geschmeidigen Körper. Sie ist wirklich wunderschön.

"Sobald du kein Geld mehr hast und deine gelogenen Versprechen nicht halten kannst, ist jede Affäre verschwunden. Wenn es dir wirklich schlecht geht, werden sie es sein, die für dich da sind und niemand sonst", sagt Aaron streng. Ich muss unwillkürlich an die Tage im Bett denken, als ich nicht aufstehen konnte, weil die Schmerzen zu groß und die Verletzungen noch zu schwer waren. Judy ist tatsächlich nicht von meiner Seite gewichen, hat mir beinah jeden Wunsch von den Augen abgelesen und mich gepflegt, während Amy es fertig gebracht hat, dass ich etwas esse.

Toni hingegen, hat sich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub gemacht. Und trotzdem, das mit ihm ist keine Affäre. Ihm gehört mein Herz, meine ganze Leidenschaft. Wahrscheinlich ist es eher umgekehrt. Judy und Robin sind meine Affären gewesen, aber das ist nichts, was ich vor dem alten Herrn zugeben kann.

"Wir lassen deine Lektionen ausfallen. Bis Kenshin heute Nachmittag kommt, möchte ich, dass du dich um deine Familie kümmerst!", bestimmt Aaron, doch dieses Mal fühlt es sich nicht wie ein Befehl, sondern wie eine Bitte an.

"Okay!", entgegne ich und kann meinen Blick nicht von den fröhlichen Gesichtern meiner Familie lassen. Ein seltsamer Frieden überkommt mich, je länger ich sie beobachte.
 

Aaron verlässt das Wohnzimmer, er schließt die Tür nach sich. Ich ignoriere, dass er geht.

Die Kinder haben die letzte Blume gepflanzt, strahlend betrachten sie ihr Werk. Zur Belohnung bringt Jester gerade ein Tablett mit Kuchen und Süßigkeiten zur Veranda. Die Augen meiner Kinder werden immer größer, beschwingt folgen sie ihrer Mutter und dem Butler zum Tisch. Während sie sich über die Süßspeisen hermachen, knurrt mein Magen. Ich habe wieder nicht gefrühstückt. Das mit den regelmäßigen Mahlzeiten, bekomme ich einfach nicht hin, aber wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht noch etwas von dem Kuchen ergattern.
 

Als ich die Veranda erreiche, sind lediglich zwei Stück Apfelkuchen übrigen, eines davon nimmt sich meine Tochter. Ein Schwarm Heuschrecken ist nicht halb so gefräßigen, wie meine Kinder. Als ich zu ihnen gehe und mir das letzte Stück nehme, sehen mich alle böse an.

"Das ist unser Kuchen! Den bekommen nur die, die im Garten geholfen haben, hat Jester gesagt", erklärt mein Sohn. Ich schaue zum Butler, er nickt mir zu. Judy hat auch nicht geholfen und bekommt Kuchen, dann darf ich das erst recht. Mit den Schultern zuckend, beiße ich hinein und sehe Rene herausfordernd an. Er zieht einen Schmollmund und schaut grimmig zurück. Das Kind gönnt mit auch nichts, dabei werde ich von dem kleinen Stück nicht mal satt.

"Kannst du mir noch was zum Frühstück machen, Jester? Ich bin am Verhungern!", bitte ich den Butler. Er nickt verstehend und geht zurück ins Haus.

"Vielfraß!", schimpft Rene.

"Selber! Du hast den halben Kuchen noch im Gesicht kleben." Rene fasst sich an Mund und Wangen und verteilt die Kuchenkrümel weiter im Gesicht. Ich schmunzeln. Verschämt wendet er sich ab. Na zumindest ist er mir beim Essen ähnlich, wenn wir auch sonst nichts gemeinsam zu haben scheinen.

Von dem Jungen sehe ich zu Judy. Als sie sich meines Blickes bewusst wird, wendet sie sich demonstrativ ab. Ich setze mich in einen der Stühle, direkt neben sie und betrachte sie so lange eindringlich, bis sie mir zumindest einen kurzen Moment ihre Aufmerksamkeit schenkt.

"Warum hast du's ihm nicht gesagt?", will ich wissen und bemühe mich um einen freundlichen Ton. Sie lächelt bitter.

"Wer sagt denn, dass ich das nicht noch mache?" Sie lügt. Wenn sie etwas in die Tat umsetzen will, fackelt sie nie lange. Es muss einen Grund dafür geben, dass sie geschwiegen hat.

"Das ist nicht die Antwort auf meine Frage!" Judy sagt nichts. Wie ich es hasse, wenn sie mich ignoriert. Sonst quasselt sie doch auch, wie ein Wasserfall, warum nicht jetzt? Ich will gerade weiter nachhaken, als Amy zwischen uns auftaucht. Ihr großen, dunklen Augen betrachten mich erwartungsvoll, sie streckt die Arme nach mir aus. Ich nehme sie hoch und setzte sie auf meinen Schoß. Das Mädchen strahlt und wippt vergnügt mit den Beinen, während sie sich die letzten Kuchenkrümel vom Tisch fischt. Aaron hat wohl recht, sie ist wirklich immer fröhlich, wenn sie bei mir sein kann und ich bin es auch jedes Mal, wenn ich ihr Lächeln sehe.

"Was wollte Vater von dir?", will Judy auf einmal wissen.

"Mir ins Gewissen reden."

"Und, hat es was gebracht?"

"Ich sitze hier bei euch, also muss es das wohl." Judys Augen bekommen ein seltsamen Glanz, ich kann ihren Blick nicht deuten.
 

Jester kommt mit einem Tablett zurück. Es duftet nach Speck und Eiern, selbst eine Karaffe frischen Orangensaft hat er gepresst. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ungeduldig warte ich darauf, dass er es endlich vor mir abstellt. Der Butler hat sich sogar die Mühe gemacht, eine Melone zu vierteln. Um in Ruhe essen zu können, nehme ich Amy von meinem Schoß und setze sie auf einen freien Stuhl. Sie schaut mich vorwurfsvoll an, doch als ich ihr ein Stück der Melone reiche, strahlt sie wieder. Wie gut, dass sie so einfach zu bestechen ist. Mein Sohn hingegen schaut immer wieder grimmig in meine Richtung. Als ich ihm auch ein Stück Melone reiche, dreht er sich nur demonstrativ weg. Schulterzuckend esse ich das Stück selbst und mache mich gierig über das gebrachte Frühstück her.

Amy pult aus ihrer Melone jeden einzelnen Kern heraus und häuft sie auf dem Tisch. Erst als sie keinen mehr finden kann, beißt sie hinein. Ganz wie ihre Mutter, ob sie sich das von ihr abgeschaut hat? Mir sind die Kerne egal, die Geduld sie alle heraus zu sammeln bringe ich nicht auf. Amy verschlingt das rote Fruchtfleisch, der Saft läuft ihr rechts und links die Wangen hinab. Bald ist nur noch die grüne Rinde übrig. Sie legt die Überreste mit auf meinen Teller, dann schiebt sie sich die aufgehäuften Kerne in die hohle Hand. Was sie jetzt wohl damit vor hat? Vorsichtig rutscht sie vom Stuhl und legt ihre zweite Hand über die Kerne, dann läuft sie zum Blumenbeet, in dem sie und Rene gepflanzt haben. Mit den Knien voran, wirft sie sich in die feuchte Erde und beginnt ein Loch zu graben. Als es ihr tief genug ist, wirft sie alle Samen hinein und schüttet das Loch wieder zu. Ich muss über ihr Vorhaben lächeln. Demnächst werden wir also Melonen ernten können.

Amy betrachtet ihr Werk zufrieden, dann steht sie auf. Ihr weißes Kleid hat nun zwei weitere braune Flecke hinzu bekommen. Ihre Mutter rollt genervt mit den Augen. Warum zieht sie dem Kind auch ein weißes Kleid an?

Unser Tochter erhebt sich und kommt zu uns zurück.

„Wuuuf!“ Wie angewurzelt bleibt das Mädchen auf halben Wege stehen. Furchtsam schaut sie zum Zwinger. Scotch zwängt seine Schnauze zwischen den Stäben hindurch und knurrt sie an. Amy zuckt zusammen und geht einen großen Bogen um den Käfig herum.

Seltsam! Der Hund reagiert, als wenn Amy ein Eindringling wäre, dabei wohnt sie doch schon eine ganze Weile hier. Hat sich eigentlich noch keiner die Mühe gemacht, dem Wachhund klar zu machen, dass die Kinder zur Familie gehören?

"Habt ihr Würstchen im Haus?", will ich von Jester wissen.

"Bist du denn noch immer nicht satt?" Er betrachtet das leere Tablett, seine Augen weiten sich.

"Nein. nicht für mich, für die Hunde."

"Die haben doch Futter", stellt meine Frau mit Blick in den Zwinger fest. Tatsächlich stehen dort zwei mit Trockenfutter gefüllter Näpfe und zwei weitere mit Wasser. Beides haben die Hunde bisher noch nicht angerührt. Kein Wunder, Aaron füttert sie immer mit dem selben Futter, das dürfte den Beiden schon zum Hals heraus hängen.

"Bring mir einfach etwas Fleisch oder Wurst!", bitte ich den Butler noch einmal. Er zuckt mit den Schultern und geht zurück ins Haus.

"Was hast du vor?", will meine Frau wissen und beäugt mich misstrauisch.

Ich lächle nur geheimnisvoll und setzte Amy zurück auf meinen Schoß. Vergnügt baumelt sie mit den Beinen. Das Kind ahnt ja auch nicht, was ich gleich mit ihr vor habe. Mit einem falschen Grinsen im Gesicht, streichle ich ihr über die Haare. Judy mustert mich kritisch und auch Rene schaut mich mit einem warnenden Blick an, dabei blüht dem Jungen genau das Selbe. Ich werfe ihm ebenfalls einen aufforderndes Grinsen zu, bis er verwirrt darunter hinweg sieht.
 

Jester kommt mit einer Hand voll Würstchen zurück. Ich nicke ihm dankend zu und setzte Amy ab, um sie entgegen zu nehmen. Meine Tochter schaut mich mit großen Augen fragend an. Ich lächle auffordernd, als ich sich sie an die Hand nehme und auf direktem Wege zum Zwinger führe. Das Kind folgt mir anstandslos, bis uns nur noch zwei Schritte von den Hunden trennen, dann bleibt sie abrupt stehen und sieht mich kopfschüttelnd an. Ich drücke ihre kleine Hand. Sie muss wirklich keine Angst haben.

Scotch schnüffelt bereits neugierig und streckt die Schnauze nach ihr aus. Das Kind macht einen Schritt zurück und betrachtet mich zweifelnd. Ich lächle versöhnlich und gebe ihr die Würstchen. Abwehrend schaut mich an. Die Arme streckt sie weit von sich, um sie mir zurück zu geben. Doch anstatt sie ihr abzunehmen, fische ich den Schlüssel vom Zwingerdach. Brandy läuft aufgeregt vor der Tür hin und her und drängt Scotch schwanzwedelnd zur Seite. Ihr Interesse gilt mir. Sie wuft vor Vorfreude auf eine Streicheleinheit. Scotchs Blick hingegen ist an den Würstchen festgeheftet, seine Zunge hängt weit aus dem Maul heraus und ein langer Sabberfaden läuft an ihr hinab. Seine Aufgabe als Wachhund, hat er bereits vergessen. Mit ihm werden wir anfangen. Ich schließe den Zwinger auf und trete ein. Amy, geht einen weiteren Schritt zurück und schaut mich ängstlich an. Brandy kreist mir sofort um die Beine und schiebt ihren Kopf unter meinen Arm. Immer wieder stupst sie mich mit der Schnauze an. Scotch hingegen versucht sich an mir vorbei und hinaus aus dem Zwinger zu schieben.

"Enrico, lass den Mist! Das sind Wachhunde!", mahnt Judy. Sie richtet sich auf und durchbohrt mich, mit einem drohenden Blick. Ich ignoriere ihren Protest.

„Ab!“, mit ausgestreckten Zeigefinger, schicke ich Brandy in eine Ecke des Zwingers. Sie geht gehorsam dort hin und setzt sich. Bevor sich Scotch an mir vorbei zwängen kann, packe ich ihn am Halsband und ziehe ihn daran ins Freie. Der Hund hat nur ein Ziel, die Würstchen in den Händen meiner Tochter. Er drängt in ihre Richtung.

"Sitz!", weiße ich ihn streng an. Er reagiert nicht.

"Sitz!", sage ich lauter. Der Rüde sieht erschrocken zu mir und setzt sich. Als er endlich Ruhe gibt, schließe ich den Zwinger. Amy ist noch einen weiteren Schritt zurückgewichen und betrachtet den Hund ängstlich. Ich strecke meine Hand nach ihre aus und winke sie zu mir, doch das Mädchen bleibt wie angewurzelt stehen.

"Du musst keine Angst haben. Scotch liebt Würstchen und Menschen die ihn damit füttern. Komm her!", rufe ich ihr zu. Judy kommt energisch einen Schritt näher: "Enrico, das ist ein Wachhund, mit dem ist nicht zu spaßen. Sperr ihn ein! Sofort!"

"Was macht er denn da?" Aaron tritt auf die Veranda. Er pafft an einer Zigarre und betrachtet mich kritisch.

"Sag was, Vater!"

"Enrico, die Hunde sind nicht zum Spielen da!" Das ist mir klar. Das hier wird auch kein Spiel, sondern eine lebenswichtige Lektion.

"Wenn die Kindern hier wohnen, müssen sie lernen, mit den Hunden umzugehen!", entscheide ich und sehe ihn und meine Frau streng an. Was wenn jemand mal vergisst die Hunde einzusperren und Amy und Rene sorglos in den Garten gehen?

"Platz und bleib!", weise ich Scotch an, der schon wieder an seinem Halsband zieht. Gehorsam legt sich der Rüde ins Gras und betrachtet mich aufmerksam. Ich wage es sein Halsband loszulassen und kann das erschrockene Stöhnen von Judy und Aaron hören.

Der Rüde rührt sich nicht vom Fleck und auch die Würste scheint aus seinen Gedanken verschwunden zu sein. Die Ohren gespitzt, lässt er mich nicht aus den Augen und wartet, so wie ich es ihm befohlen habe. Er ist zwar verfressen, aber gut erzogen, es wird schon klappen.

Langsam entferne ich mich von ihm. Ich lasse den Hund keinen Moment aus den Augen, während ich zu meiner Tochter gehe. Er rührt sich nicht, seine Ruhte liegt flach auf dem Boden, die Ohren zucken aufmerksam. Solange ich ihm keinen neuen Befehl gebe, wird Scotch seine Position nicht verlassen.

Als ich Amy erreiche, steht sie noch immer, wie angewurzelt da. Ihre dunklen Mandelaugen, mustern den Hund wild, ihre kleinen Hände zittern. Die Würstchen hält sie weit von sich weg, bereit sie im Notfall sofort fallen zu lassen. Ich nehme sie ihr ab und greife ihre kalte Hand. Mit einem warmen Lächeln betrachte ich sie.

„Er wird dir nichts tun, ich verspreche es dir“, versuche ich ihr Mut zu machen. Das Kind schluckt schwer und nickt vorsichtig. Gemeinsam gehen wir einen ersten Schritt auf den Hund zu.

Scotch hält die Nase in den Wind, sein Blick wandert auf die Würstchen in meiner Hand. Er robbt ungeduldig eine Fußlänge auf uns zu. Ernst sehe ich den Rüden an und warne ihn laut: „Bleib!“

Er leckt sich über die Lefzen und rutscht zurück. Sein Schwanz zuckt ungeduldig und fegt die Grashalme von einer auf die andere Seite.

„Rawuff!“, bellt er, als wir einen weiteren Schritt näher kommen.

Amy zuckt zusammen und versteckt sich hinter meinem Rücken, ihre kleinen Finger krallen sich in mein Hosenbein.

"Siehst du nicht, dass sie Angst hat?", ruft Judy und dreht sich zu ihrem Vater, "Mach doch was!"

"Lass ihn machen!"

"Was?" Sie sieht ihren Vater entsetzt an. Der Pate lässt sich in einen der Stühle nieder und lehnt sich gelassen zurück.

"Wir hätten die Kinder längst an die Hunde gewöhnen sollen." Mein Reden! Amys Angst ist ihr sicher von ihrer Mutter eingeredet wurden, damit sie nicht allein in den Garten geht. Dabei liebt meine Tochter Hunde über alles. Wir haben früher selbst zwei Schäferhunde gehabt, die den Hof der Fabrik bewachten. Wenn wir Amy nicht finden konnten, lag sie meist in der Hundehütte, auf einem der zwei Rüden und ließ sich das Gesicht und die Ohren sauber lecken.

Judy sieht zwischen mir und ihrem Vater hin und her, schließlich verschränkt sie genervt die Arme.

„Na schön, macht doch was ihr wollt!“ Dafür brauche ich ihre Erlaubnis nicht.

Als wir den Rüden endlich erreichen, krallen sich die Finger meiner Tochter, noch tiefer in mein Hosenbein. Wild mustert sie die Schnauze des Rüden, der uns mit schief gelegtem Kopf betrachtet.

Ich gehe vor ihm in die Hocke und streiche ihm über den Kopf.

„Guter Junge!“ Er legt die Stirn in meine Hand. Sein Hals wird immer länger, die Schnauze streckt er nach den Würstchen aus. Er hat wirklich lange genug darauf gewartet. Ich halte ihm eine vor die Nase. Ganz vorsichtig, nur mit zwei Schneidezähnen, zieht er sie mir aus den Fingern. Erst als ich sie nicht mehr berühre, saugt er sie gleich einem Staubsauger auf, kaut hastig und würgt sie hinunter, als wenn es die letzte Mahlzeit in seinem Leben wäre.

Amy beobachtet uns aufgeregt, immer wieder schielt sie um meine Beine herum.

„Er ist ganz lieb, wirklich“, lasse ich sie wissen und kraule den Rüden hinter den Ohren. Scotch beachtet das Kind nicht, seine Nase streckt er in Richtung der Würstchen. Ich gebe ihm noch eines und wieder greift er es vorsichtig mit den Eckzähnen.

Die Angst in den Augen meiner Tochter weicht kindlicher Neugier. Sie kommt einen Schritt um mich herum. Ihre Finger wandern meinen Arm hinauf, bis sie die Hand mit den Würstchen erreicht. Ich gebe ihr eine ab und schaue sie auffordernd an. Wie beiläufig greife ich nach dem Halsband des Hundes. Sollte Scotch doch auf dumme Ideen kommen, kann ich ihn so direkt wegziehen.

„Braves Hundi“, flüstert meine Tochter und schwenkt das Würstchen vor Scotchs Nase. Der Rüde schnüffelt daran und sieht mich dann fragend an. Eigentlich darf Scotch kein Futter von Fremden annehmen. Lediglich Aaron, Jester und ich, können ihn aus der Hand füttern. So bleibt gewährleistet, dass keiner den Hunden Giftköder unterjubeln kann.

Amy streckt ihre Hand weiter aus, legt die Wurst dem Hund an die Nase. Scotch schnüffelt und leckt sich immer wieder über die Schnauze. Ein langer Sabberfaden fließt in die grüne Wiese, doch er wagt nicht hinein zu beißen. Guter Hund!

Erst als ich meine Hand über die meiner Tochter lege und mit ihr Scotch präsentiere, wagt er es, sie zu nehmen. Er ist noch behutsamer, greift sie kaum merklich. Als Amy sie loslässt, gibt auch er sie frei. Sie landet im Gras, vor den Pfoten des Hundes. Mit einer Kralle zieht Scotch sie zu sich und frisst sie erst, als sie außer Reichweite der Kinderhand ist. Während er sie genüsslich zerkaut, nehme ich Amys Hand und lege sie auf den Kopf des Hundes. Gemeinsam kraulen wird den Rüden hinter den Ohren. Ich lege ihm die restlichen Würstchen zwischen die Pfoten. Sein Schwanz wedelt freudig. Die kleinen Finger an seinem Kopf stört ihn nicht, auch nicht Amys freudiges Quietschen, als sie die zweite Hand in seinem glatten Rückenfell vergräbt. Er schaut noch nicht einmal auf. Trotzdem behalte ich sein Halsband sicher im Griff. Bisher habe ich Aarons Wachhunde noch nicht im Umgang mit Kindern erlebt. Meine Hunde sind damit aufgewachsen. Scotch und Brandy hingegen kennen keine groben Kinderhände, die ihnen das Fell raufen.

Als der Rüde den letzten Wurstzipfel gefressen und das Grass um seine Pfoten noch einmal gründlich abgesucht hat, dreht er den Kopf und betrachtet die kleinen Hände kritisch. Amy löst sich von mir und reibt dem Hund fröhlich strahlend den ganzen Rücken ab. Kleine Fellbüschel loser Haare rollen sich darüber hinweg. Die Muskeln des Rüden spannen sich an. Ein mulmiges Gefühl überkommt mich. Mein Griff um das Halsband wird fester. Ich will Amy gerade von ihm wegziehen, als sich Scotch zur Seite dreht und auf den Rücken fallen lässt. Er streckt die Pfoten in die Höhe und präsentiert meiner Tochter seinen hellen Bauch. Amy quietscht vergnügt, sie kennt diese Aufforderung und massiert den dargebotenen Brustkorb des Hundes. Scotch wälzt sich auf der Wiese, sein rechter Hinterlauf zuckt, er genießt die Streicheleinheiten. Offensichtlich habe ich mir völlig zu unrecht Sorgen gemacht. Ich gebe das Halsband frei und kraule Scotch beide Ohren.

„Du bist eben doch ein zu groß geratenes Kuscheltier“, necke ich ihn, während er versucht mir das Gesicht zu lecken. Seine raue Schlabberzunge berührt mich an Nase und Wange. So viel Aufmerksamkeit auf einmal, ist er nicht gewöhnt. Sein Hinterlauf dreht bereits durch, sein Schweif mäht den Rassen, während seine Zunge große Pfützen bildet. Schließlich windet er sich unter uns heraus und springt auf die Beine. Für einen Moment bin ich versucht nach Amy zu greifen und sie hinter mich zu ziehen, doch der Rüde prescht davon. Er steuert zielsicher einen nahen Stock an, den er unter einer Fischte hervor zieht und läuft damit fröhlich bellend davon. Ich atme erleichtert durch. Er will nur spielen, keinen Moment lang ist er aggressiv gewesen. Alles ist gut.

Amy versteht die Aufforderung sofort. Als sie dem Hund nachjagt lasse ich sie gehen. Das Kind ist mit Hunden aufgewachsen, sie kennt ihre Körpersprache. Während ich mich erhebe, hat Amy den Rüden eingeholt. Sie bleiben voreinander stehen und betrachten sich argwöhnisch. Ich halte den Atem an. War das wirklich klug von mir? Auch Aaron und Judy beobachten das Geschehen besorgt. Beide drücken sich aus ihrem Stuhl.

Scotch macht einen Schritt auf das Kind zu. Ich hole Luft, um den Hund zurückzurufen.

Der Rüde legt den Stock im Gras ab und tritt einige Schritte zurück. Auffordernd legt er den Oberkörper ins Grass und wackelt mit dem Hinterteil. Immer wieder wuft er freundlich.

Amy nimmt den Stock.

„Wuhhff!“, bellt Scotch lauter und springt in die Luft. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Wenn er sie jetzt anspringt, werde ich nicht mehr schnell genug dazwischen gehen können.

Der Hund landet butterweich, auf genau der selben Stelle, von der er abgesprungen ist. Er macht keinen Schritt nach vorn. Selbst als Amy ausholt und den Stock ungeschickter Weiße, nur wenige Zentimeter vor sich fallen lässt, bleibt er auf Abstand. Erst bei Amys zweitem Versuch, fliegt er weit genug, das der Rüde es wagt, ihm nach zu jagen. Ich atme erleichtert durch und greife mir an mein bebendes Herz. Von der Veranda aus, kann ich die mahnenden Blicke Judys und Aarons auf mir spüren. Mit einem verlegenen Grinsen schaue ich zu ihnen, und kratze mich am Hinterkopf. Das hätte schief gehen können. Der Pate schüttelt nur mit dem Kopf und macht es sich in seinem Stuhl gemütlich. Meine Frau betrachtet mich noch eine ganze Weile mahnend und auch Rene sieht finster drein. Ich ignoriere ihre Blicke und schaue meinen Sohn auffordernd an. Amy hat ihre Aufgabe gut gemeistert, nun ist er an der Reihe. Mein Junge ahnt was ihm blüht. Er greift nach seinem Glas Limonade und setzt sich demonstrativ auf einen der Stühle. Als ich auf die Veranda zuhalte und ihn noch immer ansehe, meint er ernst: „Vergiss es! Ich fasse die Viecher nicht an!“ Mit Hunden hat sich mein Sohn schon immer schwer getan. Tonis weißer Perser, war ihm lieber. Der Kater verfolgte ihn auf Schritt und Tritt und ließ sich von ihm durch die Fabrikhallen tragen. Ich hingegen konnte das Katzenvieh nicht mal streicheln, ohne angefallen zu werden. Dafür machten die Schäferhunde einen großen Bogen um meinen Sohn. Na das kann etwas werden.

Als ich den Tisch erreiche, sehe ich ihn noch immer auffordern an.

„Los komm! Wir holen Brandy auch noch aus dem Zwinger!“, fordere ich ihn auf. Rene schaut nicht auf, er nippt an seinem Glas und bleibt demonstrativ sitzen.

„Nein!“

„Komm schon, sie müssen auch auf dich hören!“

„Nein, lass mich in Ruhe! Ich mag keine Hunde!“ Ich rolle mit den Augen. Hat dieses Kind denn gar nichts von mir?

„Du musst sie nicht mögen, nur mit ihnen umgehen können“, sage ich streng. Er schüttelt mit dem Kopf und klammert sich an seinem Glas fest, seine Füße harkt er hinter den Stuhlbeinen ein. Ich werde eine Brechstange brauchen, um ihn von dort loszubekommen. Seufzend umrunde ich den Tisch und ziehe ihm das Glas aus der Hand.

„Ich will nicht!“, schreit er bedrohlich, als ich es auf dem Tisch abstelle. Seine Mutter packt mich am Handgelenk, sie sieht mich eindringlich an.

„Lass ihn doch!“

„Nein!“, entgegne ich und greife mir Rene samt Stuhl. Als er wild zu zappeln beginnt, ziehe ich ihm den Stuhl unter dem Hintern weg und stelle ihn wieder an seinen Platz. Mit dem strampelnden Kind unter dem Arm, verlasse ich die Veranda.

„Lass mich los! Du bist gemein! Ich will nicht!“ Seine Stimme wird immer bedrohlicher, je näher wir dem Zwinger kommen. Er tritt nach mir, immer wieder, bis er mich am Oberschenkel und zwischen die Rippen trifft. Ein jeher Schmerz zuckt durch meinen Oberkörper, reflexartig lasse ich ihn los. Unsanft landet der Junge im Gras, auf allen Vieren hockend sieht er zu mir auf. Seine eisblauen Augen funkeln mich wütend an.

„Ich hasse dich!“, schreit er und rennt davon. Zurück zur Veranda, unter den Tisch hindurch, und durch die Glastür ins Haus. Nach ihm kracht sie ins Schloss.

Seufzend sehe ich ihm nach. So schnell werde ich den nicht wieder sehen. Den Jungen zu seinem Glück zu zwingen, war wohl keine gute Idee gewesen. Amy hätte sicher gelacht und vor Freude gequietscht, wenn ich sie einfach wegtrage, aber er.

„Das hast du nun davon!“, lacht Judy und gießt sich in aller Ruhe ein Glas Limonade ein. Aaron zuckt mit den Schultern und Schmatzt abwertend, dann nimmt er sich eine Zeitung vom Tisch und schlägt sie auf. Ich sehe schon, sie werden mir mit Rene nicht helfen. Was mache ich nur mit diesem Kind, wenn ich es nicht mal schaffe, ihn mit den Wachhunden vertraut zu machen? Während Amy mit Scotch durch den Garten tobt und beide schon längst ein Herz und eine Seele sind, muss ich mir eingestehen, dass sich Rene und ich einmal mehr voneinander entfernt haben. Resigniert laufe ich zur Veranda und um den Tisch herum. Ich schiebe die Glastür auf und schaue mich im Wohnzimmer um. Der Raum ist leer, ich kann keinen blonden Haarschopf erkennen. Das Anwesen hat gut zwei dutzend Zimmer, alle groß genug, um einen Siebenjährigen zu verschlucken. Wo soll ich mit der Suche anfangen?

Leises Schluchzen dringt vom Flur herein. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich wollte den Jungen nicht zum Weinen bringen. Mit langsamen Schritten folge dem Geräusch, hinaus aus dem Wohnzimmer, bis hin zur großen Treppe, die in den erste Stock führt. Rene sitzt auf der vierten Stufe, den Kopf hat er auf die Knie gebettet. Mit jedem Schritt, den ich näher komme, wird sein Schluchzen lauter und herzzerreißender. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und setze mich zu ihm. Sein blonder Wuschelkopf hebt sich, erschrocken schaut er mich an und rutscht von mir weg. Ich sehe unter seinem anklagenden Blick hinweg und falte die Hände.

„Es tut mir leid“, zwinge ich mich zu sagen, auch wenn es nicht stimmt. Es war doch nichts schlimmes, was ich mit ihm vor hatte. Er soll sich hier doch einfach nur frei bewegen können. Wie mache ich ihm das nur klar?

„Wieso bist du immer so fies zu mir?“ Keine Ahnung? Vielleicht weil er mich mit seiner Art bis aufs Blut reizt? Weil er ungehorsam ist und nicht tut, was ich ihm sage? Schon bei dem Gedanken daran, steigt neue Wut in mir auf. Manchmal möchte ich ihm einfach nur den Hintern versohlen. Ich verdränge den Gedanken und die Antworten auf seine Frage. Was genau macht mich nur so schrecklich wütend?

„Ich habe Angst um dich!“, sage ich und sehe meinen Sohn von unten herauf an. Er dreht sich weg.

„Ja, schon klar! Deswegen willst du mich auch den Hunden zum Fraß vorwerfen!“ Meine Hände balle ich zu Fäusten, heißer Zorn steigt in mir auf. Ich schütte ihm hier mein Herz aus und er reagiert immer noch abweisend. Tief atme ich durch und versuche mir meine Wut nicht anmerken zu lassen.

„Ich will dass sie dich beschützen! Du sollst mit ihnen umgehen können!“

„Mhm!“ Rene zuckt mit den Schultern. Mit dem Handrücken wischt er sich die Tränen von den Wangen und zieht die Nase hoch. Ich betrachte den Jungen lange, ohne ein Wort zu sagen. Seine abgewandte Haltung, der verstohlene Blick, den er mir immer wieder zwischen seinen blonden Haaren hindurch zuwirft.

„Du hasst mich wirklich, oder?“ Resigniert wende ich mich von ihm ab.

„Du mich doch auch“, murrt er kleinlaut. Ich lächle bitter. So denkt er also von mir?

„Du gehst mir schon manchmal ganz schön auf die Nerven, du Rotzlöffel!“, sage ich mit gespielter Ernsthaftigkeit. Mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, betrachte ich meinen Sohn. Er schaut verwirrt und ängstlich zurück. Mein Grinsen wird breiter. Bevor er aufspringen und wegrennen kann, lege ich ihm den Arm um die Schulter und ziehe ihn zu mir. Die Knöchel meiner Faust, reibe ich durch seine blonden Haare. Der Junge versucht sich von mir wegzudrücken, er dreht und windet sich.

„Ahh nein! Lass das!“ Er strampelt noch mehr. Um ihn besser festhalten zu können, hebe ich ihn hoch, klemme ihn mir unter den Arm und stehe auf. Er quietscht erschrocken und wirft mir einen finstersten Blicke zu.

„Weißt du, was ich wirklich hasse? Dass du immer ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machst. Lach doch mal!“, rate ich ihm und drehe ihn auf den Kopf. Sein Shirt rutscht ihm vom Bauch und verfängt sich zwischen seinen Achseln. Seine Arme baumeln nutzlos darin herum. So bewegungsunfähig gefällt er mir. Ich nutze die Gunst der Stunde, um ihn mal ordentlich durch zu kitzeln. Vielleicht entlocke ich ihm ja damit ein Lächeln? Rene zappelt und quietscht. Ich bin mir nicht sicher, ob er das aus Vergnügen tut, oder weil er mich jetzt noch mehr hasst.

„Nein, nicht! Aufhören!“

„Wirst du jetzt ein braver Junge sein und tun, was man dir sagt?“, will ich wissen und kitzel ihn besonders intensiv an den Seiten, wo er es am wenigsten leiden kann. Er quietscht und strampelt, ich muss mich anstrengen ihn nicht los und auf die Stufen fallenzulassen.

„Nein!“, brummt er und unterdrückt mit aller Kraft das Lachen. Trotzdem kann ich den Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht erkennen.

„Wirklich nicht?“

„Nein, niemals!“ Sturer Hund! Ich muss wohl härter Geschütze auffahren.

„Wie du willst!“ Ich hole tief Luft und Puste ihm auf den nackten Bauch. Als Baby hat er sich dabei immer kaputtgelacht und auch jetzt kann er es sich nicht verkneifen.

„Nein, haahh hhaaa! Das ist gemein!“ Vergeblich versucht er ernst zu bleiben. Noch einmal hole ich Luft und puste sie ihm ungebremst auf den Bauch. Er quietscht hell und laut, sein Lachen erfüllt die ganze Empfangshalle. Zufrieden sehe ich ihm dabei zu und puste noch mal.

„Hhaaa haa! Okay, okay, ich bin lieb! Lass mich runter“, keucht er atemlos. Geht doch!

„Bist du dir sicher?“, frage ich vorsichtshalber und kitzel ihn noch einmal durch.

„Jaahhh! Bitte! Gnade!“ Na gut, dann will ich mal nicht so sein. Ich gehe die vier Stufen hinab und setzte ihn auf der letzten ab. Keuchend sieht er mich an, er runzelt die Stirn, der finstre Blick kehrt in seine Mundwinkel zurück. Er streift sich das Shirt wieder über, dann grinst er gehässig.

„Reingefallen!“ Der Junge streckt mir die Zunge raus und flüchtet. Ich schaue ihm verwirrt nach. Die kleine Mistkröte hat mich verarscht? Aber nicht mit mir. Ich setze ihm nach. Rene dreht sich immer wieder nach mir um. Sein vergnügtes Lachen verschwindet hinter der Tür zum Wohnzimmer, die er mir vor der Nase zuwirft. Diese Ratte! Als ich das Zimmer öffne, ist er bereits im Garten verschwunden. Auch die Verandatür hat er zugeschlagen. Während ich sie aufschiebe und ins Freie trete, suche ich den Garten nach ihm ab, doch ich kann das Kind nirgendwo sehen. Wohin hat er sich nur so schnell verkrochen? Ich mache einen weiteren Schritt ins Freie, als mich etwas eisiges am Kopf erwischt. Erschrocken fahre ich zusammen. Kalte Limonade läuft mir ins Gesicht, zwei Eiswürfel verfangen sich in meiner Kleidung und lassen mich erschaudern. Rene steht auf der weißen Holzbank, direkt neben mir. Er grinst breit und hält eine leere Glaskaraffe in der Hand. Frech grinst er mich an. Dieser kleine Teufelsbraten!

Mein Blick streift den grünen Gartenschlauch, direkt unter der Bank. Was er kann, kann ich besser. Ich erwidere seinen fiesen Blick.

„Lauf!“, rate ich ihm und bücke mich nach dem Schlauch. Seine eisblauen Augen folgen mir. Als er mein Vorhaben erkennt, drückt er die Glaskaraffe seiner Mutter in die Hand und ergreift die Flucht. Laut lachend flüchtet er von der Veranda. Mit zwei schnellen Handgriffen, drehe ich den Hahn an der Wand auf und setze ihm nach. Das Wasser strömt in einem weiten Strahl auf den Rasen. Ich klemme das Ende eng zusammen, um die Reichweite zu erhöhen. Obwohl Rene ein ganz schönes Tempo vorlegt und uns gut drei Schrittlängen trennen, treffe ich ihn im Rücken.

„Ahhh! Das ist unfair!“, kreischt er.

„Ja? Sagt wer?“, entgegne ich gelassen und spritze ihm den Wasserstrahl so lange in den Rücken, bis sich seine ganze Kleidung voll gesaugt hat. Es ist ein heißer Sommertag und die Abkühlung wird seinem Hitzkopf sicher gut tun. Rene schlägt Hacken und flüchtet weiter, doch bei diesem Spiel bin ich schneller. Egal wohin er läuft, ich bleibe ihm dicht auf den Fersen und der Wasserstrahl in seinem Rücken. Erst ein heftiger Ruck lässt mich inne halten. Der Schlauch flutscht mir aus den Händen, verwirrt drehe ich mich um. Amy grinst mich breit an, sie hält das Ende in der Hand und richtet es direkt auf mein Gesicht. Bevor ich reagieren kann, strömt mir das eisige Nass in die Haare, in die Augen und den Hals hinab. Rene kommt zurück, er hilft seiner Schwester und beide drehen den Spieß um. Bald klebt mir die Kleidung eng am Körper, Wasser sammelt sich in meinen Schuhen und ist einfach über all. Ich schaffe es gerade so, meine Hand zwischen den Strahl und mein Gesicht zu bringen, um atmen zu können.

„Wuff!“, bellt es neben mir. Scotch springt in den Wasserstrahl und versucht ihn mit denn Zähnen zu fangen. Gemeinsam mit den Kindern umkreist er mich. Ihr helles Lachen und sein Gebell sind überall. Der grüne Schlauch, ziehen sie hinter sich her, gleich einer Schlange windet er sich an mir vorbei. Ich lächle siegessicher und trete einfach darauf. Das Wasser staut sich, der Strahl schwächt ab und endet in einem Tröpfeln. Ratlos sehen die Kinder in das Ende. Wie dumm von ihnen! Ich nehme den Fuß vom Schlau, das Wasser sprudelt wieder ungehindert und den Beiden direkt ins Gesicht. Erschrocken weichen sie zurück. Ich kann nicht anders, ich muss einfach herzhaft lachen. Selbst als sie mich wieder unter Beschuss nehmen, kann ich nicht damit aufhören. Ihre erschrockenen Gesichter sind einfach zu köstlich gewesen.
 

Bis zum Mittagessen toben wir durch den Garten und merken den wachsenden Hunger erst, als Jester auf der Veranda aufzutischen beginnt. Rene und Amy lassen alles stehen und liegen und laufen dem duftenden Schweinebraten entgegen. Die Haare hängen ihnen glatt vom Kopf, ihre Kleidung tropft. Als sie sich setzen, bildet sich schnell, eine immer größer werdende Pfütze unter ihren Stühlen. Mir selbst geht es ähnlich: Von den Haaren läuft mir das Wasser ins Gesicht. Ich wische mir die nassen Strähnen aus den Augen. Den Schlauch haben die Kinder im Gras liegen gelassen. Scotch sitzt davor und schlabbert das Wasser auf, das noch immer aus ihm läuft, doch ganz langsam wird es weniger. Als ich zur Veranda sehe, dreht Aaron den Hahn gerade zu. Den Garten haben wir inzwischen ausreichend gegossen. Das saftig grüne Grase gurgelt unter meinen Schritten. Was für eine Sauerei. Ich bin von Kopf bis Fuß klitschnass. Die Abkühlung tut zwar gut, aber die Klamotten sind nun schwer und reiben auf der Haut.

Dafür strahlen meine Kinder über beide Ohren. So ausgelassen, habe ich sie seit meiner Rückkehr nicht mehr erlebt.

Als ich auf die Veranda trete, mustert mich Judy amüsiert. Sie lächelt mich an. Das hat sie schon lange nicht mehr getan. Ich schaue verlegen unter ihrem Blick hinweg und setze mich zu ihnen.

„Vielleicht ist bei dir ja doch noch nicht Hopfen und Malz verloren“, neckt Aaron mich.

Ich bin mir nicht sicher, ob seine Worte ernst gemeint sind und sehe unter seinem Blick hinweg, zum gedeckten Tisch. Das Fleisch ist bereits in handliche Scheiben geschnitten, Soße und Klöße auf den Tellern verteilt. Jester hat neue Limonade gebracht und jedem bereits ein Glas eingeschenkt. Es durftet alles köstlich und mir knurrt der Magen, doch ich kann mich nicht vom Anblick meiner Familie losreißen. Rene und Amy fallen wie ausgehungerte Tiere über ihr Stück Fleisch her. Mein Sohn macht sich nicht mal die Mühe es klein zu schneiden. Er hat es mit der Gabel aufgespießt und beißt große Stücke vom Ganzen ab. Meine Tochter ist nicht viel gesitteter. Auf ihrer Gabel steckt ein Klos, den sie sich versucht im Ganzen in den Mund zu schieben. Judy hingegen sitzt aufrecht und teilt alles in mundgerechte Portionen, die sie langsam aber genüsslich zu verspeisen beginnt. In ihren schwarzen Haaren steckt ein silberner Kamm, mit einer eingearbeiteten Lotusblume aus Edelsteine. Heute trägt sie einen Zopf, der ihr zur rechten Seite über die Brust fällt. Ich erwische mich dabei, wie mein Blick in den Ausschnitt ihres Samtkleides wandert. Ihr großer Bussen wölbt sich daraus hervor. Wie gern würde ich ihr jetzt unter den Stoff fahren und sie von ihrem BH befreien.

Judy wird sich meines Blickes bewusst und sieht mich fragend an.

„Du siehst hübsch aus“, entgegne ich und sehe ihr schnell wieder ins Gesicht. Sie zieht die Augenbrauen kraus und betrachtet mich argwöhnisch. Ein verlegenes Lächeln huscht ihr in die Mundwinkel, bevor sie sich kopfschüttelnd abwendet. Meinem Kompliment scheint sie nicht über den Weg zu trauen. Ich wundere mich selbst über meine Worte. Bisher habe ich solche Gedanken vermieden, doch sie strahlt heute eine Fröhlichkeit aus, die ihre ganzes Gesicht erhellt. Sie ist wirklich hübsch. Immer wieder streift mich ihr verlegener Blick, der heute etwas liebevolles an sich hat.

„Enrico! Dein Essen wird kalt!“, mahnt der Pate und sieht mich streng an. Das er bei uns sitzt, habe ich fast vergessen. Ob er meinen Blick auf Judys Oberweite bemerkt hat? Ich räuspere mich und wende mich der Mahlzeit auf dem Teller zu. Während ich zu essen beginne, beugt er sich zu mir und flüstert mir zu „Komm ja nicht auf die Idee, an Kind Nummer Vier zu arbeiten. Drei Enkelkinder sind mehr als genug.“ Ich verschlucke mich an dem Bissen, denn ich nehme und muss heftig husten. Der alte Mann ist aufmerksamer, als gut für mich ist. Röchelnd greife ich nach meinem Glas und trinke es in einem Zug leer.

~Die neue Leibgarde~

Die restliche Zeit, bis Keshin auftaucht, verbringe ich in einem Liegestuhl. Frisch geduscht und mit neuen, trockenen Klamotten, habe ich es mir gemütlich gemacht und genieße die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Endlich mal keinen Papierkram, keine Termine, keine Aufträge. Die durchwachte Nacht fordert ihren Preis, ständig fallen mir die Augen zu. Nur noch gedämpft nehme ich das Gebell von Scotch und Brandy war, die mit Aaron und den Kindern im Garten üben. Der alte Mann hat sich bereit erklärt, seine Vierbeiner mit den Kindern vertraut zu machen. Er kennt die Tiere immer noch am besten. Hin und wieder blinzle ich in ihre Richtung. Rene bleibt noch immer auf Abstand, während Amy Scotch bereits erfolgreich dazu gebracht hat, sich hinzusetzen. Aaron macht das schon, da bin ich mir sicher und schließe die Augen. Ganz langsam gleite ich weg, meine Glieder werden immer schwerer, die ersten Momente eines flüchtigen Traumes, malen Bilder von Sonne und Strand in meine Gedanken.

„Faulpelz!“ Erschrocken reiße ich die Augen auf. Judy steht neben mir, sie hat sich über mich gebeugt. Mit den Armen in die Seite gestemmt, schaut sich mich mahnend an. Ich brumme genervt, während mir das Herz noch immer hart gegen die Rippen schlägt. Verdammtes Weib, ich war gerade so schön eingeschlafen. Demonstrativ schließe ich die Augen und drehe den Kopf weg.

„Wie du heute mit den Kindern gespielt hast, das … das war echt schön.“ Dafür muss sie mich nicht extra loben. Es war ja nicht so, als wenn es mir keinen Spaß gemacht hätte.

„Wirst du dich jetzt öfter um sie kümmern?“ Muss sie eigentlich die ganze Zeit reden? Sieht sie nicht, dass ich versuche hier ein bisschen Schlaf nach zu holen? Seufzend öffne ich die Augen, mein erster Blick fällt auf unsere Kinder. Während meine Tochter dem großen Dobermann den Kopf krault, hält mein Sohn noch immer eine Schrittlänge Abstand und wirft der Hündin ein Stück Fleisch vor die Pfoten. Er wird mehr Lektionen brauchen, als die Hunde.

„Du bist doch jetzt sowieso jeden Tag hier, warum ziehst du nicht bei uns ein. Vater hat genug Zimmer frei und so sparst du dir auch den lästigen Weg, jeden Tag von Brooklyn nach Manhattan. Toni führt doch jetzt die Wölfe und den Club, du brauchst also nicht mehr jeden Tag dort sein.“ Sie quasselt ja immer noch wie ein Wasserfall. Mein müder Geist, kann dem Inhalt ihrer viel zu schnell gesprochenen Worte kaum folgen. Ab der Hälfte habe ich schon nicht mehr zugehört.

„Enrico? Sag doch was?“ Sagen, wozu? Worum geht es überhaupt? Ich muss mich zwingen die Augen offen zu halten, als ich sie ansehe.

„Häh?“, ist alles was ich hervorbringen kann.

„Hast du mir überhaupt zugehört?“ Ich schüttle den Kopf.

„Ach du bist einfach unmöglich. Mit dir kann man sich nicht vernünftig unterhalten“, schimpft sie und stöckelt davon. Na endlich. Ich schließe die Augen und hoffe auf Ruhe, als etwas direkt neben mir in die Erde gestoßen wird. Wieder rast mein Herz und wieder fühle ich mich genötigt aufzusehen. Judy hat einen zweiten Liegestuhl direkt neben meinem platziert. Hochmütig schaut sie mich an, als sie es sich bequem macht. Sie lässt mich nicht schlafen, so viel steht fest. Ich seufze resigniert und versuche munter zu werden, im Liegestuhl drücke ich mich nach oben und strecke meine müden Knochen aus.

Sie rückt ihren weißen Sommerhut zurecht und lehnt sich zurück. Mit geschlossenen Augen, das Gesicht in die Sonne gereckt, geniest sie die Wärme.

„Hast du dir eigentlich schon überlegt, was mit unserem ungeborenen Kind werden wird?“, will sie wissen. Was soll mit dem sein? Es wird schlüpfen und hier bald eben so durch den Garten rennen und die Wachhunde verrückt machen. Ich muss schmunzeln, als Amy die schlaffen Ohren des Dobermanns aufstellt und ihn grinsend ansieht. Aaron hat alle Hände voll damit zu tun, ihr zu erklären, das Scotch es nicht leiden kann, wenn man ihm an den Ohren zieht und das ein breites Grinsen für den Hund eine Drohgebärde ist. Der Rüde selbst nimmt es gelassen. Er sitzt noch immer mit dem Hinterteil im Grass und kratzt sich am Halsband und den misshandelten Ohren. Der Pate macht sich gar nicht schlecht als Opa. Wer hätte gedacht, dass der alte Mafiosi so gut mit Kindern kann?

„Enrico! Ich rede mit dir!“, erinnert mich mein Frau. Ratlos schaue ich sie an. Worum ging es gleich noch mal?

„Was wird mit unserm dritten Kind, wie soll es weiter gehen, wenn es erst mal da ist?“

„So wie jetzt auch?“

„Kannst du nicht einmal ernst bleiben?“ Das ist mein ernst. Was soll sich schon ändern, wenn es erst mal da ist?

„Was willst du denn von mir hören? Wir haben schon zwei Kinder, auf eines mehr oder weniger, kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ Judy rollt mit den Augen. Das war schon mal nicht die Antwort, auf die sie hinaus will.

„Wirst du dich darum kümmern? Wirst du hier sein, wenn es Nachts schreit, wenn es Zähne bekommt und die Windeln gewechselt werden müssen?“ Ach darum geht es ihr, um die ganze Drecksarbeit.

„Du bist die Frau, das sind deine Aufgaben!“ Schlimm genug das sie nicht kochen kann. Wenigstens das mit dem Baby wird sie ja wohl hinbekommen. Judys finsterer Blick spricht Bände, auch das ist wieder nicht das, was sie hören will.

„Es ist auch dein Kind!“

„Mag sein, aber ich bin mehr dafür da, ihm Fahrrad fahren beizubringen und es im Schnee zu vergraben.“ Bei dem Gedanken schleicht sich mir unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht. Im Winter, vor dem Überfall, wollte Rene mir unbedingt, mit seiner kleinen Schaufel, beim Schippen des Fabrikhofes helfen. In seinem weißen Anzug, habe ich ihn ganz übersehen und unter einer Schippe Schnee begraben. Er hat gelacht und damit gespielt, also habe ich eine weitere Schippe über ihn geschüttet, bis nur noch sein Kopf heraus schaute. Wir fanden das lustig, Judy hingegen war alles andere als begeistert, hat mich beschimpft und das Kind schnell wieder ausgegraben. Auch jetzt straft sie mich, mit diesem grimmigen Gesichtsausdruck, von damals.

„Das war nicht lustig. Er hätte krank werden können!“

„Rene ist ein Junge, du musst ihn nicht in Watte packen.“ Das bisschen Schnee hat das Kind nicht umgebracht und ihm hat es doch Spaß gemacht. Wo ist da das Problem?

Judy legt sich die Hand schützend über den Bauch und betrachtet ihn Sorgenvoll.

„Was machst du, wenn es ein Junge wird?“ Mich aufhängen?

„Hoffen, dass er mir ähnlicher ist, als Rene!“, murre ich mit Blick auf meinen Jungen. Obwohl Aaron vor ihm kniet und Brandy am Halsband hält, wagt mein Sohn noch immer nicht, den Hund anzufassen. Dabei liegt die Hündin ganz entspannt im Gras und leckt sich die Pfoten. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man denken, er ist gar nicht von mir.

„Rene ist dir doch ähnlich. Ihr seid beide stur und dickköpfig, lasst euch von niemandem etwas sagen und wollte immer mit den Kopf durch die Wand. Selbst beim Essen schlingt er genau so schlimm, wie du. Also von mir hat er das nicht!“ Ganz unrecht hat sie damit nicht. Ich fahre Aaron auch ständig über den Mund und mache, was ich für richtig halte, ganz gleich, was von mir erwartet wird. Ist das vielleicht mein Problem mit Rene? Mein sturer Dickkopf hat mich schon oft in Schwierigkeiten gebracht. Für meinen Sohn wünsche ich mir eine friedliche Zukunft, nicht so etwas, wie mein Leben.

„Also ich hoffe es wird ein kleines, süßes Mädchen“, sagt Judy liebevoll und betrachtet ihren Bauch. Sie streichelt sanft über die kleine Wölbung, die sich durch ihr Kleid hindurch abzeichnet.

„Das hoffe ich auch“, stimme ich zu und rutsche an den Rand des Stuhls zu ihr. Ich lege meine Hand zu ihrer auf den Bauch. Er ist noch weich, bis wir die ersten Tritte spüren, werden noch ganze zwei Monate vergehen.

„Wie wollen wir es nennen, wenn es ein Mädchen wird?“ Sie strahlt, so glücklich hat sie schon lange nicht mehr ausgesehen. Doch ihre Frage lässt mich die Stirn runzeln. Über einen Namen habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Bisher ist die Vorstellung, noch einmal Vater zu werden, viel zu abstrakt gewesen.

„Ich weiß nicht“, entgegne ich wahrheitsgemäß.

„Mir würde ja Anastasia gefallen.“ Entsetzt sehe ich meine Frau an. Muss das sein? Der Name ist viel zu lang und erinnert mich zwangsläufig an die Zarenfamilie Romanow. Abfällig schüttle ich mit dem Kopf.

„Der Name ist zu lang. Da gefällt mir ja Ana noch besser!“ Nun ist es Judy, die abwehrend mit dem Kopf schüttelt.

„Nein, bloß nicht. Wie wäre es mit Sophie, Emily oder Alice?“ Alles ist besser als Anastasia.

„Von mir aus“, stimme ich zu.

„Und wenn es ein Junge wird?“ Dann bleibe ich nicht lange genug da, um mir einen Namen auszudenken?

„Ich weiß nicht, darüber mache ich mir Gedanken, wenn er da ist.“

„Also ich würde ihn ja nennen, wie den Papa.“ Wie mich? Nein! Ich schüttle mit dem Kopf. Ich bin zwar mit meinem Namen ganz zufrieden, aber mein Sohn brauch einen eigenen.

„Nein, uns wird schon noch einer einfallen.“ Immerhin haben wir noch sechs Monate Zeit, bis wir wissen, was es wird.
 

Der ruhige Nachmittag vergeht viel zu schnell. Als meine Frau sich ihren Pflichten im Haushalt widmet und mich endlich ein paar Minuten die Augen schließen lässt, ist es ein unheilvoller Schatten, der mich einmal mehr aus meinen Träumen reißt. Jemand ist zu uns gekommen und bleibt direkt vor mir stehen. Müde blinzle ich in das faltige Gesicht. Mit seinem Stock bewaffnet und dem üblichen Schmatzen auf den Lippen, betrachtet Kenshin mich einmal mehr abfällig.

„Sieht nicht so aus, als wenn meine Dienste hier von Nöten wären“, richtet er seine Worte an Aaron. Der Pate lächelt amüsiert und kommt zu uns. Mit einer kräftigen Umarmung begrüßt er den Gast, bevor er ihm antwortet: „Sieh es ihm nach, seine beiden Kinder haben ihn heute Morgen fertig gemacht.“ Ich rolle mit den Augen und gähne herzhaft.

„So so...“ Kenshin sieht sich im Garten um. Amy sitzt auf einer Schaukel, die von einem dicken Kieferast hängt und lässt sich von ihrem Bruder anschubsen. Der alte Mann legt die Stirn in Falten. Worüber denkt er wohl nach? Sein finsterer Blick auf meine Kinder gefällt mir nicht. Warnend schaue ich ihn an, als er sich wieder mir zuwendet.

„Er ist kein Familien-Mensch, oder?“, spricht er in meine Richtung und meint doch Aaron damit. Ich schaue noch grimmiger. Was ist so schwer daran, sich mit mir zu unterhalten? Muss er bei jedem Thema erst Aaron ansprechen?

„Nein, aber wir arbeiten daran“, entgegnet der Pate und schenkt mir ein warmherziges Lächeln. Wieder rolle ich mit den Augen.

„Können wir endlich anfangen?“, versuche ich das Thema zu wechseln und erhebe mich.

„Gute Idee. Du kennst ja die Rundenzahl ums Haus.“ Kenshin geht an mir vorbei und setzt sich auf den Liegestuhl, von dem ich gerade erst aufgestanden bin. Ist das sein ernst? Während ich mich abmühe, wird er hier faul auf der alten Haut liegen? Seinen Spazierstock stößt er in den weichen Boden und lehnt sich zurück.

„Worauf wartest du? Fang an!“, fordert er aggressiv. Wie ich diesen Kerl hasse. Auch Aarons Blick ist auffordernd auf mich gerichtet. Er setzt sich auf die Liege, die Judy zu meiner gebracht hat und winkt mich mit der Hand weg. Wahrscheinlich wollen sich die Herrschaften einfach nur ungestört unterhalten. Seufzend komme ich ihrer Aufforderung nach und beginne die erste Runde ums Haus. Wenn ich mich richtig entsinne, hatte Kenshin am Tag zuvor von 15 Runden gesprochen. Ob er mitzählen wird? Die ersten Runden ist kein Problem und auch die Zweite fällt mir heute leichter. Ob das an den zwei guten Mahlzeiten liegt?
 

Aaron und Kenshin befinden sich tatsächlich in einem angeregten Gespräch. Jester bringt ihnen gerade ein Tablett mit frisch gepresster Limonade und steigt in die Diskussion ein. Worum es dabei geht, kann ich nicht hören und es ist mir auch egal. Keiner der Drei achtet auf mich und ich beginne mich zu fragen, ob ich mich hier nicht völlig umsonst abmühe. Unter Training habe ich mir etwas anderes vorgestellt, als die ständigen Beleidigungen und lediglich ein paar Runden ums Haus zu rennen, während mein Trainer im Liegestuhl liegt und Limonade trinkt. Kopfschüttelnd verschwinde ich hinter dem Haus. Na zumindest kann ich so mein Lauftempo selbst bestimmen. Die dritte Runde laufe ich deutlich langsamer, immerhin habe ich noch ganze 12 vor mir. Als ich einmal mehr an den alten Herrn vorbei komme, steht mein Sohn bei ihnen. Verwirrt betrachte ich ihn. Was gibt es denn dort so interessantes? Kenshin hat seine knorrige Hand auf der Schulter des Jungen liegen und nimmt ihn ein Stück bei Seite. Als ich an ihnen vorbei komme, schaut er mich an und flüstert Rene etwas zu. Sein verschwörerischer Blick folgt mir, bis ich hinter dem Haus verschwunden bin. Was führt der Kerl schon wieder im Schilde? Schlimm genug, dass er mich die ganze Zeit dumm anmacht, wenn er auch noch meinem Sohn blöd kommt, dann lernt er mich mal richtig kennen. Ich beeile mich meine Runde voll zu machen, um zu sehen, was vor sich geht, als mich plötzlich kindliche Schritte verfolgen und einholen. Rene taucht neben mir auf. Er grinst mich breit an, während er mich überholt. Verwirrt schaue ich ihm nach. Was soll das werden? Hat Kenshin ihn dazu angestiftet? Der Junge legt ein ordentliches Tempo vor und hat bald drei Schrittlängen Vorsprung. Hin und wieder schaut er triumphierend auf mich zurück. Kein schlechter Schachzug, das muss ich dem Altmeister lassen. Mein Ehrgeiz ist geweckt. Ein Wettrennen mit meinem Sohn macht das langweilige Aufwärmtraining gleich interessanter. Ich setzte dem Jungen nach und habe ihn auf meiner nächste Runde endlich eingeholt. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, welche Energie in diesem kleinen Kerl steckt. Ich muss mich mächtig anstrengen ihm auf den Fersen zu bleiben. Während ich neben Rene her laufe, schaut der Junge immer verbissener. Die ersten Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn und sein Atem geht bereits nach seiner zweiten Runde ruckartig und nur noch stoßweise. Dieses Tempo wird er nicht ewig durchhalten, aber aufgeben kommt nicht in frage. Ich werfe ihm einen anerkennendes Lächeln zu und lasse ihm eine Fußlänge Vorsprung. Sein zufriedenes Strahlen ist es mir wehrt, als ich hinter ihm zurück falle.

Mir selbst rinnt bereits der Scheiß den Rücken hinab und brennt mir in den Augen. Neun Runden liegen bereits hinter mir. Am Tag zuvor lag ich schon schnaufend im Gras und auch jetzt möchte ich mich einfach nur fallen lassen, doch so lange Rene noch laufen kann, muss ich das auch schaffen. Schnaubend folge ich meinem Sohn, der auf der nächsten Runde immer langsamer wird. Ohne mich wirklich anstrengen zu müssen, hole ich ihn langsam ein. Immer wieder blickt er grimmig hinter sich, bis wir schließlich auf gleicher Höhe sind. Wir laufen einige Meter zusammen, dann sackt er schwer atmend ins Grass.

„Was denn, gibst du schon auf?“ Ich grinse ihn an und bleibe ebenfalls stehen. Keuchend stütze ich mich auf die Knie. Schweiß läuft mir die Schläfen hinab und tropft mir vom Kinn. Auch ich möchte mich jetzt ins Gras werfen, aber noch liegen fünf Runden vor mir. Rene brummt röchelnd und kämpft sich noch einmal auf die Beine. Ich klopf ihm auf die Schulter.

„Komm eine Runde schaffen wir noch!“, motiviere ich ihn und laufe voraus. Rene folgt mir hustend und schließt zu mir auf. Gemeinsam bringen wir auch noch die elfte Runde zu Ende, dann kapituliert er endgültig. Als wir an Aaron und Kenshin vorbei kommen, flüchtet er sich auf die Veranda und zur rettenden Karaffe mit Limonade, die Judy gerade dort abstellt. Er füllt ein ganzes Glas bis zum Rand und trinkt es hastig aus. Sehnsüchtig beobachte ich ihn. Das würde ich jetzt auch gern tun, doch Kenshins warnender Blick hält mich davon ab. Vier Finger streckt er mir entgegen, um mich an meine fehlenden Rundenzahl zu erinnern. Elender Sadist! Seufzend verschwinde ich hinter dem Anwesen. Nur noch vier Runden, dann werde ich mich auch so ins Gras werfen, wie mein Sohn, nehme ich mir fest vor. Eine Runde schaffe ich noch, ohne anzuhalten, dann habe auch ich genug. Ich brauche eine Pause, unbedingt. Im Schatten der Hauswand halte ich an und lehne mich an das kühlenden Mauerwerk. Meine Kehle ist ausgetrocknet und kratzig. Heiß brennt mein Atem in ihr und lässt mich immer wieder husten. Verdammt, es liegen noch immer drei Runden vor mir. Meine Beine brennen und zittern vor Anstrengung. Dabei ist das hier nur das Aufwärmtraining. Kenshin ist schon ein echter Sklaventreiber. Ich will mir gar nicht ausmalen, was mir nach diesen 15 Runden blüht.

Nur unmerklich beruhigt sich meine Atmung, mein Herz trommelt nicht mehr so grausam, gegen meine Rippen. Nur der Schweiß läuft mir nach wie vor in Strömen von der Stirn. Ich wische ihn mir mit dem Handrücken weg und drücke mich von der Hauswand ab. Nur noch drei Runden, rede ich mir wie ein Mantra ein und laufe weiter. Als ich einmal mehr an Kenshin vorbei komme, beachtet der alte Mann mich nicht einmal. Er wuschelt meinem Sohn durch die Haare und lobt ihn mit einem breiten Lächeln im Gesicht, für die vielen Runden, die er geschafft hat. Ich bezweifle, dass er ein solches Lob für mich übrig haben wird. Kurz bevor ich einmal mehr hinter dem Haus verschwinde, wirft er mir einen seiner mahnenden Blicke zu. Sicher ist ihm aufgefallen, dass ich eine kurze Pause eingelegt habe. Ich nehme mir vor die restlichen Runden ohne durchzuhalten und merke, wie sich ein unerträgliches Stechen in meinen Seiten bbrennt. Mit jedem Schritt wird der pulsierende Schmerz schlimmer. Er zieht sich die Leiste hinab bis in meine Beine. Nun ist es nicht mehr länger die Anstrengung, die mich keuchen lässt. Ich schaffe gerade noch so die 14. Runde, dann verweigern mir meine Beine den Dienst. Ich falle ins weiche Gras und glaube ersticken zu müssen. Sofort spüre ich Kenshins finsteren Blick auf mir, doch das ist mir herzlich egal. Keuchend drehe ich mich auf den Rücken und halte mir die hämmernde Seite. Ich habe es übertrieben, eindeutig. Gleich sechs Runden mehr als gestern. Der alte Mann hat sie doch nicht mehr alle. Während ich versuche meinen rasenden Atem unter Kontrolle zu bringen und nicht an meiner staubtrockenen Kehle zu Grunde zu gehen, kann ich seine langsamen Schritte auf mich zukommen hören. Sein Stock begleitet ihn auch dieses Mal und stößt sich einen Moment später, neben mir in die Erde. Ich blinzle den Schweiß aus meinen Augen und lege die Hand schützend an die Stirn, um sein Gesicht im grellen Licht der untergehenden Sonne erkennen zu können.

„Eine Runde fehlt noch!“, knurrt er.

„Lehh mi hh!“, will ich ihm an den Kopf knallen, doch aus meiner zugeschnürten Kehle kommen nur ein krächzender Laute. Kenshin runzelt die Stirn. Ob er mich trotzdem verstanden hat?

„Ich sehe schon, mehr schaffst du nicht. Komm wieder zu Atem, trink was, dann machen wir weiter.“ Er dreht sich von mir weg und kehrt mit langsamen Schritten auf die Veranda zurück. Ungläubig schaue ich ihm nach. Die letzte Runde bleibt mir also erspart? Ich atme tief durch und fühle mich erleichtert. Er hat recht, ich hätte wirklich keine weitere mehr geschafft. Irgendwie deprimierend. Seufzend drücke ich mich aus dem Gras und auf meine schmerzenden Beine.

Mehr schlecht als recht stolpere ich zur Veranda. Judy füllt ein Glas Limonade, als ich bei ihr ankomme, reicht sie es mir. Dankend nehme ich es ihr ab und leere es gierig. Manchmal kann sie wirklich aufmerksam sein. Nach Atem ringend setze ich es ab und reiche es in ihre Richtung. Auffordernd sehe ich sie an. Ich brauche noch eines. Sie nickt verstehend und füllt den kläglichen Rest, der sich in noch der Glaskaraffe befindet, hinein. Auch das zweite Glas leere ich in einem Zug. Endlich erlischt die Hitze in meiner Kehle und das Atmen fällt mir leichter. Trotzdem schaffe ich es nicht, einen Satz im Ganzen zu beenden, als ich mich an Kenshin wende: „Soohh … was … was nun?“

„Wie viele Liegestütze schaffst du?“ Keine Ahnung? Das letzte Mal, als ich welche versucht habe, bin ich nach zehn schon kläglich gescheitert. Kenshin sieht mir meine Ratlosigkeit an. Er deutet mit einem Fingerzeig auf den Boden.

„Dann finden wir es eben jetzt heraus!“ Hier? Vor Aaron und meiner ganzen Familie? Muss das sein? Als ich unentschlossen zurück schaue, zieht Kenshin die Augenbrauen kraus.

„Gibt es ein Problem?“ Ja, irgendwie schon. Ich hasse es beim Training beobachtet zu werden. Beim Laufen konnte ich wenigstens immer wieder hinter dem Haus verschwinden. Zum strengen Blick des Altmeisters, gesellt sich Aarons auffordernde Mine. Ich habe nicht das Gefühl hier noch eine Wahl zu haben. Seufzend lasse ich mich vor ihnen nieder. Die ersten fünf sind kein Problem und auch nach zehn weiteren Liegestütze brauche ich keine Pause. Seit meinem letzten Versuch scheinen ich doch ein wenig Muskelmasse zugelegt zu haben. Ich beginne mich gerade darüber zu freuen, als der alte Mann sich von seinem Stuhl erhebt und mich umrundet. Er zupft an seinem Bart und murmelt: „Das geht besser, als ich gedacht habe, da müssen wir wohl den Schwierigkeitsgrad erhöhen.“ Fragen betrachte ich ihn. Der Altmeister sieht sich auf der Veranda um, sein Blick bleibt an meiner Tochter hängen, die mit einem Stück Kuchen in der Hand, auf die Veranda kommt. Woher sie das wohl gefunden hat? Jester hat den Kaffeetisch schon seit Stunden abgeräumt. Das Mädchen schiebt sich gerade den letzten Bissen zufrieden in den Mund und strahlt über beide Ohren. Wenn ich sie so ansehe, bekomme ich selbst Appetit auf Kuchen. Als sie mich bei meinen Übungen sieht, kommt sie zu uns. Mit schief gelegtem Blick mustert sie mich, ihre Mandelaugen werden fragend.

Kenshin klemmt sich den Stock unter die Achseln und packt meine Tochter unter den Armen. Als er sie von ihren Füßen hebt, quietsche sie erschrocken und voller Entrüstung. Sie ist so laut und schrill, dass der Altmeister das Gesicht gequält verzieht und alle anderen sich die Ohren zuhalten. Auch mir geht ihr Geschrei durch Mark und Bein. Was packt er sie auch ohne ihre Erlaubnis an? Ich will ihm gerade ein paar Takte dazu sagen, als er das quietschende Mädchen auf meinem Rücken absetzt. Ihr Gewicht lastet schwer auf mir und bringt meine Arme zum Zittern. Ihre schrilles Geschrei tut mir in den Ohren weh. Ich bin heil froh, als er sein knorrigen Finger von ihr löst und sie wieder still ist.

Verwundert schaut sich das Kind um und weiß gar nicht, was es dort soll.

„So, mal sehen wie viel du jetzt noch schaffst.“ Gehässig blickt Kenshin auf mich herab. Finster schaue ich zurück. Ich habe schon genug damit zu tun, mein eigenes Gewicht zu stemmen. Muss es dieser Kerl immer gleich übertreiben? Der nächste Liegestütz fällt mir entsetzlich schwer, während ich mich wieder hinauf drücke, bebt mein ganzer Körper. Amys Beine beginnen zu schaukeln, sie gluckst vergnügt.

„Noch mal!“, fordert sie und hüpft auf mir herum. Gott, wie ich diesen Greis hasse! So wie ich meine Tochter kenne, werden wir dieses Spiel den ganzen Abend spielen können. Ich schaue finster unter meinen verschwitzten Haaren zu ihm auf, doch er lächelt nur verschwörerisch. Langsamen Schrittes steuert er seinen Stuhl an und lässt sich darauf sinken. Nur zu gern würde ich ihn auch mal schwitzen und leiden sehen.

Amy zu liebe quäle ich mich zu weiteren zehn Liegestütze. Während sie bei jedem auf und ab meines Körpers, ein freudiges Glucksen von sich gibt, läuft mir der Schweiß in Strömen von den Haaren ins Gesicht. Meine Arme, mein Rücken, meine ganzen Klamotten sind bereits durchgeschwitzt. Das Duschen hätte ich mir sparen können.

„Noch mal!“, jubelt meine Tochter. Sie kennt eben so wenig Erbarmen mit mir, wie mein Trainer. Ich blinzle den Schweiz aus meinen schmerzenden Augen und tue ihr schwer atmend den Gefallen, als zwei Kinderfüße vor mir stehen bleiben. Mit den Händen in die Seite gestemmt blickt mein Sohn hochmütig auf mich hinab.

„Noch mal!“, imitiert er seine Schwester und läuft um mich herum. Nein, das wagt er nicht.

Warnend schaue ich ihn an, doch Rene lässt sich nicht beirren. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht setzt er sich ebenfalls auf meinen Rücken. Das zusätzliche Gewicht lässt mich aufstöhnen. Ich kann das Zittern meiner Gliedmaßen kaum noch kontrollieren. Immer mehr Schweiß läuft mir von der Stirn und trübt meine Sicht.

„Los noch mal!“, ruft Rene gehässig.

„Noch mal! Noch mal!“, stimmt Amy mit ein. Gott, wie ich meine Kinder hasse! Die paar Minuten Spaß mit Judy, sind das hier, echt nicht wert gewesen. Unter den auffordernden Blicken von Kenshin und Aaron, schaffe ich noch zwei Liegestütze, dann weicht die letzte Kraft aus meinen brennenden Armen. Ich lasse mich einfach fallen und rühre mich keinen Zentimeter mehr. Heiß und Kalt wechselt sich in mir ab und immer neue Schweißausbrüche lassen mich erschaudern.

„Gibst du etwa schon auf?“, will mein Sohn enttäuscht wissen. Dieser elende Rotzlöffel. Wenn ich doch nur die Kraft hätte, ihn und seine Schwester von meinem Rücken zu schubsen. Ihr Gewicht auf meinen erschöpften Muskeln, kann ich nicht länger ertragen.

„Geht runter!“, fordere ich. Beide rühren sich nicht.

„Sofort!“, werde ich deutlich aggressiver. Amy steigt ab und flüchtet sich zu ihrer Mutter. Scheu schaut sie zu mir zurück, um abzuschätzen, wie böse ich auf sie bin. Habe ich mich denn wirklich so streng angehört? Rene lässt sich mit dem Abstieg wesentlich länger Zeit.

„Du musst nicht so herumschreien, wir sind nicht taub!“, brummt er und trottet ebenfalls zu seiner Mutter. Judy betrachtet mich straffend, sagt aber nichts. Ich weiß auch so, dass ich mich im Ton vergriffen habe, doch mir ist das gerade herzlich egal. Hauptsache, ich bin das zusätzliche Gewicht auf meinem Rücken los und kann wieder frei durchatmen.

„25, nicht besonders viel, aber ich denke, damit können wir arbeiten.“ Kenshin zwirbelt seinen Kinnbart durch die Finger und blickt nachdenklich drein. 25 sind wirklich nicht die Welt, selbst mit Amy und Rene auf dem Rücken, müsste ich deutlich mehr schaffen. Seufzend setze ich mich auf und ziehe mein Shirt aus, um mir damit den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Ich bin meilenweit von meiner Bestform entfernt. Es wird Monate dauern, bis mich Übungen wie diese, kalt lassen. Ratsuchend betrachte ich den alten Mann. Ob er mich wirklich wieder in Form bringen kann? Kenshin mustert mich einen Moment lang, bevor er wieder zu sprechen beginnt: „Ab Montag werden wir uns vier Mal die Woche in meinem Dojo treffen. Die Adresse wird dir Aaron später geben. Wenn du dich dort so quälen kannst, wie hier, mache ich aus dir vielleicht doch noch einen ganzen Mann.“ Irritiert schaue ich ihn an. Was bin ich den jetzt für ihn? Ein Schuljunge? Der Kerl kann auch kein Kompliment verteilen, ohne beleidigend zu werden.

„Sind wir dann für heute fertig?“, will ich wissen. Ich habe genug von dem alte Mann. Kenshin nickt lediglich.

„Super, dann gehe ich jetzt Duschen“, entgegne ich und kämpfe mich in die Waagrechte. Nichts wie weg von hier. Auf schwankenden Beinen verlasse ich die Veranda und gehe durch die Glastür ins Haus.

„Bekommst du ihn wieder in Form?“, höre ich Aaron fragen. Auf die Antwort bin ich gespannt und durchquere das Wohnzimmer absichtlich langsamer.

„Da bin ich mir noch nicht sicher.“ Was soll das jetzt wieder heißen?

„Was meinst du damit?“, harkt Aaron nach.

„Er ist ehrgeizig und schont sich nicht, daran wird es also nicht scheitern, aber ich bin mir nicht sicher, wie lange sein Körper mitmachen wird. Irgend etwas stimmt mit seinen Bewegungsabläufen nicht und das liegt nicht an den unzähligen Narben.“ Das ist ihm aufgefallen? Ich seufze resigniert, während ihre Stimmen hinter mir immer undeutlicher werden.

Als ich aus dem Koma erwachte, war meine linke Körperhälfte vom Arm bis zu den Zehen gelähmt. Die Ärzte waren der Meinung, dass ich nie wieder ohne fremde Hilfe zurecht kommen würde. Ich habe ein Jahr lang darum gekämpft, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Trotzdem gibt es Tage, an denen die Taubheit in meine Gliedmaßen zurückkehrt und ich mich nur mühsam bewegen kann. Ich werde wohl damit leben müssen, nie wieder so beweglich und fit, wie einst, zu sein.
 

Die negativen Gedanken verschwinden auch beim Duschen nicht. Während das heiße Wasser meinen Körper rein wäscht, betrachte ich die vielen Narben. Vereinzelte blaue Flecke sind noch immer auf meinem Oberkörper sichtbar. Auch die tiefen Schnitte der Glasscherben sind noch nicht verheilt. Ob es je eine Zeit geben wird, in der ich mal unverletzt bin?

„Enrico? Alles okay bei dir? Du bist da jetzt schon eine ganze Stunde drin!“, ruft Judy durch die geschlossene Tür. Dusche ich wirklich schon so lange? Die Haut an meinen Fingern ist bereits verschrumpelt und der ganze Raum, die Fliesen und selbst der Spiegel auf der anderen Seite, sind beschlagen.

„Enrico?“, ruft sie noch einmal besorgt. Ich drehe das Wasser ab und nehme mir aus dem silbernen Regal eines der blauen Handtücher. Während ich es mir um die Hüften binde, ruft Judy wieder nach mir: „Enrico, ich komme jetzt rein, ja?“ Seit wann kündigt sie sich an? Es ist ja nicht so, als wenn wir uns noch nie nackt gesehen haben. Die Klinke bewegt sich, die Tür wird aufgeschoben. Suchend sieht sich meine Frau im Badezimmer um. Ich lächle sie versöhnlich an und versichere ihr: „Mir geht es gut!“

Sie sagt nichts, ihr Blick wird von meinem nackten Oberkörper eingefangen. Während sie mich eingehend betrachtet, beißt sie sich immer wieder auf die Unterlippe. Die Sorge in ihren Augen verschwindet, je tiefer ihr Blick wandert. Als sie beim Handtuch ankommt, schaut sie enttäuscht. Was findet sie an diesem abgemagert und geschundenen Körper nur derart reizvoll. Ich bin immer froh, wenn ich mir irgend etwas übergeworfen habe und den Schrecken meiner Vergangenheit nicht mehr sehen muss.

„Hör auf so lasziv zu schauen und hole mir lieber was frisches zum Anziehen!“, necke ich sie. Judy wird sich ihres lüsternen Blickes erst jetzt bewusst. Ihr steigt die Schamröte ins Gesicht, während sie verlegen zur Seite weg schaut.

„Hol dir doch selbst was“, murrt sie kleinlaut. Obwohl sie sich bemüht den Blick abzuwenden, gleitet er bald wieder meinen Oberkörper entlang.

„Du schaust schon wieder so!“ Judys Wangen werden noch roter.

„Gar nicht wahr!“, protestiert sie.

„Hör auf so gehässig zu lachen, du arrogantes Arschloch. Du weißt genau, wie heiß ich dich finde.“

„Ach ja?“

„Jetzt tu doch nicht so!“ Judy wirft die Tür nach sich zu und kommt die wenigen Schritte, die uns trennen, zu mir. Sie schlingt ihre Arme um mich und schmiegt sich an meinen Oberkörper.

„Der Tag mit dir heute, war wirklich schön“, säuselt sie. War er das? Ich bin mir da nicht so sicher. Ich habe doch nichts weiter getan, als unsere Kinder mit dem Gartenschlauch nass zu spritzen und faul in der Sonne zu liegen.

„Kann schon sein“, entgegne ich lediglich und fahre ihre schlanke Taille hinab.

„Kannst du nicht mal was nettes sagen?“ Mhm, nein! Ich würde lieber etwas nettes tun.

Meine Hände erreichen ihre straffen Pobacken, beherzt kneife ich hinein. Erschrocken drückt sie sich enger in meine Arme.

„Hey! Du elender Lustmolch! Kannst du nicht wenigstens einmal nett sein?“

„Ich bin doch nett!“

„Arroganter Mistkerl!“ Mit einem Lächeln betrachte ich sie und drücke ihr einen Kuss auf die weichen Lippen. Sie will noch etwas erwidern, doch ihre Worte ersticken an meiner Zunge, die ich ihr in den Mund schiebe. An ihrem strammen Hintern ziehe ich sie nah zu mir und kann ihren weichen Bussen an meinem Brustkorb fühlen. Wenn nur dieses störende Kleid nicht wäre. Ich bin mir sicher, ihre Brustwarzen sind inzwischen hart und einladend. Langsam taste ich mich ihren Rücken hinauf, bis ich den Anfang des Reißverschlusses erreicht habe. Ich will ihn gerade öffnen, als es an der Tür klopft.

„Judy, lass die Finger von deinem Mann und sage ihm, er soll sich endlich anziehen. Wir haben Besuch.“ Besuch, um die Urzeit? Es ist bereits Abend. Wer kommt den jetzt vorbei? Seufzend verwerfe ich mein Vorhaben und unterbreche den Kuss.

„Von wegen! Wer kann denn seine Finger hier nicht von wem lassen?'“, lacht Judy leise und dreht sich mit einem auffordernd Hüftschwung von mir weg. Ich greife nach ihren Schenkeln und ziehe sie noch einmal zu mir. Ihr warmer Po drängt sich mir in den Schritt. Ich kann die Hitze bereits füllen, die sich in meine Lenden vorarbeitet. Es ist wirklich ein Jammer, dass wir ausgerechnet jetzt gestört werden. So lange Judy Schwanger ist, ist zumindest sicher gestellt, dass wir nicht noch mehr Kinder zeugen können. Eigentlich sollten wir diese Zeit ausnutzen. Ich dränge ihr mein Becken entgegen und lege den Kopf an ihr Ohr.

„Der Besuch kann warten.“

„Enrico, du hast fünf Minuten!“, ruft Aaron. Wir haben ihm noch immer nicht geantwortet und ich habe es auch jetzt nicht vor.

„Fünf Minuten. Das könnten wir schaffen“, flüstere ich meiner Frau ins Ohr und knabbere an ihrem Ohrläppchen. Aus Erfahrung weiß ich, dass sie dann nicht mehr nein sagen kann, doch dieses Mal drück sich mich von sich.

„Das glaube ich dir, aber nein danke!“ Auf ihren Lippen zeichnet sich ein süffisantes Lächeln. Sie reibt noch einmal ihre warmen Pobacken an meiner Leiste, dann geht sie zur Tür. Während sie die Klinke drück, wirft sie mir einen Handkuss zu und verschwindet leichtfüßig. Diese verdammte Weib lässt mich einfach so stehen? Fassungslos schaue ich ihr nach. Seit wann kann sie mir widerstehen? Habe ich irgendwas verpasst? Das kann doch nur an ihrem Vater liegen, oder? Noch ein Grund mehr hier niemals einzuziehen. Ich brauche eindeutig mehr Privatsphäre, als es in diesem Haus je möglich wäre.

Seufzend nehme ich mir ein zweites Handtuch und reibe meine Haare trocken. Hoffentlich ist der Besuch es wenigstens wert, die Nummer mit meiner Frau aufzuschieben.
 

Judy kommt mit frischer Kleidung zurück. Sie legt alles auf dem Sitz der Toilette ab und lässt mich wissen: „Vater wartet im Wohnzimmer auf dich. Beeil dich besser!“

„Ist gut“, entgegne ich nur und löse das Handtuch um meine Hüften. Zusammen mit dem für die Haare, werfe ich es in die Badewanne. Jester oder eines der Hausmädchen wird sich schon darum kümmern. Meine Frau sieht mich noch einmal lüsternen an, dann schließt sie die Tür von außen. Warum muss ausgerechnet heute Abend Besuch vorbei kommen? Seufzend widme ich mich den mitgebrachten Kleidungsstücken und ziehe mich an.

Keine fünf Minuten später, stehe ich vor der Tür zum Wohnzimmer. Alles ist ruhig, niemand unterhält sich, es sind auch keine Schritte zu hören. Unser Gast ist offensichtlich nicht besonders gesprächig. Ich zucke mit den Schultern und trete ein. Aaron sitzt wie immer in seinem Lieblingssessel vor dem Kamin. In seiner Hand schwenkt er ein Kognakglas, mit einer weinroten Flüssigkeit darin.

„Mach die Tür zu und setzte dich zu uns!“, fordert er mich auf. Ich schließe die Tür. Auf dem Sofa sitzen zwei groß gewachsene Männer, die Schultern breit wie ein Schrank, die Köpfe kahl rasiert. Ich kenne ihre Gesichter nicht und auch der Schnitt ihrer edlen Anzüge ist mir unbekannt. Auf dem Tisch vor ihnen stehen zwei halbvolle Whiskygläser, die unberührt scheinen. Wer sind die beiden und was wollen sie von uns? Fragend schaue ich zu Aaron. Er deutet zunächst auf den größeren.

„Das sind Viktor und Jakow Wolkow.“ Klingt nach zwei russischen Brüdern. Seit wann haben wir was mit der Russenmafia zu schaffen? Ich gehe den Beiden entgegen und reiche ihnen über den Tisch hinweg die Hand.

„Enrico River!“, stelle ich mich kurz und knapp vor. Beide schütteln mir wortlos die Hand. Ihr Griff ist fest, wie man es von Männern ihrer muskulösen Statur erwartet. Als ich mich in den letzten freien Sessel nieder lasse, haben die beiden Schränke noch immer kein Wort gesagt. Ob sie überhaupt unsere Sprache sprechen? Ihre massige Erscheinung und die Art und Weiße, wie mich ihre dunklen Augen studieren, mutet unheimlich an. Wenn ich ihren Beruf erraten müsste, würde ich auf Auftragskiller tippen. Da von ihnen offensichtlich keine Erklärung für den späten Besuch kommt, schaue ich Aaron erneut fragend an.

„Die Beiden werden dich von heute an, als deine neuen Leibwächter, begleiten.“ Das soll wohl ein Scherz sein? Ich schaue amüsiert.

„Nein werden sie nicht!“, entgegne ich lächelnd, doch Aarons strenger Blick verheißt nichts Gutes. Es ist ihm ernst damit? Mir vergeht das Lächeln. Er will mir wirklich diese beiden Gorillas ans Bein binden? Wozu? Will er mich etwa überwachen lassen?

„Und ob sie das werden! Ich habe die Beiden bereits Angeheuert.“ Er stellt mich mal wieder vor vollendete Tatsachen? Wie ich das hasse. Wann fängt er endlich mal an, mich in solche wichtigen Entscheidungen mit einzubeziehen? Ich bin sein Nachfolger, nicht sein Angestellter. Mein Blick wandert zu den beiden Russen, die noch immer schweigsam auf ihren Platz sitzen und der Diskussion aufmerksam folgen.

„Nichts gegen euch Jungs, aber ich brauche keine Aufpasser“, wende ich mich direkt an sie. Der Größere der Beiden zieht die Augenbrauen nach oben, während der andere teilnahmslos zurück schaut. Was sie jetzt von mir denken ist mir herzlich egal. Diese beiden Gorillas können sich wo anders eine Anstellung suchen. Ich brauche sie nicht!

„Die Sache steht nicht zur Diskussion!“, faucht Aaron. Glaubt er wirklich, ich nehme es einfach hin, dass er mich so übergeht? Ich lasse mich nicht überwachen. Von wegen Leibwächter, er will doch nur wissen, was ich in seiner Abwesenheit treibe.

„Und ob das zu Diskussion steht! Ich habe bereits einen Leibwächter.“

„Antonio arbeitet nicht mehr mit dir zusammen!“ Das weiß ich selbst. Es gibt trotzdem nur einen Mann, dem ich mein Leben anvertraue, nur einen der mich gut genug kennt, um mich tatsächlich schützen zu können.

„Wissen sie überhaupt, auf was sie sich einlassen?“, frage ich gerade heraus und stehe auf. Ich warte Aarons Antwort gar nicht erst ab, sondern wende mich direkt an die beiden Russen: „Habt ihr Familie?“ Der Größere der Beiden schaut unter meinem Blick hinweg und auch der andere wendet sich einen Augenblick lang ab. Das ist mir Antwort genug.

„Dann sucht euch anständige Jobs!“

„Enrico! Zügel dich!“, droht Aaron. Ich ignoriere den Einspruch des Paten und übergehe seine Worte.

„Ich gebe euch mal eine kurze Zusammenfassung meiner letzten Wochen:

Nach einem Abstecher bei meinen Feinden, wo ich und mein letzter Bodyguard fast tot gefoltert wurden, hat man kurz darauf versucht mich in meinem Wagen zu einem schweizer Käse zu verarbeiten. Noch am selben Abend hat man mir, nach einem Barbesuch, aufgelauert. Selbst im Urlaub hat sich mein Leibwächter ein Kugel für mich eingefangen. Das ist nicht mal ganz eine Woche her. Ihr habt keine Vorstellung davon, was euch in meinem Alltag blüht. Und ich bin nicht der Typ Mensch, der sich hinter seinen Leibwächtern versteckt und daheim bleibt, nur weil ihm ein dutzend Mörder im Nacken sitzen. Ihr werdet mehr damit zu tun haben, überhaupt mit mir Schritthalten zu können. Glaubt mir, so viel kann er euch gar nicht bezahlen, dass es sich lohnt, dafür draufzugehen.“

„Enrico, es reicht!“

„Ja, genau! Mir reicht es schon lange! Ich brauche niemanden der mich überwacht Aaron! Guten Tag die Herr!“, damit wende ich mich um und verlasse das Wohnzimmer.

„Enrico, du bleibst gefälligst hier!“, schnaubt der Pate.

„Ich denke nicht daran!“, damit knalle ich die Tür nach mir zu. Ich muss hier raus, bevor ich explodiere. Ich dachte Aaron vertraut mir, was soll der Scheiß jetzt? Er weiß ganz genau, dass ich nur Toni als Leibwächter dulde. Vertraut er mir denn überhaupt nicht mehr? Ohne Umwege steuere ich auf die Haustür zu. Ich habe genug für heute. Diese ständige Befehlston, geht mir gehörig auf die Nerven. Wird Zeit, dass ich nach Hause fahre, dorthin, wo ich das Sagen habe. Mit einem lauten Knall, werfe ich die Haustür nach mir ins Schloss und steige auf mein Motorrad.

~Eine verhängnisvolle Nacht~

Ich hätte Toni niemals zum Chef der Wölfe ernennen dürfen. Je länger ich durch die Straßen New Yorks heize, um so deutlicher wird dieser Gedanke. Ich kann und will mir keinen neuen Leibwächter suchen, aber so lange Toni mit dem Club und den Aufgaben der Gang betraut ist, hat er keine Zeit mich zu begleiten. Dabei ist er der Einzige, den ich wirklich überall hin mitnehmen kann, ohne mir Sorgen machen zu müssen, das am nächsten Tag Aaron über all meine Machenschaften informiert ist. Der alte Mann muss nicht alles wissen. Wir werden eine andere Lösung für die Wölfe finden müssen. Außerdem kann ich mir gar nicht vorstellen, ihn nicht jeden Tag um mich zu haben. Seine umsichtige Art, sein einmaligen Orts-Kenntnisse und sein Wissen um die internen Abläufe unser Feinde, werde ich als Pate noch viel dringender brauchen, als zuvor.

Hoffentlich lässt er sich überzeugen. Die letzten Tage schien er in seiner neuen Position aufzugehen. Was wenn er den Chefposten gar nicht hergeben will? Endlich ist er mal nicht nur mein Leibwächter und Berater. Ist es unfair und egoistisch von mir, ihm seine neue Stellung gleich wieder abzuerkennen?

All diese Gedanken bringen nichts, ich muss mit ihm reden, dann wird uns sicher eine Lösung einfallen.

Ich freue mich jetzt schon auf sein überraschtes Gesicht. Er wird sicher nicht damit rechnen, dass ich so spät noch vorbei komme. Bis ich in Brookly bin, wird es weit nach elf Uhr sein. Der Club ist um diese Uhrzeit sicher gut besucht. Er wird alle Hände voll zu tun haben. Ob er überhaupt einen Moment für mich herausschinde kann? Verdammt, meine Gedanken kreisen noch immer.

Ich überhole den langsam vor mir zuckelnden LKW und nehme die kürzeste Route nach Hause.
 

Wie erwartet sind alle Parkplätze belegt. Ich erwische gerade noch eine kleine Nische, in der ich mein Motorrad abstellen kann. Der Club läuft gut und das trotz Wirtschaftskrise. Ein Grund zum Aufatmen. Ich steige ab und gehe den Türstehern entgegen. Beide befinden sich in einer wilden Diskussion, mit einem mir unbekannten Gast. Der bärtige der Zwei, hindert den kleinen Asiaten daran, den Club zu verlassen, der andere redet auf den Gast ein. Neben den drei Männern steht eine junge Frau. Ihrer spärlichen Kleidung nach zu Urteilen, eine unserer Prostituierten. Was da wohl vor sich geht? Ich beschleunige meine Schritte und komme endlich in Hörweite der Diskussion.

„Lass mich los! Ich habe mit der Schlampe nichts gehabt!“, kreischt der Asiat und reißt sich los.

„Du lügst!“ Die junge Frau stemmt die Hände in die Seite und funkelt den kleinen Mann finster an, während sie sich an die Türsteher wendet: „Das perverse Schwein, wollte sogar Sonderleistungen von mir und jetzt will er nicht dafür zahlen!“

„Du hast die Dame gehört!“

„Das Flittchen hat doch gar keine Ahnung, was Sonderleistungen sind. Für den miserablen Sex, zahle ich keinen Cent. Sie kann froh sein, wenn ich mir keine Filzläuse eingefangen habe. Dann werde ich den Club nämlich verklagen! Und in der ganzen Stadt herum erzählen ...“ Okay das reicht, ich habe genug gehört! Der war das letzte Mal in meinem Club.

Unbemerkt erreiche ich die Gruppe und klaue dem Asiaten im Vorbeigehen die Geldbörse aus der Hosentasche.

„Wie viel schuldet er dir?“, wende ich mich an Silvia. Sie schaut überrascht, doch als ich die Scheine im Inneren der Geldbörse durchzähle, wird ihr Lächeln breiter.

„Fünfzig!“, sagt sie schnelle.

„Machen wir siebzig, als Aufwandsentschädigung“, entscheide ich und zähle die Scheine ab. Der Kerl hat knapp zweihundert Doller da drin, was ist er denn da so geizig? Fünfzig, Sechzig, Fünfundsechzig, Siebzig. Die Scheine reiche ich der jungen Frau, die sie mit einem zufriedenen Lächeln entgegen nimmt.

Der Asiat brauch einen Moment, um zu begreifen, das es sein Geld ist, das ich der Nutte zustecke. Irritiert greift er sich in die leere Hose und sieht erschrocken zu mir.

„Hey, was fällt dir ein!“ Das kantige Gesicht des Asiaten wird verbissener. Er ballt die Fäuste und macht einen Schritt auf mich zu. Als er sie gegen mich erhebt, nimmt einer der beiden Türsteher ihn in den Schwitzkasten. Der Kerl zappelt und windet sich, doch aus diesem Griff kommt er nicht frei. Ich grinse ihn breit an. Hat er wirklich geglaubt, mich hier vor meinen Leuten angreifen zu können?

„Nimm und verpiss dich. Ich will deine Visage hier nie wieder sehen!“ Ich werfe dem Asiaten die Geldbörse zu. Er versucht sie vergeblich aufzufangen, vor ihm fällt sie zu Boden.

„Wer glaubst du denn, wer du bist?“

„Der Besitzer! Ihm gehört der Laden!“, erklärt der Bärtige und stößt den Gast von sich. Die Geldbörse tritt er ihm nach. Der Asiat bückt sich und schaut ungläubig zu mir.

„Der? Das ist doch noch ein Kind!“ Sehe ich denn wirklich noch so jung aus? Ich lächle nur und betrete den Club. Den Rest überlasse ich meinen Türstehern.

„Wo kann ich Toni finden?“, will ich lediglich noch wissen. Eigentlich hätte er Probleme wie diese regeln müssen? Hat er denn gar nichts davon mitbekommen? Wo treibt er sich denn herum?

„Er wollte ein paar Unterlagen in deinem Zimmer suchen!“, ruft mir der Bärtige nach. Ich nicke verstehend. Das erklärt zumindest warum er nicht hier ist, aber wozu braucht er Unterlagen aus meinem Zimmer? Die wichtigsten Schriftstücke sind bei Romeo im Büro. Seltsam! Wir müssen wohl über mehr sprechen, als meine neuen Leibwächter.
 

Der Club ist voll, sanfte Soulmusik schwebt durch den Raum, der angefüllt ist von Gesprächen, gelegentliches Stöhnen und dem Qualm unzähliger Zigaretten. Alle Barhocker sind besetzt und bis auf zwei Tische ist auch der restliche Club ausgefüllt. Sehr schön, noch ein paar mehr solcher Tage und wir schreiben, das erste Mal seit der Eröffnung, schwarze Zahlen.

Mein Blick fällt auf den Barkeeper. Romeo füllt gerade ein Glas mit Eiswürfel, als er mich kommen sieht, nickt er mir zu. Er hat alle Hände voll zu tun, die Bestellungen abzuarbeiten und keine Zeit für eine längere Begrüßung. Ich erwidere sein Nicken und schaue mir seine Kunden an. Von den Nutten mal abgesehen, alles fremde Gesichter. Lediglich ein junger Asiat sticht mir ins Auge. Er trägt eine Polizeiuniform. Das Glas in Romeos Hand ist für ihn bestimmt. Der Barkeeper deutet in meine Richtung, als er den Drink über den Tresen reicht. Scheinbar werde ich erwartet, doch ich habe keine Lust auf Jan. Das er seinen alten Job offensichtlich wieder hat, kann er mir auch später berichten. Als er sich von seinem Hocker erhebt und zu mir kommen will, winke ich ab. Er schaut skeptisch und setzt sich wieder.
 

Ich verlasse den Club durch die eiserne Feuerschutztür. Als sie hinter mir ins Schloss fällt, wird es still. Die Unterhaltungen und Musik des Clubs verstummen, niemand ist hier. Haben sich die Türsteher geirrt? Ich folge dem langen Gang bis zur Tür meines Zimmers. Auch dort ist es still, keine Schritte bewegen sich im Raum. Hat Toni bereits gefunden, was er gesucht hat?

Ich öffne die Tür und betätige den Lichtschalter:
 

Eine kleine Gestalt hockt auf meinem Bett, ihre Füße baumeln über den Rand, die kindlichen Augen blinzeln mich verschlafen an. Goldene Engelslocken wallen sich über die schmalen Schultern und reichen weit den Rücken hinab. Das dunkelblaue Kleid ist zerknittert, ebenso wie das verschlafene Gesicht des Mädchens. Kira? Was macht Tonis Tochter in meinem Bett und noch dazu ganz allein? Die leuchten grünen Augen mustern mich hilfesuchend.

„Was machst du hier ganz allein?“, frage ich das Kind und trete ein. Kira sieht sich suchend nach allen Seiten um. Als sie außer uns niemanden entdecken kann, zuckt sie mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht.“ Mit einem herzhaften Gähnen sondieren die kleinen Smaragdaugen meine spärliche Inneneinrichtung. Neben dem Bett gibt es lediglich einen weißen Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Nichts was die Aufmerksamkeit des Mädchens lange fesselt, also wendet sie sich wieder mir zu.

„Wo bin ich hier und wo ist Mama?“ Das wüsste ich auch zu gern. Ich zucke mit den Schultern und setze mich zu ihr aufs Bett. Argwöhnisch betrachte ich ihre Kleid. Es ist an etlichen Stellen geflickt worden und hat trotzdem ein Loch im Ärmel und ein weiteres in den weiten Rüschen. Kiras Gesicht und Hände sind dreckig und von ihr und ihren strohigen Haaren geht ein Geruch aus Schweiß und verdorbenen Lebensmitteln aus. Sie braucht dringend ein heißes Bad und neue Klamotten. Wo hat sich das Mädchen die letzten Tage bloß herumgetrieben?

„Wie bist du denn hier her gekommen?“, will ich wissen. Kira macht ein nachdenkliches Gesicht und schaut aus dem Fenster.

„Mhm Mama und ich sind U-Bahn gefahren und da bin ich eingeschlafen, dann bin ich hier wieder aufgewacht“, erzählt sie. Kein Wunder, es ist bereits halb zwölf. Das Kind gehört schon lange ins Bett. Was hat sich ihre Mutter nur dabei gedacht, sie mitten in der Nacht hier her zu bringen?

„Lass mich dir beweisen, dass es mir ernst ist!“ Anette? Ihre Stimme ist gedämpft, aber ich bin mir sicher sie kommt von nebenan. Logisch, wo sollte sie sich auch sonst aufhalten, als in Tonis Zimmer. Was will sie hier? Ich dachte die Beiden haben sich getrennt?

„Anette, ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute hhhhaa!“ Toni? Stöhnt er etwa? Was treiben die beiden da?

„Jetzt hab dich doch nicht so! Kira schläft tief und fest und ich weiß doch, was dir gefällt.“ Das wage ich zu bezweifeln. Immer finstere schaue ich vor mich hin. So viel zu all seinen Versprechungen und der angeblichen Trennung. Dieser verlogene Bastard! Kira betrachtet die Wand hinter uns mit einem fröhlichen Lächeln und piepst: „Ich glaube Mama und Papa vertragen sich wieder.“ Nicht wenn ich es verhindern kann!

„Komm mit, ich bringe dich zu deinen Eltern!“ Ich fordere die Hand des Kindes. Kira reicht sie mir bereitwillig und hüpft vom Bett. Die Tour werde ich den Beiden gehörig vermasseln. Von wegen Unterlagen heraus suchen. Toni sucht wohl eher nach der Unterwäsche seiner Ex. Mit dem Kind an der Hand verlasse ich mein Zimmer und öffne, ohne anzuklopfen, das Nachbarzimmer. Im Licht einer flackernden Kerze kann ich die Umrisse der Beiden nur erahnen. Erst als ich den Lichtschalter betätige, wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Anette sitzt auf Tonis Schoss, sie ist nackt, während er lediglich den Stall seiner Hose geöffnet hat. Beide stecken bereits ineinander und schauen erschrocken in unsere Richtung. Während meinem besten Freund der Atem stockt und er bei meinem Anblick leichenblass wird, zieht sich seine Freundin hastig die Decke vor ihre nackten Brüste.

„Du Schwein! Kannst du nicht anklopfen!“, faucht sie und wirft mir einen hasserfüllten Blick zu. Krampfhaft umschlingen ihre Hände die Decke. Dabei ist mir ihr Anblick herzlich egal, es ist Toni dem meine Aufmerksamkeit gilt.

„Kümmert euch lieber um euer Kind. Die Kurze braucht dringend ein Bad und frische Klamotten!“ Ich schubse das Mädchen in den Raum und knalle die Tür von außen zu. Elender Dreckskerl, redet von großer Liebe und macht mir ständig ein schlechtes Gewissen: Was er doch alles für mich aufgegeben hat. Von wegen! Na, wenigstens dürfte ihnen die Lust auf Sex jetzt vergangen sein. Doch auch meine Stimmung ist auf einem neuen Tiefpunkt. Was konnte ich auch so naiv sein und seinen leeren Versprechungen Glauben schenken. Als wenn er sich je für mich entscheiden würde. Ich bin so ein Idiot!
 

Ohne Umwege kehre ich in den Club zurück, an den Tischen vorbei und an den Tresen zu Romeo und Jan. Neben dem Polizisten hockt eine junge Frau. Sie schiebt ihm die Zunge tief in den Hals, ihre Hände fahren seine Schenkel ab. Jan erwidert ihren Kuss, mit der Hand in ihren Nacken, presst er sie an sich. Er hat noch nie etwas anbrennen lassen, ob Frau oder Mann ist ihm dabei egal. Selbst in der Beziehung mit Lui, ist er nicht sesshaft geworden.

„Geh, such dir einen anderen Platz!“, fordere ich die Nutte streng auf. Die Inderin schaut erschrocken. Ihre dunkelbraunen Augen mustern mich fragend. Als ich sie unverändert finster betrachte, nickt sie und lässt sich elegant vom Stuhl gleiten. Wortlos verschwindet sie und sucht sich einen anderen Freier. Jans finsterer Blick ist mir nun sicher. Er kann ihr ja folgen, wenn er es so dringend nötig hat. Ich setze mich auf den freigewordenen Platz und winke Romeo zu mir.

„Mach mir nen Scotch1“, weiße ich ihn an, als er sich mir zuwendet. Der Barkeeper zieht eine Augenbraue fragend hinauf, sagt aber nichts und füllt das geforderte Glas. Als er es mir reicht und ich einen kräftigen Schluck nehme, spüre ich Jans forschenden Blick auf mir.

„Was?“, will ich aggressiv wissen. Er schüttelt genervt den Kopf und trinkt sein Glas leer.

„Ich wollte mit der noch aufs Zimmer“, murrt der Polizist. Ich zucke nur mit den Schultern. Ist mir so was von egal.

„Dann geh ihr doch nach!“

„Mir ist die Lust vergangen.“ Warum regt er sich dann auf?

„Was willst du überhaupt hier?“

„Du bist so charmant wie immer“, entgegnet er und hält sein leeres Glas in Romeos Richtung. Als dieser zu uns kommt und dem Polizisten einen neuen Drink macht, reiche ich auch mein Glas über den Tresen. Heute Abend saufe ich mich unter den Tisch, nehme ich mir fest vor.

„Mach voll!“, weiße ich den Barkeeper an. Romeo zuckt mit den Schultern und füllt das Glas bis zum Rand. Gut so, noch zwei davon und das Bild von Anette und Toni wird in einem heftigen Rauschzustand untergehen.

„Übertreibst du's nicht ein bisschen?“ Jan betrachtet mich mit sorgenvoller Miene. Diesen Blick kann er sich sparen. Wenn ich mich recht entsinne, hat er seinen Kummer vor kurzem noch selbst in Alkohol ertränkt. Mich wundert, dass er in diesem Zustand überhaupt seinen Job wieder bekommen hat. Ob da einmal mehr sein Vater seine Finger im Spiel hat? Er ist immerhin ein einflussreicher Polizeihauptkommisar.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du hier bist!“, harke ich weiter nach und spüle meinen zweiten Drink hinunter. Der Alkohol brennt sich meine Kehle hinab und lässt mich hastig atmen. Hitze breitet sich wohltuend in meinem Magen aus. Schade nur, dass das Zeug nicht eben so schnell meinen Geist benebelt. Verdammtes Weib! Warum muss Anette ausgerechnet heute Abend hier auftauchen? Ich wollte mit Toni allein sein, die Nacht mit ihm genießen. Was muss sie sich da rein drängen und warum pennt er auch gleich mit ihr? Ich dachte er hasst diese Art von Sex? Habe ich mich vielleicht in ihm geirrt? Steht er doch mehr auf Frauen? Bin ich vielleicht wirklich der Ersatzfick, von dem er immer spricht? Die engste Muschi? Ich lächle bitter und raufe mir die Haare. Ach, verdammt! Stumpf betrachte ich das leere Glas, und die zwei Eiswürfel, die von einer auf die andere Seite purzeln. Ich brauche mehr Alkohol! Sehr viel mehr!

„Ich war so nett, Romeo über eine bevorstehende Kontrolle zu informieren!“, erklärt Jan und stellt sein Glas vor mir ab. Will er mir das etwa überlassen? Ungläubige sehe ich ihn an. Seit wann ist er nett zu mir?

„Wie wäre es mit einem Danke?“ Wofür? Für den Drink oder die Informationen?

„Danke?“, entgegne ich und schaffe es einfach nicht ehrlich zu klingen. Als ich das gereichte Glas an die Lippen setze, trüben die ersten Nebelschleier meine Sicht. Der Alkohol gurgelt in meinem Magen. Es ist sicher eine schlechte Idee, auch noch diese Glas hinunter zu schütten. Doch das Bild von Anette, in dem Schoss, in dem ich mich sonst so wohl gefühlt habe, lässt mich alle Bedenken vergessen. Ich will es nicht mehr sehen, nicht mehr daran denken. Jan legt den Kopf in die aufgestützte Hand und beobachtet mich, wie ich auch sein Glas in einem Zug leere.

„Du wirst das Morgen früh, so was von bereuen!“

„Halt die Klappe, Klugscheißer!“, knurre ich und funkle ihn finster an. Seine Umrisse verdoppeln sich, je länger ich ihn betrachte. Verdammt, er wird recht behalten, mir dreht sich jetzt bereits alles. Aber was soll es.

„Ich wette ich schaffe mehr als du!“ Jan lächelt amüsiert. Für ein Wetttrinken ist er immer zu haben.

„Und der Wetteinsatz?“, ist seine einzige Frage.

„Jungs, ich halte das für keine gute Idee. Ihr habt beide schon genug!“

„Dich fragt aber keiner!“, maule ich Romeo an und schiebe das leere Glas über den Tresen, „Mach lieber voll!“ Der Barkeeper verdreht die Augen. Er kennt uns Beide gut genug, um zu wissen, dass wir, mit zu viel Alkohol intus, ungemütlich werden können, aber da muss er jetzt durch. Zähneknirschend füllt er zwei neue Gläser und stellt sie vor uns ab.

„Also?“ Jan betrachtet mich auffordernd und nimmt sein Glas an sich. Um was würde es sich lohnen zu wetten? Was würde sich für mich rentieren?

„Wenn ich gewinne, besorgst du mir meine Akte bei den Bullen. Ich wollte schon immer mal wissen, was da drin steht.“ Jan zuckt mit den Schultern.

„Von mir aus, aber wenn ich gewinne, dann habe ich einen Wunsch bei dir frei.“ Einen Wunsch? Was meint er denn damit? Kritisch schaue ich ihn an. Jans Augen betrachten mich lüstern. Hat er etwa von seinem letzten Versuch noch nichts gelernt? Er interessiert mich nicht!

„Was denn? Willst du etwa kneifen?“ Bestimmt nicht! Ich saufe den Kerl unter den Tisch und wenn es das Letzte ist, dass ich heute Abend tue.

„Auf dein Wohl!“, mit diesen Worten setze ich das Glas an meine Lippen. Jan prostet mir zu. Wir trinken beide in einem Zug aus und stellen die Gläser synchron auf dem Tresen ab. Auffordernd schauen wir in Romeos Richtung. Er seufzt und tauscht die Whiskygläser mit kleinen Schnapspinchen aus. Scheinbar ist er der Meinung, weniger ist mehr. Ich zucke mit den Schultern. Mittlerweile ist mir völlig egal, was ich trinke, Hauptsache der trübe Schleier legt sich schneller über meine kreisend Gedanken. Zwei weitere Drinks spülen wir hinunter. Mein Magen beginnt zu rebellieren, der viele Alkohol, brennt sich durch meine Gedärme. Mir ist schlecht und der Raum dreht bereits seine dritte Runde. Jan hingen sieht noch immer frisch aus. Sein siegessicheres Grinsen geht mir auf die Nerven. Dieser elende Bastard! Ich will nicht verlieren und ihm seinen perversen Wunsch erfüllen, was auch immer es ist. Warum habe ich mich nur auf den Mist eingelassen? Alles Antonios Schuld. Wenn er nicht so ein verlogenes Arschloch wäre, wäre mir jetzt nicht so kotzübel. Das neue Glas vor mir teilt sich in zwei, dann in vier. Immer wieder greife ich vergeblich danach. Während der Cop seinen nächsten Drink bereits hinunter geschüttet hat, schaffe ich es gerade mal den Echten von den drei Imaginären zu unterscheiden und endlich zu greifen. Das wird übel enden, ich weiß es, aber aufgeben kommt nicht in frage. Das selbstgefällige Grinsen im Gesicht des Polizisten, lässt mich das Glas erheben.
 

„Hör auf dir die Birne zuzukippen und lass uns reden!“ Der hat mir gerade noch gefehlt. Toni nimmt mir das Glas aus der Hand und stellt es außer meiner Reichweite auf dem Tresen ab. Ich drehe mich gar nicht erst zu ihm um. Wie viel ich trinke, ist meine Sache und selbst wenn ich mich hier und jetzt übergeben muss, ist das mein Problem.

„Ichhh will nichhht mit dir re re … reden! Ichhhh habe genug von de dei deinen Lüchen!“, nuschle ich. Meine Worte wollen einfach nicht mehr verständlich über meine Lippen. In diesem Zustand macht es keinen Sinn sich zu unterhalten. Scheiß auf die Wette. Ich halte es keinen Moment in seiner Gegenwart aus. Ich sehe mich an den Tresen um, bis ich zwei einsame Nutten ausmachen kann. Eine Blondine mit langen Beinen und großen Vorbau und eine kleinere Asiatin mit langen, schwarzen Haaren. Sie stehen zusammen und rauchen gemütlich. Sicher machen sie eine Pause, aber das ist mir egal.

„Du und du. Mitkommen!“, bemühe ich mich nüchtern zu klingen und deute von einer auf die andere. Ich erhebe mich und kämpfe gegen den Schwindel an, der mir die Beine wegzuziehen droht. Verstört mustern mich Beide und stoßen den Qualm ihre Zigaretten in einer großen Wolke hervor. Als sie sich nicht von ihren Hockern erheben, werde ich lauter: „Sofort!“

Sie drücken die Stummel im Aschenbecher aus und stehen auf. Als ich zu ihnen gehen will, hält Toni mich am Arm fest. Seine smaragdgrünen Augen funkeln mich warnend an. Ich glaube eine Spur trauriger Verbitterung darin zu lesen, doch wahrscheinlich bilde ich mir das eben so ein, wie seine Liebe zu mir.

„Was?“ Herausfordernd schaue ich ihn an. Seine eifersüchtiges Getue kann er sich sparen. Ich werde mit den Beiden schlafen und wenn mir danach ist, auch noch mit der ganzen verdammten Welt. Wir sind nicht zusammen, haben uns keine Treue geschworen. Wenn ich mit den Nutten abziehe, weiß er wenigstens, wie ich mich gerade gefühlt habe. Stumm starren wir uns an, eine gefühlte Ewigkeit lang. Die smaragdgrünen Augen durchforsten mich wild, Tonis Mundwinkel zucken unwillkürlich. Seine ganze Haltung ist angespannt, seine Hände zu Fäusten geballt. Ich schaue nicht weg und obwohl ich mich anstrengen muss, seine Umrisse im Ganzen zu erkennen, bleibe ich ernst und grimmig. Schließlich wendet er sich ab.

„Ach, mach doch was du willst!“, schnauzt er und gibt meinen Arm frei, dann dreht er mir den Rücken zu. Mit verschränkten Armen entfernt er sich. War es dass schon? Er hält mich nicht auf? Ist es ihm denn so egal, wenn ich mit den Nutten schlafe? Toni schaut nicht mehr zurück, er geht einfach. Soll er doch zu seiner Anette zurück. Ich kann mich auch ohne ihn amüsieren. Einen letzten finsteren Blick werfe ich ihm nach. Nichts, er öffnet die Feuerschutztür und lässt sie nach sich ins Schloss fallen. Bastard! Mit geballten Fäusten gehe ich um meinen Hocker herum und auf die Nutten zu. Ich hoffe für die Beiden, dass sie ihr Handwerk verstehen, sonst können sie sich morgen wo anders eine Anstellung suchen.

„Enrico, damit habe ich die Wette wohl gewonnen, was?“, ruft Jan mir nach. Ich hebe nur die Hand und winke ab, ohne noch mal zurück zu schauen.

„Geschenkt!“, entgegne ich. Dann soll er eben seinen dummen Wunsch haben. Ist mir egal!

~Das Ende einer Freundschaft~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Die Ohrfeige~

Verdammte Handschellen! Die Teile sehen echt aus und lassen sich einfach nicht öffnen. Dann gehören sie also tatsächlich Jan? Seufzend betrachte ich die roten Striemen, die einmal rund um meine Gelenke verlaufen. Ich folge der Kette, die um eine der Stäbe des Bettes gebunden ist. Wenn ich mich richtig an den Zusammenbau erinnere, kann man die Stäbe herausdrehen. Ich mache mich ans Werk und schaffe es tatsächlich den Stab aus der Halterung zu lösen. Vom Bettgestell bin ich nun erst einmal befreit, so weit so gut. Ich rolle mit den Schultern, um die Verspannung darin zu lösen, das Blut läuft mir in die Arme zurück, es kribbelt entsetzlich. Seufzend rutsche ich an den Rand des Bettes und schaue mich im Raum um. Ich brauche irgendwas langes, biegsames, eine Büroklammer vielleicht. In meinem Schreibtisch liegt bestimmt irgendwo eine herum. Mein erstes Ziel ist die Tischplatte, doch bis auf einen Füllfederhalter, kann ich unter den etlichen Kleidungsstücken, die sich dort türmen, nichts finden. Ich muss wirklich mal wieder aufräumen. Die Hose ist schon von letzter Woche und das Hemd darunter hat noch länger kein Wasser gesehen. Der Rest meiner Garderobe verteilt sich auf dem Boden und dem Holzstuhl, vor dem Schreibtisch. Hoffentlich finde ich in meinem Kleiderschrank noch frische Klamotten.

In der Schublade unter der Tischplatte werde ich endlich fündig. Ich biege die Büroklammer auf, bis sie mir lang genug erscheint. An das Ende knicke ich einen kleinen Hacken und schiebe den in das Schlüsselloch. Etwas umständlich suche ich nach dem richtigen Punkt, meine Hand ist mir immer wieder im Weg, doch schließlich höre ich das erlösende Klicken und die erste Schelle löst sich. Ich atme auf und reibe mir über die wunde Stelle. Sie brennt inzwischen heftig, die obere Hautschicht hat sich abgelöst und das blanke Fleisch liegt frei. Warum lasse ich mich auch immer auf so einen Scheiß ein? Die zweite Schelle lässt sich wesentlich leichter lösen, doch auch dort hat sich das Metall tief in meine Haut gefressen.

Auf die Idee mich nach der Nummer wieder frei zu lassen, ist Jan anscheinend nicht gekommen. Oder hatte er gar keine Gelegenheit mehr dazu? Dunkel kann ich mich daran erinnern, das Toni ihn von meinem Bett gezerrt hat. Also habe ich wirklich mit dem Kerl gepennt? Ich schnaube verächtlich und werfe die Handschellen gemeinsam mit der Büroklammer in das Schubfach. Schwungvoll schiebe ich es zu.

Ich klebe am ganzen Körper. Ist das von Jan? Ich brauche dringend eine Dusche.

Auf dem Weg hinaus, fällt mir ein faustgroßes Loch neben dem Türrahmen auf. Wo kommt das denn her? Der Putz hat sich gelöst und gibt den blanken Ziegelstein frei. Kopfschüttelnd verlasse ich mein Zimmer. Der Boden des Flurs ist von roten Punkten gesprenkelt, an der Wand ziehen lange streifen entlang, an einer Stelle klebt ein blutiger Handabdruck. Ja, stimmt, die beiden Idioten haben sich hier geprügelt. Ob Jan das überlebt hat? Wenn Toni erst einmal sauer ist, fällt es ihm schwer seine Wut im Zaum zu halten. Aber er wird doch hoffentlich nicht den Fehler gemacht haben, einen Polizisten hier im Club über den Haufen zu schießen, oder? Den Blutspuren nach zu urteilen ist nicht genug geflossen, um einen Menschen zu töten.

Ich folge dem Flur ins Badezimmer und bin froh endlich die Spuren der letzten Nacht los zu werden.Während das Wasser über meinen Körper strömt, versuche ich mich krampfhaft daran zu erinnern, warum ich mich überhaupt abgeschossen habe. Ich bin bei Aaron gewesen und bis auf die Sache mit den Leibwächtern, war der Tag eigentlich ganz gut gewesen. Mir will kein Grund einfallen, weswegen ich mich so habe zulaufen lassen. Selbst als ich mit einem Handtuch um die Hüften, zurück in mein Zimmer laufe, weiß ich keine Antwort. Scheiß Alkohol!

Während ich in meinen Kleiderschrank nach frischen Klamotten suche und das Glück habe noch eine Hose, Hemd und Unterhose zu finden, fällt mein Blick auf das verwüstete Bett. Irgendjemand hat am Vortag dort gesessen, als ich heim kam. Stimmt, Kira war hier während …

Mein Blick wandert an die Wand, die ich mir mit Tonis Zimmer teile. Er und Anette! Da ist er, der Grund. Verflucht! Was macht mir dieser Scheißkerl, dann eine solche Szene? Er ist doch der verlogene Bastard, nicht ich. Ich knalle meinen Kleiderschrank zu und ziehe mir die gefundenen Klamotten über, dann umrunde ich mein Bett. Vor dem geöffneten Geldkoffer bleibe ich stehen. Dämlicher Idiot! Ich verkaufe nicht, aber das mit Anette tue ich mir auch nicht mehr an. Wenn sie einziehen, ziehe ich eben aus. Einen auf heile Familie machen, kann ich genau so gut wie er. Den Koffer klappe ich zu und verschließe die Schnallen. Ich will sein elendes Geld nicht.

Mit dem Koffer im Schlepptau, betrete ich ohne anzuklopfen, Tonis Zimmer. Anette ist gerade dabei ihrer Tochter dass Kleid vom Vortag überzuziehen. Es ist noch immer dreckig, dafür ist das Gesicht des Kindes nun sauber. Auch ihre Haare sind gekämmt und nicht mehr so strohig, wie am Vorabend.

Toni sitzt auf seinem Bett und bindet sich gerade die Schuhe, seine Augen mustern mich grimmig, seine Mundwinkel verzieht er für eine mahnende Anklage, doch ich komme ihm zuvor.

„Ich verkaufe nicht!“ Den Koffer werfe ich ihm zu Füßen. Er legt die Stirn in Falten und schaut noch verbissener. Wieder holt er Luft, um etwas zu sagen, doch ich will seinen Einspruch nicht hören.

„Schau nicht so! Ich werde schon ausziehen, keine Sorge! Den Scheiß hier tue ich mir nicht mehr an!“ Ich schaue zu Anette und Kira, damit auch kein Zweifel aufkommt, was ich meine, dann wende ich mich um und gehe.

„Mach mit meinem Zimmer, was du willst, mir egal!“, füge ich an und verlasse den Raum. Doch bevor ich die Tür schließe, wende ich mich noch einmal um.

„Ach und nur damit du es weißt, ich habe schon Ersatz für dich!“, mein letzter finsterer Blick gilt Toni. Mein bester Freund sieht mich fragend an, ich schaue grimmig zurück und knalle die Tür nach mir zu.

„Warum lässt du so mit dir reden? Du bist jetzt der Chef hier, benehme dich auch mal so!“, fordert Anette so laut, dass ich sie selbst durch die geschlossene Tür hindurch hören kann.

„Ach sei still!“, murrt Toni. Ihr Streit interessiert mich nicht. Ich folge dem Flur bis zur Feuerschutztür und betrete den Club. Als die Tür nach mir zufällt, atme ich tief durch. Niemand ist hier, die Tische und Sofas sind verwaist, die Barhocker stehen mit ihrer Sitzfläche auf dem Tresen. Alles ist sauber und aufgeräumt. Wie kommt Toni nur darauf, dass ich das hier aufgebe? Ich habe viel zu viel Geld, Schweiß und Herzblut hier rein gesteckt.

Aber so wie es jetzt läuft, kann es auch nicht weiter gehen. Seufzend sehe ich auf die Tür zurück. Etwas Abstand kann uns beiden nicht schaden. Soll er mich ruhig auch mal vermissen und sich darüber klar werden, was er nun eigentlich will. Dann muss ich eben in den sauren Apfel beißen und bei Aaron einziehen, so spare ich mir wenigstens das ständige Pendeln und die Streitereien mit meiner Frau. Mit diesem Entschluss, mache ich mich auf den Weg zum Anwesen des Paten.
 

Als ich es erreiche, geht die Sonne gerade hinter den Tannen auf. Alles ist ruhig, bis auf das Gebell von Scotch und Brandy, die mir entgegen kommen und dem Gezwitscher der Vögel, in den Baumkronen der Tannen. Sicher schlafen sie alle noch. Ob wenigstens Jester wach ist? Mein Magen hängt mir in den Kniekehlen.

Im Vorbeigehen streichle ich den beiden Wachhunden durchs glatte Fell, sie folgen mir bis zur Haustür und sehen mir erwartungsvoll dabei zu, wie ich sie aufschließe. Kaum öffnet sie sich, drängen sie an mir vorbei und stürmen den Flur entlang. Ihr Interesse gilt der Küche, in der sie ohne Umwege verschwinden. In der kurzen Zeit, die ich zurück bin, habe ich Aarons gute Erziehung schon über den Haufen geworfen. Immer wenn ich mir Frühstück mache, fällt für die Beiden etwas ab, sicher sitzen sie schon erwartungsvoll vor dem Vorratsschrank und schnüffeln nach den Würsten, die dort hängen.

Wurst mit Brot, darauf habe ich jetzt auch Appetit. Ich folge den Hunden in die Küche, die wie vermutet vor dem Schrank sitzen und mich mit ihren Blicken fixieren. Auch hier ist alles ruhig, Jester ist noch nicht aufgestanden, mein Frühstück werde ich mir heute wohl selbst machen müssen. Um an den Schrank zu kommen, schiebe ich die Hunde zur Seite.

Salami und abgehangener Schinken, für den Anfang wird es reichen, noch etwas Brot und ich kann den gröbsten Hunger bekämpfen. Scotch und Brandy weichen mir nicht von der Seite, ihre Köpfe reiben an meinen Beinen, ich muss aufpassen nicht über ihre Pfoten zu stolpern. Mit den Lebensmitteln lasse ich mich auf einen der Holzstühle nieder und beiße ein großes Stück aus dem Schinken heraus. Als ich es hastig verschlinge, steigt mir Scotch auf die Oberschenkel und schnuppert in meinem Gesicht herum. Er wird keine Ruhe geben, bis er nicht ein Stück abbekommen hat, doch ich bin selbst noch viel zu hungrig, um mit ihm zu teilen. Genervt stoße ich ihn weg und widme mich der Salami. Zwischen zwei Bissen schiebe ich mir noch ein Stück Brot in den Mund. Meine Backen sind so voll, dass ich die großen Stücke kaum beißen kann.
 

Ein unheilvoller Schatten dringt in den Raum, zwei mächtige Schultern schieben sich durch den Türrahmen, graues Barthaar kräuselt sich um die grimmigen Mundwinkel. Mit festen Schritten hält Aaron auf mich zu. Seine ernster Blick durchbohrt mich und nimmt mich gefangen. Was habe ich angestellt? Ich schaue ihn mit einem verlegenen Lächeln an und zwinge Wurst und Brot hinunter.

Wortlos bleibt der Pate vor mir stehen, er holt weit aus und schlägt zu. Seine Hand trifft mich ungebremst im Gesicht und fegt mich von Stuhl. Fassungslos blicke ich zu ihm auf und greife mir an die getroffene Wange. Sie flammt feurig und pulsiert heiß. Womit habe ich das verdient?

„Steh auf! Wir haben zu reden!“, befiehlt er und stemmt die Arme in die Seite. Ich begreife noch immer nicht, was ich verbrochen habe, doch ich wage nicht nach dem Grund zu fragen. Während ich den Schmerz weg reibe, stehe ich auf. Aaron dreht sich kommentarlos um und geht voraus, ich folge ihm zügig. Er führt mich ins Wohnzimmer und deutet dort auf einen der beiden Ledersessel.

„Setzen!“, ordnet er an. Ich gehorche und betrachte den alten Mann fragend. Noch immer bin ich mir keiner Schuld bewusst, ich bin doch gerade erst zurück gekommen und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich seine Vorratskammer plündere. Also, wofür war die Ohrfeige?

„Du wirst dich bei meinen Geschäftspartnern für dein schändliches Verhalten entschuldigen! Haben wir und verstanden?“ Geschäftspartner? Meint er die beiden Möchtegern-Aufpasser von gestern Abend? Ich hole Luft um etwas zu erwidern, doch Aaron wettert weiter: „Ich habe dir viel zu viel durchgehen lassen, aber damit ist jetzt Schluss! In diesem Haus gelten noch immer meine Regeln und ich erwarte von dir, dass du tust, was ich dir sage. Noch habe ich hier das Sagen! Hast du mich verstanden?“ Na schön, ich habe es übertrieben, aber dieser ständige Befehlston geht mir einfach auf die Nerven. Ich soll sein Nachfolger werden, aber alle wichtigen Entscheidungen trifft er allein und ich soll einfach nur blind gehorchen? Das kann ich nicht, das bin nicht ich. Wenn er einen Schoßhund braucht, dann hätte er nicht mich wählen dürfen.

„Okay, okay … Schon gut! Es tut mir leid! Aber …!“

„Halt den Rand, ich bin noch nicht fertig!“ Immer noch nicht? Ich hab es doch längst verstanden, ich hätte nicht so einen Wirbel machen dürfen, aber ...

Aaron baut sich drohend vor mir auf, er beugt sich hinab und kläfft weiter: „Du stehst schon viel zu lange in meiner Gunst, dabei ist mir langsam schleierhaft, warum überhaupt. Du tust, was du willst und bringst meine ganzen Geschäfte durcheinander. Ich weiß nie, was du als nächstes für Unheil anrichtest und sobald es ernst wird, haust du ab und kommst dann wieder, als wenn nichts gewesen wäre.“ Okay, ich habe wirklich vergessen, worüber wir gestritten haben, aber doch nur, weil ich noch tausend andere Probleme am Hals habe, als nur ihn und seine krummen Geschäfte. Glaubt er wirklich es gibt nur die Locos für mich? Ich habe auch noch ein eigenes Leben und ganz besonders einen eigenen Willen.

„Du bist unverschämt, hast keine Manieren und ...“, schimpft er unaufhörlich. Mir reicht es, als wenn er so viel besser wäre. Das höre ich mir nicht länger an. Ich stehe auf und trete ihm entgegen.

„Und du bist arrogant und selbstgefällig. Alles muss nach deinem Willen geschehen. Du bist einfach schon viel zu lange der Chef der Locos. Ich soll dein Nachfolger werden, aber du triffst alle wichtigen Entscheidungen ohne mich. Du bestimmst über mein Leben, als wenn es dir gehören würde. Nur weil du meinen Bruder gerettet hast, musste ich für dich den Auftragskiller spielen, nur weil deine Tochter schwanger war, musste ich sie heiraten und nur weil du keinen besseren für den Job hast, soll ich dein Nachfolger werden. Ich bin kein Kind mehr, ich kann selbst entscheiden und ich brauche keine Aufpasser. Weder diese Gorillas, noch dich!“

„Komm mir nicht auf die Tour Junge! Die Sache mit den Leibwächtern ist eine unumgängliche Notwenigkeit. Ich bin zu alt, um meinen Nachfolger noch einmal zu verlieren!“

„Es geht nicht immer nur um dich und den Clan. Ich habe auch noch ein eigenes Leben!“

„Wenn du dich von mir abwendest, hast du überhaupt kein Leben mehr!“

„Weil du mich dann töten lässt? Den Mann deiner Tochter? Den Vater deiner Enkelkinder? Ich habe keine Angst vor dir, Aaron! Mir sitzen viel schlimmere Feinde im Nacken!“

„Du hattest mich noch nie zum Feind!“ Aaron erhebt drohen den Zeigefinger und geht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche nicht zurück, schaue ihn unvermittelt wütend an.

„Du mich auch nicht!“

„Hört auf!“ Eine weiße Gestalt taucht zwischen uns auf, kleine Hände schieben uns auseinander. Dunkle Reh-Augen mustern mich wütend. Die glockenhelle Stimme meiner Tochter lässt uns inne halten.

„Aufhören!“, befiehlt sie noch einmal und schaut abwechselt zwischen uns hin und her. Ich atme tief durch, mit verschränkten Armen wende ich meinen Blick von Aaron ab. Wie schafft es dieser alte Mann nur immer wieder, mich derart auf die Palme zu bringen? Der Pate seufzt hörbar, auch er wendet sich von mir ab und dreht mir den Rücken zu. Mit den Armen in die Seite gestemmt, atmet er durch. Eine gefühlte Ewigkeit verharren wir in dieser Position. Ämys Knopfaugen mustern mich unentwegt, als wenn sie etwas von mir erwarten würde, doch ich bin noch immer viel zu aufgebracht, um etwas versöhnliches zu sagen. Dieser arrogante Sack und seine dämlichen Drohungen, ziehen bei mir nicht.

Amys kleine Hand greift meine, sie schaut mich mit ihrem schrägen Dackelblick an, als sie sagt „Habt euch lieb!“ Wenn das nur so einfach wäre. Ich schaue von ihr zu Aaron, der sich noch immer von mir abwendet. Ich hasse es mich mit ihm zu streiten und ich kann es nicht leiden, wenn er schlecht von mir denkt. So viele Dinge, habe ich nur getan, um von ihm geschätzt zu werden.

„Aaron ich will nicht, dass wir Feinde sind. Du bist der einzige Vater der immer für mich da war. Alles was ich will, ist das du mir und meinen Entscheidungen vertraust.“

„Mhm, deinen Entscheidungen vertrauen … tze“ Aaron zuckt gleichmütig mit den Schultern. Mein Appell scheint nicht angekommen zu sein. Warum sage ich ihm das überhaupt? Wir sind ja nicht mal Blutsverwandt, ich bin nur sein Schwiegersohn, mehr nicht. Als er sich nach mir umdreht, schaue ich zur Seite weg.

„Du bist noch so jung ...“, beginnt er mit ungewohnt weicher Stimme. Irritiert schaue ich ihm ins Gesicht, seine Augen sind gläsern, doch sein Blick ist gefasst und ernst.

„... und trotzdem dem Tod so viel näher, als ich es bin.“ Wie meint er das den? Erschrocken betrachte ich seine kantigen Gesichtszüge, doch ich kann nicht in ihnen lesen.

„Mir war ein eigener Sohn nicht vergönnt gewesen, aber ich hatte dich. Schon als du das erste mal zu mir kamst und mich mir offen und ehrlich erzählt hast, was dir, Antonio und deinem Bruder passiert ist, hatte ich einen Narren an dir gefressen. Oft sehe ich noch den kleinen Jungen vor mir, manchmal vergesse ich einfach, dass du inzwischen ein Mann geworden bist!“ Bin ich? Mir steigt die Hitze in den Kopf, verlegen sehe ich unter seinem stolzen Blick hinweg.

„Aber du bist auch viel zu oft stur, wie ein kleiner Junge, unvorsichtig und übermütig. Ich habe dich schon einmal beerdigen müssen, zwinge mich nicht, das noch einmal erleben zu müssen.“ Würde er mich denn wirklich vermissen? Ich schlucke schwer und wage noch immer nicht, ihn anzusehen.

„Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich viele meiner Entscheidungen zu deinem Schutz gefällt habe?“ Wenn ich genau darüber nachdenke, irgendwie schon. Die Anschläge der letzten Wochen wären mit ein paar fähigen Leibwächtern, vielleicht zu verhindern gewesen.

„Es tut mir leid!“, murmle ich. Aaron schweigt, mit einem resignierten Seufzen, lässt er sich in seinem Sessel sinken.

„Setz dich und lass uns reden!“, schlägt er vor. Ich tue ihm den Gefallen und winke meine Tochter zu mir. Sie lächelt erleichtert und klettert auf meinen Schoss. Während sie sich in meinen Armen einrollt, betrachte ich sie sanft. Wie schafft es dieses kleine Mädchen nur, zwei sture Streithähne wie uns, so einfach zur Räson zu bringen? Sie ist wirklich etwas besonderes. Ich streichle ihr über das seidige, schwarze Haar, sie genießt die Berührung sichtlich und lächelt vergnügt. Auch sie würde schmerzlich unter meinem Verlust leiden. Wahrscheinlich bin ich einfach nur ein Egoist.

„Die Idee mit den Leibwächtern, ist vielleicht doch keine so schlechte“, gebe ich zu und lächle in Aarons Richtung. Der alte Mann schaut verblüfft zurück.

„Woher kommt auf einmal die späte Einsicht?“

„Du hattest schon die ganze Zeit recht, ich konnte mir nur einfach nicht vorstellen, mit jemand anderem, als Toni zusammen zu arbeiten.“

„Darf ich ganz offen sein?“, will Aaron wissen. Ich nicke.

„Antonio ist ein ausgezeichneter Scharfschütze, aber kein besonders guter Leibwächter, zumindest nicht für dich.“ Wie kommt er denn darauf? Toni hat sich schon dutzende Kugeln für mich eingefangen, wir haben einander unzählige male das Leben gerettet. Wir sind ein gutes Team, ist ihm das nie aufgefallen?

„Versteh mich nicht falsch, ihr habt all die Jahre ausgezeichnete Arbeit geleistet, aber ihr steht euch einfach viel zu nah. Das ist auch der Grund, warum diese Erpressungsgeschichte mit Michael funktionieren konnte. Ein Leibwächter sollte jemand sein, denn du ohne mit der Wimper zu zucken über die Klinge springen lassen kannst, um dein eigenes Leben zu retten.“ Jemand den ich ohne zu zögern opfern würde? So habe ich die Sache noch nie gesehen. Diese beiden Russen, die Aaron angeheuert hat, sind mir völlig egal, ich kann sie nicht mal leiden. Wenn sie meinetwegen draufgehen, würde mich das kaum berühren. Für Toni hingegen, würde ich mich selbst in die Schusslinie stellen.

„Du hast gar nicht so unrecht! Na schön, versuchen wir es mit den beiden Gorillas. Mal sehen, wie lange sie in meinem Alltag überleben werden!“

~Kontrolle~

Die Monate ziehen unbarmherzig an mir vorbei, ein Tag erscheint mir, wie der Andere: Schlafen, Essen, Training, Papierkram, Telefonate, Geschäftsessen. Die Fäden im Hintergrund zu ziehen, ist viel langweiliger, als ich es mir vorgestellt habe und zu allem Überfluss, laufen mir Aarons Gorillas Tag und Nacht hinterher. Selbst hier auf dem Klo, habe ich vor ihnen keine Ruhe. Mittlerweile würde ich liebend gern dabei zusehen, wie sie sich eine Kugel für mich einfangen und daran krepieren.

Während ich mir die Hände wasche, stehen sie rechts und links der Tür, die Arme nach unten gefaltet, mit dem immer selben gleichmütigen Gesichtsausdruck.

"Wenn ich zu Hause bin, habt ihr Freizeit, ihr könntet euch ruhig mal dünne machen!", schlage ich ihnen vor. Sie reagieren nicht, ich weiß nicht mal, ob sie mich verstanden haben.

"Habt ihr kein Privatleben?" Wieder bleiben sie stumm. Obwohl wir nun schon vier Monate zusammen arbeiten, weiß ich so gut wie nichts über sie. Ja und nein scheinen die einzigen Worte zu seinen, die sie beherrschen. Ich seufze resigniert und trockne mir die Hände.

„Enrico, komm ins Büro!“, schalt es vom Flur. Was will der alte Sack schon wieder von mir? Den ganzen Tag ruft er nach mir, ständig ist etwas anderes. Hoffentlich knallt er mir nicht wieder einen Stapel Papiere vor die Nase, ich hab genug von dem ganzen Finanzscheiß. Was gäbe ich nicht alles für einen netten Pokerabend bei Erik, mit echten Menschen und nicht diesen ganzen Büro- und Politiktypen.

„Ja, ich komme gleich“, entgegne ich genervt und verlasse das Badezimmer. Die beiden Gorillas setzen sich in Bewegung und folgen mir, wie ein übergroßer Schatten. Wenn man sich wenigstens mit ihnen unterhalten könnte, aber sie reden ja nicht. Ich folge dem Flur bis zur Treppe und hinauf in den ersten Stock, auf halbem Wege kommt mir Judy mit den Kindern entgegen. Sie trägt ein weißes Sommerkleid, das weit über ihren runden Bauch fällt. Ihre Bewegungen werden von Tag zu Tag schwerfälliger. Auch jetzt müht sie sich ab und muss jede Stufe einzeln nehmen. Nicht mehr lange und die Villa wird von lautem Babygeschrei erfüllt sein. Mir Gruselt es schon jetzt bei der Vorstellung.

Unsere Tochter trägt ein ähnliches Kleid, wie ihre Mutter, nur enger geschnitten. Judy hat Beide bei dem selben Schneider in Auftrag gegeben. Amys Haare sind lockig frisiert, und mit Schleifen fein hergerichtet. Selbst Rene ist zurecht gemacht und sieht in seinem Hosenanzug feierlich aus. Es ist Sonntag, sie wollen sicher einen Ausflug machen und ich sitze hier mit Aaron fest, mal wieder.

„Wir wollen zum Strand, kommst du mit?“, will meine Frau wissen und lächelt vergnügt.

„Dein Vater hat nach mir gerufen. Ich komme nach, wenn ich kann!“ Sie nickt und müht sich die letzten Treppen hinunter. Amy und Rene folgen ihr leichtfüßig.
 

Zum Strand, würde ich jetzt auch gern, das Wetter ist toll und bei der Hitze, kann auch ich eine Abkühlung vertragen. Seufzend erklimme ich die letzten beiden Stufen und betrete Aarons Büro.

„Ihr beide wartet draußen!“, weist er die Leibwächter an. Sie nicken und verlassen das Zimmer. Wie schön, auf Aaron hören sie. Ich sollte sie auf meine Gehaltsliste setzen, dann tun sie vielleicht auch mal, was ich ihnen sage. Der Größere von Beiden schließt die Tür von außen, dann bin ich mit dem Paten allein. Der alte Mann sitzt hinter seinem Schreibtisch und mustert mich streng.

„Das ist nun schon das zweite Mal!“, brummt er. Ich bin mir nicht sicher, was er meint und schaue fragend. „Das zweite Mal?“

„Das zweite Treffen, bei dem sich Antonio nicht blicken lässt!“

„Ja!“, entgegne ich emotionslos. Was soll ich auch groß dazu sagen? Seit unserem Streit, habe ich ihn nicht mehr gesprochen. Er geht mir aus dem Weg. Selbst wenn ich im Club vorbei schaue, verschwindet er, sobald er mich sieht. Ich habe mich selbst darüber geärgert, dass er auch am heutigen Clan-Treffen nicht teilgenommen hat. Bei ihm bin ich mit meinem Latein am Ende.

Aaron zieh die buschigen Brauen noch tiefer ins Gesicht, als er fordert: „Bring den Kerl unter Kontrolle! Du bist jetzt sein Vorgesetzter, wenn du ihn rufst, hat er zu erscheinen und was du ihm aufträgst hat er umzusetzen. Wenn ihr das nicht hinbekommt, such ich mir nen anderen Chef für die Wölfe und Antonio kann sich sein Geld wieder an den Docks verdienen. Ich habe die Schnauze allmählich voll von eurem Kindergarten!“ Als wenn er auf mich hören wird, oder sich mal zu einem Gespräch mit mir herablässt.

„Ja, ich werd's ihm ausrichten, wenn ich ihn mal sehe." Aaron schaut noch immer finster.

„Du wirst es ihm sofort sagen und sollte er nicht spuren, lege ich Hand an!" Ich muss schwer schlucken. Die Kerle, an denen Aaron Hand anlegt, schwimmen am nächsten Tag auf dem Grund des Hudson Rivers.

„Schon gut, ich klär das!", sage ich schnell.

„Das will ich für dich hoffen!“ Aaron wendet sich ab, er macht eine ausfallende Handbewegung und widmet sich dem Papierkram. Ich bin entlassen, aber freuen kann ich mich darüber nicht. Aus dem Tag am Strand wird wohl nichts werden. Ich gehe, doch bevor ich die Tür schließen kann, ruft er mir nach: „Wenn reden nichts bringt, hau ihm einfach mal ein Paar aufs Maul!“ Ich lächle bitter und schließe die Tür. Als wenn das etwas bringen würde. Eine Prügelei endet bei uns in Sex. Andererseits, vielleicht ist das genau der richtige Weg, in wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein breites Grinsen huscht mir ins Gesicht, bis die beiden Gorillas vor mir auftauchen. Die kann ich als Zuschauer nun wirklich nicht gebrauchen, ich muss sie loswerden, irgendwie.

„Ihr bleibt hier!“, weiße ich sie streng an. Wieder regt sich nichts in ihren Gesichtern, doch als ich mich in Bewegung setze, folgen sie mir, wie immer.

„Ihr geht mir tierisch auf die Nerven“, murmle ich und laufe schneller. Sie halten auch weiterhin mit mir Schritt. Ich wüsste zu gern, wie viel Aaron ihnen bezahlt, dass sie sich das hier freiwillig antun.
 

Wir erreichen zusammen den Garten, erst jetzt lösen sie sich aus meinem Schatten und laufen zu Aarons Limousine, die gleich neben dem Anwesen parkt. Seit Tagen besteht der Pate darauf, dass ich stilvoll vorfahre. Jester sitzt bereits hinter dem Steuer und lächelt mir zu. Ich darf nicht mal mehr selbst fahren, das hält der Alte nicht für angemessen. Diese ganze Vornehmtuerei nervt gewaltig. Die Strafe reich zu sein ist wohl die, sich wie ein reicher Schnösel benehmen zu müssen.

Jesters stumme Aufforderung einzusteigen, erwidere ich mit einem Kopfschütteln und lauf zwei Meter weiter, zu meinem Motorrad. Noch auf dem Weg dort hin, krame ich meine Schutzbrille aus der Jackentasche und setze sie auf. Viktor und Jakow halten inne, sie zögern und reagieren zu langsam. Während sie mich irritiert mustern, sitze ich schon auf meiner Maschine und starte den Motor. Endlich frei, nichts wie weg von hier, bevor sie begreifen, dass sie mich mit der Limousine niemals einholen können. Ich lasse den Motor laut aufheulen und rausche über den Kiesweg davon.

Im Rückspiegel wird meine goldener Käfig immer kleiner und ich kann seit Tagen endlich mal wieder durchatmen. Auf dem kürzesten Weg steuere ich den Highway an, um endlich richtig Gas geben zu können. Der Fahrtwind rauscht mir in den Ohren, der Luftzug ist kalt und angenehm, der Rausch der Geschwindigkeit vibriert in meinen Adern. Ich verpasse absichtlich die ersten beiden Ausfahrten nach Brooklyn, nur um dieses Gefühl der Grenzenlosigkeit etwas länger genießen zu können. Mein Umweg führt mich von Highway runter und wieder hinauf. Das könnte ich den ganzen Tag machen, aber die Pflicht ruft und ein klärendes Gespräch mit Toni ist längst überfällig. Schweren Herzens nehme ich die nächste Abfahrt und folge dem schnellsten Weg zum Midnightsclub.
 

Mein Motorrad parke ich im Hinterhof, suchend schaue ich mich nach Tonis Wagen um. Er steht nicht weit von mir, neben einen der LKWs. Sehr gut, er ist also daheim.

Zwei Autos weiter, fällt mir eine schwarze Limousine auf. Erschrocken sehe ich auf die Türen, die sich in eben jenem Moment öffnen. Die beiden Russen steigen aus, in ihrem Gesicht spiegelt sich ein triumphierendes Lächeln. Verdammt! Sie wussten wohin ich fahren werde, sicher haben sie mein Ziel von Jester erfahren, den der Butler ist nicht bei ihnen. Ich seufze und setze die Brille ab. Während ich sie in meiner Jackentasche verstaue, halte ich auf die Beiden zu.

„Eins zu Null für euch!“, lasse ich sie anerkennend wissen. Beide senken den Blick und lächeln verstohlen. Die erste Reaktion, die ich bei ihnen auslöse. Vielleicht sind sie ja doch Menschen und keine Maschinen, wie ich bisher vermutet habe.
 

„Was willst du schon wieder hier? Und noch dazu mit dieser Protzkarre und diesen beiden Schoßhunden!“ Toni? Ich drehe mich nach ihm um. Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, dass ich seine Stimme gehört habe, dass sie mir durch Mark und Bein geht. Wie ich das vermisst habe, nur dieser vorwurfsvolle Unterton nervt gewaltig. Seine Laune ist schlecht, das weiß ich, noch bevor ich ihn mit den Augen gefunden habe. Sein Blick ist drohend, seine Haltung abwehrend. Mit den Armen vor der Brust verschränkt, bleibt er vor dem Eingang des Clubs stehen. Sein Gesicht wird von einem Dreitagebart eingerahmt, das schwarze Hemd spannt um seinen Bauch. Er trägt keine Krawatte und seine Haare sind zerzaust, als wenn er eben erst aufgestanden wäre. Wo ist der gepflegte, gutaussehende Kerl, dem ich so verfallen bin?

„Der Club läuft gut! Wir brauchen dich hier nicht!“, sagt er. Glaubt er wirklich, dass ich deswegen hier bin? Und warum spielt er sich so auf? Das der Club gut geht ist Romeos Verdienst, nicht seiner. Ich lasse mich gar nicht erst auf eine Diskussion ein und entgegne ernst: „Du weißt wohl nicht welcher Tag heute ist?“ Er schaut überrascht, dann fragend. Weiß er es wirklich nicht? Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich eine Antwort gibt: „Freitag!“

„Es ist Sonntag, du Idiot!“, erwidere ich und gehe auf ihn zu. Seine Alkoholfahne weht mir entgegen. Hat er sich etwa zulaufen lassen und den ganzen Tag verpennt? Ungläubig mustern mich seine trüben Augen.

„Du hattest heute einen Termin bei mir!“ Als ich auf ihn zuhalte, weicht er einen Schritt zurück. Seine Augen mustern mich wild und anklagend.

„Ich hatte wichtigeres zu tun“, presst er heraus. Ich dränge ihn an die Tür in seinem Rücken und packe ihn am Kragen seines Hemdes.

„Was denn? Dich zulaufen zu lassen und den Tag zu verpennen? Sieh dich doch mal an! Du bist fett geworden und stinkst zum Himmel!“ Ich schlage ihm auf den Bauansatz und rümpfe die Nase.

„Das ist meine Sache!“, keucht er atemlos, „Das hat dich nicht zu interessieren!“

„Reiß dich gefälligst zusammen man! Du bist der Chef eines Clans.“

„Ja genau, und deswegen hast du mir auch gar nichts zu sagen!“

„Ich bin noch immer dein Chef du Arsch. Du hast zu tun, was ich dir sage! Wenn ich dich rufe hast du aufzutauchen und was ich dir auftrage hast du zu erledigen, sonst fliegst du raus und kannst wieder an den Docks arbeiten“, sprudeln Aarons Worte aus mir heraus. Toni schlägt meine Hände von sich. Abschätzig betrachtet er mich von oben.

„Pah! Von wegen, du bist nur der Laufbursche des Paten! Mehr nicht! Wenn mich jemand feuert, dann er!“ Jetzt reicht es! Ich hole aus und schlage in dieses überhebliche Gesicht. Toni dreht den Kopf zur Seite, seine Wange schwillt an. Erschrocken mustert er mich, dann verfinstert sich sein Blick.

„Du mieses Arschloch!“, schreit er und holt aus. Er schlägt zu. Ich weiche aus und packe seine Hand am Gelenk. Seinen Arm verdrehe ich ihm auf den Rücken und drücke ihn nach unten. Er kreischt aufgebracht, doch seine Gegenwehr ist lächerlich. Wo ist die Kraft und Schnelligkeit geblieben, mit der er mich sonst überwältigt hat? Ist er inzwischen so schwach oder zeigt das brutale Training mit Kenshin endlich Wirkung? Ganz gleich, aus diesem Griff kommt er nicht frei.

„Du scheinst da einiges durcheinander zu bringen, also werde ich dich mal auf den neusten Stand bringen: Ich bin das offizielle Oberhaupt der Locos, Aaron hat sich vor einem Monat in den Ruhestand verabschiedet. Wenn du deinen faulen Arsch mal auf eines unser Clantreffen bequemt hättest, dann wüsstest du das!“ Ich stoße ihm hart in den Rücken und gebe ihn frei. Er stolpert und fällt vor mir zu Boden, sein Autoschlüssel rutsch ihm dabei aus der Hosentasche und landet vor meinen Füßen. Ich bücke mich danach.

„Ich hasse dich!“, keucht er, auf dem Rücken liegend und schaut wütend auf. Ich blicke gleichgültig zurück und zucke mit den Schultern.

„Ach ja, wie sehr?“, will ich wissen und schwenke den Schlüssel in meiner Hand. Toni schluckt schwer und bemüht sich vergeblich die finstere Mine aufrecht zu halten. Schluss mit Lustig! Er wird mich begleiten, ob er will oder nicht.

„Gib den her!“

„Der gehört mir, wie alles hier! Ich habe ihn bezahlt und das hier alles aufgebaut und wenn ich ihn gegen die nächste Hauswand setze, dann habe ich jedes Recht dazu.“ Das dürfte reichen, damit er mir überall hin folgt. Hastig kämpft er sich auf die Beine, doch bevor er wieder steht, bin ich schon auf dem Weg zu seiner Karre. Seine Schritte eilen mir nach. Als ich in den Wagen steige und die Tür schließe, reißt er die Beifahrertür auf. Ich ziehe meine Waffe und richte sie auf die Armaturen des Wagens.

„Steig ein, oder ich schwöre dir, ich schieße so viele Löcher rein, dass du ihn als Schweißer Käse verkaufen kannst!“ Toni betrachtet mich wild und ungläubig. Ernst und eindringlich schaue ich zurück. Als er nicht sofort einsteigt, entsichere ich die Pistole und krümme den Zeigefinger um den Abzug. Er bläst die angestaute Wut in einem Seufzen heraus und steigt zu mir.

„Geht doch!“ Noch bevor er die Tür geschlossen hat, starte ich den Wagen. Die Waffe stecke ich weg, dann drehe ich das Lenkrad voll ein. Mit quietschenden Reifen, wirble ich den Schotter unter uns auf und fahre davon. Toni kann gerade noch so die Beine einziehen, um den Splitt nicht abzubekommen, dann lassen wir den Innenhof bereits hinter uns.

Unser Streit hat den ganzen Clan auf den Plan gerufen. Im Rückspiegel sehe ich sie ins Freie laufen und uns nach sehen. Das dürfte auch ihnen für die Zukunft eine Lehre sein, dass mit mir nicht zu Scherzen ist. Hinter uns blieben sie und auch Viktor und Jakow zurück. Obwohl mein Leibwächter unverzüglich in die Limousine steigen, werden sie uns nicht mehr einholen, dafür werde ich sorgen. Toni liebt schnelle und wendige Autos, ihre Limousine wird niemals mit uns mithalten können und dieses Mal kennen sie mein Ziel nicht. Das erste Mal, seit langem, habe ich wieder die Fäden in der Hand und es fühlt sich großartig an.
 

„Mach die Tür zu!“, befehle ich Toni. Er gehorcht, dieses Mal ohne zu murren. Als ich einen Blick zur Seite werfe, betrachtet er ängstlich die Fahrbahn. Ich bin viel zu schnell, gut das doppelte von dem, was erlaubt ist und schalte gerade noch einen Gang höher.

„Wirst du mich jetzt umbringen?“, will er mit zitternder Stimme wissen. Glaubt er das wirklich?

„Idiot!“ Ich und biege auf den Highway ab. Im Rückspiegel kann ich keine Limousine sehen, die Russen sind wir schon mal los. Toni verkrampft sich zusehends, seine Hände krallen sich in den Sitz, während er starr nach vorn sieh.

„Enrico!“, presst er zwischen den zusammengebissenen Zähen hervor. Ich schaue wieder auf die Fahrbahn. Direkt vor uns fährt ein gemütlicher Druck, sein Heck kommt uns rasant näher. Ich ziehe nach links und nutze die winzige Lücke, die zwischen uns und einem andren Wagen frei ist, um an dem Druck vorbei zu ziehen. Laues Hupen schallt uns nach.Verdammt! Das war knapp, viel zu knapp. Ich atme durch und nehme den Fuß vom Gas. Wenn ich weiter so rase, haben wir bald die Bullen im Nacken. Während ich mein Tempo den Verkehrsregeln anpasse, wird es totenstill. Zehn Kilometer lang spricht weder er, noch ich. Nur sein unruhiger Atem erfüllt den Innenraum, mit dem Geruch von Alkohol und Erbrochenem. Warum nur lässt er sich so gehen und glaubt er wirklich, ich könnte ihm etwas antun?

„Keine Sorge, ich leg dich nicht um, aber Aaron, wenn du dich weiter so daneben benimmst“, lasse ich ihn wissen.

„Und wenn schon!“ Mehr hat er nicht dazu zu sagen? Was ist nur los mit ihm?

„Ist das alles?“

„Was kümmert es dich?“, presst er aggressiv heraus, doch seine Stimme zittert vor Bitterkeit, „Du hast doch jetzt deinen Jan und diese beiden Russen. Also kümmere dich um deinen Mist!“ Darum geht es also noch immer? Mir sitzt unser Streit auch in den Knochen, aber ich besaufe mich deswegen doch auch nicht ständig und lass mich hängen. Warum ist er denn nicht einfach zu mir gekommen? Warum geht er mir aus dem Weg, wenn ihn das so mitnimmt? Ich fahre an den Straßenrand und parke den Wagen. Toni wendet den Blick ab, er sieht aus dem Fenster. Sein Atem geht schwer, zusammengesunken hängt er in seinem Sitz.

„Das mit Jan war, ...“

„Sparr' dir deine Entschuldigung. Ich will sie nicht hören. Wenn unser beider Leben nicht vom Schutz der Locos abhängen würde, wäre ich schon längst über alle Berge. Wenn dir auch nur irgend etwas an mir liegen sollte, dann sorge dafür, dass wir nur noch das nötigste miteinander zu tun haben. Ich ertrage deinen Anblick einfach nicht mehr.“ Ein fetter Kloß rutscht mir in den Hals und lässt mich schwer schlucken. Ist das sein ernst? Er schaut mich nicht an, sein Atem geht ruckartig und setzt immer wieder aus.

„Na schön!“, höre ich mich sagen. Wenn das sein Wunsch ist, dann lasse ich ihn eben sein eigenes Ding machen. Das ist immer noch besser, als ihn in dem Zustand zu sehen. Vielleicht geht es ihm ohne mich und mit Anette ja tatsächlich besser. Als er sich mir zuwendet, sehe ich aus dem Fenster und den vorbeiziehenden Autos zu.

„Ich überschreibe dir den Club und lass dich machen. Wenn du dafür zu den Treffen kommst und mir Bericht erstattest. Das kann ich dir als Chef der Wölfe nicht ersparen.“

„Und wenn du jemand anderen zum Chef machst?“ Ich lächle bitter. Ist ihm selbst das lächerliche Treffen schon zu viel? Ich halte es kaum einen Tag aus, ohne ihn zu sehen. Wenn Aaron mir etwas Zeit lässt, bin ich stets nur seinetwegen zum Club gefahren, selbst wenn er nicht da war, nur aus der Hoffnung heraus, wir würden uns trotzdem über den Weg laufen. Schlimm genug, dass ich das nun sein lassen soll, aber wenigstens zu den Clantreffen, will ich ihn sehen.

„Es gibt niemanden dem ich diesen Posten anvertrauen kann!“, sage ich etwas hilflos und in der Hoffnung, es reicht aus, damit er auf den Deal eingeht.

„Und wenn ich nicht mehr der Chef sein will?“

„Willst du wieder an den Docks arbeiten und in Armut leben?“

„Das ist mir mittlerweile egal, Hauptsache ich bin so weit wie möglich von dir weg. Wären wir uns nur nie über den Weg gelaufen!“ Mir bliebt das Herz stehen. Hat er das wirklich gesagt? Das Atmen fällt mir immer schwerer, meine Kehle schnürt sich zu. Ich schwebe wie in einem Traum, wie in einem nicht enden wollenden Alptraum. Wie kann er nur so denken? Ich bereue nicht einen Moment mit ihm, nicht mal die schlechten. Aber wahrscheinlich kann ich das Selbe nicht von ihm erwarten. Es gibt so viele Gründe, die gegen uns sprechen und einer der Wichtigsten, bin wohl ich selbst. Was musste mir auch das mit Jan passieren? Ich hab es einfach versaut und jetzt kann ich ihm nicht mal den Freiraum lassen, denn er braucht. „Ich würde dich gehen lassen, wenn das dein Wunsch ist, aber Aaron nicht. Er hat mich geschickt, um dir die Wahl zu lassen. Entweder die Verantwortung für die Wölfe oder ...“

„Ich dachte du führst jetzt die Locos!“ Wieder huscht mir ein bitteres Lächeln über die Lippen. Aaron schwebt noch immer über allen Entscheidungen.

„So lange Aaron und Michael leben, werden wir beide niemals frei sein. Und ich wette selbst dann, sind wir noch auf den Schutz eines Syndikats angewiesen.“

Wir schweigen, lange, ewig. Die Stille ist so erdrückend, dass ich daran zu ersticken glaube. Ich bin froh, als Toni endlich wieder zu sprechen beginnt: „Überschreibe mir den Club! Ich komme einmal im Monat, sag dir wies läuft und verschwinde wieder. Ich will den Platz ganz außen am Tisch und mich auch nur übers Geschäft unterhalten. Ansonsten lässt du mich in Frieden!“ Seine Worte klingen nicht so, als wenn ich eine Wahl hätte. Entweder ich stimme zu, oder er lässt alles so laufen wie bisher und wird früher oder später vom alten Paten beseitigt. Damit, das er lebt und ich ihn einmal im Monat sehen kann, werde ich wohl oder übel zufrieden sein müssen.

„Na schön, wie du willst“, gebe ich kleinlaut nach und kann spüren, wie die Kälte erneut von meinem Herz Besitz ergreift und alle Gefühle verschlingt.

Ich starte den Wagen und lenke ihn zurück auf die Straße. Am besten wir wickeln die ganzen Formalitäten sofort ab, damit ich nicht noch einmal darüber nachdenken kann.
 

Der Weg zu Aarons Villa fliegt ungesehen an mir vorbei. Als das Anwesen in Sichtweite kommt, weiß ich nicht mal, wie ich bis dort hin gefunden habe. Ich fühle mich wie automatisiert, wie eine Maschine, die einfach nur funktioniert.
 

Das Tor steht offen. Wie seltsam! Wir erwarten heute gar keinen Besuch. Ein unbestimmtes Gefühl frisst sich in meinen Magen und beißt sich dort fest. Ich parke auf der Straße und steige aus. Alles bleib still. Kein freudiges Hundegebell, keine Pfoten, die über den Kiesweg traben und mich umrennen wollen. Hier stimmt etwas nicht! Instinktiv greife ich zur Waffe. Toni steigt ebenfalls aus und eilt zu mir.

„Was ist los?“, will er wissen. Ich antworte nicht, sondern folge dem Kiesweg. Etwas liegt dort, dort oben, auf halber Höhe zum Anwesen. Zwei dunkle Schatten, heben sich vom grünen Grass und den weißen Kieselsteinen ab. Etwas schimmert rot, zwischen den Vorderläufen, die steif von den Körpern abstehen. Das glatte Fell ist blutverschmiert.

„Scotch! Brandy!“, rufe ich die Wachhunde. Sie rühren sich nicht, ihre Körper liegen vor Schmerzen verrenkt im Gras. Ich lasse die Waffe fallen und werfe mich auf die Knie zu ihnen. Scotchs massigen Kopf nehme ich in beide Hände. Kein Atemzug kommt aus seiner Kehle, dafür schwappt mir ein ganzer Schwall Blut auf die Hose. In seinem Leib klaffen Schusswunden, überall. Ich greife in das blutige Fell, versuche sie zuzudrücken.

„Nein! Nein! Nein! Scoch, komm schon! Mach die Augen auf, alter Junge!“, rufe ich ihn an, doch der Hund in meinen Armen, rührt sich nicht. Mein Blick fällt auf seine Gefährtin. Brandy liegt nur einen Meter weiter. In ihrem Maul hängt ein schwarzer Stofffetzen. Ihr Brustkorb bewegt sich nicht, die Zunge hängt ihr leblos aus dem Maul. Dort, wo einst ihr rechtes Auge war, ist nur noch ein dunkles Loch. Sie ist tot, sie … sie sind beide tot!

„Enrico, die Haustür!“ Toni bleibt neben mir stehen, sein ausgestreckter Arm deutet auf das Anwesen. Ich folge seinem Fingerzeig. Die Tür seht weit offen. Angst erfüllt meinen Brustkorb und lässt mich erschaudern.

„Aaron ...“, kommt mir über die Lippen. Das darf einfach nicht passiert sein! Es ist doch mitten am Tag. Die Wachhunde waren draußen, Das darf einfach nicht sein! Meine blutige Hand greift die Waffe zu meinen Füßen, wie benommen erhebe ich mich und laufe los. Mein Griff um den Lauf wird immer feste, je weiter mich meine Beine tragen. Den Kiesweg entlang, die Steintreppe hinauf und durch die weit offen stehende Haustür. Wer immer das getan hat, wird hier und jetzt den Tot finden!

~Der letzte Kuss~

Eine Blutspur zieht sich den Boden entlang, ein blutiger Handabdruck umklammert den Rahmen der Küchentür. Die Wand entlang zur Treppe, immer wieder klebt er an den Wänden. Mir stockt der Atem. Nein, bitte nicht! Ich folge der Spur. Dort auf den ersten Treppenstufen, da liegt doch jemand. Ein knorrige Hand reicht die Treppe hinauf, sie zittert. Hilfesuchend greift sie ins Leere. Der alte Körper vibriert, ein schmerzhaftes Stöhnen ist zu hören.

"Jester!", rufen Toni und ich zeitgleich und werfen uns zu dem Butler auf die Knie. Toni dreht den bebenden Körper um. Der alte Mann sieht uns bittend an, sein Mund formt tonlose Worte. Er schaut verbissen und atmet schwer, sein Gesicht seine Hände, sein weißes Hemd, alles einfach alles ist voller Blut. Ich kann auf den ersten Blick nicht erkennen, wo er verletzt wurde. Der Boden unter unseren Füßen ist nass, eine Pfütze, die schnell immer größer wird. Er hat schon so viel Blut verloren, er ist doch schon so alt und gebrechlich. Das wird er nie ... nein! Tränen laufen mir heiß über die Wange. Warum nur tut man ihm das an? Ist das denn wirklich nötig gewesen? Er ist doch keine Bedrohung. Jester streckt seine Hand nach mir aus. Ich greife seine zitternden, kalten Finger. Er packt fest zu uns sieht mich eindringlich an.

"Der Master!", keucht er. Ich schaue die Treppe hinauf. Verdammt! Der Butler war nicht das Ziel, sondern der Pate. Ich nicke und schaue Toni eindringlich an.

"Bleib bei ihm!", befehle ich und stehe auf.

"Enrico, warte!"

"Bleib bei ihm!", weise ich ihn ernst an. Vielleicht kann er ja noch etwas für ihn tun und wenn nicht, Jester soll nicht allein dort unten sterben müssen.
 

Der Weg die Treppe hinauf, kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Meine Beine sind schwer wie Blei, als ich endlich die letzte Stufe erklommen habe, wollen sie mein Gewischt kaum noch tragen. Ich zittere am ganzen Körper.

Die Tür zum Büro steht offen, ich kann es schon von weitem sehen. Es ist still, so unnatürlich still. Keine Schritte, kein Kampf, nichts. Mit der Waffe voran gehe ich weiter. Der letzte Schritt fällt mir unendlich schwer. Noch immer ist nichts zu hören. Mit bebendem Herzen betrete ich das Büro. Nur widerwillig schaue ich zum Schreibtisch und dem Sessel dahinter. Wir beide sind allein, nur das Fenster in Aarons Rücken steht offen. Der Wind bläst die Gardine um den Sessel und bläht sie auf. Ich lasse die Waffe sinken und schaue in das schmerzverzerrte Gesicht. Der Kopf ist nach hinten über die Lehne unnatürlich überdehnt. Angst und Schrecken spiegeln sich in seinen weit aufgerissenen Augen. Seine Arme hängen schlaff herab, kein Atemzug verlässt seine Kehle. Wie auch! Aus seinem Hals ragt ein langes Samuraischwert. Die Klinge stößt weit durch seinen Körper und dringt durch den Sessel dahinter. An seinem Griff hängt ein Zettel:

~Ich hasse es zu warten!~

Ich lese die Worte einmal, zwei mal, drei mal. Sie hämmern durch meinen Kopf.

"Michael!", fluche ich. Mein Atem geht schnell und wird immer schneller, die Hände balle ich zu Fäusten, so fest, das die Waffe knirscht und sich die Nägel in meine Haut bohren. Wut erfüllt meinen Magen, mein ganzes Denken. Wie automatisch gehe ich die wenigen Schritte zum Schreibtisch. Die Pistole knalle ich auf die Tischplatte und gehe um das Möbelstück herum zu Aarons Sessel. Meine kalte Hand lege ich dem alten Herrn auf die Wange. Sie ist noch warm, er ist noch nicht lange tot. 'Leb wohl Vater' - schwirrt es unaufhörlich durch meinen Kopf, doch ich bekomme kein Gefühl dafür. Da ist nichts als Hass und Verachtung und der unbändige Durst nach Vergeltung. Ich schließe seine weit aufgerissenen Augen und gebe ihm einen letzten Kuss auf die Stirn, dann packe ich das Schwert am Griff. In einem Ruck ziehe ich es aus seinem Leib. Der Pate sackt in seinem Sessel tief in sich zusammen, ein unaufhörlich blutiger Strom, fliest aus seiner Kehle und ihm in den Schoss.

"Dafür lösche ich den Clan der Drachen aus, alle bis auf den letzten Mann, das schwöre ich dir!", verspreche ich ihm und wende mich von dem schaurigen Anblick ab. Mit dem Schwert in der Hand verlasse ich das Büro. Jeder Schritt, der mich weg von diesem schrecklichen Anblick bringt, wird schneller und kraftvoller. Ich werde sie jetzt auslöschen, auf der Stelle. In Scheiben werde ich sie schneiden, jeden von ihnen und am Ende knöpf ich mir ihren verfluchten Anführer vor. Michael werde ich sein verdammtes Schwert in Herz rammen, so wie ich es versprochen habe, so wie es schon längst hätte tun soll.

Ich erreiche die Treppe und steige die ersten Stufen hinab, als lautes gepolter im Flur zu hören ist. Verwirrt bleibe ich stehen.

"Polizei keine Bewegung!", tönt es laut und schrill. Beamte in Uniform, mit den Pistolen voraus, stürmen das Haus.

"Waffe fallen lassen!", bellen sie Toni an. Er kniet noch immer bei Jester, in seiner Hand hält er ein Messer. Ob er das aus dem Körper des Butlers gezogen hat? Noch bevor er reagieren kann, wird er von den Beamten gepackt und auf dem Boden fixiert.

"Kümmert euch um ihn!" fordert er die Männer auf. Die Szene fliegt, wie ein schlechter Film, an mir vorbei. Als die Polizisten auf mich aufmerksam werden, erhebe ich lediglich stolz den Kopf und sehe ihn zu, wie sie die Treppe hinauf kommen. Unzählige Waffen sind auf mich gerichtet, als sie brüllen: "Waffe fallen lassen!" Ich betrachte das Katana in meiner Hand, von dem noch Aarons Blut tropft. Sie halten mich und Toni für die Mörder? Welch Ironie! Der einzige Mord, denn wir nicht begangen haben, wird uns jetzt das Genick brechen. Ich lasse das Schwert fallen und sehe ihm zu, wie es die Treppen hinabrutscht. Kaum einen Moment später packen mich dutzende Hände und verdrehen mir die Arme auf den Rücken. Ich spüre kalte Metallringe, die sich um meine Handgelenke schließen. Das darf doch alles nicht wahr sein. Das ist doch ein abgekartetes Spiel. Warum sonst sollten diese Kerle ausgerechnet jetzt hier auftauchen. Verdammt!

Die Treppe hinunter, durch den Flur, hinaus ins Freie, alles fliegt wie in Zeitlupe an mir vorbei. Bevor ich richtig begriffen habe, was uns gerade passiert, sitze ich bereits auf der Rückbank eines Polizeiautos und werde weggebracht. Im Rückspiegel kann ich noch sehen, wie Toni in einen anderen Wagen gestoßen wird.

"Dieses Mal kriege ich euch dran!", keift der Beamte am Steuer. Ich kenne den Kerl, diesen Typ mit dem markanten Kinn und den Schlitzaugen, Jans Vater. Seit meinem großen Bruch, ist der Typ hinter mir her. Sein selbstgefällig Grinsen geht mir auf die Nerven, doch ich schweige. Die Situation in der Villa, ist viel zu eindeutig gewesen. Aus der Nummer, komme ich mit noch so viel Protest nicht mehr heraus.

~Hinter Gittern~

Wie lange sitze ich eigentlich schon hier? Laut der Uhr an der Wand bereits drei Stunden, mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ihr Taktik kenne ich bereits. Sie lassen mich absichtlich hier im Verhörraum warten, in der Hoffnung, dann leichteres Spiel mit mir zu haben, wenn sie plötzlich und unerwartet durch die Tür herein kommen und mich mit ihren Fragen und Beschuldigungen bestürmen. Ich seufze ergeben und schaue wieder auf die Uhr. Der Zeiger hat sich noch nicht bewegt. Es ist keine einzige, verdammte Minute vergangen. Wie ich es hasse zum Nichtstun verurteilt zu werden. Ich will diese Schweine suchen und zur Strecke bringen, die meiner Familie das angetan haben. Sie sollen bluten, für all ihre Taten. Doch anstatt mich in ein Gemetzel zu stürzen, sitze ich hier fest, mit Handschellen an diesen verdammten Tisch gefesselt. Hier gibt es nichts, als vier weiße Wände, diesen Tisch und zwei Stühle.
 

Ein Glück sind Judy und die Kinder an den Strand gefahren und waren nicht im Haus, sonst wären sie jetzt sicher auch tot. Hoffentlich sind die schlimmsten Spuren beseitigt, bis die drei nach Hause kommen. Der Vater tot, ich als Hauptverdächtiger im Gefängnis. Wie soll meine Frau den Schock nur verarbeiten, wo sie doch hoch schwanger ist. Und ich sitze hier fest und kann nichts tun, um die Sache aufzuklären. Ich kann nicht mal meinen Bruder anrufen, damit er sich um meine Familie kümmert.
 

Aarons Anblick geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Immer wieder taucht sein entsetzter Blick in meinen Gedanken auf, immer wieder sehe ich das Schwert, das ihm den Atem nahm. Wäre ich doch zu Hause gewesen. Hätte ich meinen Schwur, Michael zu töten, doch nur schon früher eingelöst. Die Nachricht auf dem Zettel gilt mir. Ich habe das perverse Spiel mit ihm, viel zu erfolgreich verdrängt und nun musste Aaron deswegen sterben. Selbst Jesters Blut klebt nun an meinen Händen. Ich betrachte meine befleckten Finger, die blutigen Ärmel, meine blutgetränkte Hose. Auch Scotch und Brandy mussten nur meinetwegen sterben. Ach verflucht! Ich raufe mir die Haare. Wenn ich doch wenigstens jemanden umlegen könnte.
 

Die Tür öffnet sich, zwei Beamte kommen herein. Wird auch Zeit!

Einer von ihnen ist der Asiat mit dem markanten Kinn. Er ist es auch, der mir eine Akte auf den Tisch knallt und sich zu mir setzt. Sein Kollege bleibt hinter mir stehen. Ich hasse das, der Raum ist groß genug, muss er sich ausgerechnet dort platzieren? Ich versuche mir meine Unruhe deswegen nicht anmerken zu lassen und den Kerl einfach zu ignorieren.

Das ist also meine Akte? Ziemlich dünn. Auf den ersten Blick nicht mehr als fünf oder sechs Blätter. Das hätte sich gar nicht gelohnt, sie von Jan stehlen zu lassen. Ich blättere ein wenig darin herum. Der letzte Eintrag ist von 1926. Da hat man mich beim Diebstahl eines Automobils erwischt. Nichts weiter als eine kleine Jugendsünde. Wie langweilig! Ich sehe fragen auf. Was soll ich jetzt damit?

"Nichts, in all den Jahren, nicht ein Eintrag. Nicht schlecht für den obersten Cleaner eines Syndikats. Du bist ein Profi, nicht wahr?" Danke für die Blumen, aber diese Psychospielchen kannst er sich sparen. Ich schaue gleichgültig zurück und entgegne streng und bestimmt: "Was gibt ihnen eigentlich das Recht mich zu duzen, Herr Komissar?" Der Mann in Uniform schaut verdutzt. Mit dieser Antwort hat er offensichtlich nicht gerechnet. Gut so, er brauch nicht denken, dass ich mich in seiner Gegenwart klein fühle. Ein Mindestmaß an Respekt fordere ich auch von ihm ein.

Er brauch einen Moment, bis er sich wieder fängt und das spöttische Grinsen von eben, in seinen Mundwinkeln zurückkehrt.

"Du hast deine Lage wohl noch nicht verstanden, was? Dir droht die Todesstrafe, ist dir das klar? Aus der Geschichte kommst du nicht mehr raus." Witzig, er droht einem Mörder mit Mord? Damit kommen mir meine Feinde seit Jahrzehnten und ich lebe noch immer. Die Akte klappe ich zu, drehe sie in seine Richtung und schiebe sie über den Tisch.

"Machen sie sich mal um mich keine Sorgen. Finden sie lieber den, der meinen Vater auf dem gewissen hat, bevor ich es tue."

"Vater? Ihr seid nicht blutsverwandt."

"Wie ich den Mann nenne, der mich groß gezogen hat, ist meine Sache."

"Arrogant und überheblich, wie immer. Begreifst du es noch immer nicht? Du hattest die Tatwaffe noch in der Hand!" Der Beamte hinter mir, beugt sich vor und wirft das Schwert auf den Tisch. Blut und Zettel kleben noch daran.

~Ich hasse es zu warten!~

Wieder diese verdammten Worte. Ich wende mich ab, doch meinen grimmigen Blick bekomme ich nicht sofort unter Kontrolle.

"Ist kein schöner Anblick, nicht wahr?" Glaubt er ernsthaft, das Blut an der Klinge ist es, das mich stört? Ich schweige.

"Was ist es für ein Gefühl, Menschen so kaltblütig abzuschlachten?" Als wenn ich der einzige kaltblütige Killer hier wäre. Der Scheißkerl hat drei meiner Männer auf dem Gewissen.

"Ich weiß es nicht, sagen sie's mir!" Stur und durchdringend sehe ich den Asiaten direkt in die Augen. Wir liefern uns ein stummes Gefecht, bis er schließlich den Blick senkt.

"Was war der Grund? Das Erbe? Das große Vermögen der Longhards?", will er auf einmal wissen. Glaubt er ernsthaft, dass ich Aaron deswegen umlegen würde? Ich schmunzle amüsiert.

"Ich bin selbst gut situiert." Aarons Vermögen ist mir egal, ich kann genau so gut von den Einnahmen des Midnights leben.

"Fakt ist, du erbst ein Vermögen und wirst Oberhaupt der Longhards!" Ich bin bereits Oberhaupt, du Idiot!

"Ist das alles, was ihr habt?"

"Du begreifst es wirklich nicht oder? Ich werde dir mal sagen, wie es war: Du und dein Kumpel, ihr seid in die Villa eingebrochen, habt den Butler erstochen und dann, den alten Mann in seinem Sessel. Das Blut der beiden klebt noch an euren Klamotten. Leugnen ist zwecklos. Wir haben die Tatwaffen mit euren Fingerabdrücken." Er deutet auf meine fleckigen Klamotten und meine Hände. Ich verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich zurück. Mit finsterem Blick betrachte ich ihn abfällig.

"Was würden sie tun, wenn sie heim kommen und einen Verletzten finden? Die Polizei rufen und auf die Spurensicherung warten oder versuchen zu retten, was zu retten ist?"

"Ach jetzt seid ihr also die Guten?" Seine Frage ist mir keine Antwort wert.

"Warum machen sie sich nicht mal die Mühe, die Fakten zu betrachten? Vor der Villa liegen zwei erschossene Wachhunde. Meine Wachhunde, die mir aufs Wort gehorchen? Nennen sie mir einen Grund, warum ich es nötig hätte, die zu töten? Die Tür war aufgebrochen, aber ich habe einen Schlüssel, ich wohne dort, wozu sollte ich die Tür eintreten? Der Butler ist mein Angestellter, ich hätte ihm einfach frei geben können, um ihn loszuwerden. Und warum sollte ich überhaupt wegen des Erbes Morden? Ich habe uneingeschränkte Zugriffsrechte über alle Geschäftskonten. Seit einem Monat bin ich das Oberhaupt der Longhardfamilie, die Fabriken laufen bereits auf meinen Namen." Da muss er schon etwas anderes auf den Tisch legen. Der Beamte erhebt sich, er beugt sich vor und will etwas sagen, doch in diesem Moment öffnet sich die Tür. Ein dritter Polizist betritt den Raum. Schmächtige Schulter, ein stolze Gang, Schlitzaugen. Das erste Mal seit langem, freue ich mich Jan zu sehen. Er schaut sich im Raum um, wirft mir einen eben so flüchtigen Blick zu, wie ich ihm und richtet sich dann an seinen Vater.

"Wir haben eine neue Spur!", erklärt er. Ist das sein ernst, oder versucht er mich nur hier raus zu holen?

"Ich bin noch nicht fertig mit ihm!", mault der Kommisar.

"Du sollst aber die Ermittlung leiten!" Jans Vater ballt die Faust und schlägt sie hart auf die Tischplatte. Sein finsterer Blick durchbohrt mich, doch ich schaue unbeeindruckt zurück.

"Wir zwei sind noch nicht fertig!", bellt er. Ich zucke nur mit den Schultern. Wütend richtet er sich auf und verlässt den Raum. Als er durch die Tür geht, rufe ich ihm nach: "Bis zum nächsten Mal, vielleicht haben sie dann ja mehr zu bieten!" Ein Faustschlag knallt gegen die offene Tür.

"Zieh nicht immer so ne Show ab, du sitzt echt verdammt tief in der Scheiße", flüstert Jan mir zu, als er die Handschellen aufschließt. Ich grinse erst frech, dann freundlich und erleichtert.

"Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin dich zu sehen", entgegne ich leise. Jan verzieht keine Mine, dass wir miteinander zu tun haben, brauchen seine Kollegen nicht wissen. Grob zieht er mich am Arm hinauf und stößt mich dann in Richtung Tür.

"Vorwärts!", befiehlt er.

Gemeinsam mit seinem Kollege begleiten er mich zu den Zellen. Wir passieren die ersten ohne anzuhalten. Sie alle sind gut gefüllt. Nur zwei Gestalten kommen mir bekannt vor, sie gehören zu mir. Beide klauen Automobile für mich. Offensichtlich haben sie sich mal wieder erwischen lassen. Ich werfe ihnen einen forschenden Blick zu, sie schauen schuldbewusst zu Boden. Die anderen Gesichter sind mir unbekannt, ich beachte sie nicht weiter. Dafür betrachten sie mich von oben bis unten. Kein Wunder, meine ganze Kleidung ist blutverschmiert. Wenn ich mich wenigstens mal umziehen und duschen könnte, aber darauf werde ich warten müssen, bis eine endgültige Entscheidung über mein Schicksal gefällt wurde.
 

Jan schließt eine Tür für uns auf. Er wird mich also nicht in eine dieser überfüllten Zellen sperren? Wohin gehen wir? Die Beamten öffnen einen kleinen Raum. Noch eine Zelle? Das Zimmer ist kaum größer, als der Verhörraum. Es gibt eine Pritsche, ein Klo und ein Waschbecken, mehr nicht. Nur ein Insasse ist bereits hier. Er sitzt auf dem Boden neben der Pritsche, ein Bein angewinkelt das andere ausgestreckt, betrachtet er uns nur flüchtig und sieht dann wieder aus dem vergitterten Fenster. Seine Klamotten sind blutverschmiert, seine Haare kleben ihm strähnig im Gesicht.

„Die sollen doch nicht zusammen treffen!“, gibt Jans Kollege zu bedenken.

„Die anderen Zellen sind voll und was sollen sich die Beiden denn noch absprechen? Die Beweislast ist eindeutig.“ Jan gibt mir einen Stoß in den Rücken. Ich stolpere einen Schritt nach vorn, dann kracht die Tür nach mir ins Schloss. Stille legt sich, wie ein erdrückender Mantel um uns beide, als sich die Schritte der Beamten entfernen. Ob das wohl wirklich alles ist, was Jan für uns tun kann? Wir dürfen uns eine Zelle teilen? Ich seufze und gehe die wenigen Schritte bis zur Pritsche. Geschafft lasse ich mich darauf fallen und lehne mich an die kalte Wand. Jetzt, wo die Anspannung der letzten Stunden von mir abfällt, wird mir erst wirklich bewusst, was uns bevorsteht. Wenn wir verurteilt werden und davon ist auszugehen, droht uns tatsächlich die Todesstrafe. Mein restliches Leben und meinen Tod habe ich mir anders vorgestellt, als hinter Gittern zu sitzen und auf das unvermeidliche zu warten. Ich lege den Kopf zurück und schließe die Augen. Ein leiser Seufzer entflieht meinen Lippen.
 

Toni klopf etwas auf sein Bein, das metallische Klicken eines Sturmfeuerzeuges ist zu hören. Raucht er etwa? Wo hat er denn die Kippen her? Uns wurden doch alle Wertgegenstände abgenommen. Ich schaue zur Seite. Er zieht gerade tatsächlich an einem Glimmstängel.

„Wo hast du die her?“, will ich erstaunt wissen.

„Von Jan. Wenn es drauf ankommt, kann er doch ganz nützlich sein.“ Toni klappt das Feuerzeug zu und verstaut es in seiner Hosentasche, dann nimmt er einen tiefen Zug. Seine blutigen Finger zittern, ihm steckt das Erlebte ebenso in den Knochen, wie mir, aber er hat wenigstens seine Kippen, um sich zu beruhigen. Ich gäbe jetzt etwas, für ein großes Glas Scotch.

„Gib mir auch einen Zug!“, fordere ich. Verwirrt schaut er mich an.

„Du rauchst doch gar nicht.“

„Ich fang heute damit an, gib schon her!“ Er schmunzelt und reicht mir die Kippe. Ich nehme einen tiefen Zug. Der Qualm erfüllt meine Lunge, es kratzt und brennt entsetzlich. Das schmeckt ja scheußlich! Ich muss husten und würgen. Was findet er nur an dem Zeug?

Toni amüsiert sich köstlich, er lacht herzhaft und nimmt mir die Zigarette ab. Na wenigstens hat er seinen Spaß. Es tut gut ihn nach allem, so lachen zu hören.

„Wusste ich doch, dass das nichts für dich ist.“ Ich lächle gequält und muss noch immer husten. Doch als ich mich endlich wieder beruhigt habe, kehrt die ernste Stimmung zurück. Was soll nun werden?

„Ich wusste wir landen irgendwann mal hier!“, unterbricht er die Stille. Sein Blick geht starr an die gegenüberliegende Wand. Ich nicke. Scheiße nur, das es für etwas ist, dass wir nicht getan haben. Wieder Schweigen wir. Nur Tonis gierige Züge an der Kippe sind zu hören.
 

„Hast du Schiss?“, will er auf einmal wissen. Ich betrachte ihn fragend. Seine Finger zittern noch mehr als zuvor. Ich lehne mich wieder zurück und sehe an die Decke. Bisher habe ich noch nicht wirklich darüber nachgedacht.

„Eigentlich nicht“, entgegne ich wahrheitsgemäß. Sein smaragdgrünen Augen mustern mich ungläubig.

„Unser Aufenthalt bei den Drachen, war schlimmer.“ Ein flüchtiges Schmunzeln huscht ihm über die Lippen, als er sich erinnert. Toni lehnt sich ebenfalls zurück, er scheint sich zu entspannen. Wir haben wirklich schlimmeres hinter uns, als einen schnellen Tod auf dem elektrischen Stuhl oder am Galgen. Trotzdem tut es gut jetzt nicht allein zu sein. Jan ahnt sicher gar nicht, welch großen Gefallen er mir damit getan hat.

„Ich bin froh, dass du hier bist“, gestehe ich Toni. Egal was auch in den letzten Wochen vorgefallen ist, mit ihm an meiner Seite, ist selbst diese Hölle erträglich. Er lächelt. Ob es ihm wohl ebenso geht?

~Es wird Zeit~

Die Stille ist nicht zu ertragen und diese vier Wände erscheinen mir von Minute zu Minute kleiner. Wie soll ich das, nur den Rest meines Lebens aushalten? Nie wieder Motorrad fahren, nie wieder einfach dahin gehen, wo ich will, nicht mal die Beine kann man sich hier drin vertreten. Keine Fenster mehr ohne Gitter, keine offenen Türen, jeder Schritt überwacht. Schon beim bloßen Gedanken, für immer eingesperrt zu sein, bekomme ich Panik. Unruhe schleicht sich in mein Herz und lässt es rasen. Ich atme gequält und lege mich auf die Pritsche, ich brauche dringend Ablenkung.

„Rede mit mir, erzähl mir irgendwas!", bitte ich Toni.

„Was willst du denn wissen?" Gute Frage, eigentlich beschäftigt mich nur der Gedanke, wann und ob ich hier wieder raus kann, doch das kann er mir nicht beantworten.

„Wie läuft's im Club so?", will ich stattdessen wissen, auch wenn es mich nicht wirklich interessiert. Toni seufzt und steckt sich eine neue Zigarette an. Er nimmt einen Zug, bevor er mir antwortet: „Ich habe keine Ahnung!"

Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihn ansehen zu können. Wie meint er das, er hat keine Ahnung? Er schaut unter meinen Blick hinweg.

„Ich hab mir die letzten Tage die Kante gegeben und war meistens so zu, dass ich nicht viel mitbekommen habe."

„Warum überhaupt?" Er seufzt und schaut aus dem vergitterten Fenster.

„Ich hab eigentlich nie darum gebeten, die Wölfe anzuführen!" Hab ich mich verhört? Er wollte doch unbedingt den Club haben. Seit Wochen liegt er mir damit in den Ohren.

„Du wolltest doch die ganze Zeit meine Hälfte des Clubs."

„Die Idee ist nicht auf meinen Mist gewachsen!" Ach nein? Auf wessen dann?

„Anette wollte das unbedingt. Ich habe mit dem ganzen Geschäftskram nichts am Hut", entgegnet er, „Ich will diesen ganzen Ärger nicht am Hals haben. Nutten zu ihrem Job zu zwingen, grobe Freier vor die Tür zu setzen und den Clan zusammen zu halten, das waren immer deine Aufgaben. Mir hat es gereicht, einfach nur an deiner Seite zu sein und einzuspringen, wenn es brenzlig wurde." Verdammter Idiot. Warum hat er denn nichts gesagt?

„Warum bist du nicht deswegen zu mir gekommen?"

Er lächelt bitter.

„Was hätte ich dir denn sagen sollen? Das mir das alles zu viel ist? Du hast dich doch auf mich verlassen!"

„Ich hätte schon jemand anderen für den Job gefunden!"

„Und Aaron?"

„Denn hätte ich auch noch überzeugt!"

Er schweigt und sieht betreten gen Boden. Mir fällt nichts mehr ein, was ich ihn fragen kann, also wende ich meinen Blick aus dem vergitterten Fenster. Wenn wir doch nur irgendwo dort draußen wären und nicht in dieser stinkenden Zelle. Der Pate ist tot, ich habe jetzt alle Hände voll zu tun.
 

„Enrico, darf ich dich mal etwas fragen und du antwortest offen und ehrlich?", meint er auf einmal sehr ernst. Ich nicke und sehe ihn an.

„Warum schläfst du eigentlich mit jedem Weib, das dich aufspringen lässt und jetzt auch noch mit Jan? Als Robin damals hinter unser Verhältnis gekommen ist und uns geraten hat, uns auf eine Frau einzulassen, um zumindest nach außen hin den Schein zu wahren, war es dir noch genau so unangenehm wie mir, und jetzt? Mir ist das mit Anette schon zu viel. Selbst als sie Schwanger war, habe ich es nicht über mich gebracht, sie zu heiraten. Aber du hast eine nach der anderen." Ich werde nachdenklich. Wir hatten noch Glück, dass es nur Robin war, die uns damals erwischt hat. Sie waren mir sehr ähnlich, das Geschlecht ihres Partners, war ihr herzlich egal. Ich habe sie sehr oft mit Frauen zusammen gesehen, manchmal auch mit mehren Männern. Sie liebte das Abenteuer, gerade beim Sex. In ihrer Villa trafen sich oft Pärchen aus der Szene, dort waren wir unter gleich gesinnten, auch wenn wir das aufgrund unserer Stellung im Clan, nie zugeben konnten, war ich gerade deswegen, immer sehr gern bei ihr. Zum Glück war sie unsere Ausbilderin und keiner hat verdacht geschöpft, wenn ich sie dort besucht habe. Doch dieses Thema hatten wir seit Jahren nicht mehr, ich habe beinah vergessen, warum ich überhaupt etwas mit Frauen angefangen habe, obwohl ich damals schon längst mein Herz an ihn verloren hatte.

„Naja, ich mag auch Frauen", gebe ich zu. Sie haben ganz andere Vorzüge, einen weichen Busen und gleich drei heiße Löcher zum erforschen, aber das ist nicht alles.

„Aber eigentlich will ich, dass du eifersüchtig wirst!" Toni schaut finster, doch ich fahre unbeirrt fort: „Bei dir weiß ich nie, woran ich bin. Einmal willst du nur Freundschaft, dann überwältigst du mich in der Dusche. Erst verlässt du Frau und Kind für mich, dann pennst du mit Anette und machst wieder einen auf heile Familie. Ich weiß nie, was du wirklich willst, außer wenn ich dich eifersüchtig mache."

„Idiot!" Mehr sagt er nicht dazu? Wieso schweigt er jetzt wieder? Ich seufze. Eigentlich reicht er mir doch völlig, wenn ich nur immer so dürfte, wie ich will. Aber ganz ohne Sex, nur weil er mal wieder herum spinnt, dass halte ich nicht aus.

„Ich bin süchtig nach dir und nach Sex mit dir!", gebe ich zu. Er schaut irritiert.

„Wenn es nach mir geht, würde ich Tag und Nacht in oder auf dir verbringen, aber das willst du nicht, also such ich mir halt jemand anderen dafür."

„Wer sagt denn, dass ich das nicht will?" Blöde Frage!

„Du, immer mal wieder, je nach dem, wie deine Laune ist." Er wendet sich ab und schweigt. Wie ich das hasse.

„Jetzt sei du mal ehrlich! Was willst du eigentlich wirklich von mir?" Er seufzt und sieht mit ernster Mine auf.

„Ich will dass du damit aufhörst!"

„Womit?“ Ich schaue fragend.

„Hör auf mit anderen ins Bett zu steigen, egal ob Mann oder Frau! Du gehörst nur mir, mir allein!" Ich belächle ihn amüsiert. Das glaubt er doch nicht wirklich, oder? Ich gehöre niemandem, schon gar nicht ihm. Doch je langer ich ihn anschaue, um so mehr beschleicht mich das ungute Gefühl, dass ich nicht mal was dagegen habe. Ach verdammt, die verfluchten grünen Augen und dieser verdammte ernste Blick. Na gut, er ist wirklich der Einzige, wo ich dass vielleicht akzeptiere, irgendwie sogar heiß finde.

„Na gut! Aber dann bist du von heute an, jeden Abend fällig, dass ist dir hoffentlich klar! Ohne Sex, kann ich nämlich nicht gut einschlafen." Ich lege die Hände hinter den Kopf und lehne mich an die Wand. Er schmunzelt.

„Also alles, wie in alten Zeiten!", lacht er und lehnt sich ebenfalls zurück. Mir zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht, als ich an die Zeit auf unserem Dach denken muss.

„Nicht ganz, da hatte ich dich auch Tagsüber immer mal wieder!“ Er rollt genervt mit den Augen, dann schmunzelt er wissend.

„Das schaffst du nie!" Ach nein? Wenn er Wort hält, schaffe ich das sehr wohl.

„Die Wette halte ich! So lange du mir jeden Abend gehörst und mit dieser verdammten Freundschaftsmasche aufhörst, gehöre ich dir allein." Er lacht wieder.

„Ich gebe dir eine Woche."

„Mehr gebe ich dir auch nicht, bis du deine Meinung wieder änderst." Wir schweigen beide. Es gibt einfach viel zu viele gebrochene Versprechen zwischen uns, aber dieses würde ich wirklich gern halten, wenn er es auch tut und wir hier wieder raus kommen. Denn die Wahrscheinlichkeit dürfte schwindend gering sein, dass wir uns für immer eine Zelle teilen werden. Andererseits, wäre das Versprechen in einer gemeinsamen Zelle, viel leichter zu halten. Ich schmunzle vor mich hin, bis mir ein neuer Gedanke kommt: „Sag mal, das mit Anette und dir ist doch nur Tarnung, oder?“ Er nickt flüchtig.

„Warum kommst du mir dann dauernd mit der Freundschaftsmasche und damit, dass du sie nicht verlieren willst?“

„Ich will Kira nicht verlieren!“

„Okay, das kann ich ja noch nachvollziehen, aber was ist mit Anette? Wegen ihr, bist du mir so oft blöd gekommen.“ Er seufzt hörbar, dann ringt er sich zu einer Antwort durch: „Weißt du, ich muss ständig so tun, als wenn mir was an einer Frau liegen würde. Ich schauspielere den ganzen Tag und manchmal habe ich dann die Hoffnung, ich bin doch normal und kann damit leben und dann sehe ich dich unter der Dusche und alles ist wieder hinfällig. Es wäre alles einfacher, wenn ich auf Frauen stehen würde. Manchmal versuch ich es mir deswegen wahrscheinlich einzureden und kann dann nicht mal vor dir damit aufhören.“

„Also willst du lieber ein Leben mit ihr, als mit mir?“, frage ich enttäuscht, auch wenn es sicher einfacher für uns alle wäre.

„Nein, ich will eines mit dir und kann es nicht haben!“ Ich lächle versöhnlich, während mir eine Idee kommt.

„Ich kaufe uns das alte Haus. Wir lassen es ausbauen und wann immer wir die Zeit finden, treffen wir uns dort. Das wird unser zu Hause, den Rest sehen wir einfach, wie unseren Job an.“

„Klingt gut! Aber nur wenn ich die Inneneinrichtung aussuchen darf. Dein Geschmack ist ätzend!“

„Von mir aus!“ Ich hab sowieso nicht viel mit Inneneinrichtung am Hut, das überlasse ich gern ihm, genau so, wie das Aufräumen. Gedanklich beginne ich mir dieses neue Leben schon auszumalen, bis mein Blick durch die Zelle schweift.

„Schon seltsam, dass man uns erst in eine Zelle sperren muss, damit wir mal miteinander reden.“ Gerade jetzt, wo wir uns mal ausgesprochen haben, ist es schon fast zu spät. Wenn wir verurteilt werden, lohnt sich ein Hauskauf nicht. Die fröhliche Stimmung verschwindet allmählich.

Toni sagt nichts, er schaut an sich hinab und betrachtet seinen Bauch über den sich das Hemd spannt.

„Sag mal, hab ich wirklich zugenommen?“, will er wissen. Ich muss lachen.

„Ja, ein bisschen schon. Das ruhige Leben ohne mich, bekommt dir eben nicht.“ Selbst jetzt bring er mich noch zum Lachen.

Toni will gerade etwas erwidern, als die Tür aufgeschlossen wird. Erschrocken sehen wir beide auf den Spalt, der sich immer weiter aufschiebt. Ich rutsche auf der Pritsche zurück und auch Toni nimmt eine aufrechte Haltung ein. Die Zigarette drückt er hinter sich am Boden aus und verstaut die Schachtel in seiner Jackentasche. Als wenn man nicht auch so deutlich genug riechen würde, das hier drin geraucht wurde. Die Kippen dürfte er gleich los sein. Das kann was werden, Toni hinter Gittern und auf Entzug.

Ein schmächtiger Polizist tritt ein. Wir atmen beide erleichtert durch, als Jan allein herein kommt. Seinen finsteren Blick kann ich nicht deuten, als er fordert: „Mitkommen!" Ich schaue Toni fragend an, doch er zuckt nur mit den Schultern und steht auf. Gemeinsam folgen wir Jan, der uns den Rücken zuwendet und die Zelle verlässt. Will er uns nicht mal Handschellen anlegen? Wissen seine Kollegen, was er hier macht? Als wir ihn eingeholt haben und ich auf gleicher Höhe mit ihm laufe, lässt er mich leise wissen: „Ihr habt mehr Glück als Verstand! Der Butler hat für euch ausgesagt und eure Leute im Club haben bestätigt, dass ihr zur Tatzeit im Midnights wart. Ihr könnt gehen!" Jester lebt? Gleich zwei riesige Felsbrocken fallen mir vom Herzen.

„Jester lebt also? Wie geht es ihm?", will ich wissen.

„Den Umständen entsprechend. Ich würde euch ja zu ihm ins Krankenhaus bringen, aber wir haben ein ganz anders Problem. Holt eure Sachen, wir treffen uns in fünf Minuten zwei Blocks weiter in der kleinen Seitenstraße." Ein anderes Problem? Ich muss schwer schlucken. Jans Blick ist unheilvoll, das bedeutet nichts Gutes. Wir trennen uns. Während Jan uns bei einem seiner Kollegen zurück lässt, verschwindet er durch den Haupteingang. Der Polizist hinter dem Schreibtisch, übergibt mir meine Brieftasche, Schlüssel und meine Pistole. Auch Toni bekommt seine Wertsachen zurück.

Als ich die Waffe verstaue, spüre ich einen finsteren Blick auf mir. Ich drehe mich nach dem Polizisten um. Jans Vater knirscht mit den Zähnen, den Kaffeebecher in seiner Hand, drückt er so fest, dass ihm der Inhalt über die Finger schwappt. Ich muss schmunzeln, als er sich das heiße Getränk weg schüttelt.

„Bis zum nächsten Mal!", rufe ich ihm zu und lächle verschmitzt. Die Wut steht dem Kommissar ins Gesicht geschrieben. Er muss mich schon wieder laufen lassen, dass muss ihm ganz schön zusetzen.

Ein harter Schlag trifft mich am Oberarm, erschrocken fahre ich herum. Toni sieht mich mahnend an, mit einem Schwenk seines Kopfes deutet er auf den Ausgang. Stimmt ja, Jan wartet auf uns.
 

Gemeinsam verlassen wir das Präsidium und folgen der Straße zwei Blocks weiter. Die Menschen, die uns entgegen kommen, betrachten uns argwöhnisch, einige bleiben stehen. Unsere blutige Kleidung ist viel zu auffällig. Egal was Jan uns zu berichten hat, wir sollten uns wenigstens was Neues anziehen.
 

Als wir die Seitenstraße erreichen, wartet der Polizist schon auf uns. Er lehnt an seinem Polizeiwagen und hat die Arme verschränkt. Sein Blick ist noch immer unheilvoll. Verdammt! Noch mehr schlechte Nachrichten, kann ich heute echt nicht brauchen.

„Steigt ein!", fordert er. Wir tun was er sagt. Während ich auf dem Beifahrersitz platz nehme, steigt Toni hinter mir in den Wagen. Jan setzt sich ans Steuer und zieht die Tür zu.

„Was ist so wichtig, dass du uns gleich ne Polizeieskorte gibst?", will ich endlich wissen.

Jan steuert den Wagen auf die Straße.

„Es gab eine Schießerei in eurem Club. Gerade kam auch noch ein Funkspruch durch, dass die Feuerwehr verständig wurde!"

„Was!", entfährt es mir.

„Er wollte uns nur aus dem Weg haben!", höre ich Toni von der Rückbank rufen.

„Wahrscheinlich. Wenn ich die Beschreibungen richtig gedeutet habe, ist Michael dort!" Mir bleibt der Mund offen stehen. Das kann doch nicht wirklich passieren, oder? Alles wiederholt sich! Die Schießerei und das Feuer von damals. Meine Gedanken überschlagen sich: Was ist mit meinen Leuten? Geht wirklich gerade alles in Flammen auf, was ich eben erst wieder aufgebaut habe?

„Toni, auf dem Rücksitz liegt eine braune Decke!" Mein Leibwächter kramt hinter uns herum, ich beobachte ihn im Rückspiegel. Was wickelt er da aus?

„Für uns alle bringst du es heute Nacht endlich zu Ende!", richtet sich Jan an mich. Ich verstehe nicht, bis Toni eine lange Klinge aus dem Stoff löst. Das ist doch das Schwert, mit dem Aaron getötet wurde. Hat Jan es etwa aus der Beweismittelkammer entwendet?

„Dieses Mal legen wir den Dreckskerl um, nur keine Sorge!" Mordlust spiegelt sich in Tonis Augen, als er die blutige Klinge betrachtet. Ich atme schwer. Das alles geht mir viel zu schnell. Ich will mir gar nicht vorstellen, Michael in wenigen Minuten gegenüber zu stehen. Der Anschlag vor fünf Jahren, die Folter bei den Drachen, alles kommt auf einmal in mir hoch. Was wenn sich auch das wiederholt? Meine Hände beginnen zu zittern, mir wird eiskalt. Ich habe dem Kerl noch nie etwas entgegen zu setzen gehabt, warum sollte es dieses Mal anders sein?

„Enrico!", rufen Jan und Toni, doch ich kann nur auf die Straße sehen, die immer schneller an uns vorbei fliegt. Wir sind gleich in Brooklyn, wenn Jan weiter so rast, sind wir in fünf Minuten am Mitnightsclub. Ein immer größer werdender Kloß lässt mich schwer schlucken, das Herz trommelt unbarmherzig gegen meine Rippen. Ich kann die festen Blick meiner Freunde auf mir spüren.

„Du wirst nicht mehr weglaufen, hast du mich verstanden!", fordert Jan. Er hat mich fünf Jahre lang auf meiner Fluch begleitet, scheinbar hat ihm das gereicht.

Ich versuche mich zu beruhigen und atme tief durch. Jan hat recht, ich bin lange genug davor davon gelaufen. Selbst die letzten Wochen und Monate habe ich mich davor gescheut, die Drachen anzugreifen, obwohl sie uns ständig herausgefordert haben. Es wird Zeit! Heute Nacht wird es enden, auf die eine oder andere Weise. Immerhin habe ich einen Schwur einzulösen.

~Rache~

Schon von Weitem, kann ich die dunklen Rauchschwaden am Himmel sehen. Gleich drei Löschfahrzeige überholen uns in einem Affenzahn und biegen ohne Umwege auf das Fabrikgelände ein. Ich will schreien, heulen und alles kurz und klein Schlagen, doch ich bleibe stumm, betrachte wie in Trance die Flammen, die aus den Fenstern schlagen, die Männer und Frauen die vor den Fabrikhallen stehen und sich gegenseitig in den Armen halten. Ihre Klamotten sind blutig und mit Ruß beschmutzt. Romeo ist unter ihnen, auch Diego und Leandro. Bei ihnen stehen viele der Prostituierten, die wir beschäftigen. Alle husten heftig. Sie sind im ganzen Gelände verstreut, hier und da sitzen sie teilnahmslos im Gras und auf den Motorhauben ihre Autos. Bei dem ganzen Chaos, kann ich nicht abschätzen, ob es alle ins Freie geschafft heben. Niemand wagt einen Versuch, den Brand zu löschen. Bei den hohen Flammen und dem schwarzen Rauch, der aus den Fenstern aufsteigt, wäre das auch sinnlos, ein eventueller Rettungsversuch vergebens.

Alles dahin, die Arbeit von Monaten zerstört in wenigen Minuten. Meine Existenz geht einmal mehr in Flammen auf.
 

Jan parkt den Wagen direkt neben Romeo und Leandro. Als ich aussteige, kann ich meinen Blick nicht von dem brennenden Gebäude abwenden. Ein heftiger Wind zieht an mir und facht die Flammen zusätzlich an. Der Brand strahlt eine unglaubliche Hitze aus. Obwohl wir gut zehn Fuß davon entfernt stehen, beginne ich zu schwitzen. Die Feuerwehr hat mit den Löscharbeiten begonnen, doch ihre Bemühungen erscheinen mir sinnlos. Die dutzend Benzintanks in unserer Garage und das Lager für die Spirituosen stehen bereits in Flammen. Immer wieder zerreißen laute Knallgeräusche die Luft.

„Enrico, verdammt!“, höre ich Romeo rufen, doch ich nehme ihn und die anderen, die zu uns kommen, kaum wahr. Hände packen meine Arme und schütteln mich, doch ich kann nur zusehen, wie alles von den Flammen verschlungen wird. Heiße Tränen steigen in mir auf und fressen sich an die Oberfläche. Das ist einfach nur ein verdammter Alptraum! Ein gottverdammter Alptraum! Ich will daraus erwachen, bitte!

„Enrico! Verdammt, was ist passiert? Warum seid ihr voller Blut?“, redet Romeo unentwegt auf mich ein. Auch Diego zerrt an mir: „Enrico, sag doch was!“

„Aaron ist tot … ermordet“, presse ich kaum hörbar heraus und schaffe es noch immer nicht, irgendjemanden anzusehen.

Es wird still um mich herum, für einen Moment hält mein ganzer Clan den Atem an.

„Das heißt, du bist jetzt der einzige Pate, den die Locos noch haben“, flüstert Diego. Mir wird schmerzlich bewusst, dass er recht hat. All die hoffnungslosen Augen sind auf mich gerichtet. Sie haben genau so viel zu verlieren: Ihren Job, ihr zu Hause, ihre Lebensgrundlage. Sie verlassen sich auf mich. Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss dieses schwere Erbe annehmen, ob ich will oder nicht. Ich nicke ihnen zu. Dieses Mal bleibe ich an ihrer Seite, bis zum Schluss.
 

Ein lauter Knall schreckt uns alle auf. Etwas streift meine Wange und hinterlässt einen brennend Schmerz. Ich fasse mir an die Stelle und betrachte das Blut an meinen Fingerkuppen. Das war ein Schuss und er kam von oben. Zwischen all dem Rauch, der sich an den Wänden der Fabrik hinauf windet, zeichnet sich eine dunkle Gestalt auf dem Dach ab. Michael! Er wartet auf mich, dieser verhurte Sohn eines Teufels!

„Toni!“, rufe ich. Auch er hat den Mann auf dem Dach entdeckt. Er nickt mir zu und greift auf die Rückbank des Polizeiautos, während er die braune Decke an sich nimmt, warte ich nicht länger. Ich laufe los, vorbei an den Löschfahrzeugen und den Feuerwehrmännern, die mir vergebens nachrufen, dass ich dorthin nicht gehen soll. Vorbei an den Flammen, die heiß nach mir greifen und hin zur einzigen Leiter, die von außen aufs Dach führt. Als ich die ersten Sprossen besteige, hat Toni mich eingeholt. Er nimmt den Stoff mit der Klinge in den Mund und klettert mir nach. Während wir hinaufsteigen, eilt uns mein Clan nach, doch sie werden von den Feuerwehrmännern aufgehalten. Das wir durchgekommen sind, ist pures Glück gewesen und hätten sie nicht alle Hände voll damit zu tun, meine Männer zurückzuhalten, würden sie uns sicher nachkommen und aufhalten. Gut so, dass sie alle beschäftigt sind, denn dass ist unser Kampf, nicht ihrer.
 

Als ich über den Rand des Daches steige, kann ich nichts erkennen, außer dunklen Qualm. Er brennt und kratz in meiner Lunge und bringt meine Augen zum tränen. Ich presse mir den Ärmel meines Hemdes vor Mund und Nase und huste gequält. Wie hält es dieser Mistkerl hier oben nur aus und wo steckt er überhaupt? Ich schaue mich nach allen Seiten um, doch kann niemanden erkennen.

„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr!“ Der Wind dreht und schiebt die Rauchschwaden bei Seite. Aus dem Dunst löst sich Michaels hünenhafte Gestalt. Mit den Händen in den Taschen seiner Hose, hält er auf mich zu. In seinen Mundwinkeln formt sich ein überhebliches Lächeln. Er scheint überhaupt kein Problem mit dem Rauch und der Hitze zu haben. Wie der Teufel persönlich, baut er sich vor mir auf. Ein kalter Schauer rinnt mir den Rücken hinab. Die letzten Stunden und Tage mit ihm, durchfressen meine Gedanken. Ich weiche zurück, mein Herz bebt in Panik, ich kann meinen Puls in jeder Ader spüren. Meine Beine zittern, all meine Sinne sagen mir Flucht.

„Enrico!“, ruft Toni. Als ich mich nach ihm umdrehe, wirft er mir das Katana zu, das er eben aus der Decke befreit hat. Ich fange es am Griff und betrachte die blutige Klinge. Der Anblick von Aarons Hinrichtung erscheint vor meinem inneren Auge, sein panisches, schmerzverzerrtes Gesicht, die Klinge in seinem Hals. Nein, Flucht ist keine Option mehr.

„Wie nett, ihr bringt mir meinen Besitz wieder!“, lacht er überheblich. Oh ja, sein Schwert wird er wieder bekommen und zwar mit der Klinge voran ins Herz.

„Ich habe noch einen Schwur einzulösen!“, entgegne ich und richte die Waffe auf ihn. Er lacht noch schäbiger.

„Deswegen hab ich mir doch extra die Mühe gemacht, hier her zu kommen. Freiwillig traust du dich das ja nicht!“ Arrogantes Arschloch! Ich habe meinen Besuch bei ihm nur knapp überlebt, warum sollte ich mir das aus freien Stücken noch einmal antun? Hier und jetzt, ohne den Schutz seines Clans und Leibwächters, stehen meine Chancen viel günstiger. Im Hochhaus wäre ich nicht mal bis in seine Nähe gekommen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Toni seine Waffe zieht und auf den Hünen richtet. Ein Schuss knallt über das Dach, doch er kommt nicht aus seiner Pistole.

„Ahrrg!“, schreit mein Begleiter auf, er lässt seine Neunmillimeter fallen und greift sich an die getroffene Schulter. Blut läuft ihm über die Finger und tropft aufs Dach.

„Michael!“, ruft Butch nach seinem Chef. Wie konnte ich auch glauben, der Hüne wäre ohne Begleitschutz hier? Der schwarze Mann löst sich aus dem Schatten und taucht hinter Toni auf. Er wirft seinem Paten ein Samuraischwert zu, das der geschickt auffängt. Langsam zieht Michael die lange Klinge aus der Scheide zieht. Ich schlucke schwer. Mit einem Schwertkampf habe ich nicht gerechnet. Das ist keine Disziplin, in der ich mich auskenne und ihm sagt man nach, ein wahrer Meister darin zu sein. Verdammt! Mit einem Messer kann ich töten, das hat Robin mich gelehrt, aber das hier, ist etwas ganz anderes. Schützend ziehe ich die Klinge vor mich, die mir viel zu lang und unhandlich erscheint. Ich rechne jeden Moment mit einem Angriff, doch Michael lächelt süffisant und geniest den Moment. Er nickt seinem Leibwächter zu.

„Lass los!“, flucht Toni. Ich wende mich den beiden zu. Der dunkelhäutige Bodyguard hat meinen Leibwächter im Schwitzkasten gepackt und hält ihm den Lauf einer Pistole an die Schläfe. Wir sind blind links in ihre Falle getappt. Verflucht, wie konnte ich nur so dumm sein und glauben, überhaupt den Hauch einer fairen Chance zu bekommen. Für Michael ist es noch immer nur ein Spiel. Ich Idiot hätte es besser wissen müssen.

Im Augenwinkel sehe ich den Hünen angreifen, seine Klinge rast auf mich zu, und prallt mit voller Wucht auf das Schwert in meinen Händen. Funken leuchten hell. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen den Schlag, und sehe die dunklen, fast schwarzen Augen meines Gegners direkt vor mir.

„Du hast zehn Minuten, bevor Butch deinen Kumpel ins Jenseits befördert, also lerne schnell!“ Ich wage nicht zu atmen, meine Gedanken überschlagen sich: Zehn Minuten? Wir könnten den ganzen Tag hier oben verbringen und meine Chancen würden sich nicht verbessern. Ich zwinge mich zum durchatmen.

Nein, wenn er uns schnell und leicht hätte töten wollen, hätte er es vom Dach aus bereits getan. Butch und Toni sind Freunde, der schwarze Mann hat unseren Kindern zur Flucht verholfen. Das hier soll mich nur aus der Fassung bringen, rede ich mir ein. Das Zeitlimit schiebe ich bei Seite. Michael will kämpfen und sich messen, dafür ist er hier und er wird jeden Moment davon auskosten. Warum sollte er sich selbst den Spaß verkürzen?

Der Hüne zieht die Klinge zurück und holt aus. Er führt das Schwert mit nur einer Hand, ich brauche beide, um es irgendwie im Gleichgewicht zu halten. So kann ich auf keinen Fall einen Treffer landen. Seinem nächsten Hieb weiche ich aus und bringe, mit einigen Schritten zurück, Abstand zwischen uns. Ich muss unbedingt Zeit schinden. Je seltener er zu einem Hieb kommt, um so besser.

Michaels Blick ist verbissen und genervt.

„Langweile mich nicht!“, flucht er aufgebracht und kommt auf mich zu gestürmt. Im letzten Moment weiche ich zur Seite aus und dränge die Spitze seiner Klinge mit meinem Schwert weg. Mit zwei schnellen Schritten, bringe ich wieder Abstand zwischen uns. Er schaut noch verbissener. Ungeduld spiegelt sich in seinen Augen.

„Bleib gefälligst stehen und greif an!“, faucht er. Ich denk gar nicht daran. Auch seinen nächsten zwei Angriffen weiche ich auf die selbe Weiße aus und beobachte jede seiner Bewegungen genau. Wie er das Schwert hält, wie er von oben und wie von der Seite angreift. Immer wütender und kraftvoller geht er auf mich los, doch kein Hieb trifft mich oder meine Klinge direkt. Ich bin schneller und wendiger und er viel zu ungeduldig. Das erste Mal erkenne ich eine Schwäche an ihm. Seit Monaten hat er auf diesen Moment gewartet und nun weiche ich einer offenen Konfrontation aus. Das macht ihn unaufmerksam und rasend vor Wut. Er verbraucht für jeden Hieb, der mich zweiteilen soll, enorm viel Kraft, während ich einfach bei Seite gehe. Sein Atem geht schnell, der Rauch brennt uns beiden in den Lungen, doch nun ist er es, der immer wieder husten muss. Als er einmal mehr auf mich los geht, greife ich das Schwert mit nur einer Hand, seinem Hieb weiche ich aus und schwinge es, so wie er es getan hat: Von oben, quer nach unten. Ein tiefer Schnitt öffnet seinen Mantel und den Ärmel. Erschrocken betrachtet der Hüne mich und das frische Blut an meiner Klinge. Damit haben wir beide nicht gerechnet, denn auch mich überkommt ein überraschter Blick, den ich gleich in einen fieses Lächeln wandle. Ich lerne schnell und bin ein exzellenter Beobachter, dass sollte er wissen. Soll er mir ruhig noch mehr seiner Kampfkunst zeigen, ich werde alles gegen ihn richten.

„Nicht schlecht!“, meint er anerkennend und richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Die Ungeduld schwindet aus seinem Augen und weicht der Lust nach Vergeltung. In seinem Schatten komme ich mir klein und verloren vor. Das Lächeln vergeht mir, ein fetter Kloß presst sich in meine Kehle und lässt mich schwer schlucken.

„Wie schade, dass du nicht lange genug leben wirst, um es wirklich mit mir aufnehmen zu können!“

Wie meint er dass? Hat er sich bisher etwa zurück genommen? Seine Klinge rast mit der Spitze voran auf mich zu. Ich habe sie kaum realisiert, als ein schneidender Schmerz durch meinen Oberarm gleitet. Mit den Augen folge ich der langen Klinge, die sich durch mein Fleisch schiebt und hinter mir wieder austritt. Mir wird schlecht bei dem Anblick. Der Schmerz folgt einen Moment später und lässt mich die Luft scharf, zwischen den zusammengebissenen Zähen einziehen. In einem Ruck zieht er die Klinge zurück. Ich greife nach der Wunde und halt den Atem an. Gequält betrachte ich das Blut, dass meine Finger hinabrinnt. Warum musste es ausgerechnet der rechte Arm sein? Das Schwert in meiner Hand beginnt zu zittern. Wie konnte ich nur so überheblich sein, zu glauben, ihm gewachsen zu sein, nur weil ich einmal zum Zug gekommen bin?

Auf Michaels Lippen blitzt ein zufriedenes Lächeln. Ich will es ihm aus dem Gesicht schneiden. Heißer Zorn brennt sich in mein Magen. Bevor mir mein Arm den Dienst verweigert, muss ich ihn ausschalten.

Er greift wieder an. In einem Hieb durchschneidet seine Klinge die Luft von oben nach unten. Im letzten Augenblick, kann ich meine Schwer zwischen mich und ihn schieben. Der kraftvolle Schlag erschüttert meinen verletzten Arm, doch ich spüre keinen Schmerz mehr, nur das heiße Kribbeln des Adrenalins in meinen Adern. Seine finsteren Augen mustern mich amüsiert. Er stemmt sich mit all seiner Kraft gegen mich und drückt mir die scharfe Klinge immer tiefer ins Gesicht. Strähnen meiner Haare rieselt herab, als sie mühelos durchtrennt werden. Ein kalter Schauer rinnt mir den Rücken hinab.

„Du hast keine Chance. Ich kann dich töten, wann immer mir danach ist. Das konnte ich schon immer“, lacht er und drückt energischer. Ich spüre die scharfe Schneider an der Stirn.

„Dein Problem, wenn du so lange wartest!“, entgegne ich. Heute Nacht schicke ich ihn die Hölle und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Das bin ich all den Menschen schuldig, die seinetwegen sterben mussten. Aaron, Robin und ihr Baby, Jans bester Freund und all die anderen, die im Feuer vor fünf Jahren umgekommen sind. Ich werde für euch alle Kämpfen, bis er dafür bezahlt hat. Unbändiger Hass staut sich in mir. Ich lege meine zweite Hand über die stumpfe Seite der Klinge und stemme mich gegen ihn. Ungläubig betrachtet er mich, während ich ihn immer weiter zurück dränge. Das dünne Metall drückt sich tief in meine Hand, Blut fließt über die Klinge. Als ich genug Abstand zwischen uns habe, weiche ich zur Seite aus und greife ihn an. Die Klinge voran, von oben, von der Seite, immer wieder. Michaels blockt jeden Angriff. Metall kracht auf Metall. Ein freudiges Lächeln ziert seine Lippen, während jeder meiner Angriffe kraftvoller und energischer wird. Sei einmal zu langsam, zieh nur ein einziges Mal die Klinge zu spät hinauf, hoffe ich inständig, doch er weiß genau was er tut. Je energischer ich werde, um so ruhiger und besonnener blockt er ab, immer wieder. Meine Kraft lässt nach, der Rauch drängt sich immer wieder in unsere Richtung und reizt mich beim Atmen. Die Hitze des Feuers und die Anstrengung des Kampfes, lassen Bäche an Schweiß meine Stirn und meinen Rücken hinab laufen. Der Hüne schwitzt ebenfalls, doch er hat den längeren Atem. Als ich gequält zu husten beginne, greift er wieder an. Seine Klinge durchschneidet die Luft von allen Seiten, von oben, von unten, rechts, links. Ich weiche immer weiter zurück und schaffe es nicht mehr, jedes mal rechtzeitig auszuweichen. Ein Hieb streift mein linkes Bein, ein andere meine Wange. Sein Schwert giert mir immer wieder nach dem Leben. Der wilde Wind wirbelt den Rauch um uns herum und wieder weg. Meine Lungen brennen bei jeder Bewegung und die Hitze ist so unerträglich, dass mir die Kleidung am Körper klebt. Der Griff des Schwertes ist bereits feucht und glitschig. Immer weiter weiche ich vor seiner unbändigen Kraft zurück, bis mich ein Hindernis an den Hüften trifft. Ich stolpere und falle auf das schräg nach oben laufende Glasdach.

„Ahh!“, entfährt mir ein erschrockener Schrei. Michaels Klinge verfehlt mich nur um Haaresbreite. Blutdurst leuchtet in seine dunklen Augen auf, als er zu einem neuen Hieb ansetzt.

„Genug gespielt!“, schreit er und stößt zu. Adrenalin flutet meinen Körper, wie ein Rausch. Ich drehe mich zur Seite.

Die Klinge verfehlt meinen Kopf und durchschlägt das Glas unter mir. Mein Blick fällt durch die Scheibe der Überdachung, in die Halle darunter. Flammen lodern dort, wie der Schlund der Hölle und nur das Glas hindert mich daran, hinabzustürzen.

„Halt gefälligst still!“, flucht der Hüne. Er packt mich am Hals und drückt mich hart auf die Scheibe. Seine Finger pressen meine Kehle zu. Ich bekomme keine Luft mehr und lasse das Schwert fallen. Mit beiden Händen versuche ich seine Finger von mir zu lösen. Michael zerrt und reist an seinem Schwert, doch es lässt sich nicht aus der Scheibe ziehen. Sein Griff um meine Kehle lockert sich, erleichtert atme ich durch und betrachte seine vergeblichen Bemühungen. Er knurrt aufgebracht und gibt schließlich auf. Seine Hand verschwindet in seinem Mantel.

Er zieht seine Pistole und richtet ihren Lauf auf meinen Brustkorb. Verdammt! Reflexartig ziehe ich mein Knie hinauf und ihm gegen den Ellenbogen. Er drückt ab und verzieht den Lauf. Die Kugel streift meine Schulter und schlägt durch das Glas. Die Scheibe splittert und knackt unheilvoll. Gänsehaut überzieh meinen ganzen Körper, ich atme angstvoll. Ewig wird es mein Gewicht nicht mehr tragen.

„Jetzt halt gefälligst still, wenn ich dich erschießen will!“, schreit der Hüne wieder. Sein Zeigefinger krümmt sich um den Abzug. Ein jähes Stechen durchzuckt mein Herz, als weiteres Adrenalin meinen Körper flutet. Er drückt ab. Ich ducke mich zur Seite.

Die Kugel streift meine Wange und zersplittert die rechte Hälfte des Fensters. Die Scheibe ächzt. Angstschweiß rinnt mir den Rücken hinab. Michael legt wieder an. Mir stockt der Atem, er zieht den Abzug, einmal, zweimal, dreimal. Ich zucke immer wieder zusammen, doch spüre keinen Schmerz. Die Waffe klickt, doch kein Schuss verlässt den Lauf. Verstört blicke ich den Hünen ins Gesicht, er schaut genervt zurück und rollt mit den Augen. Ist das Magazin etwa leer? Für einen Moment verharren wird beide regungslos. Ich habe mehr Glück als Verstand!

Er seufzt hörbar und löst das Magazin. Nein, genug, das war seine letzte Chance mich zu erschießen. Ich greife das Schwert zu meinen Füßen und sehe ihn hasserfüllt an. Mit der Klinge voran stoße ich es ihm in den Leib, so tief und lange, bis es mit dem Griff anstößt. Er stöhnt gequält und krümmt sich über mich. Die Pistole fällt ihm aus den Händen. Seine Augen mustern mich wild und anklagend. Schmerz und Überraschung zucken in seinen bebenden Mundwinkeln.

„Bestell Denjiel schöne Grüße in der Hölle von mir! Er wird sich freuen, dir für dein Versagen den Arsch aufzureißen!“, werfe ich ihm an den Kopf. Nun wird er es sein, der seinem Freund als erster gegenüber steht. Das Schwert steckt tief in seiner Brust und ragt weit aus seinem Rücken. Er stöhnt und röchelt, seine Hände umklammern den Griff krampfhaft. Ungläubig betrachtet er mich. Seinen sterbenden Körper trete ich zur Seite und den Griff des Schwertes tiefer in seinen Körper.

„Arrggh!“, schreit er. Ich drücke mich hoch und steh auf. Nur weg von dem Glas und der Hölle darunter. Michaels schwerer Körper sackt auf die gesplitterte Scheibe, sie knackt unter ihm. Wie ein Spinnennetz breiten sich weitere Risse im Glas aus.

„Denjiel hatte Unrecht ...“, röchelt er. Ich drehe mich nach ihm um. Wo nimmt er nur die Kraft her, jetzt noch zu sprechen?

„Es ist keine Schande, von dir getötet zu werden“, keucht er weiter. Irritiert betrachte ich ihn. Ist das sein ernst? Waren das etwa Denjiels letzte Worte, als er starb? Na kein Wunder, welcher Pate wird schon gern von einem fünfzehnjährigen Knaben über den Haufen geschossen.

„Aber … wenn ich schon draufgehen muss, dann kommst du gefälligst mit!“, keucht er weiter. Seine Hände klammern sich enger um den Griff. Mit aller Gewallt zieht er die Klinge aus seinem Leib. Entsetzt sehe ich ihm dabei zu. Warum stirbt er nicht einfach, wie jeder andere Mensch auch? Kann er nicht aufgeben und endlich verrecken? Dieser Dreckskerl ist genau so stur, wie ich. Die Scheibe unter Michael knackst und bildet immer größere Risse. Das Feuer der Hölle brennt noch immer dort unten. Wird Zeit den Teufel in sein Reich zurück zu schicken. Ich ziehe meine Waffe und richte sie auf das Glas.

„Fahr zur Hölle!“ Ich ziehe den Abzug und zerschieße die Scheibe. Sie zerspringt unter dem Hünen in tausend Scherben und reist ihn mit sich.
 

Ein heftiger Schmerz durchzieht meinen Unterleib. Ungläubig betrachte ich die lange Klinge, die sich knapp über meine Hüfte in mein Fleisch schlägt. Michael lächelt mich siegessicher an, während er in die Tiefe stürzt. Wie hat er es nur geschafft, noch einmal zuzustoßen? Ein zerreißender Druck frisst sich durch meine Hüfte, mein Bein wird taub und beginnt zittern. Die Waffe fällt mir aus den kalten Fingern, ich greife nach der Klinge. Meine Beine wollen mein Gewicht nicht mehr tragen, ich stolpere einen Schritt zurück. Fassungslos betrachte ich die endlose Schneide, die mich bis zum Anschlag durchbohrt.

Ein lauter Knall zerreißt die Luft, ein zweiter folgt gleich darauf. Heftig schlägt etwas in meine Schulter ein und stößt mich um. Wie in Zeitlupe sehe ich mich selbst fallen. Durch den Fensterrahmen, vorbei an den dutzend Scherben, die wie Dolche von ihm abstehen. Sie streifen meine Arme und Beine und hinterlassen brennende Wunden. Nein! Ich habe doch gewonnen, ich werde jetzt nicht dort hinab stürzen. Geistesgegenwärtig greife ich nach dem Balken, der die Scheiben zuvor zusammen gehalten hat. Eisern packe ich zu. Mein ganzes Gewicht zieht an meinem Arm. Rauch und Qualm steigen an mir hinauf, Hitze überwältigt mich und hüllt mich ein.

Das Schwert bewegt sich in der Wunde, der Griff kippt nach hinten und zieht die Klinge Stück für Stück mit sich.

„Ahhhh!“, schreie ich laut und beiße die Zähne fest aufeinander. Ich wage nicht zu atmen, nicht zu denken. Langsam und Ruck für Ruck, gräbt sie sich ins Freie. Warum muss das scheiß Teil nur so endlos lang sein? Der Schmerz raubt mir allmählich die Kraft und der beißende Qualm nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich huste gequält. Die Klinge wippt in meinem Körper auf und ab und fällt schließlich in die Tiefe.

„Ahhh, ahhhh, ahh!“, schreie ich wieder und wieder und spüre keine Erleichterung. Ich greife nach der Wunde presse sie zu, Blut rinnt mir über die Finger und läuft mir die Beine hinab, ein unaufhörlicher Strom, der mir ganz allmählich die Sinne verdunkelt. Die Hitze des Feuers frisst sich durch meine Kleidung, es riecht verbrannt.

„Ahhhrggg!“, kreischt unter mir der Hüne, während die Flammen ihn verschlingen. Verdammt, mir blüht das selbe Schicksal! Meine Finger lösen sich immer weiter. Sie sind nass und krampfen unter dem Gewicht, das an ihnen reißt. Verdammt, ich kann nicht mehr! Ich habe einfach keine Kraft mehr in diesem verwundeten Körper. Die Hitze gräbt immer tiefer Spuren in meine Kleidung, ich zittere, es frisst mich auf.

Ach verdammt, was solls. Meinen Schwur habe ich eingelöst, das muss eben reichen. Wahrscheinlich ist es einfach unvermeidlich und mein Schicksal. Ich habe lange genug dagegen angekämpft. Dafür, dass ich schon mit fünfzehn hätte sterben sollen, habe ich doch lange durchgehalten. Genug Schmerz, genug Elend und Verlust. Ich schließe die Augen und hoffe inständig, dass mich bereits der Aufprall tötet. Meine Griff um den Balken löst sich, ich gebe ihn frei.

~Bis in den Tod ...~

Ein fester Griff umschließt mein Handgelenk, ein heftiger Ruck geht durch meinen Körper.

Ich falle nicht! Etwas hält mich fest! Irritiert schaue ich auf:

Smaragdgrüne Augen, mustern mich eindringlich. Die Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht, Schweiß rinnt ihm von der Stirn. Blut läuft seinen Arm hinab, über unsere Hände und mir bis in die Achseln. Verbissen sieht er mich an. Dieser Idiot! Was macht er denn da?

Er beugt sich weit über den Fensterrahmen und muss sich mit der freien Hand daran festhalten, um nicht nach vorn überzukippen. Eine der Scherben hat sich in seine Hand gebohrt, Blut tropft von ihr, während sie weit aus seinem Handrücken ragt. Eine weitere drückt sich in seinen Bauch. Er wird sich noch selbst erdolchen! Warum tut er dass?

„Lass los!“, fauche ich ihn an. Das Holz knackt. Wir werden beide Fallen, wenn es bricht. Mein Gewicht zieht ihn weiter hinab, die Scherbe drückt sich tiefer in sein Fleisch, doch sein Blick bleibt entschlossen.

„Nein!“, knurrt er. Warum muss er nur so stur sein? Ich sterbe an meinen Verletzungen so oder so, aber er kann diesen ganzen Mist noch überleben. Dafür habe ich doch all die Jahre so verbissen gekämpft.

„Du Idiot! Lass gefälligst los!“, bitte ich ihn inständig und sehe dem blutigen Rinnsal zu, der die große Scherbe hinabläuft und vom Holz tropft. Er muss aufhören damit, bevor es zu spät ist.

Doch sein Blick bleibt entschlossen. Nein, er wird streben! Er darf nicht sterben! Ich will das nicht! Tränen trüben meine Sicht, alles verschwimmt. Kalte Tropfen fallen mir ins Gesicht. Es werden immer mehr. Bald gießt es in strömen. Meine Kleidung saugt sich voll, ich habe das Gefühl immer schwerer zu werden, doch sein Griff bleibt fest, er gibt mich nicht frei. Ich wende meinen Blick von ihm ab. Ich will das nicht sehen. Ich kann es nicht!

„Enrico, ich habe dich! Sie mich an!“, keucht er verbissen, aber mit kraftvoller Stimme. Ist das sein ernst? Kann er das wirklich aushalten? Nur für mich?

Ich wage es hinauf zu sehen. Er lächeln aufmunternd.

„Ich lasse dich nicht los!“, sagt er wieder. Ich sehe die Entschlossenheit in seinen smaragdgrünen Augen und glaube sie bis in den hintersten Winkel meiner Seele spüren zu können. Er meint das wirklich ernst und egal, was jetzt noch geschieht, ich kann es ihm wirklich glauben. In all den Jahren, ist er es immer wieder gewesen: Auf der Flucht vor den Drachen, als Kind, bei der Ausbildung zum Auftragskiller und auch in Italien. Er hat mich schon immer gehalten, genau deswegen liebe ich ihn.

„Gib mir deine andere Hand!“, fordert er. Ich reiche sie ihm. Als er mein Handgelenk packt, umschließe ich seines.

Toni lehnt sich zurück und zieht mit all seiner Kraft an mir. Die Scherbe in seinem Bauch knackt und bricht vom Rahmen ab.

„Ahrrgg!“ Sein Schrei tut mir in den Ohren weh, doch selbst jetzt bleibt sein Griff eisern. Ganz langsam, Stück für Stück, entreißt er mich dem Schlund der Hölle. Gemeinsam fallen wir rücklings auf das Dach und bleiben schwer atmend liegen. Wir husten gequält und können einfach nicht aufhören. Bei ihm kommt Blut mit. Erschrocken betrachte ich es, wie es seine Mundwinkel hinab läuft.

„Du verdammter Idiot!“, keuche ich. Warum muss er mich auch retten? Für mich kommt jede Hilfe zu spät. Ich krümme mich zusammen und zittere immer heftiger, unter dem hohen Blutverlust. Es vermischt sich mit dem Regen und färbt das ganze Dach rot. Kalt prasselt es auf uns herab und kühlt meinen überhitzen Körper, doch ich spüre keine Erleichterung.

Auch Toni krümmt sich vor Schmerz zusammen. Krampfhaft umschlingen seine Finger die abgebrochene Glasscherbe. Er schaut mich mit einem erzwungenen Lächeln an.

„Bis in den Tod, schon vergessen?“, stöhnt er. Nein ich habe es nicht vergessen, aber jetzt, wo es Wirklichkeit ist, kann ich es nicht akzeptieren. Immer mehr Tränen rollen mir heiß die Wangen hinab.

„Nein, das galt nur für mich, nicht für dich! Du darfst nicht streben!“, flehe ich inständig.

„Vergiss es, dieses Mal komme ich mit!“, lacht er bitter. Ist ihm dass denn so wichtig?

„Aber ich will, dass du lebst!“, flehe ich inständig.

„Dann musst du auch überleben!“ Guter Witz! Ich sehe ihn bereits nur noch verschwommen. Meine Beine werden taub, alle Geräusche stumpfen ab.
 

Ach was scheiß drauf. Eigentlich bin ich froh, dass er mitkommt, dass er auf der anderen Seite auf mich warten wird. Ich lege meinen Kopf auf seinen bebenden Brustkorb und lausche seinem Atem und den schnellen Herzschlägen. Sie beruhigen mich. Ich schließe die Augen, ich will nicht zusehen, wie er stirbt. Sein Atem wird immer flacher und auch ich schaffe kaum noch einen Atemzug. Alles wird still, die Welt ist wie in Watte gepackt. In einem Schwindel, verbreitet sich Taubheit in all meinen Gliedmaßen. Eine beruhigende Wärme breitet sich in mir aus. Gleich vorbei, all der Schmerz und Kummer. Wenn ich das nächste Mal aufsehe, dann wird er sicher hinter der Schwelle des Todes stehen und mir noch einmal seine Hand reichen. Ich freue mich darauf!
 

Jemand packt mich an den Schultern und dreht mich auf den Rücken. Etwas stülpt sich mir über Mund und Nase. Was ist das? Weg damit! Ich will in dieser Ruhe bleiben, will zu ihm. Das Atmen fällt mir jetzt leichter und holt meine Sinne zurück. Mein tauber Körper zerreißt. Ich stöhne gequält und sehe auf. Dunkle Schatten beugen sich über mich. Ich spüre unzählige Hände, die in meine Wunden greifen.

„Ahhh!! Ahhgg!“, schreie ich sie an, doch sie hören nicht auf. Mein Kopf hämmert und ist schwer wie Blei, er fällt mir zur Seite. Ich sehe ihn:

Toni liegt noch immer neben mir. Seine Hände rutschen kraftlos von seinem Bauch und der Scherbe darin. Sein Gesicht ist nass vom Regen und unzähligen blutigen Tränen. Sie rollen ihm von der Wange. Sein Kopf fällt zur Seite, seine Augen schließen sich.

Nein! Warte gefälligst auf mich!

Die Hände reißen an meiner Kleidung und öffnen meine Jacke. Geht weg! Verschwindet! Wenn ihr schon unbedingt jemandem helfen müsst, dann ihm. Ich will sie anschreien, sie zu ihm schicken, doch ich bekomme kein Wort heraus. Meine Kehle ist rau und wie zugeschnürt. Lediglich meinen Arm kann ich nach ihm ausstrecken. Meine Finger berühren seine. Sie sind kalt, so kalt! Tränen fluten meinen Blick, alles verschwimmt. Helft ihm doch! Bitte!

Wenn nicht, dann lasst uns wenigstens zusammen streben.

Endlich bücken sich die Schatten auch nach ihm. Sie versperren mir die Sicht. Nur seine kalten Finger in meiner Hand, sagen mir, dass er noch da ist.

Ein heftiger Druck presst sich auf meinen Unterleib und jagt ein unerträgliches Berennen durch meinen ganzen Körper. Ich atme gequält, doch es hört nicht auf. Oh Gott, bitte lass mich sterben! Genug! Für das alles, habe ich keine Kraft mehr. Ich greife seine Hand ganz und drücke sie fest, während mich all diese Hände mit stummer Gewalt zum Leben zwingen. Bleib hier, bitte! Ich brauche dich! Flehe ich stumm, doch seine Finger bleiben kalt.

Ich schließe die Augen, will das alles nicht mehr sehen. Mir ist schlecht vor Schmerzen, alles dreh sich. Der Schwindel nimmt das Licht mit sich und lässt mich in Dunkelheit allein.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wow! Zwei Jahre ist es jetzt her, seit ich den Prolog hier gepostet habe.
Echt eine lange Zeit. ^^
Aber nach unzähligen Schreibblockaden ist es doch fertig. Es sind noch etliche Fehler drin, ich weiß, aber ich bin doch enorm stolz euch jetzt auch das letzte Kapitel präsentieren zu können.
Danke an alle, die meinen Roman bis hier her verfolgt haben und so lange Geduld mit mir hatten.

Wer jetzt traurig ist, denn kann ich beruhigen. Es gibt natürlich eine Fortsetzung. Ich bin mir nur noch nicht sicher welches Kapitel der langen Wölfe-Sage ich als nächstes Aufschlagen werde.

Ich hoffe ihr bleibt mir dann auch treu und schaut wieder rein^^.

Mfg. Enrico Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (88)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tales_
2016-02-08T20:25:25+00:00 08.02.2016 21:25
Hi,
Wow… Wahnsinn
Ich habe gerade stundenlang gelesen, überhaupt die letzten Tage nur gelesen. Diese Story ist der Wahnsinn! Ich hatte bisher nicht gedacht, dass man mich für Geschichten über die Mafia begeistern kann. Aber du hast mich wirklich eines Besseren Gelehrt.

Da war so viel auf und ab der Gefühle.
So viele Eindrücke!
Wow.

Ich danke dir für deine Teilnahme an meinen WB!
Ich bin froh diese Fanfic gelesen zu haben.

Auszusetzen hab ich wirklich null.
Dein Wort ´Falle` kam vor.
Rechtschreibung und Lesefluss waren einwandfrei. Ein paar Rechtschreibfehler, aber wirklich nicht der Rede wert. Die Atmosphäre die die Fanfic mit sich bringt ist der Hammer.

Es ist wahrlich unmöglich alle positiven Eindrücke in diesen einen Kommentar zu fassen!
Doch so viel sei gesagt, du hast mich wirklich gefesselt.

Ich werde in den kommenden Tagen auch deine Fortsetzung lesen, ich brenne geradezu darauf.

Lg Shanti

Antwort von:  Enrico
09.02.2016 07:54
Guten Morgen Shanti,

dein Lob hat mich gestern nach Feierabend wirklich umgehauen^^. Hat mir den Abend gerettet!
Freu mich wie verrückt über den 1. Platz in deinem Wettbewerb und das ich dich so sehr mit dieser Geschichte fesseln und beeindrucken konnte.

An den Rechtschreib- und Tippfehlern bin ich noch dran, geh noch mal die ganze Geschichte durch, auch Inhaltlich gab es noch ein zwei Logikfehler. Aber wenn dich das bisher nicht weiter gestört hat, bin ich ja beruhigt.

Wenn du auch bei der Fortsetzung mit dabei bist freu ich mich natürlich.

Auf bald^^ Enrico
Von:  Scorbion1984
2016-01-22T11:51:15+00:00 22.01.2016 12:51
Das ist doch nicht sein Ende ,oder ?!
Antwort von:  Enrico
22.01.2016 13:02
Wird nicht verraten ^-^
Freu dich aufs nächste Kapitel ...
Von:  Satomi
2016-01-11T18:59:31+00:00 11.01.2016 19:59
Der schlimmste Teil für mich ist der mit den Hunden. Argh~ -_-
Hab das Kapitel (zumindest den Rest kenn ich ja. :P) ja im Forum gelesen.
was wäre eigentlich gewesen wenn seine Familie dort gewesen wäre?
Würde mich wirklich mal interessieren.

Oh und Toni hat ja auch mal Abreibung bekommen, gut. xD
Konstruktive Kritik kannst du bei mir doch vergessen, weißte doch. old men ;P
außer das du Fehler drin hast ^^"
Antwort von:  Enrico
11.01.2016 20:13
Ja ging mir ähnlich. Wollte heute eigentlich weiter schreiben, aber ich hab mich zu sehr vor den folgenden Bildern gescheut. Und wäre der Rest der Familie anwesend gewesen, wären sie sicher auch getötet wurden.Hab e Szene auf der Treppe mit Judy und denn Kindern auch nir deswegen eingebaut, damit man schlussfolgern kann, dass suesie nicht da sind.

Und ja das hat Toni da auch mal gebraucht^-^. Hab jetzt auch keine konstruktive Kritik erwartet, wobei ich deine Eindrücke grotzdem zu schätzen weiß.
Antwort von:  Satomi
11.01.2016 20:18
ich kenn es selbst den treusten Freund/Hund zu verlieren, bei solchen Szenen (mein Hund war ja Polizeihund/Wachhund) muss ich bissel an meinen eigenen Hund denken.
Hab mich schon gewundert, wieso die da auf einmal waren. xD
Hab das irgendwie anders in Erinnerung. ^^""

Toni ist dennoch nen Arsch... genau wie Enrico. <_<
Manchmal kann ich aber keine anderen Eindrücke geben.
Antwort von:  Enrico
11.01.2016 21:32
Wie ist denn deine Erinnerung daran wenn du meinst sie waren nicht dort?
Von:  Satomi
2015-12-31T17:00:54+00:00 31.12.2015 18:00
Beim ersten Mal lesen im Forum musste ich schon fies grinsen. Streit im Paradies. xD
Und Amy schaffte sowas doch immer, sie war doch der kleine Liebling.
Die Ohrfeige hatte er aber mal verdient und noch viel mehr!!!

PS.: Hast du in der letzten Zeit Post gehabt? xP
Antwort von:  Enrico
31.12.2015 18:24
Jab hab dir auch in meinem Forum geschrieben.
Bin endlich mal wieder zum Schreiben gekommen. Dachte mir schon dass dir die Sache mit der Orfeige gefallen wird. ^-^ hatte mir erst überlegt wie Rene wohl darauf reagieren würde wennn er zusieht aber Amy war mir dann fürs deeskalieren lieber.
Antwort von:  Satomi
31.12.2015 18:28
Kann erst im neuem Jahr wieder online, kenn mein Passwort fürs Forum nicht mehr.
Jup, haste recht. xD
Nope, wenn war es Amy und nicht Rene, der hätte eher gewollt, dass sein Dad mehr Prügel bezieht.
Antwort von:  Enrico
31.12.2015 18:36
Jab so habe ich das auch eingeschätzt.^-^
Von:  Satomi
2015-07-19T19:31:16+00:00 19.07.2015 21:31
*sitzt mit nem schadenfrohen Lachen auf dem Fußboden*
Tja~ kommt davon, wenn man ne Wette verliert.
Das Spiel mit den Handschellen kenn ich aber irgendwoher. xD
Na wie kommt er da nur wieder los. Wird sicher schön schmerzhaft.
Nicht, dass er beim Versuch sich zu befreien sich die Arme und Schultern auskugelt, denn das wäre mega schmerzhaft.
*trinkt grinsend weiter Alk*
Enzo hat halt nichts vertragen. xDD
Grüße aus L. ;P
Antwort von:  Enrico
20.07.2015 11:22
War ja klar^^, das du hier wieder schadenfroh bist. Wie das mit den Handschellen wird, weiß ich auch noch nicht^^. Mal sehen. Bin erst mal mit der Überarbeitung der alten Kapitel ausgelasten und in einer Woche fahre ich ja auch in den Urlaub. Denke da wird das nächste Kapitel etwas auf sich warten lassen.
Antwort von:  Satomi
20.07.2015 11:53
So? War das so klar? ;P
Also wundgescheuert hat er sich die ja sowieso, dürfte schön schmerzhaft brennen und ohne die richtigen Schlüssel kommt er davon nicht los.
Lass dir Zeit, kann im Forum ansonsten weiter lesen, auch wenn ich dort schon die meisten Kapitel von allen Teilen gelesen habe.
*hat zu viel Freizeit*
Viel Spaß im Urlaub
Von:  Satomi
2015-07-14T21:36:48+00:00 14.07.2015 23:36
Und damit wäre das Kapitel Nummer drei heute ...
Weißte was xDDD *losprust, schmeißt sich vor lachen auf den Boden*
Geschieht Enzo recht, jaja~
muahauhauhauahuaha~
Bin aber mal gespannt was sich Jan als Wunsch äußern wird. xDDD
Oh man die Wette hatte er von anfang an verloren. xDDD

Also sinnvolle Kommis kannste zurzeit bei mir vergessen.
*grinsebacke xD*
auf die rechtschreibfehler gehe ich mal nimmer ein, gehst ja eh nochmal drüber ^^
Von:  Satomi
2015-07-14T19:03:31+00:00 14.07.2015 21:03
Und damit rauscht ein schmollendes und bockiges "Kind" von dannen. xDD
Mir hat das letztere Kapitel dennoch besser gefallen ;P
Hast hier auch ziemlich viele Fehler der Rechtschreibung drinnen, ^^"
Aber nimmt er nicht seine Maschine mit? o.O
Antwort von:  Satomi
14.07.2015 21:11
Wo ich allerdings lachen musste waren die Namen bei den Mädchen. xD
So heißen bei mir 3 OCs und mein Leopardgecko heißt Emily xD
Und Freundinnen von mir Sophie und Alice. xDDDD
*losprust*
Hast du die Namen bei mir geklaut oder war das Zufall ó__Ò
Antwort von:  Enrico
14.07.2015 21:15
Ja habs auch gerade gesehen das da noch viele Fehler drin sind. Seufz und nein die Namen sind original aus Diskussion mit Judy im jetzt geklaut. Aber lustiger Zufall^-^
Antwort von:  Enrico
14.07.2015 21:17
Ahh ja das Motorrad stand ja vor der Villa grr blöder anschlussfehler verdammt danke für den Hinweis
Antwort von:  Satomi
14.07.2015 22:17
Na ja, haben wohl gleiche Ideen, was Namen angeht, bei mir heißen ja zwei OCs auch Jan und René (René wie mein Cousin xD)

Also ich würde zurück gehen mich drauf schwingen und losfahren o.O
Glaub kaum dass er es stehen lassen würde. Außer er will zurück laufen. xDD
Antwort von:  Enrico
14.07.2015 22:18
Er fährt ja auch mit dem Motorrad zurück, habe nur vergessen, dass es nicht vor dem Grundstück sondern vor der Villa steht^^.
Antwort von:  Satomi
14.07.2015 22:21
Da war wohl seine Wut größer als zu merken das seine geliebte Maschine noch auf ihn wartet. xDD
Also wegen den zwei kapiteln hab ich heut echt heftig lachen müssen. ;P
Antwort von:  Enrico
14.07.2015 22:31
Das freut mich^^. Dann habe ich ja erreicht was ich wollte.
Von:  Satomi
2015-07-14T16:29:36+00:00 14.07.2015 18:29
Sooo .... lange lange her, dass ich dir einen Kommi da gelassen habe.
Als erstes .... *vor dauerlachen vom Stuhl fall und weiter lache*
Okay, dieses Kapitel hat mir bisher am besten gefallen, kommt mir alles sehr bekannt vor, Kennenlernen von nem Hund, den man noch nicht so recht kennt und dann das mit dem Wasserschlauch, auch das mit den Eiswürfeln. xDDD
Eh ja sorry, aber ich kann nicht aufhören zu lachen, und dann die letzten Worte von Aaron.
*kugelt sich überm Boden vor lachen*

Ansonsten haste einige Rechtschreibfehler drin ... Das was du beim Scotch Schwanz nennst, ist fachlich eine Rute!! Klar xD
Sobald ich mich vorm lachen erholt habe kriegst du noch nen vernünftigen Kommi, ... hoff ich mal. xDD
Antwort von:  Satomi
14.07.2015 18:31
hab grad gesehen dass du die Rute auch Schweif genannt hast, so nennt man es bei einem Pferd Hunde haben Ruten!
Fachgrammatik zuende xD
Antwort von:  Enrico
14.07.2015 18:42
Ja muss das Kapitel noch mal überarbeiten ich seh meine Fehler immer erst wenn ich ein paar Tage und Wochen abstand dazu habe. Freu mich das du es doch gelesen hast. Wusste es gefgefällt dir^-^. Das nächste ist sicher auch was für dich. Die Szene mit dem Wasserschlauch ist übrigens deiner Erzählung geschuldet. Hattest mir ja mal davon geschrieben das dein Dad etwas ähnliches nach dem brennesselunfall mit dir gemacht hat und irgendwie kam mir das so bekannt vor, dass ich es einbauen wollte.
Antwort von:  Satomi
14.07.2015 20:14
Ja, der Brennesselunfall und der Gartenschlauch, konnt mir denken, dass du daher die Idee hast. Väter können so hinterlistig sein. Aber Kinder fallen einfach auf den Trick mit dem zuklemmen rein ... xD
Aber hab selbst das mit dem Kennenlernen vom Hund, war ähnlich bei uns weil opa Wachhunde hatte und Knirps Sato hatte vor dem schwarzen Hund anfangs auch Angst ... am Ende waren wir unzertrennlich. ^^

Na ja und ich halt neugierig, muss immer noch lachen. xD ... dann schau ich mal ins nächste Kapi rein ^^
Von:  Satomi
2015-04-28T23:59:41+00:00 29.04.2015 01:59
Und damit hat er den Pakt mit dem Tod geschlossen.
Und es heißt ja nicht umsonst das katzen 9 Leben hätten, vllt hat enrico nen paar mehr, als ne katze. so als Löwe. xD
sorry, aber kontruktive kritik kann ich nicht geben. Außer überarbeite dieses und das andere Kapitel nochmal auf Betalesen, sind viele Fehler drin.
ansonsten nen informatives Kapitel ... mal endlich wieder eines, ohne diese anderen Details, die ich nich so gerne lese. <.<
Sind schöne emotionale Szenen dabei
Liebe Grüße
Antwort von:  Enrico
30.04.2015 15:08
Freut mich das du mal wieder zum Lesen gekommen bist.^^ Wenn du die Fehler raussuchen könntest wäre ich dir wirklich dankbar. Habe die neuen Kapitel aber auch noch nicht sehr oft Korrektur gelesen. Bin im Moment mehr mit meinen Kakao-Karten beschäftigt und mit arbeiten.
Hab 11 Tage durchgearbeitet, da bleibt eigentlich kaum Zeit irgendwas zu machen. Naja aber jetzt endlich We^^. Jaaaa. Mal sehen was da noch so fertig wird.
Von:  Satomi
2015-02-16T20:11:07+00:00 16.02.2015 21:11
Hey~
ja okay, du weißt ja, ich und Adult Kapitel. ^^" Öhm zählt grobes lesen und überfliegen auch als lesen? ó.Ò
Wenn nicht ... dann kann man diese Kapitel nich als gelesen einstufen. xD
Ansonsten lese ich die Kapitel ... solange es kein übermäßiger Adult ist ... manchmal kann man es mit den adult und du weißt schon was auch übertreiben. -.- da macht mir das lesen echt keinen Spaß.
Aber okay, weißt ja, wieso ich so etwas nich mag. ^^"

Bin gespannt auf die weiteren Kapitel ... in der Hoffnung weniger Adult zu lesen. *sfz*
Also ran an die Tastatur schreib fleißig weiter.
und nur nebenbei ... es kommen gewisse Personen zu wenig vor!!! ò.ó
see you later~
PS: Ansonsten lese ich die Kapitel/Teile! Weißte ja :P
Antwort von:  Enrico
17.02.2015 07:08
Es kommt auch wieder mehr Handlung keine sorge^-^


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