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Fragmente

Wind und Stille
von

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Und über seinem Denken schwebt das Warum

Es fehlt. Sie kann nicht sagen, was es ist, doch es ist wichtig. Es fühlt sich nicht so an als hätte man ein Schmuckstück, die Brieftasche verloren, sondern als wäre einem ein Körperteil abhanden gekommen, ein Arm, ein Bein und doch viel mehr...

Das Herz.

Ein furchtbarer Schmerz ergreift sie, in Schüben, die sie nicht vorhersehen oder kontrollieren kann, und mischt sich mit einer unendlichen Traurigkeit. Sie ist nicht mehr vollständig, doch das Schlimmste ist, dass sie nicht weiß, was verschwunden ist. Weinen will sie, doch sie kann nicht. Sie kann nur in dieser endlosen Dunkelheit liegen und trauern, trauern um etwas, das sie nicht kennt.
 

Die Frau steht stoisch am Bett des Mädchens, nein, eher der jungen Frau; neben ihr ein kleiner Junge, hilflos. Der Vater ist noch nicht da. Takumi Hakura schüttelt den Kopf; es sind Tage wie diese, die die sinnlose Leere schaffen, die ihn immer wieder, spät in der Nacht, wenn die Freunde gegangen sind, überfällt. Er mag nicht mit diesen Menschen reden, ihnen sagen, was sie nicht hören wollen.

Sie wollen Hoffnung, und Hoffnung, das ist, was er sucht, aber nicht finden kann; es ist um so vieles einfacher, Hoffnung zu überbringen, selbst wenn es nur ein Hauch ist.
 

Yasu sitzt neben seiner Schwester und kann noch immer nicht begreifen, dass die Andere nicht mehr da ist. Er will auch gar nicht daran denken, dass ihr zerschmetterter Körper auf der Straße liegt, will nicht verdrehten Knochen vor Augen haben, die er nie gesehen hat

Er will wieder seine beiden großen Schwestern haben, will sie ärgern, will, dass sie lebendig sind...

Und über seinem Denken, ohne das er es überhaupt bemerken würde, schwebt das große Warum.
 

Genau das fragt sich auch Yuriko Taki, die heute eines ihrer Kinder verloren hat. Doch ihr Warum ist klein und leise; es verhält sich unauffällig.

Sie könnte weinen; sie könnte das Schicksal verfluchen, die Ärzte, die von inneren Verletzungen sprechen, selbst den Wecker, der sie heute verraten hat. Doch sie tut es nicht. Sie tut es nicht, weil alleine die Gedanken es real machen würden, weil der Schmerz in ihr so groß ist, dass sie ihn kaum beherrschen kann. Und weil sie nicht nachgeben kann.

Die Tür fliegt auf und ihr Mann stürzt herein. Er hat Tränen in den Augen und kann den Tod seiner Tochter doch nicht vollständig erfassen. Ihm fehlt das Bild, zuckt es durch ihren Kopf, das Bild, das sich tief in ihre Netzhaut gebrannt hat. Ihm fehlen das völlig verbogene, einst verchromte Fahrrad und die beiden Körper, die, eng verschlungen, wie ein einziger wirken.

Sie hat es.

Er greift mit zitternden Armen nach ihr, sie verbirgt ihr Gesicht tief in seiner Jacke und so stehen sie eine schier endlose Weile regungslos da, sich gegenseitig tröstend. Doch da ist kein Trost, egal, wie fest er sie umschließt, egal, wie eng ihre Haut sich an den Stoff schmiegt.

Sie versuchen es trotzdem, bis es schmerzt.

Und dann wacht das Mädchen auf.
 

Für einen Moment steht die Zeit still, als die Eltern ihre Tochter in dem grünen Krankenhausgewand auf dem Bett sitzen und verwundert ihre Hände betrachten sehen. Dann bricht los, was nicht mehr zurückgehalten werden kann:

Schluchzend nimmt Yuriko Amaya in den Arm, gleich darauf wird sie vom Vater umschlungen. Inmitten dieses Knäuels sitzt das Mädchen und stellt sachlich fest:

"Es fehlt."

Sofort lassen die beiden Erwachsenen von ihr ab und werfen sich hilflose Blicke zu. Es folgt eine Stille, die mit Worten oder Bildern nicht zu beschreiben ist, die Spannung in dem Raum nimmt zu, bis sie unerträglich wird und die Wahrheit, die keiner so recht wahrhaben wollte, aus dem Vater hervorbricht.

"Kuraiko ist tot."

Amaya blickt ihn für Sekunden erschrocken an und beginnt dann zu lachen. Es ist nicht hysterisch, nicht krankhaft, wie man es erwartet hätte; es ist das fröhliche Lachen über einen guten Scherz, den man fast für wahr gehalten hat.

"Mama, was ist wirklich passiert?"

Die Mutter schluckt. Ihr fehlen die Worte, ihr fehlt die Kraft, ihr fehlt – sie weiß nicht, was fehlt, doch sie spürt, dass sie fort muss.

Kaum hat sie den Raum fluchtartig verlassen, dreht Amaya sich zu ihrem Vater um; ihre Miene zeigt keine Regung. Dann trifft sie ihren eigenen Blick im Spiegel und für einen Moment zeigt sich in ihren Zügen pure Agonie.

"Nein...", flüstert sie, ehe sie das Bewusstsein verliert und in die Tiefen ihrer Erinnerung taucht.
 

Ein sanfter Wind liebkost seine Wangen, ein leiser Hauch lässt die langen dunklen Haare schweben und das Mondlicht gibt allem einen seltsam mystischen Schimmer. Das kleine Mädchen, das am Fenster sitzt, weiß nicht, dass sein Schicksal schon in den Sternen geschrieben steht, weiß nichts von Leid und Trauer. Die Zukunft ist das Ziel einer ungewissen Reise durch Gefilde, von denen es höchstens im Traum zu sprechen wagt, doch selbst davon weiß das Kind nichts. Es denkt nicht einmal über etwas Besonderes nach, sonder genießt einfach nur die Stille der Nacht, die Kühle des Windes und freut sich auf seinen morgigen Geburtstag.
 

Was das angeht, ist sie nicht alleine; wenige Meter entfernt findet eine kleine Gesellschaft statt.

Wache blaue Augen funkeln, weißblondes Engelshaar glänzt; das Mädchen ist mehr als hübsch, es ist auf dem besten Weg zur Schönheit; sein Trumpf ist die Perfektion.

Es fühlt sich wohl, freut sich auf den morgigen Tag. Viele Erwachsene grüßen es, streichen ihr über das weiche Haar. Stolz blickt das Mädchen umher.

Es weiß noch nicht, dass Perfektion niemals glücklich macht; doch zumindest unterläuft ihr der selbe Fehler wie so vielen anderen Menschen.
 

Die stolze Mutter streicht den beiden Mädchen über das Haar; vielleicht bleibt ihr Blick einige Sekunden länger an ihrem kleinen Engel hängen. Warum sie ihn heute trotz der späten Stunde noch hat aufbleiben lassen, weiß sie nicht so recht, doch dem Mädchen etwas abzuschlagen scheint fast unmöglich…

Kurz streift ihr Blick ihre zweite Tochter und während die Liebe erhalten bleibt, ist der mütterliche Stolz mit einem Mal verloren; schnell sagt sie gute Nacht, geht hinaus und hinterlässt eine gespannte Stille.

Ein leises Kichern füllt plötzlich den Raum. Neugierig dreht das dunkelhaarige Kind sich um und schaut zum Bett seiner Zwillingsschwester.

Als das Kichern auch nach längerer Zeit nicht verstummt, fragt sie, halb interessiert, halb ärgerlich:

"Amaya! Was ist so witzig?"

Ihre Schwester kichert noch immer, lässt sich aber dann zu einer Antwort herab.

"Morgen ist es genau sieben Jahre her!"

"Was ist morgen genau sieben Jahre her?“,

fragt das Mädchen verwundert. Es kann doch nicht sein, dass Amaya ihre Geburt so witzig findet? Überhaupt lacht Amaya zu viel. Und immer ist sie der Grund dafür; das ärgert sie maßlos.

Wieder kichert ihre hübsche Schwester.

"Na, dass Mama und Papa dir einen so komischen Namen gegeben haben!"

Ach so. Darum geht es. Ihr kommen die Tränen, denn nicht zum ersten Mal zieht Amaya sie damit auf, dennoch antwortet sie verärgert, ohne die Blöße zu zeigen.

"Es ist mein Name."

Amaya kichert wieder, anscheinend hat sie ihre albernen fünf Minuten und wird sich so schnell auch nicht mehr einkriegen.

"Aber Kuraiko ist doch ein Jungenname!"

Langsam wird es dem anderen Mädchen endgültig zu viel. Es dreht sich wieder zur Wand und meint:

"Nicht nur. Schließlich darf ich auch so heißen."

Wieder ein Kichern.

Resigniert schließt Kuraiko die Augen und beschließt, ihre Schwester einfach zu ignorieren. Dass sie Amaya in Wahrheit auch viel schöner findet, verschweigt sie – das muss ja keiner wissen.
 

Dunkle Wolken verhüllen die Sterne, als Amaya wieder zu sich kommt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es vier Uhr Morgens ist. Neben ihrem Bett, auf einem Stuhl, sitzt ihr Vater und schläft, tief und traumlos. Schwer schluckend blickt das Mädchen an die Decke. Sie wartet. Sie denkt.
 

Schon seit einer Stunde kämpft Amaya mit sich selbst. Sie möchte in den Spiegel sehen, um herauszufinden, ob alles nur ein furchtbarer Traum gewesen ist oder nicht, doch gleichzeitig fürchtet sie sich davor...

Der Spiegel wird zum Symbol für all ihre Ängste, für ihre Unsicherheit.

Sie will die Wahrheit nicht wissen und im selben Moment weiß sie, dass sie ihr nicht entkommen kann.

Schließlich steht sie leise, ohne ihren Vater zu wecken, nachdem sie die Gerätschaften mit schlafwandlerischer Sicherheit gelöst und abgeschaltet hat, auf und läuft zu dem Spiegel, der die gesamte Südwand des Zimmers einnimmt. Noch kann sie nichts sehen, die Dunkelheit raubt ihr die Sicht, doch kurzentschlossen schreitet sie zum Fenster, zieht den Vorhang beiseite und lässt das grünliche Licht der Notbeleuchtung herein. Dann, ganz langsam, dreht sie sich um und betrachtet ihr Spiegelbild.

Langes, weißblondes Haar, sturmblaue Augen und einen tiefen Kratzer im Gesicht; es stimmt.

Ihre Beine geben unter ihr nach und sie fällt zu Boden, fassungslos. Und doch steht sie; die Realität verschwimmt. Sie kann nicht glauben, dass Kuraiko tot ist, denn sie ist es, sie ist doch Kuraiko Taki.

Wie Tau, der den neuen Tag einläutet

Es rast durch ihr Hirn, ihr Kopf scheint zu explodieren, tausend Gedanken, die sich aber doch zu einem einzigen verbinden.

Sie ist tot.

Sie selbst hat nicht nur ihre Schwester verloren, sondern auch ihr Leben, sich selbst, und egal, wie sehr sie sich bemüht, sie kann sich nicht wiederfinden. Sie kann es nicht verstehen. Und so kann sie nicht weinen, nicht begreifen, was geschehen ist. Noch nicht.

Die Mutter schaut sie prüfend an; sie hat erwartet, dass ihre Tochter verzweifeln, schreien, weinen, schlagen wird und hat sich darauf vorbereitet, doch die stille Hoffnungslosigkeit ihrer lebenden Tochter ist etwas, mit dem sie nicht umgehen kann.
 

Der Vater lauscht den Worten des Arztes, lauscht und hört doch nicht zu. Er weiß, dass dieser Mann ihm nur helfen will, doch das einzige, das ihm jetzt noch helfen könnte, wäre Kuraiko, seine Kuraiko, sein Mädchen, das durch die sterile Tür hereinspaziert kommt. Er hat es nie gewusst, nein, gewusst schon, aber er hat sich nie bewusst gemacht, dass die ruhigere, stillere der beiden jungen Frauen seine Tochter gewesen ist. Natürlich liebt er Amaya, und natürlich ist er froh, fast besinnungslos vor Glück, weil sie aufgewacht ist, doch viel schwerer wiegt die Trauer, der Schmerz, der ihn zu Boden drückt. Was wäre geschehen, wenn er den Wecker nicht achtlos ausgedrückt hätte? Wenn er die Beiden an ihrem Geburtstag gefahren hätte?

Er weiß es nicht.

Er will weinen. Will weinen, bis all der Schmerz fortgeschwemmt ist, bis alles aus seinem Herzen vertrieben ist, weg...

Doch er kann nur lauschen, ohne zu hören und denken, ohne zu wissen.
 

Die Nacht kommt jetzt früh, fährt es Amaya durch den Sinn, während sie den Mond beobachtet, der langsam gen Himmel steigt und die Sonne in ihrem harten Tagewerk ablöst. Was die Gestirne Tag für Tag sehen, erleben müssen, denkt sie, und bekommt den Gedanken an das Gesicht ihrer Schwester, das nun ihr Eigenes ist, nicht mehr aus dem Kopf. Merkwürdig, sie trauert um jemanden, der noch lebt, während der, der sie glaubt zu sein, tot sein sollte. Amaya weiß nicht, was sie denken soll, sie weiß nur, dass ihre Schwester ihr fehlt. Und ist es dabei nicht völlig egal, wer von den Beiden gehen musste? Jetzt ist nur noch einer da. Und das reicht einfach nicht, um zu leben...

Zitternd verlässt sie ihr Bett und schreitet vorsichtig zur Türe. Eigentlich weiß sie nicht, wohin sie will, sie weiß nur, dass sie hier nicht bleiben kann.

Es beginnt zu regnen; sie kann es spüren, die Luft verändert sich, selbst hier, mitten im Gebäude und wenn sie ganz leise ist, kann sie es sogar hören. Mit einem Mal hält sie nichts mehr im Krankenhaus und sie sucht sich ein Fenster, das sie in die Freiheit führen soll. Wohin sie will, weiß sie selber nicht. Sie will nur weg von hier.

Nur weg.
 

Wohin sie geht vermag sie nicht zu sagen, sie ist nur ein Mädchen, das sich weglos, ziellos durch die helle Nacht bewegt, ohne auf den Regen zu achten, der seine Kleider durchnässt. Sie wirkt verloren; doch das, was sie sucht, kann sie nicht finden.
 

Seit sie in die feuchte Nacht hinausgetreten ist, kann sie wieder freier denken, auch wenn sie einfach nicht versteht. Sie weiß nichts, weiß nicht einmal, ob sie wissen will, was da in der Ungewissheit lauert und kann so nicht die Ruhe finden, die sie so dringend bräuchte. Ihre Gedanken kreisen immer wieder nur um das eine, um die eine wichtige Frage:

Wer ist sie?

Und was ist geschehen?

Ist sie Amaya? Oder Kuraiko? Beide?

Oder keiner der Zwillinge?

Wie kann sie im Körper ihrer Schwester leben, wie kann sie in den Spiegel sehen, und das Gesicht einer anderen erkennen? Lebt Amayas Geist vielleicht tief in ihrer Erdenhülle noch?

Oder ist sie tot?

Und wenn sie tot ist, was bedeutet es dann?

Amaya schließt die Augen und Kuraiko denkt nach.

Kann sie damit leben? Will sie das?

Vor allem will sie weinen, doch ihre brennenden Augen bleiben trocken, ihr Herz fest verschlossen, während ihre Gedanken auf eine Reise gehen, eine Reise in die Vergangenheit, hin zu den lachenden Augen, die sie früher immer beneidet hat und die nun ihr gehören.

Früher waren sie die Schöne und die Kluge.

Und jetzt?

Was ist sie nun?

Ihre Kleider kleben an dem Körper, der doch nicht ihr eigener ist, aber es friert sie nicht. Regentropfen perlen über ihre Haut, über ihr Haar, ihre Lippen, wie Tau, der den neuen Tag einläutet.
 

So steht sie im Nachtregen, der auf sie herabfällt, badet in ihm, der wie es ihr scheint, die Sünden der ganzen Welt fort waschen könnte unter dem bleichen Licht des Vollmondes, doch ihr bringt er keine Erkenntnis. Nur ein wenig Geborgenheit in der Stille der Nacht, ein wenig Geborgenheit und das Versprechen, in naher Zukunft etwas zu verstehen.

Regen, der die Welt in Schwermut ertrinken lässt

Es ist, als lägen tausend Augen auf ihrer Haut, als würden die Blicke sich durch jeden Schutz bohren, unerbittlich. Es ist, als schweige die ganze Schule, während sie hindurchgeht, als hielten alle inne, für einen Moment. Es ist, als ginge ein Geruch ihr voraus, ein Gemisch aus Traurigkeit und Tränen.

Natürlich wissen sie es alle.

Natürlich.

Doch sie wünscht sich, dass sie es vergessen, dass nicht jeder Blick, nicht jedes Schweigen, nicht jedes Weichen sie an die Leere erinnert, die noch immer wie eine dunkle Wolke über ihr liegt.

Das Wetter hilft ihr auch nicht, die Tage sind grau und verhangen, die Nacht bringt nur Regen, Regen, der die Welt in Schwermut ertrinken lässt und sie Abend für Abend nach draußen treibt. Licht sieht sie selten und das scheint es ihr auch unmöglich zu machen, Licht in dem trüben Denken zu finden. Daheim schweigen alle, schweigen still, denn weinen kann außer Yasu keiner mehr. Es hilft ja doch nichts, der Schmerz bleibt und der Verlust auch. Und während die Eltern und Yasu nur eine Tochter, einer Schwester verloren haben, weiß Kuraiko im Körper ihres toten Zwillings nicht einmal, ob sie selbst lebt und wenn, ob sie leben sollte. Die Gedanken finden keine Ruhe; immerzu drehen sie sich im Kreis und machen jedes Vorwärtskommen unmöglich. Aber sie muss weitergehen; sie muss vergessen.

Sie weiß das und kann doch nichts tun – das ist ihr Dilemma.

Es klingelt und sie öffnet die Tür zum Chemiesaal. Wenigstens hier kann sie die Blicke und das Flüstern, das hinter ihrem Rücken anzuheben pflegt, verdrängen.
 

Große, kalte Pfützen aus der Nacht begleiten sie auf ihrem Heimweg, kalt und leblos, genau so, wie sie sich fühlt, immer noch, andauernd. Der schwere Ranzen auf ihrem Rücken schlägt mit jedem Schritt gegen ihre Wirbel, die Geschäfte sind unwirklich hell im endlosen Grau, das ihre Welt gefangen hält, die hohen Häuser scheinen wie Mauern, die sie klein machen und am Boden halten, während die Wagen immer schneller durch die Kälte rasen. Man hat es eilig.

Auch dort, wo es für sie noch immer nach verbranntem Gummi und verkohlter Haut riecht, fließt der Verkehr, als wäre nichts geschehen und so ist es für die anderen Menschen auch.

Nichts ist passiert, nur ein Mensch unter sechs Milliarden ist gestorben.

Und doch ist alles anders...

Plötzlich sieht Amaya sie.

Wie so oft steht sie da, groß, schlank, ruhig, einen undefinierbaren Blick in den dunklen Augen. Hastig geht das Mädchen weiter, stolpert fast über die Füße, die es nicht mehr spürt, und hofft, den Augen ausweichen zu können. Sie weiß nicht warum, doch sie kann die Frau, die Tag für Tag an derselben Straße steht, die Tag für Tag so unbeschreiblich traurig schaut, nicht ertragen. Sie kann sie nicht leiden und versteht nicht, warum, haben sie doch noch kein einziges Wort gewechselt. Es ist eine tiefsitzende Antipathie, die sie sich nicht erklären kann. Als sie mit Schrecken feststellt, dass die Fremde auf sie zu kommt, beschleunigt sie ihre Schritte. Sie flieht und das weiß sie, doch es ist ihr egal.

Es ist eine merkwürdige Gefahr, die von der Gestalt ausgeht und sie macht ihr Angst. Ohne sich umzusehen läuft Amaya über die Straße, hastet über die Wege, rennt fast, bis sie das erlösende Geräusch des Schlüssels in der Tür hört.
 

Der Tee dampft und dampft und dampft und scheint einfach nicht damit aufhören zu wollen. Fasziniert starrt Amaya auf die Tasse, die ihr um so vieles interessanter erscheint als die nutzlosen Matheaufgaben vor ihr auf dem Schreibtisch. Sie könnte sie lösen, gewiss; doch es gibt wichtigeres.

Zum Beispiel ihren Tee.

Er verströmt einen leichten Apfelduft, der zusammen mit dem Dampf in die warme Zimmerluft steigt und das Mädchen langsam einhüllt. Die Uhr tickt laut an der weißen Wand, während die Zeiger sich immer weiter der sechs nähern, die Bücher in den Regalen rascheln leise und die Wände des Hauses knarren vorsichtig. Es ist ein beschaulicher Augenblick, einer, den man photographieren und für immer aufbewahren will, für die kalten, kargen Zeiten. Solche Momente sind rar gesät und doch kann Amaya oder Kuraiko, egal, wer sie nun ist, ihn nicht lange genießen. Schnell muss sie daran denken, dass es solche Stunden mit ihrer Schwester fast nie gegeben hat, dafür war die andere viel zu unruhig, zu lebendig, viel zu aufgedreht. Wie oft hat die echte Amaya sich nicht halten können, besinnliche Tage durch ihre Heiterkeit in etwas anderes verwandelt...

Wäre Amaya noch hier, könnte sie die Zeit viel besser nutzen, viel intensiver leben, da ist sich Kuraikos Geist sicher, doch Amaya ist ja nicht da; allein ihr Körper ist geblieben, ihre Seele ist fort.

Der Tee dampft und dampft und dampft, scheint sich von den Gesetzen der Physik, die ihm sagen, dass er abkühlen muss, nicht beeindrucken zu lassen. Der latente Apfelduft wird dringlicher und hat das Mädchen schon ganz umschlossen. Die Uhr tickt laut an der weißen Wand, während die Zeiger sich langsam wieder von der sechs entfernen, die Bücher in den Regalen rascheln leise und die Wände knarzen vorsichtig. Auf dem Klavier steht Amayas Photo, ihr Photo und plötzlich überkommt Kuraiko, die gefangen ist, eine unbeschreibliche Wut. Es brennt in ihrem Bauch, kriecht ihre Adern und Nerven hoch, setzt sich in jede Pore, steigt hinein ins Hirn und vernebelt alles; es ergreift sie voll und ganz. Ihre Muskeln zittern und mit einem Mal schreit sie auf, greift sich den Tee, der dampft und dampft und dampft und einfach nicht damit aufhören will, schleudert die Tasse, den ganzen beschaulichen Augenblick, auf das Bild, das klirrend zu Boden fällt und in einer dampfenden Apfelteepfütze liegt, selber dampft und dampft und dampft, nicht aufhören will. Das Mädchen greift das warme Bild, zerreißt es einmal, zweimal, dreimal, viermal, zerreißt es, bis es nicht mehr zerrissen werden kann, wirft die feuchten Fetzen in die Luft, schreit noch einmal und will Amaya einfach wehtun. Es ist ungerecht, warum ist sie noch hier, warum ist ihre Schwester gegangen, warum kann sie nichts gegen die Tränen der Wut machen, weshalb hat Amaya sie alleine gelassen, alleine in dieser Welt, alleine mit den Eltern, die nicht weinen, nur schweigen, alleine mit Yuso, der nicht schweigt, nur weint, alleine mit sich selbst, die sie nicht zu Ruhe kommt, nur fühlt?

Sie weiß es; sie hat es die ganze Zeit gewusst – Amaya musste sich wieder einmal in den Vordergrund spielen, dass, was sie in all den Jahren nicht geschafft hat, nämlich Kuraiko in allem zu übertrumpfen, ist ihr nun gelungen, denn während sie einfach gegangen ist, hat sie ihre Schwester alleine, ohne Identität zurückgelassen, in einer Rolle, die sie nicht spielen kann, aber spielen muss, in einem Leben, das trist und traurig ist, während alle sie bemitleiden und gleichzeitig irgendwie froh sind, dass sie gestorben ist.

Und plötzlich, sie weiß nicht wie, hasst sie Amaya, hasst den Körper, in dem sie nun steckt, hasst sich selbst, aber vor allem ihre Schwester, ihre schöne, egoistische Schwester.

Und, bei Gott, es fühlt sich gut und richtig an.
 

Die Mutter macht sich Sorgen, große Sorgen.

Das weiß Kuraiko, denn sie hat gesehen, wie sie die klebrigen Fetzen vom Boden genommen hat, hat den traurigen Blick gesehen. Doch es rührt sie nicht, nichts rührt sie mehr; der Zorn lässt keinen Platz mehr in ihr.

Sie ist aus Amayas Zimmer ausgezogen, denn sie hält es nicht aus; es ist nicht ihr Zimmer. Sie weiß nun, wer sie ist: Kuraiko in dem Körper ihrer toten Schwester. Sie weiß nicht warum, sie weiß nicht, wie, doch das ist ihr gleich. Ihr ist bewusst, warum ihre Eltern sie so anschauen – sie sehen Amaya, die ihre eigenen Bilder zerreißt, in das Zimmer ihrer toten Schwester zieht, keinen Sport mehr treibt, ruhig liest oder Nachts nach draußen geht – so, wie Kuraiko es gemacht hätte.

Sie wissen nicht, dass Kuraiko noch lebt und sie werden es auch nie herausfinden.

Nie.

Still zerreißt sie das letzte Bild ihres neuen Selbst, das ihre Mutter noch nicht fortgeschlossen hat.

Nicht viel Reden in ihrem Haus

Immer noch sind die Tage regnerisch, kalt, noch immer sind die Blicke, die ihr Tag für Tag folgen unerträglich, doch Kuraiko hat nun einen anderen Grund dafür, sich regelmäßig mit dem Wagen abholen zu lassen: Mit einem Mal scheint die Stadt voll mit merkwürdigen Gestalten, die ihr immer und immer wieder über den Weg laufen, sie beobachten, ihr folgen...

Sie ist sich nicht sicher; manchmal glaubt sie, einfach nur den Verstand verloren zu haben, vielleicht sogar zu träumen, dann wieder ist sie kurz davor, die Polizei zu rufen. Gleichzeitig fühlt sie sich dumm – warum sollte man ihr folgen? Es kann doch keiner wissen, wer sie ist, oder wichtiger, wer sie nicht ist; wer soll so etwas denn glauben, geschweige denn vermuten? Doch die Unsicherheit bleibt und so ist sie dankbar für ihre Eltern, die alles tun, was sie möchte. Es ist eine merkwürdige Form von Alltag eingekehrt, nach der Beerdigung; dieser Teil ihres Familienlebens ist vorbei. Es ist fast so, als habe es den zweiten Zwilling nie gegeben.

Fast.

Kuraiko vermutet, dass ihre Eltern darunter leiden, dass ihre Tochter nicht zum Begräbnis gegangen ist, doch der Gedanke, sich selbst in der Erde verschwinden zu sehen, ist einfach zu viel gewesen.

Natürlich reden sie nicht darüber. Um ehrlich zu sein, es ist überhaupt nicht viel Reden in ihrem Haus. Yasu versucht es, doch er versteht seine Schwester einfach nicht. Er kann fühlen, dass sie aufgebracht ist, er spürt die Wut, aber kann nicht hinter die kalte Fassade blicken, die Kuraiko aufgebaut hat. Seine Eltern versuchen, zu erhalten, was da ist, auch wenn es unmöglich scheint: Jeden Abend ist da der leere Platz, vorwurfsvoll, anklagen. Und um dieser Schuld zu entkommen, behandelt man die übriggebliebenen Kinder mit übergroßer Vorsicht.

Doch heute kann keiner der Beiden sich loseisen, um sie heim zu bringen und so tut sie, was getan werden muss, tritt in den kalten Nachmittag hinaus und folgt der Hauptstraße, die, wie immer um diese Zeit, nahezu unüberquerbar ist.. Prompt beginnt es zu regnen. Das Wasser fließt in breiten Strömen den Gehweg hinab und durchweicht die wenigen Passanten, die sich noch nicht ins Trockene gerettet haben.

Kuraiko kümmert es nicht. Sie mag den Regen und selbst, wenn das nicht so wäre, hätte ihre Gleichgültigkeit sie von jeder Handlung abgehalten. Sie fühlt sich ausgelaugt, tot und muss fast schon darüber lachen, da sie es strenggenommen ja ist. Kein besonders netter Gedanke, doch ihre Gedanken sind üblicher Weise nicht besonders freundlich. Nicht mehr.

Ihr Blick wandert die Straße entlang und plötzlich sieht sie sie.

Hochgewachsen, dunkles Haar, das Gesicht einer griechischen Prinzessin; die Augen einer alten Frau.

Sie kommt die Straße hinunter, ihr entgegen, es ist die selbe Frau, die ihr Tag für Tag über die Straße wissende Blicke zugeworfen hat, aber nun kommt sie dem Mädchen gefährlich nahe. Kuraiko beschließt, auf der Stelle umzudrehen, doch als sie diesen Beschluss in die Tat umsetzt, sieht sie, dass ein anderer fremder Bekannter, ein breitschultriger Mann in einem warmen Wintermantel, ihr folgt, es wahrscheinlich die ganze Zeit über getan hat.

Kuraiko weiß nicht warum, doch sie fühlt, dass sie für dieses Treffen nicht bereit ist. Sie möchte nicht hören, was die Fremden zu sagen haben, möchte noch nicht herausfinden, ob sie tatsächlich etwas von ihr wollen oder ob alles nur ein merkwürdiger Zufall ist.

Und so tut sie das einzige, das ihr übrig bleibt: Sie verschwindet in eines der Cafés am Straßenrand.
 

Ein Schwall warmer Luft kommt ihr entgegen, ein Gemisch aus Kuchenduft, Pizza und heißer Schokolade. Er ist, wider alle Erwartungen, nicht unangenehm, weckt in der jungen Frau alte Kindheitserinnerungen.

Unsicher dreht sie sich zum Eingang um, erwartet halb, dass die Türe aufschwingt und die Gestalten, die sie in diese Aufregung versetzt haben, herein kommen. Doch nichts Derartiges geschieht; durch das große Fenster kann sie erkennen, dass beide Passanten regungslos vorbeischreiten, sich nicht um ihre Flucht kümmern.

Natürlich nicht.

Kuraiko schüttelt den Kopf über sich selbst und ihre Paranoia, die von Tag zu Tag zu wachsen scheint, während gleichzeitig ein Drang in ihr erwacht, aufzudecken, was eigentlich passiert. Jetzt aber spürt sie nur den Drang, die Kälte aus ihren Knochen zu treiben und da der Duft des warmen Schokoladenkuchens längst vergessene Bedürfnisse in ihr weckt, setzt sie sich an einen der wenigen freien Tische und wartet auf die Bedienung.

Überhaupt, das fällt ihr erst jetzt auf, gibt es im ganzen Café nur wenige Tische; klein und gemütlich, für nicht mehr als zwanzig Menschen Platz bietend ist es – zwanzig eng zusammenrückende Menschen. Das Licht, das das Geschäft erhellt, kommt durch das große Fenster von der Straße und kann, wie das Mädchen plötzlich entdeckt, gegen Abend wohl von den kleinen Tischlämpchen ersetzt werden. Fünf hölzerne Tische stehen in dem Raum, Mahagoni, die trotz ihrer Gedrängtheit immer noch Freiraum für Intimität lassen, jeder umringt von zwei oder vier tiefroten, samtenen Sesseln, in denen die Besucher gemütlich versinken können. Die Wände sind mit einer weinfarbenen Tapete überzogen, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hat und auch das Parkett auf dem Boden verrät, dass die letzte Renovierung wohl vom Vorbesitzer ausgeführt wurde. Dennoch, oder vielleicht genau deswegen, verströmt der Laden einen unbestimmten Charme, der das Mädchen, das so lange nichts mehr fühlen konnte, berührt. Der Sitz passt sich genau ihren Formen an, als habe er nur auf sie gewartet, und alle negativen Gedanken sind mit einem Mal wie fortgeblasen.

Kuraiko genießt einfach, was sie vorgefunden hat.

Fast schon empfindet sie die junge Frau in dem schwarzen Kostüm, die ihre Bestellung aufnimmt, als störend, doch der Gedanke an eine heiße Schokolade mit Sahne und einem übergroßen Stück selbst gemachten Kuchens versöhnt sie mit der Bedienung. Kurz darauf fühlt sie das gewünschte Getränk in ihren Händen und auch der Imbiss lässt nicht auf sich warten.

Und zum ersten Mal seit Wochen entspannt sie sich, wird ruhig und lässt die Wut und den Schmerz ziehen; zum ersten Mal findet sie sich mit der Realität ab.

„Darf ich?“

Erschrocken ob der unerwarteten Störung ihrer Nachdenklichkeit blickt die junge Frau auf und schaut in das blasse Gesicht eines Mannes, der offensichtlich in seinen frühen Zwanzigern ist. Die Züge sind sehr fein geschnitten, vielleicht etwas zu mager für einen Erwachsenen; die dunkelbraunen Augen verleihen dem Antlitz mit ihrer Form selbst für einen Asiaten ein fremdländisches Aussehen. Er wirkt sanft, nicht bedrohlich, dennoch will Kuraiko für einen Moment verneinen. Sie fühlt sich nicht nach Gesellschaft, schon gar nicht nach einer, die mit großer Wahrscheinlichkeit nur am Körper ihrer Schwester interessiert ist. Sie hat diese neue Aufmerksamkeit in den letzten Wochen kennengelernt und kann nicht verstehen, wie sie sich Amayas Attraktivität jemals hat wünschen können.

Anscheinend liest der Mann etwas in ihren Augen, der er lächelt entschuldigend und erklärt sein Anliegen genauer.

„Ich komme jeden Tag hier her. Das Café ist nicht weit von der Uni entfernt und ich habe einen guten Blick auf die Straße... Ich sitze immer an diesem Tisch, so bleibt die Perspektive die Selbe.“

Er präsentiert ihr seinen Zeichenblock und legt ihn danach halb auf der Tischplatte ab.

„Ich rede nicht. Versprochen.“

Die Vorstellung, dass er nicht an ihr, sondern an der Aussicht interessiert ist, beruhigt Kuraiko ein wenig und ihr Widerstand schwindet. Nickend weist sie auf den Sessel dem ihren und dem Fenster gegenüber.

„Selbstverständlich. Setzen sie sich ruhig.“

Ganz wohl ist ihr bei dem Gedanken an Gesellschaft dann aber auch nicht, zumal sie nicht einmal weiß, wie aufrichtig der Fremde ist, doch sie hat gerade erst ihren zweiten Kakao bekommen und so beschließt sie, nicht willens, ihren neu gefundenen Denkort aufzugeben, den Anderen einfach zu ignorieren.

Schwer ist das eigentlich nicht; kaum hat er Platz genommen, da holt er schon seinen Stift hervor und beginnt zu zeichnen. Auch bei seiner Aussage über die Regelmäßigkeit seiner Besuche scheint er ehrlich gewesen zu sein, denn ohne weiter nachzufragen bringt die Bedienung einen großen Kaffee und aberwitzige Mengen Zucker. Sein Blick, immer wieder an ihr vorbei nach draußen huschend, scheint konzentriert und auch er hat offensichtlich beschlossen, sich nicht von diesem Eindringling in seiner Welt stören zu lassen.

Kuraiko will wieder zurück in ihre Gedanken, die sich ihr endlich geöffnet haben, möchte mit dem Verarbeiten des Geschehenen anfangen, doch die ruhige, konzentrierte Art ihres Gegenüber lenkt sie ab. Seine schlanken Finger gleiten immer wieder über das Papier, werden allmählich schwarz von der Kohle, die sich auch unter den kurzen Nägeln sammelt. Was genau er zeichnet, interessiert den einsamen Zwilling nicht, aber ohne dass er es merkt, hat der Anblick des Fremden ihn auf merkwürdige Art fasziniert. Sie will wissen, woher er kommt, was er tut; sie, die auf jeden Ansatz einer Konversation mit Desinteresse geantwortet hat, fühlt das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen und wagt es im selben Moment nicht, seine Konzentration zu stören.

Und so bleibt sie dort sitzen, stumm, in Gedanken halb bei ihrer Schwester, halb bei dem Zeichner, bis der Kakao kalt und das Licht dunkel geworden ist.

Dann steht sie auf und verabschiedet sich mit einem Nicken; zuhause wartet man schon auf sie.

Zeit ist nicht genug

Dunkle Worte auf hellem Papier; sanfte Striche, die sich in regelmäßige Linien über die raue Oberfläche ziehen. Ein Stempel, rot, um zu bekräftigen, was man über die Leistungen der Amaya Taki zu sagen hat.

Nach jedem Semester, zumindest daran erinnert sich das junge Mädchen noch, war Kuraiko diejenige, die den Weg nach Hause kaum abwarten konnte; das sonst so zurückhaltende Kind genoss seinen Tag. Brachte sie auch keine Pokale und Urkunden von den Sportfesten mit, so waren die schulischen Leistungen doch etwas, in dem sie ihre Schwester immer übertraf.

Heute aber ist es ihr egal, so egal, glauben die Lehrer, wie fast alles für sie geworden ist, alles, was sich außerhalb ihres Kopfes abspielt.

Doch es ist eine neue Art der Gleichgültigkeit; sie kümmert sich nicht nicht darum, weil nichts sie rührt, sondern weil sie Besseres zu tun hat.

Ihr Weg hat ein Ziel.

Und sobald sie an dieses Ziel denkt, finden ihre Gedanken einen Pfad aus dem selbstgebauten Gefängnis ihrer Angst und ihrer Sorgen und konzentrieren sich völlig auf jenes rote Café, das so unscheinbar am Rande der Straße liegt.
 

Ein Gefühl der Geborgenheit befällt sie beim Betreten des inzwischen so bekannten Ortes, und das Nicken der Bedienung erwiedert sie, ohne es recht zu merken.

Ihr Herz klopft; es ist Freitag.

Er hat gelogen, der junge Mann mit den fremdländischen Augen, oder zumindest hat er nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er kommt nicht jeden Tag.

Kuraiko hat es versucht; Tag für Tag ist sie durch die Türe geschritten, hat sich an jenen bestimmten Tisch gesetzt und gewartet.

Und gewartet.

Sie trank einen Kakao, aß ihren Kuchen und sie wartete. Und erst, wenn der zweite Kakao kalt und das Licht dunkel geworden waren, stand sie auf und verließ das Café, enttäuscht, weil er nicht durch die Türe getreten war, und erleichtert, weil er es nicht getan hatte.

Was hätte sie denn auch sagen sollen?

Und doch kam sie, Tag für Tag, eine Woche lang; und mit jedem Tag, der verstrich, wurde das Bild des Fremden blasser und sie vergaß, warum sie eigentlich auf ihn wartete und mit jedem Tag, der verstrich, wurde die Angst vor dem, was sie zu sehen glaubte, kräftiger, bis es wieder Freitag wurde und sie seinen schmalen Körper erkannte. Er dagegen schien keine Erinnerung an sie zu haben; wieder fragte er und wieder zögerte sie. Und doch, natürlich, durfte er sich setzen.

Wieder verstrich eine Woche; wieder kam sie jeden Tag, in der Hoffnung, ihn zu sehen und doch mit der Gewissheit, unverrichteter Dinge ziehen zu müssen.

So saß sie da, Tag für Tag, trank einen Kakao, aß ihren Kuchen und wartete. Und erst, wenn der zweite Kakao kalt und das Licht dunkel geworden waren, stand sie auf und verließ das Café, enttäuscht, weil er nicht bei ihr gesessen hatte und erleichtert, weil es nicht geschehen war.

Was hätte man auch sagen sollen?

Die nächste Woche kam sie nur am Mittwoch, weil sie der Gedanke an die heimatliche Umgebung trieb; sie hatte gelernt.

Und sie kam Freitag; wieder schritt er durch die Tür, auf sie zu.

Er war, auch das hatte Kuraiko gelernt, wohl sehr zerstreut; wieder erkannte er sie nicht und fragte, und wieder zögerte sie. Diesmal aber war es kaum merklich und er musste nichts mehr sagen, bevor er sich setzen durfte.

Es traf sie, dass er sich ihrer nicht entsinnen konnte und es erleichterte sie ungemein. Sie wusste selber nicht, was sie trieb und was hätte sie ihm erzählen sollen?

In ihrer Tasche vibriert es und gleichzeitig stellt die Bedienung die dampfende Tasse vor ihr ab; Kuraiko ignoriert beides. Zu plötzlich hat man, die Mutter mit ihren Sorgen und die Frau mit ihrem Beruf, sie aus ihren Gedanken gerissen. Ihr Herz klopft schnell; sie selbst aber bleibt ruhig.

Draußen wird es nun früher dunkel; das Mädchen bemerkt es mit derselben unbewussten Nachlässigkeit, mit der sie beschließt, nicht mehr zu bleiben, bis ihr zweiter Kakao kalt und das Licht dunkel geworden ist. Die Zeit ist nicht genug.

Nun schließen sich ihre kalten Finger um die warme Tasse und allein der Gedanke an das samtene Gefühl der tiefbraunen Flüssigkeit in ihrem Hals befriedigt ihre Sinne. Der Geruch, der ihr in die Nase steigt, das leise Flüstern der alten Möbel um sie herum, all dies entspannt ihre Muskeln; ihre Lider senken sich langsam und sie atmet tief durch.

Es sind nicht viele andere Leute in dem Café, dennoch wirkt es recht voll; der Platz, den keine Körper brauchen, benötigt die Persönlichkeit der Anwesenden. Das hektische Hupen und Rasen der Straße scheint vor dem Fenster des Raumes zu verharren; das ist der Grund dafür, dass die Geborgenheit fast greifbar scheint.

Kuraiko weiß das und sie ist dankbar dafür, in all der Unsicherheit wenigstens etwas Ruhe zu fühlen. Doch damit ist es aus, als sie die Augen öffnet und der junge Mann vor ihr steht.

Sie hält den Atem an; doch diesmal fragt er nicht.

Er lächelt und setzt sich, um mit der Arbeit zu beginnen.

Und sie bleibt und beobachtet die Kohle unter seinen Fingernägeln, bis ihre Sehnsucht gestillt ist.

Dann geht sie.

Amaya läuft

Es ist ein merkwürdiges Leben, dass Amaya führt und sie weiß es. An jenen Nachmittagen, an denen sie im Café sitzt und die Anwesenheit des Fremden genießt, der nie mehr als drei Worte mit ihr spricht, verschwinden die fremden Bekannten und die Schatten und sie nehmen die Angst und die Ungewissheit mit. An den anderen Tagen aber scheint es immer ärger zu werden; sie folgen ihr auf Schritt und Tritt, lassen sie nicht entkommen und versuchen, sie in einer unachtsamen Minute zu greifen.

Doch Amaya ist nicht unachtsam; der Tag liegt in seiner Gänze schon am Abend vor ihr und sie macht Pläne, in denen sie genau weiß, welcher Weg zu nehmen ist – nur, um auch sich selbst überlisten zu können. Sie tut nichts, ohne das Für und Wider gegeneinander zu setzen und gewissenhaft zu vergleichen; sie verlässt das Haus nie ohne einen Grund und rennt die meisten Strecken, um ihren Angreifern keine Chance zu bieten.

Warum sie von ihnen als Angreifer denkt, vermag sie nicht zu sagen; noch hat sie jede Kontaktaufnahme vermeiden können und ist geflohen, sobald auch nur der ferne Geruch der schönen Frau mit den alten Augen sie gestreift hat. Doch sie weiß, sie fühlt, dass sie ein Treffen nicht zulassen kann – wer auch immer sie in diesen Körper gesteckt hat, jagt sie nun.
 

Und dann ist Freitag, dann ist da Duft, Wärme, Gemütlichkeit, Geborgenheit und dann ist er. Dann zeichnen die schlanken Finger über das weiße Papier, dann blicken die wundersamen Augen an ihr vorbei und sie trinkt ihren Kakao und fragt sich, wie er heißt. Was er malt.

Manchmal träumt sie von ihm, von seinen Geheimnissen, von seinem Leben, seinen Träumen. Und dann stellt sie sich vor, dass er sie malt, ihr Gesicht, ihre Augen und sie weiß nicht, ob sie das aushalten könnte. Ob sie es ertragen könnte, wenn er ein Gesicht malte, das nicht das ihre ist, Augen, die Fenster zu vielem, aber nicht ihrer Seele sein könnten, Lippen, die sie manchmal am liebsten zerbeißen möchte, um den Worten in ihrem Geist den Weg nach draußen zu zeigen.

Dann geht er und sie weint; leise, denn sie hat verlernt, laut zu sein und sie hofft gleichzeitig, dass es bald wieder Freitag wird.

Es ist ein merkwürdiges Leben und Amaya fragt sich, ob sie wohl den Verstand verliert. Es ist ein Gedanke, der sie keineswegs beunruhigt. Er besänftigt sie, umhüllt ihre Seele mit Trost - ihren Geist nicht mehr spüren zu müssen, nicht mehr im Spiegel Amaya zu sehen und in der Seele Kuraiko zu sein scheint ihr einer Befreiung gleich zu kommen.

Doch der Weg in das Debile weicht vor ihr zurück und in manchen Momenten weiß das Mädchen genau, dass es immer so bleiben wird, wie es jetzt ist. Dass sie immer so bleiben wird wie jetzt.

So grau, so trüb, so bedrohlich – so leer.

Denn das ist es, was sie von innen heraus auffrisst, diese Leere, dieses Nichts, das früher einmal sie selbst gewesen ist.

Zuhause wird wieder geredet, doch Amaya nimmt nicht teil; die Worte haben sie verlassen. Sie antwortet, wenn man sie fragt und erzählt, wenn es erwartet wird; doch das, was sie sagt, ist nichts. Vielmehr ist in dem, was sie nicht sagt; die Wahrheit liegt in dem dunklen Schweigen, das ihr folgt wie ein hungriger Verehrer.

Die Eltern befreit die Illusion, während seltene klare Momente die Gitterstäbe beleuchten, die in Wirklichkeit zwischen der Familie stehen; dann sehen sie, was ihre Tochter ist: ihnen und sich selbst seltsam fremd.
 

Es ist ein Mittwoch, an dem sich alles und auch nichts verändert. Die fremden Bekannten haben sie verfolgt, sind ihr durch die halbe Stadt nachgelaufen, haben sie gejagt, ohne Mitleid, bis sie orientierungslos durch ein ihr unbekanntes Viertel stolpert. Sie kann nicht mehr, ihr Atem rast, ihr Herz droht zu zerspringen und sie fühlt, dass ihr Ich vor Angst fast zerbirst. Sie kann nicht mehr, will nicht mehr können müssen, möchte sich einfach nur setzen.

Das Schild, das den Weg zur Akademie deutet, ist die einzige Chance, die sie sieht. Mit den Verfolgern dicht auf den Versen, mit der Verzweiflung im Nacken weiß sie nicht, wohin sie sich sonst noch wenden soll.

Wer sich selbst verloren hat, kennt keine Rettung.

Amaya läuft.
 

Ihr Ranzen ist schon vor einiger Zeit zu Boden gefallen, doch es hat sie nicht gekümmert. Nun hastet sie über das unebene Straßenpflaster, bis das kleine Gässchen, dem sie gefolgt ist, auf eine Hauptstraße mündet und sie über ihre eigenen Füße fällt.

Schnelle Schritte kommen näher, doch sie hat längst nicht mehr die Kraft, weiter zu laufen. Sie bleibt sitzen, bis ihre Verfolger neben ihr zur Ruhe kommen; nun endlich wird sie zumindest erfahren, was geschehen ist, was geschehen soll und wer für ihre Situation verantwortlich ist. Vielleicht wird sie danach auch sterben, doch so richtig kümmert es sie nicht; wenn da eine Regung ihren Geist verlässt, so ist es Hoffnung.

„Alles in Ordnung?“

Es sind nur drei Worte, doch die Hand, die man ihr reicht, ist kräftig, mit langen, schmalen Fingern und kurzen Fingernägeln, unter denen sich der Staub von Zeichenkohle gesammelt hat.

Es sind mehr als drei Finger.

Und Amaya weint unendliche Traurigkeit.

Die wahre Größe abstrakter Kunst

Er hat es gesehen, das Mädchen mit den großen Augen, mit den langen Haaren, mit der blassen Haut und dem vollkommenen Lächeln, das seine absolute Hilflosigkeit zu verbergen suchte. Er hat es gesehen, er konnte den quälenden Ausdruck der Augen, er konnte sie nicht ertragen und da wusste er, dass er sie lieben würde.

Ihre Anmut. Ihre Schönheit. Und mehr als alles andere ihre Hilfsbedürftigkeit.

Er hat sie gesehen und entdeckt. Und er weiß, er muss sie besitzen.
 

Als Kunstliebhaber erkennt er Perfektion, wenn er sie sieht, und als Mann ist er noch nicht reif genug, um die wahre Größe abstrakter Kunst zu begreifen; also glaubt er, endlich eine Partnerin gefunden zu haben. Eine Seelenverwandte, ihr Äußeres so makellos wie die Seele, die er in sich vermutet.

Er irrt; natürlich irrt er, wie tausende vor ihm und endlose Generationen nach ihm, doch er weiß es nicht, und so bleibt er froh.

Und er setzt sich zu ihr und lügt und er genießt sie, doch nur am Freitag; sechs Mal läuft er am Fenster vorbei und lässt seine Augen die Szene einfangen. Er fürchtet sich. Dann geht er; und die Woche gebärt die Unendlichkeit.

Dann ist Freitag und sie blickt ihn an; wie ein Streifschuss erregt die Beiläufigkeit seine Sinne, sein Herz rast, seine Beine zittern, seine Stimme versagt. Er kann nicht fliehen.

Und malt.

Malt sie.

Und sich in sie hinein.

Vielleicht aber auch das Mädchen in seine Seele; in jedem Fall, von ihr kommt er nicht los. Sie ist Freitag und außer Freitag versinkt alles in der Bedeutungslosigkeit.

Und als sie auf die Straße stürzt und dabei Orientierung, Verstand und Unnahbarkeit, aber nicht ihre Anmut verliert, wirft das Schicksalsrad ihn in die Luft, zum höchsten Punkt. Er erkennt sie in dem, was sie ist und doch kann er sie nicht begreifen.

Denn er fragt:

„Alles in Ordnung?“

Und er zeichnet Zeichen in die Wirklichkeit

Sie sitzt vor ihm, die Augen geschlossen; der Geist aber, so hofft er, weit geöffnet. Er hat mit ihr gesprochen und ihr Verlust traf ihn tief. So tief, dass er fast nicht bemerkt, dass die Pain sie noch viel tiefer mit sich gerissen hat, so tief, dass er nicht zuhört, wenn sie spricht, von dunklen Gestalten, Verfolgern und dem Verlorensein in einem fremden Körper.

Doch jetzt folgt er aufmerksam, schon seit Stunden trinkt er ihre Worte und während er stillschweigend zuhört, erzählt sein ganzer Körper Romane.

Von Verlangen. Von Mitleid. Von Liebe? Vielleicht; zumindest glaubt er das und es ist einfach genug, ihm zuzustimmen. Die Welt, wie er sie sieht, ist simpel; sie in Gefahr, er der Retter.

Und so nimmt er ihre Hand; die schwarze Kohle unter seinen Nägeln färbt ihre Unschuld dunkel.

Und dann redet auch er.
 

Die Eltern weinen, als seine Worte sie erreichen; erst blicken sie ihn an, wie er da steht, das Jackett in der Hand, dann sie, wie sie dort steht, im Flur, verloren und doch kurz davor, wiedergefunden zu werden. Und endlich verstehen sie und endlich fühlen sie und endlich sehen sie, was es ist, das ihre Tochter von innen heraus frisst, ihr Innerstes zuerst nach außen kehrte und es dann von der Haut kratzte.

Zumindest glauben sie, zu verstehen, zu fühlen, zu sehen.

Amaya aber schweigt; wie verrückt, deplatziert. Ihre Augen folgen dem Fremden, fixieren seine Finger. Die schwarzen Fingernägel sind für immer in ihre Haut gebrannt.

Nach dem Reden schweigt das Haus; die Nacht ist ruhig, obwohl schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden, in stillen Kammern voll hoffender Köpfe.
 

Es ist ein Wunder, so sagen die Therapeuten, dass der tiefe Fall in die Schizophrenie unbemerkt blieb; der Umstand, dass er sie aus der eigenen Umklammerung befreien konnte Zeichen für das Vertrauen, dass Amaya ihm entgegenbringt. Sie sind zufrieden und so lange Amaya an ihn glaubt, ist er es auch.

Doch jedes Vertrauen hat ein Ende; spätestens dann, wenn die Antwort unbefriedigend erscheint.

Und für sie ist es unbefriedigend. Weil er ihr nicht glaubt, weil er sie sanft anblickt, ihre Hand hält und ihr mitteilt, sie habe Wahnvorstellungen. Und weil sie nicht mehr kann, tut sie das eine, das ihre Hilflosigkeit übertönt: Sie schreit.

Er hält sie.

Sie tobt.

Er bleibt ruhig.

Sie schlägt ihn, verzweifelt, weil er ihr nicht glauben mag; weil er den Abgründen in ihrer Seele nicht zuhört.

Dann weint sie und er weint mit.

So ist dann auch der erste Kuss: verregnet.

Dann schreit sie wieder, tobt, schlägt, verzweifelt und zieht sich schließlich für ihn aus.

Er malt sie.

Und während für ihn alles Kurve ist, Weichheit, Verletzlichkeit, während alles zusammenfließt in seinen Augen und dort überströmt, weil er eine solche Perfektion nicht voll erfassen kann, während er das Wunder der gleichmäßigen Unendlichkeit erlebt, sind die Wochen für sie nur eines:

Abgehackt.
 

Wieder sind Wochen vergangen, Monate, seit sie die ersten Male zusammen saßen, er ihr Gesicht vor Augen, sie ihre Augen auf seinen Fingern. Es scheint unendlich weit weg, eine Ewigkeit und doch sieht sie es jede Nacht. Sie wünscht es sich; doch auch wenn seine Finger sie berühren, wenn die Kohle unsichtbare Spuren an feinem Haar hinterlassen, kann sie nicht mit ihm fortgehen.

Sie darf nicht und wünscht sich, sie hätte geschwiegen; sie sagt es zwar nicht, doch ihr Leiden spricht Bände, wenn man versucht, sie zu heilen.

Und während sie nun hier sitzt und ihn betrachtet, die Hoffnung in seinen Augen misst, die stets dieselbe bleibt, wenn er ihr erneut mit einem Akt beweisen will, dass sie ist, wer sie niemals war, spürt sie eine Müdigkeit.

Er bemerkt es nicht; er malt fleißig weiter. Und seine Finger erzwingen die Wirklichkeit, machen Amaya zum Zeichen; und dieses Zeichen zeichnet er in die Wirklichkeit.

Er macht sie zum Bildnis und hat noch nie Max Frisch gelesen.

Epilog

„Wann es geendet hat, weiß ich nicht, doch die Erinnerung an den Anfang ist so deutlich, dass es mich schmerzt.

Der Unfall. Lautes Quietschen und eine Wolke aus Abgasen und dem Geruch von verbranntem Gummi. Die Leere.

Und inzwischen? Nach all der Zeit, was ist da aus dem "Warum" geworden? Das Große des Bruders? Das Kleine der Mutter?

Immer noch unbeantwortet. Es hat eine Zeit gegeben, da dachte ich, die Fremden wüssten die Antwort; doch auch dieser Weg ist mir nun versperrt. Sie kommen nicht mehr zu mir, nicht mehr, seit ich hier bin.

Für einen Moment habe ich ihm geglaubt. Habe gedacht, er verstünde mich besser als ich selbst, habe gedacht, die Art, wie er meinen Körper spielen konnte, beweise, dass er mich kenne. Doch lange konnte der Selbstbetrug nicht dauern. Ich liebe ihn, ja, das weiß ich, ich liebe die Finger, die kurzen gepflegten Nägel; ich liebe den Geruch nach Lösungsmitteln; ich liebe sogar und ganz besonders den Kohlestaub auf seinem Körper. Ich liebe ihn, mehr als irgendjemand einen anderen Menschen jemals lieben kann.

Für ihn habe ich es versucht.
 

Als er mir nicht glauben wollte, als er die Fremden ins Reich der Psychose bannte; als er die Wahrheit mit Drogen verschleiern wollte, bin ich ihm gefolgt. Ich habe getan was er wollte, habe es getan wegen der Erinnerung an den Kakao und an den Kuchen, an weinrote Tapete und gemütliche Sessel.
 

Doch ich habe gewusst, dass es eine Lüge war; ich habe gespürt, dass es ein Geheimnis gab, habe das Zerren in der Brust gefühlt, habe gewusst, dass ich nicht war, wer ich sein sollte. Die Seele der einen im Körper der anderen, und das ist kein Wahn.
 

Doch immer, wenn ich es ihm sagte, weinte er und flehte, und immer, wenn er flehte, wollte ich ihm Mut zusprechen und ihm versichern, dass alles gut werden würde. Die Monate zehrten an seinen Kräften und schließlich wusste ich, dass er mich aufgeben musste – dass er mich aufgeben wollte, weil die Hülle ihn mehr angelockt hatte als das Innere.
 

Ich liebe ihn, habe ihn immer geliebt; deswegen habe ich ihm Recht gegeben. Deswegen habe ich die Medikamente genommen und heimlich fortgeworfen, deswegen habe ich nie von den bekannten Fremden erzählt, nicht von den Kämpfen in der Nacht.
 

Ich habe alles aufgegeben was ich war, um dem zu entsprechen, was er wollte; und zumindest er war glücklich. Mit Amaya. Und trotzdem habe ich ihn geliebt, in demselben Maße, in dem ich meine schöne Schwester gehasst habe. Der Spiegel wurde mein Feind. Jahrelang habe ich es vor ihm geheim gehalten, habe ihm nichts gesagt von den Agenten, von den schwarzen Herren.
 

Ich bin zu ihm gezogen, ich bin für ihn Amaya geworden, ich habe mit ihm gelebt.

Und er hat mich verraten.
 

Dass er mit ihnen zusammenarbeitete, wollte ich lange nicht sehen; ich habe es lange nicht gesehen.
 

Erst als er nach Hause kam, als er die Tür öffnete, mich ansah, als sein Blick in den Spiegel fiel und er sagte, ich sei nicht die, für die er mich gehalten habe, ist es mir klar geworden. Dabei war es so offensichtlich; er war es, der mich gefunden hat. Er hat mich abgelenkt. Und als genug Zeit verstrichen war, wollte er mich loswerden. Doch ich habe ihn geliebt.
 

Das verstehen Sie doch, oder? Das werden Sie in ihr Buch schreiben. Das Buch über mich, nicht wahr? Das ich ihn geliebt habe. Denn das habe ich. Wirklich. Oder sind Sie schon fertig? Ich würde gerne selber ein paar Worte schreiben, oder Sie benutzen einfach ein paar unserer Protokolle. Ich glaube nicht, dass man so eine Geschichte erzählen kann, so ganz einfach, indem man die einzelnen Geschichten und Ereignisse schildert; das kann so gar nicht erfasst werden, oder?

Sie irritieren mich, wenn sie so ganz schweigsam sind. So ärztlich. Wissen Sie was, schreiben Sie einfach ein paar Dinge auf, die ich gesagt habe. Natürlich müssen Sie sie noch literarisch formulieren, aber tun Sie einfach so, als habe ich so mit Ihnen gesprochen. Ich will ans Ende ihres Buches, denn wenn Sie schon ein Buch über meine Geschichte schreiben, will ich das letzte Wort. Sie dürfen dann noch einen klugen Spruch dahinter setzen, also haben wir beide das letzte Wort; aber wenn Sie einen Roman daraus machen, dann könnten ihre Leser Sie falsch verstehen. Denn das ist klar und darauf bestehe ich:

Ich bin nicht schizophren. Wer fünf Jahre in einer glücklichen Beziehung lebt, ist nicht krank.“
 

Und die Vehemenz, mit der Amaya den Kopf schüttelt, macht die Absurdität dieses Vorwurfs noch deutlicher, doch mehr noch als die Tatsache, dass sie vollkommen gesund ist, fällt dem geneigten Beobachter ihre Traurigkeit auf. Der Irrtum, Perfektion bedeute Glück und äußere Vollkommenheit sei ein Indiz für die Innere Schönheit, unterläuft vielen Menschen; doch im Gegensatz zu Amaya hatte ihr Geliebter das Glück, nicht lange mit diesem Wissen leben zu müssen.

Sie dagegen muss man vor dem Trugschluss warnen, eine gute Klinge könne ihr zurückgeben, was sie verlor:

Ihren Freund, ihre Familie, gleich noch ihre Freiheit und die Individualität, zusammen mit tausend anderen Dingen.

Mehr als alles andere: Ihre Schwester.
 

Wenn es anders wäre, hätte ich sie nie kennengelernt und das Scheitern am Verfassen meines ersten, nicht fachwissenschaftlich geprägten Textes hätte noch auf sich warten lassen.
 

Doch es ist wie es ist.
 


 


 

“Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solange wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt -

Nur die Liebe erträgt ihn so. (…)

Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind - nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. ‘Du bist nicht’, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: ‘Wofür ich Dich gehalten habe.’

Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.”

Max Frisch



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Kommentare zu dieser Fanfic (53)
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Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:16:54+00:00 25.05.2009 19:16
Es ist vorbei. Und mit der Aussage Amayas war sogar etwas verständliches drin :-D Denn ansonsten war es wieder so ... schwebend. Und ich finde das Ende auch nicht gut: du hast zwar den Kreis um das 'Warum?' und dass etwas verloren gegangen ist, geschlossen, aber ganz em Ende steht überraschend die Liebe. Nicht so kitschig, aber doch irgendwie unerwartet. Es war schön zu sehen, dass er in ihr nur eine Hülle sieht - aber 5 Jahre hat es funktioniert, eine lange Zeit - und sie sich auch anpasst. Aber ich finde, die Geschichte hätte noch weitergehen können, vlt., dass selbst die Liebe sie nicht rausholen kann, es sollte mit ihr enden, und nicht mit ihrem Freund.

Alles in allem ist diese Story einzigartig. Der distanzierte Schreibstil war toll, schöne Wortwahl, großer Wortschatz, Stimmung gut übermittelt. Aber an manchen Stellen war es zu abstrakt; die Erkenntnisse, Gedanken, haben sich nicht aufgedrängt, aber sie waren nicht gut genug verpackt, damit man sie auch im Kopf behalten konnte, gerade weil man Amaya durch die autoriale und weniger personale Perspektive zu fern ist, sich nicht immer mit ihr identifizieren kann.

Und ein paar Tippfehlerchen waren drin... :-D

Wirklich bemerkenswert. Aber es lässt einen verwirrt zurück :-D

yu
Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:15:58+00:00 25.05.2009 19:15

Alles ist immer noch schwebend, jetzt kommt ein neuer Faden hinzu, ein neuer Punkt ins Bild, die Krankheit. Und wieder versteht man es nicht, wieder ist alles so abstrakt.

Aber am Ende die 'Pointe', Max Frisch, ein Hinweis zur Interpretation der Story? Zur Aufklärung? Ich hoffe :-D

Denn ich denke, dass du hier etwas geschaffen hast, das hier auf Mexx zu den seltenen Fällen zählt - und das ist jetzt total positiv gemeint: Es ist ein Werk, mit dem der Otto-Normal-Leser sicher seine Schwierigkeiten hat, ein Werk, dass nur für Literaturgourmets wirklich verständlich ist, das in seiner Form und Erscheinung eben für den ausgewählten Kreis derer, die es verstehen, ganz große Kunst ist.

Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:15:26+00:00 25.05.2009 19:15
Ich finde die Idee mit dem Bild echt toll, sie war das Highlight, auch wenn man es hätte noch mehr ausformulieren können, denn es verbirgt sich viel dahinter, und einfach nur zu schreiben, dass er ihre äußere Erscheinung wie so viele vor ihm toll findet, aber ihre Seele nicht wirklich sieht, allenfalls ihre Hilfsbedürftigkeit, das ist etwas wenig. Obwohl es zum Stil der Story passt. Denn es ist wichtig, dass man nicht nur das Äußere sieht, sondern auch den Charakter.

Was die Beschreibungen betrifft, muss ich meinen Vorgängern zustimmen: sie sind gut. Sie sind nicht zu ausführlich, sondern nur Skizzen, was zur Wahrnehmung des Erzählers, diesem fragmentarischen Stil absolut passt.

Obwohl das Kapitel letzendlich doch etwas kurz war; nach so einem tiefgehenden Statement hätte eine Anwendung auf die Geschichte super gepasst :-D

Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:14:42+00:00 25.05.2009 19:14
Es ist wieder sehr ruhig, und auch die Verfolgungsjagd am Ende ist nicht wirklich schnell. Interessant ist, dass man bei dir immer wieder ziemlich philosophische Sätze findet, ohne, dass sie unwahr klingen; sie scheinen nicht eingebaut zu sein, um neunmalklug irgendeine tolle Erkenntnis reinzuschreiben, sondern sie passen echt zur Figur.

Allgemein erinnert mich die Geschichte an Kafkas Die Verwandlung - beide Geschichten liest man mit der typischen Erwartung, dass irgendetwas passieren muss, dass 'action' vorkommt. Umso verwirrter ist man, dass das nicht passiert, über allem ein grauer Schleier liegt, das Umfeld, die Familie des Erzählers nichts tut, unverständlich ist, man weis nur vage, wie der Erzähler in die Situation gekommen ist, er leidet, aber er findet auch keinen Weg heraus, und niemanden interessiert es...

Und es passiert ja nicht wirklich was, weshalb die vielen Gedanken auch so abstrakt wirken, schwer aufnehmbar sind. In diesem Sinne ist dein Schreibstil echt toll, wenig RGs ...

Ich weis es nicht, aber es ist schon irgendwie spannend...

Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:14:29+00:00 25.05.2009 19:14
Die Geborgenheit, Ruhe, Heimlichkeit ... schön zu lesen. Komisch ist, dass sie mit niemandem wirklich in Kontakt tritt, obwohl sie es sich wünscht... das ist echt mysteriös...
Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:14:13+00:00 25.05.2009 19:14
Es wird langsam spannender, der Mann und die Menschen, die Amaya beobachten bzw. von denen sie sich beobachtet fühlt, das ist echt interessant ...

Ansonsten isses wieder ruhig und schwebend, kleine Tippfehlerchen, naja. Es war schön, etwas über ihre Eltern und ihren Bruder zu lesen...

Weiterlesen!

Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:13:34+00:00 25.05.2009 19:13
Krass... wow ... brilliant ... ziemlich gut ... auch wenn diese Worte viel zu laut für die leise Traurigkeit, selbst den Zorn, dieses Kapitels sind.

Denn es war echt toll geschrieben! Wie du Amayas Welt beschreibst, wie sie alles nur dunkel, abstrakt wahrnimmt, wie sind durch Schweigen mit der Trauer der anderen konfrontiert wird, die sie nicht teilen kann bzw. nicht weis wie, und wie sich zum Schluss alles entlädt.

Gerade der Tee als Symbol für das nicht enden wollenden Unfassbare, die Konflikte usw. ist toll. Und der Schreibstil ist einfach... klasse. Die Wiederholungen, Wortspiele, der Tee, der immer dampft, die Eltern, die nur schweigen, der Bruder, der nur heult, auch die Dynamik in dem Satz, als sie die Teetasse gegen die Wand wirft. Es war immer noch ruhig, aber schnell, wie ein Sog, der alles mitreist, ein Ereignis, das man kommen sieht, aber nicht verhindern kann, und das einfach passiert.

Und das alles auch dieses sterilen, unlauten, melancholischen Perspektive eines Mädchens, dass sich lieber mit sich selbst beschäftigt, als mit ihrer Umwelt ...

Bin gespannt, wie es weitergeht...
Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:13:15+00:00 25.05.2009 19:13
Verwirrung. Verwirrung, Verwirrung, schwebend und klirrend und ohne Antwort in der Irre. Statt Aufklärung nur noch mehr Verwirrung :-D

Es ist so ruhig ... wie das Bild vom nächtlichen Mondenschein... man merkt zwar die Verwirrung, Befremdung, aber irgendwie ist alles ganz ruhig... schwebend eben..

(Sry, mehr fällt mir im Moment nicht dazu ein :-D)
Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:12:27+00:00 25.05.2009 19:12
Mysteriös, mysteriös ... die Dunkelhaarige ist tot, aber irgendwie doch nicht...

Das ganze Kapitel war irgendwie schwebend, was einerseits am Inhalt, andererseits an der Form liegt. Denn es wird auf mehreren Zeitebenen gehandelt, was erstmal verwirrend ist, wenngleich man nicht durcheinander kommt. Außerdem war besonders am Anfang schwer zu verstehen, wer wer ist. Wer die Gedanken hat, wer Mutter, wer Bruder ist.

Der Schreibstil betont das alles zusätzlich; er ist abwechslungsreich und hat etwas Trauriges, schwirrendes, irgendie auch unklares, ohne unklar zu sein... Obwohl an manchen Stellen wie 'Der Spiegel wird zum Symbol ihrer Angst' vlt. etwas weniger auktorialer sondern personaler Erzähler besser gewesen wäre; die Stell klang so ... über allem stehend, fast belehrend :-D ... schwer zu erklären... aber das war nur eine Kleinigkeit.

Genauso wie die RGs nur ganz klein sind :-D

Alles in allem: ich bin verwirrt und interessiert.

yu (KFF, Re-Kommy)
Von:  Remy
2009-05-14T13:31:45+00:00 14.05.2009 15:31
[Kommentarzirkel]

Wenn ich es jetzt schon ganz gelesen hab, will ich auch einen Kommentar dazu schreiben.

Erst einmal muss ich sagen, dass es eine wirklich mitreißende Geschichte ist, die schön geschrieben ist. Bis zum Ende hin klärt sich dann auch alles auf, auch wenn ich zu Anfang nicht dachte, dass sie shizophren ist. Was die ganze Sache aber noch interessanter gemacht hat.

Deinen Schreistil finde ich auch richtig gut. Was mir besonders gefallen hat - und was ich sehr passend fand - waren die wenigen wörtlichen Reden. Es hat nur noch mehr gezeigt, dass es einfach nicht viel zu reden gibt.

Ein paar vereinzelte Flüchtigkeitsfehler waren noch drin, die ich mir aber jetzt nicht wirklich gemerkt haben. Dafür waren es zu wenig.

Mach auf alle Fälle weiter so!

Mfg KAG0ME


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